Mayaku, Gókan to Damaru [Teil I] von abgemeldet (Die Vergangenheit ist unwiderruflich) ================================================================================ Kapitel 5: Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 3] ------------------------------------------------- Wie lange kann ein Mensch kämpfen? Wie lange hält der Körper, bis er ganz zerfällt? Wie lange lebt die Seele, ehe sie stirbt? Fragen über Fragen. Wenn ich nüchtern war, dann überschlugen sich meine Gedanken, doch auf Droge... da war alles anders. Die ganze Welt war anders. Selbst die Kerle, die für Geld einen Kinderkörper fickten. Ich war anders. Und solange ich anders war, war ich nicht gleich wie die Anderen… Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 3] 03. November 2009 Es reichte nicht. Egal, wie oft sie es noch nachzählte. Wieder reichte es nicht! Wie viele Stunden musste sie denn noch länger arbeiten? Egal, wie lange sie arbeitete. Egal, wie viele schmierige Kerle sie an ihren Körper ließ, diesen immer mehr dadurch kaputt machte. Egal, wie viel Drogen sie nahm, damit sie nicht gänzlich dem Wahnsinn verfiel. Das Geld reichte einfach nicht! Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr. Aber sie musste! Sie zwang sich immer mehr dazu. Damit sie überleben konnte... Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Wütend fegte sie eine Tasse vom Tisch, welche scheppernd am Boden zerschellte. Ihr Atem war ein angestrengtes Keuchen. Übelkeit stieg in ihr auf. Hektisch schlug sie sich die Hand vor den Mund, eilte zum Mülleimer, würgte und übergab sich in diesen. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Sie knickte in sich zusammen, krallte sich an das schon abgeplatzte Plastik des Eimers. Versuchte Halt an diesem kleinen, wertlosen Stück Müll zu finden. Aber bekam keinen. Knackend brach nur ein weiteres Stück Kunststoff ab. Sie rutschte weg, kam schweratmend auf dem Boden zum Liegen. Kälte umfing ihren Körper, brachte diesen zum Erzittern. Die Kälte des Bodens kroch in ihr Inneres. Sie hatte keine Kraft mehr. Wie oft war sie schon zu Boden gefallen? Wie oft würde sie es noch schaffen wieder aufzustehen? Wann würde es endlich für alles ein Ende geben? Sie blieb liegen, versuchte den Schwindel zu bekämpfen, der ihre Orientierung zunichte machen wollte. Ihr war immer noch schlecht, während ein nerviges, penetrantes Pochen in ihrem Kopf ihr all die Konzentration nahm. Im Hintergrund hörte sie das laute Weinen ihrer kleinen Tochter, wie hinter einem Schleier. Es nervte sie. Sakura kniff die Augen zusammen, presste ihre Hände an ihre Ohren, sodass sie nur noch ein Rauschen hörte. Sie wollte die Geräusche alle ausblenden. Wollte, dass ihr Körper zur Ruhe kam. Ihre Atmung ging hektisch, versuchte sie mit aller noch aufbringbaren Konzentration diese zur Normalität zu bringen. Sie lauschte dem Atmen. Sie lauschte dem Rauschen ihres Blutes. Und zwischen den Melodien der Wellen hörte sie ihren eigenen Herzschlag. Laut, monoton und in einem schnellen Takt. Es schlug weiter. Als wäre nie etwas gewesen. Sie war immer noch nicht tot, dabei dachte sie, dass diese Dosis von gestern Abend ihr endgültig den Rest gegeben hatte. Sie lebte. Ein grausames Leben in Armut und mit Drogen... Zitternd löste sie ihre Hände von den Ohren. Mühsam und mit Schmerzen in den Gliedern, drehte sie sich auf den Rücken, steckte die Arme von sich. In ihren Augen brannten unvergossene Tränen, als sie die türkisen Iriden geöffnet hatte. Das grelle Weiß der Decke stach ihr schmerzhaft in den Augen. Die erste salzige Träne perlte wie ein heller Diamant von ihren Wimpern und rann über die Wange. Gefolgt von weiteren. Sie hasste ihr Leben. Sie hasste ihr Leben so sehr. Sie hasste die Drogen, welche sie nahm. Sie hasste die Arbeit auf dem Strich, die sie machte, um an Geld zu kommen. Und sie hasste sich selber. So sehr, dass sie sich manchmal wünschte, dass jede Dosis Heroin, die sie sich spritzte, die Letzte war. Sie hoffte so sehr, dass sie am nächsten Morgen nicht mit Kopf- und Gliederschmerzen, mit Übelkeit und Stimmungsschwankungen aufwachte. Sondern einfach nur liegen blieb. Einfach schlief und nie mehr ihre Augen öffnete... Warum hatte sie nicht schon längst ihren letzten Stich gesetzt? Sich eine Überdosis verabreicht? Bei diesen Gedanken hörte sie wieder das Weinen ihrer viermonatigen Tochter. Sarane... Es lag an ihrem Kind. Ihre kleine Tochter, welche sie immer wieder auf die Beine brachte. Immer wenn Sakura dachte, dass sie nicht mehr konnte, dass alles ein Ende hatte, dann brauchte sie nur in das kleine, blasse Gesicht des Mädchen sehen und schon keimte neue Kraft in ihr. Ihre Tochter zwang sie am Leben zu bleiben, ansonsten hätte sie vielleicht schon längst den letzten Schritt gemacht. Immer wenn sie dachte, sie musste sterben, sie konnte nicht mehr, sah sie das kleine, zerbrechliche Gesicht vor ihrem inneren Auge. Sehr oft wünschte sie sich, dass es dem nicht so wäre... “Ich hasse dich! Ich wollte dich doch gar nicht!” Ein herzzerreißendes Schluchzen kam über ihre Lippen. Ihr Körper wurde von Trauer überrannt und durchschüttelt. Eine Leere fraß sich in ihren Magen, ließ diesen sich schmerzhaft zusammenziehen. Kälte umschloss ihr Herz. Zerdrückte dieses. Aber immer noch war es nicht entzwei. Es schlug weiter. Tapfer und mit aller Kraft, die es noch hatte und aufbringen konnte. Es kämpfte. Sakura kämpfte. Jeden Tag, nur um das nackte Überleben. Sie kämpfte. Sie verlor. Aber sie schaffte es immer wieder sich aufzurichten. Hastig wischte sie sich die Tränen von den Wangen, schniefte einmal laut auf. Wie lange würde sie noch die Kraft haben? Wie lange würde sie noch kämpfen können? Wie oft würde sie es schaffen noch aufstehen zu können? Würde sie irgendwann aufgeben? Dann wäre alles umsonst gewesen. Sie musste weiterkämpfen. Kämpfen. - Aufstehen. - Überleben. - Stark sein. Es war so schwer... Schließlich war sie doch auch nur ein Kind. Manchmal wünschte sie sich ein anderes Leben. Ohne all diese Qual. Manchmal wünschte sie sich, einfach nur Kind sein zu können. Aber unmöglich. Dieser Wunsch würde immer nur ein kleiner Teil ihrer Sehnsucht bleiben. Ein Traum. - Naives Wunschdenken. - Sie war und blieb ein Kind. Ein Kind, dass erwachsen werden und sein musste. Ein Kind, dass für die Liebe des eigenen Kindes die Hölle durchwanderte. Ein Kind, dass sich verzweifelt an die Hoffnung und die geborgene Wärme und Liebe der eigenen Tochter krallte... ~*~*~ Ihre Augen stumpf vor Trauer, stand sie an dem großen Pappkarton, in dem ihre kleine Tochter lag. Eingekuschelt in vielen Kissen und einigen Kuscheltieren, die sie beim Einkaufen oder wenn sie in der Stadt war, manchmal von einigen Leuten geschenkt bekam. Für ein Kinderbett reichte das Geld einfach nicht. Zitternd rückte sie eines der Tierchen zurecht, hoffte damit ihre ruhig schlafende Tochter nicht zu wecken. Beneidete das Kind, dass es jetzt ruhig schlafen konnte, während sie sich für ihre ‘Arbeit’ vorbereiten musste. Für einen Moment betrachtete sie das entspannte Gesicht des Mädchens. Es beruhigte ein wenig ihr Inneres. Zeigte ihr damit noch einmal, warum sie so hart kämpfte. Vor allem für was. Aber diese Ruhe dauerte nicht lange an. Sie seufzte müde, bevor sich eines der seltenen und warmen Lächeln auf ihre Lippen legte, während Tränen über ihre Wangen liefen. Tränen der Angst, Trauer und des Leides. Sie wand sich ab, biss sich auf die Unterlippe. Unterdrückte ein Schluchzen. Die Hand fest gegen ihre linke Brust gepresst. Träge schlug ihr Herz. Zeigte ihr, dass sie noch lebte. Stark bleiben. Sie musste stark bleiben. Für ihre Tochter und für sich selber. Auch wenn es schwer war. Langsamen Schrittes ging sie ins Badezimmer, zog unterwegs ihre Trainingsklamotten aus, die sie immer in der Wohnung trug. Einfach, damit sie sich wenigstens ein wenig freier fühlte, auch wenn es nur sehr gering war. Vor dem Spiegel blieb sie stehen, betrachtete die dunkelroten, fast blauen Abdrücke auf ihren Oberarmen. Zitternd strich sie über diese, spürte einen pochenden Schmerz bei der Berührung und erinnerte sich unweigerlich daran, wie diese Verletzungen entstanden waren. Nicht daran denken, versuchte sie sich einzureden. Schnell wandte sie den Blick vom Spiegel ab und zog sich gänzlich aus. Nackt stand sie auf den kalten Fliesen, bemerkte schnell, wie sich ihr Körper ein wenig abkühlte. Den Blick in die Badewanne gerichtet. Ein Schatten legte sich über ihre Iriden. Ekel umfasste ihr kleines Herz. Ekel auf das, was sie sah und tun würde. Glänzend lag das Besteck - durch die leicht flackernde Glühbirne an der Decke - in der Wanne. Grinste sie von dort aus höhnisch an. Verspottete sie, da es so viel Macht über sie besaß. Da es sie kontrollierte. Ihr Leben bestimmte und es Stich für Stich immer mehr kaputt machte. Zitternd griff sie nach der Spritze, umschloss diese mit ihrer zerbrechlichen Hand. Umschloss das kalte Glas dieser. Drückte zu. Krallte sich daran. Wie gerne würde sie das Glas in ihren Fingern zum Zerspringen bringen? Es zerdrücken? Ihm den Rest geben? Aber sie brauchte es. Sie brauchte es so sehr, dass sie nicht anders konnte. Ansonsten würde sie endgültig zerbrechen und dem Wahnsinn verfallen. Zögerlich legte sie die Spritze zurück und setzte sich auf den Wannenrand. Den Blick gegen Boden gerichtet, zögerte sie die Zeit hinaus, welche sie nicht hatte. Sie durfte keine Zeit verlieren. Zeit war Geld und ihres war knapp. Ihre linke Hand zitterte, als sie sich all ihre Utensilien nahm und mit denen in den Wohn- und Schlafraum ging. Sie gab sich immer nackt den Schuss. Sie fühlte sich freier. Fühlte weniger Lasten auf und an ihrem Körper. Nur die Lasten in ihrem Inneren verschwanden mit der Nacktheit nicht. Zitternd steckte sie die zweiteilige Herdplatte an die Steckdose. Einen richtigen Herd besaß sie nicht, aber dieses zweiteilige Ding machte seine Arbeit. Sie prüfte noch einmal ihr Besteck, ob es wirklich auch gründlich sauber war. Ihre Nadeln, Spritzen, Zigarettenfilter. Schnell betrachtete sie ihren linken Arm. Fuhr zittrig mit den Fingerspitzen über die Innenseite der Ellenbeuge. Spürte den Einstich ihrer letzten Injektion. Schnell betrachtete sie ihren anderen Arm. Fuhr auch dort über die selbe Stelle wie auf dem Linken. Hier war die Einstichstelle schon ein wenig verheilt. Ihre Lider senkten sich. Sie musste ihren Schuss genau und gezielt ansetzen. Die Bilder auf dem Strich von den Mädchen, die an HIV, Pilzen oder Hepatitis zugrunde gegangen waren, gingen ihr heute immer noch nicht aus dem Kopf. Sie nahm sich die Flasche mit dem Desinfektionsspray und sprühte ein wenig auf die rechte Elle. Damit wollte sie die Entstehung von Abszessen - eitrigen Entzündungen unter der Haut - verhindern. Ansonsten könnte es passieren, dass sie an einer Blutvergiftung starb. Das wollte sie auf keinen Fall. Gründlich reinigte sie ihre spätere Einstichstelle. In der Zeit stellte sie die eine Herdplatte an. Zitternd legte sie den Metalllöffel auf die Herdplatte. Ließ diesen sich erwärmen. Später würde sie diesen mit dem gelösten Heroin mit einem trockenen Tuch in die Hand nehmen. Schließlich würde der Löffel nach dem Erhitzen kochendheiß sein. Sie füllte ein wenig stilles Mineralwasser hinein. Gab auch das weiße Pulver dazu. Bemerkte, dass ihr Stoff sich dem Ende neigte. Sie brauchte dringend neuen. Damit das Heroin später zu einer flüssigen Lösung wurde, musste sie einige Spritzer Zitronensäure dazugeben. Ein müdes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sakura selbst hatte sich in der Anfangszeit auf den Strich nur von Ecstasy über Wasser halten können. Sie kam erst vor knapp drei Monaten auf Heroin zu sprechen. Sie erinnerte sich an ihren ersten Einstich. Damals hatte den ersten Stich eine ‘Freundin’ auf dem Strich für sie gemacht. Heute war diese ‘Freundin’ schon seit einigen Wochen an HIV gestorben. Aber sie trauerte ihr nicht nach. Wusste sie nicht einmal mehr, wie das Gesicht dieses Mädchens aussah. Sie hatte es einfach vergessen. Oder verdrängt, dass konnte sie jetzt nicht beurteilen. Es war auch egal. Die Lösung begann zu sieden. Zögerlich nahm sie den Löffel mit einem Tuch von der Herdplatte und stellte diese aus. Den Metalllöffel legte sie auf dem Tisch ab. Zur Sicherheit drückte sie einen Zigarettenfilter an die Öffnung der Pumpe, ehe sie die aufgekochte Mixtur in diese aufzog. Das Glas der Spritze erwärmte sich. Es fühlte sich angenehm in ihrer kalten Hand an. So warm und geborgen. Und vertraut. Sie hasste es! Sie steckte die Nadel an die Pumpe. Betrachtete alles noch einmal genau. Suchte ihre desinfizierte Einstichstelle, säuberte diese noch einmal gründlich. Zitternd setzte sie die Spritze an. Verharrte in der Stellung. Sie wusste, dass dieser Stoff sie alles vergessen lassen würde. Dass er sie aus ihrem wirklichen Leben riss und in das einer anderen steckte. Das als Hure auf dem Strich. Es würde ihre Arbeit erträglicher machen. Ihren Körper schmerzfreier. Sie wusste, dass damit die Freier nur ihren Körper fickten und nicht ihre Seele. Ihre Seele würde rein bleiben, während der Körper beschmutzt wurde. Aber genauso wusste sie, dass diese Drogen alles in ihr kaputt machen würden. Noch mehr, als sie es schon ohne hin war... Sakura stieß laut die Luft aus ihren Lungen, ehe sie die Nadel in die Einstichstelle drückte. Die Stelle schimmerte schon leicht blau. Der Fleck würde vielleicht ewig bleiben. Genauso wie am linken Arm. Langsam und mit Ruhe. Sie wollte keine Schmerzen. Sie wollte nicht, dass irgendeine Vene platzte oder riss. Sie drückte den Stoff in ihre Blutbahn. Blieb noch einen Moment so sitzen, damit wirklich auch der letzte Rest aus der Spritze in ihrem Körper war. Bebend zog sie die Nadel aus der Haut und drückte ein sauberes Stofftaschentuch auf die blutende Stelle. Sie betrachtete noch einmal ihr Besteck. Schmutzig. Unrein. Sie konnte es nicht noch einmal verwenden. Zitternd warf sie das Zeug in den Mülleimer. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe die Wirkung einsetzte. Ein berauschendes Gefühl durchströmte ihren Körper. Ließ diesen sich schwerelos und leicht anfühlen. Ein vertrautes Gefühl, wie bei jeder Dosis, welche sie sich spritzte. So vertraut, dass sie manchmal die Angst verspürte, dass sie die Kontrolle verlor und sich eine Überdosis spritzte. Auch wenn sie es sich schon sehr oft gewünscht hatte... Zitternd stand sie auf, taumelte leicht, kam aber zum festen Stand. Gewohnheit. Instinkt. Sie wusste es schon lange nicht mehr. Aber es war egal. Nicht mehr lange und der Rausch würde alle ihre Sinne vernebeln. Würde ihren Kopf frei machen von Sorgen, Gedanken und Gefühlen. Sie war am Ende ein Schatten ihrer selbst. Ein leerer Körper, geführt an dünnen Drahtseilen in den Händen eines Mannes. Der sie steuerte. Mit ihr machte, was er wollte. Sie würde sich nicht einmal mehr wehren. Das wäre sinnlos. Es wäre kontraproduktiv für ihre Arbeit. Sie brauchte das Geld. Zeit verstrich. Sie verschwand noch einmal im Badezimmer. Zwängte sich in hautenge Klamotten, die ihre flache Brust ein wenig betonen sollte. Schnell war noch ein wenig Schminke angelegt. Die Lippen betont. Die Augen hervorgehoben. Ein liebliches Lächeln auf den Lippen. Eine kleine Hängetasche auf der Schulter. Das rosane Haar leicht gelockt auf den Schultern liegend. Bereit für den Kampf der Straße. Bereit all ihren Stolz zu schlucken. Sie hatte sich für diesen Weg entschieden. Sie würde diesen Weg gehen. Sie verließ das Badezimmer, schritt noch einmal an das ‘Bett’ ihrer Tochter. “Sei ein liebes Mädchen, ja?” Leicht beugte sie sich über das Kind, gab diesem einen seichten Kuss auf die Stirn. Tankte damit selber neue Kraft. Zeigte sich damit selber, warum sie diese ganze Qual auf sich nahm. Sie brauchte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Sie hätte etwas, wofür sie kämpfte. Sie musste stark sein. Für ihre Tochter... für sich. Schnell wandte sie sich ab, schritt aus der Wohnung in Richtung Rotlichtviertel. Es dauerte nicht lange, ehe sie mit den grauen Massen der Menschheit auf der Straße verschmolz. Sie selber zu einer der grauen Mäuse wurde, wie viele vor ihr. Sie selber ein Schatten wurde, wie viele vor ihr. Sie kämpfte einen Kampf, den sie nur verlieren würde, wenn sie sich selber verlor... ~*~*~ “Was?! 17.600 Yen [1]?! Nur für ein Gramm Heroin?! Du spinnst doch! Vorgestern war es noch nicht so viel!” Sauer umklammerte Sakura den Träger ihrer kleinen Handtasche. Ihr Ticker hatte sie doch nicht mehr alle! Der Preis von Heroin war fast um die Hälfte gestiegen! Ihre Puppillen waren leicht geweitet und ihre Aussprache klang ein wenig undeutlich. Aber ihre Wut konnte man ihr sichtlich ansehen. Die türkisen Augen zu Schlitzen verengt. Die Stirn kraus in Falten gelegt. 17.600 Yen... Wo sollte sie dieses Geld herbekommen? Normalerweise bezahlte sie nur 12.400 Yen [2]. Plötzlich wurde sie grob am Oberarm gepackt und gegen die verschimmelte, nasse Wand des Zimmers gedrückt. Sie musste aufpassen, dass ihre Kleidung nicht dreckig wurde. Das würde sicherlich einige Kunden verschrecken, wenn sie keine saubere Kleidung trug. Der Griff wurde fester. Das merkte sie nur daran, da die Haut mehr zusammengedrückt wurde. Sie fühlte keinen Schmerz. Ihr Körper war wie taub. Ihre Seele wie tot. Sie seufzte erschöpft, blickte in die dunklen Augen ihres Tickers. Ein süffisantes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ihre Hand legte sich auf die Brust des Mannes. Die Augen zu Boden gerichtet und unschuldig dreinschauend schabte sie leise mit ihren Absatzschuhen. Ihre Finger malten Kreise auf der Brust ihres Gegenübers. Umkreisten die Stellen an den Brustwarzen und strichen zärtlich um diese. Zwickten leicht hinein, nur um erneut ziellos darüber zu streicheln. “Wie wär’s? 12.400 Yen für ein Gramm und du bekommst einen kostlosen Fick mit Blow-Job. Mh?” Sie strich weitere Kreise auf der Brust. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihren Körper anbot, damit sie die Schulden für die Drogen bei ihrem Ticker bezahlen konnte. Schließlich besorgte der Typ ihr den Stoff und auch einige Kunden. Der Griff lockerte sich. Sie ließ kurz ihre Schultern kreisen, damit ihre Arme wieder Entspannung bekamen. Ihr Gegenüber lachte rau auf. “Du elendige, kleine Schlampe. Aber abgemacht. Du weißt ja, wie ich es mag.” Sakura nickte gehorsam. Ihr Ticker bewegte sich von ihr weg und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Die Beine breitbeinig, saß er dort und starrte sie aus lüsternen Augen an. Es war nichts Neues für sie. Sie wurde von allen mit solchen Augen angesehen. Das war Standard auf dem Babystrich. Oder Drogenstrich, wie man es nun nennen wollte. Es war ihr egal, wie man sie ansah. Hauptsache, die Bezahlung stimmte. Ziellos strich sie über den engen Stoff ihrer Kleidung. Ein gespieltes Stöhnen verließ ihre Lippen, als sie einen ihrer Nippel stimulierte. Sie wusste, was ihr Gegenüber wollte. Erst sollte sie sich selber heißmachen, bis sie fast kam. Dann würde sie ihm einen blasen müssen. Mit der Hitze, die durch ihrer Erregung in ihren Körper herrschte. Und am Ende würde er sie von hinten ficken. Grob und hart. Sie wollte das manchmal nicht, aber sie musste. Sie brauchte die Drogen. Sie brauchte sie, um nicht endgültig wahnsinnig zu werden. Zwar war ihr Kopf durch den Stoff vernebelt, aber sie nahm noch einiges aus ihrer Umgebung wahr. Nur konnte sie sich nie auf das konzentrieren, was man gerade mit ihr anstellte. Sie war dann mit den Gedanken meist weit woanders. Abgedriftet in ihre Welt. In ihre Vorstellungen. Und sie spürte kaum, bis fast keine Schmerzen. Das war das Gute an der Sache. Ansonsten wäre sie sicherlich schon längst verrückt geworden. Rittlings setzte sie sich auf seinen Schoß und rieb sich an dem Jeansstoff der abgenutzten Hose. Sie brauchte die Drogen. Sie brauchte das Geld. Immer wieder trieb sie dieser Gedanke an. Sie brauchte das Geld für ihre kleine Tochter, welche jetzt zu Hause lieb schlief und nicht wusste, was ihre Mutter in diesen Stunden machte. Was sie in diesen Stunden durchstehen musste... ~*~*~ Seufzend stieg sie aus dem Auto aus und zupfte sich ihren kurzen Rock zurecht. Schnell gab sie dem Freier einen leichten Kuss auf die Wange und verabschiedete sich mit einem lieblichen Lächeln von ihm. “Du warst unglaublich. Ich habe mich wie bei meinem ersten Mal gefühlt. Du kannst gerne mal wieder kommen.” Leise hauchte sie ihm die Wörter entgegen. Natürlich war alles gelogen. Es war nichts anderes, als wie bei jedem anderen Typen gewesen. Nichts Besonderes, was sie unbedingt in Erinnerung behalten würde. Morgen hätte sie sicherlich wieder das Gesicht und den Namen vergessen, welchen sie so lustvoll stöhnen sollte. Und in Wirklichkeit wollte Sakura das alles nicht, aber diesen Satz sagte sie zu fast jeden Mann. Es war wie ein Standard, um ihre Arbeit abzurunden. Genauso wie der Satz: “Mach mit mir, was du willst. Ich bin eine richtige wilde Bestie!” Der Motor heulte auf und der Wagen fuhr wieder fort. Erschöpft seufzend strich sie sich ihr rosafarbene Haar aus dem Gesicht. Sie war müde. Ihr war kalt. Ihre Glieder fühlten sich Schritt für Schritt immer schwerer an. Der Rausch der Droge verflog immer mehr. Bald müsste sie sich Nachschub versetzen. Am besten jetzt sofort, ehe die ersten schlimmen Nachwirkungen eintrafen. Danach könnte sie wieder einige Stunden arbeiten. Zitternd drückte sie sich ihre Tasche an den Körper, damit ihr diese niemand klauen konnte. Man wusste nie, welcher Idiot sie anpacken würde, um ihr die Tasche zu entwenden. Schließlich waren dort ihre Drogen und ihr hartverdientes Geld drin. Ein kalter Wind wehte auf. Wirbelte ihr Haar durcheinander. Sie strich immer wieder fahrig einige Strähnen aus dem Gesicht. Die Neonlichter der Reklametafeln strahlten unheilvoll auf sie herab. Der kühle Novemberwind heulte durch die leeren Gassen. Riss hier und da einige kleinere Blechdosen oder Glasflaschen um, die klirrend oder scheppernd zu Boden fielen. Einige Papierfetzen von Flyern oder Zeitungen wurden in die Luft gehoben. Ein weiter Schatten breitete sich auf den Steinwänden der alten Häuserblöcke aus. Vermischte sich mit ihrem eigenen. Es roch widerlich nach Urin und anderen Fäkalien. Aber sie war es gewohnt.... Sakura ging jeden Tag diese Strecke entlang. Es war wie eine Abkürzung, um schnell bei sich zu Hause anzukommen. Und dennoch verspürte sie immer wieder dieses unangenehme Gefühl in ihrem Inneren. Angst... Angst vor dem Unbekannten. Die Wege waren vertraut. Die Wände und Gassen bekannt. Und dennoch fühlte sie sich jedes Mal an, als würde sie durch unbekanntes Territorium wandern. Zwanghaft versuchte sie sich da immer auf etwas anderes zu fixieren. Meistens auf ihre Tochter. Was sie wohl gerade machte? Sicherlich lieb schlafen und leise sein, wie es ihre Mutter gebeten hatte. Sarane war wirklich ein liebes Mädchen. Hätte sie früher auch so lieb sein müssen, damit ihre Mutter sie vielleicht mal in den Arm nahm? Sicherlich... Ehe Sakura in der Vergangenheit versinken konnte, rissen sie einige dunkle Stimmen aus ihren dunklen Gedanken. “Bist wohl schüchtern, mh? Das gefällt mir.” Skeptisch zog sie die Augenbrauen zusammen. Zwei Typen und ein Mädchen, das sie in diesen Gassen noch nie gesehen hatte. Die Kleine sah auch nicht aus, als wäre sie vom Strich. Sie spürte so etwas sofort. Alle Huren und Schlampen hatten eine gewisse Ausstrahlung. Das gewisse Etwas. Dass sie die Macht über den Mann hatten, ihn einfach widerstandslos um den Finger wickeln zu können. Mindestens die Mädchen und wenigen Jungs, welche sie kannte. Aber diesem Mädchen fehlte es strickt und einfach an Mut, an Selbstbewusstsein, um überhaupt solch einen Beruf auszuführen. Sie kam näher auf die drei Gestalten zu. Sie stolzierte mit der Eleganz und dem Stolz eines Schwanes auf sie zu. “Wollt ihr wirklich dieses kleine, schüchterne Mäuschen haben? Wie wäre es mit einer wilden Bestie wie mir? Ich würde für euch sogar einen Sonderrabatt geben. Ihr beide zusammen im Preis von einem. Wie wäre das?” Ja, Mauerblümchen. Das war dieses Mädchen wirklich. Obwohl... Sakura betrachtete sie genauer. das Haar in einem dunklen, blauen Ton mit einigen hellen Schimmern drin. Sie erkannte es nur schwer, aber dennoch bemerkte sie, wie einige Haarspitzen leicht zitterten. Das Mädchen musste entsetzliche Angst verspüren. Sie schaute in die lavendelfarbenden Augen, welche sich sofort von ihrem Blick abwandten. Schüchtern. Das war das Erste, was ihr dazu einfiel. Plötzlich weitete sich ihre Augen. Sie kannte dieses Mädchen! Zumindestens vom Sehen her. Nur wollte sich ihr Verstand nicht genau erinnern, wann und wo sie diese gesehen hatte. Aber diese schüchtere Haltung hatte sich schon einmal gesehen. Lange war es her. War sie da nicht noch mit ihrem ‘Freund’ zusammen gewesen? Sie glaubte es, aber sicher war sie sich nicht. Ein Kribbeln breitete sich auf ihren Armen aus. Eine Gänsehaut überzog diese. Ein leichter Rosaschimmer legte sich auf ihre Wangen. Das hatte sie noch nie erlebt oder verspürt. Geschweige denn gedacht. Sie konnte ihren Gegenüber nur mit diesem Satz beschreiben: Dieses Mädchen war wie eine Orchidee in der weiten Wüste. Eine kleine Knospe, die zu einer prachtvollen Blüte heranwachsen würde. Leicht wandte sie die Augen ab, schritt aber immer noch erhobenen Hauptes und mit selbstsicherem Auftreten auf die beiden Männer zu. Ihren Blick aber immer weiter auf die Blauhaarige gerichtet. Sie musste verschwinden. Sie gehörte nicht hierher. Sakura drückte sich dem einen Mann entgegen und schmiegte sich gespielt liebreizend gegen diesen. Ihr Knie rieb sie an dessen Schritt. Geilte in damit auf. Somit war die Chance größer, dass man ihr mehr Beachtung schenkte. Dass sie ihn um den Finger wickeln konnte. Der Gedanke daran, dass sie eigentlich schnell Heim wollte, um sich neuen Stoff zu injizieren, war längst vergessen. Ihre Gedanken drehten nur noch darum, wie sie dieses Mädchen von hier losbekam. Es gehörte einfach nicht hierher. Mit in dieses Geschäft voller Demütigung, Schmerz, Schmutz, dem Geld und die schädlichen Drogen. Sie war doch noch so unschuldig. So unbefleckt. Sie hatte noch die Reinheit einer weißen Blüte und die Scheu eines Rehes. Mit einem Handzeichen deutete sie dem Mädchen an, dass sie nun endlich verschwinden konnte. Wohlig seufzte sie auf, als der zweite Typ sie grob an die Oberweite anpackte. “Angebot wird angenommen. Wir zwei zum Preis von 7.500 Yen [3].” Sie nickte nur. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Ihr Körper erzitterte kurz. Sie spürte ein Brennen in ihrem Inneren. Bemerkte, wie der beruhigende Rausch der Drogen nachließ. Wie ihr Kopf schwerer und voller von Gedanken und Gefühlen wurde. Sie brauchte neuen Stoff, konnte aber jetzt auch nicht die beiden Typen einfach so abwimmeln. Schließlich brauchte sie auch das Geld. Aber clean ficken lassen konnte sie sich auch nicht. Es würde sie wahnsinnig machen. Sie wollte somit nicht noch mehr ihre Seele kaputt machen. Anscheinend musste sie sich schnell auf einer der widerlichen und verdreckten, öffentlichen Toiletten einen Stich setzen. Ihr blieb nichts anderes übrig. Das war eben das Leben auf der Straße... Dreckig. Schmutzig. Schmerzhaft. Und voller Lügen... ~*~*~ Keuchend kam Sakura zu Hause an. Krampfhaft hielt sie sich ihren rechten Arm fest. Bei ihrem letzten Stich hatte sie sich eine ihrer Arterien zerstochen, da sie sich beeilen musste. Es schmerzte fürchterlich, auch wenn schon seit dem letzten Mal injizieren zwei Stunden vergangen waren. Ihr Körper schmerzte. Ihr war schwindlig. Ihr war schlecht. Sie öffnete die Haustür. Das Klimpern der Schlüssel hallte laut in ihren Ohren wider. Sie wollte das nicht hören. Es erinnerte sie zu sehr an das Rasseln von Ketten. Stahlketten, die sich immer enger um ihren Körper schnürten. Sie nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie nahmen ihr den Raum zum Leben. Sie wollte nicht gefangen sein. Fühlte sie sich da doch immer wieder so wehr- und hilflos. So gefangen vom Leben. Sakura betrat die stickigen Hausflure mit den vielen Graffiti an der Wand. Sie starrte die Zeichnungen und Schiftzeichen genauer an. Parolen gegen Ausländer. Vereinzelte Handynummern von verzweifelten Mädchen, die so sehr nach ihrer großen Liebe suchten. Ihre stand nicht dabei. Wusste sie doch, dass es die große Liebe niemals gab. Erfahrung. Sie würde ewig allein bleiben mit ihrem Kind. Allein die Ereignisse auf der Straße als Hure erleben. Niemanden, mit dem sie ihre Erlebnisse oder Erfahrung austauschen oder teilen konnte. Ihre Sicht verschwamm. Die Bilder und Schriftzüge vor ihren Augen waren nur noch bunte Gebilde, die für sie keinen Sinn ergaben. Für einen Moment drehte sich alles vor ihr. Ihr war noch schlechter. So schlecht... Hektisch schlug sie die Hand vor den Mund. Aber es half nichts. Sie würgte. Erbrach sich mitten auf den Stufen, welche sie nur schwankend und mit viel Mühe erklimmen konnte. Gelb und zähflüssig im Licht der kleinen Glühbirne an der Wand über dem Lichtschalter und den Klingelknöpfen. Egal... Ob nun der betrunkene Nachbar vor seine Haustür pisste oder sie sich hier mitten auf den Treppen erbrach, machte in ihren Augen keinen Unterschied. Später würde sie es einfach aufwischen. Zum Glück hatte sie sich nicht auf den Fußabtretern einer der Mieter im Haus übergeben. Es wäre eine schwierige Sache gewesen, den Gestank wieder aus den Teppich zu waschen. Aber dennoch war es ihr irgendwie peinlich... Sie kam sich in solchen Momenten richtig erbärmlich vor. Schwankend lief sie die Stufen weiter. Sie musste sich am Geländer festkrallen, um nicht ihren Halt zu verlieren. Sie fühlte sich miserabel an. Brauchte dringend ihren nächsten Schuss, ehe sich die Schmerzen verschlimmerten. Ehe sich ihr Körper verkrampfte. Ehe alle Probleme, Gedanken und Gefühle über sie hereinbrachen. Wieder klimperte ihr Schlüssel, erklang unheimlich laut in ihren Ohren. Zitternd streckte sie das Metall gegen das Türschloss. Wollte soeben den Schlüssel in diesen versenken, als sie ein Rascheln von Papier zusammenzucken ließ. Erschrocken wandte sie sich um. An die Wand gelehnt stand ein Mann. Mittleres Alter, aber schon graues Haar. Oder war es eher ein silbriger Ton? Sie konnte es nicht ganz erkennen. Wieder raschelte eine Seite von dem Schmöker, die ihr Gegenüber las. Sie sagte nichts dazu. Konnte ihr doch auch egal sein, warum dieser Typ hier mitten im Gang sein Buch las und nicht zu Hause im warmen Zimmer. Sie versuchte wieder den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Zitterte aber so sehr, dass sie alles immer mehr zerkratzte. Sie fluchte. Ihr war egal, dass der Typ das Ausmaß ihres vulgären Wortschatzes im vollen Maße mithören konnte. Sie bemerkte, wie sie immer mehr aggressiver wurde. Wie immer mehr Schmerzen über sie herein brachen. Ihren Körper lähmten. Wie der Rausch der Drogen fast gänzlich verflog. Sie wollte gerade den Schlüssel in eine Ecke schmeißen und sich verkrampft auf den Boden fallen lassen, als sie es endlich schaffte das Schloss zu treffen und aufzuschließen. “Wilde Kirschblüte? Oder doch lieber Sakura Haruno?” Erschrocken zuckte sie zusammen, als man sie bei ihrem Spitznamen auf dem Strich ansprach. Sie wandte ihren Blick zu den Typen. Das Rascheln einer weiteren Buchseite ertönte. Was sollte sie machen? Einfach die Türe schließen und den Mann ignorieren? Wer war dieser überhaupt, dass er ihren Namen und ihre Adresse kannte?! Panik stieg in ihr auf und umklammerte ihren Nacken. Ließ ihre Härchen aufrecht stehen. Eine Gänsehaut überzog ihre schweren, schmerzhaften Arme. Ihre Schultern bebten. Sie wollte schreien. Aber kein Ton würde über ihre trockenen Lippen kommen. Höchstens ein heißeres Krächzen. Ihr war wieder schlecht. Sicherlich musste sie sich noch einmal übergeben. Was war, wenn der Typ von irgendwo herkam und sie kontrollierte? Wenn es ein Polizist war? Schließlich hatte sie fast noch ein Gramm Heroin in ihrer Tasche. Oder ihr vielleicht noch Sarane wegnahm? Das konnte sie nicht zulassen. Sie wollte in ihre Wohnung huschen, als die dunkle Stimme sie noch einmal aufhielt. “18.000 Yen [4] und du lässt mich in deine Wohnung und wir reden in Ruhe über alles. Du kannst dir gerne auch noch vorher etwas einwerfen oder injizieren.” Der Mann sah nicht von seinem Buch auf, las einfach gemütlich weiter. Sie konnte seine Lippen nicht erkennen, da diese von einem dunklen Schal verdeckt waren. Über dem rechten Auge zog sich eine breite, lange Narbe. Mehr wollte sie auch nicht sehen. Es reichte ihr vollkommen. 18.000 Yen. Das war eine Menge Geld. Damit würde sie sicherlich weit kommen. Zumindest für ein Gramm Heroin reichte das Geld. Wenn der Preis nicht wieder stieg. Skepsis stieg in ihr auf. Wer bezahlte solch eine Stange, nur um zu reden? Sie zuckte mit den Schultern. Sie bekam eine Stange Geld, ohne dafür die Beine breit zu machen. Besser konnte sie es nicht haben und das Geld brauchte sie. Zitternd neigte sie den Kopf zur Seite. Deutete damit an, dass der Mann eintreten sollte. Sie selbst trat ebenfalls ein. Lief langsam durch den Flur. Eine Gewohnheit von zu Hause noch. Immer wenn sie Heim kam, war sie durch den Flur geschlichen. Die Angst, ihre Mutter konnte sie hören und sie wieder schlagen war groß. Die Furcht bestimmte immer wieder den Laut und das Tempo ihrer Schritte. Je größer, desto leiser und schneller war sie. Es war immer wie in einem Horrortrip. Dabei wohnte sie gar nicht mehr zu Hause. Ihre Mutter war auch nicht hier. Aber dennoch verschwand dieses Angst nicht. Ihre Füße trugen sie automatisch in den kleinen Wohn- und Schlafraum. Ihr Besucher hatte sich auf ihrer schäbigen Matratze, welche als Bett diente, niedergelassen und schmökerte weiter in dem Buch. Wirklich merkwürdig. Schließlich wollte er mit ihr reden und sie nicht mit ihm. Sie ging an das ‘Bett’ ihrer Tochter. Strich der Schlafenden zärtlich über das Köpfchen. Ihre Hand zitterte. Begann schon mit Schwitzen. Sie brauchte dringend ihren nächsten Schuss. “Ist das dein Kind?” Erschrocken zuckte sie zusammen. Wieder raschelte Papier auf. Sie antwortete nicht. Schwieg. War manchmal besser so, bei solchen Fragen. Sie hatte gelernt bei Fragen zu ihrer Familie einfach zu schweigen. Stille durchschnitt die dicke Luft im Raum. “Willst du dir nicht noch irgendwas einwerfen oder injizieren?” Sakura schüttelte den Kopf. Sie brauchte einen klaren Kopf. Sie musste bei klarem Verstand bleiben. Drogen würden ihre Konzentration kaputt machen. Würden sie einlullen und unachtsam werden lassen. Außerdem war ihr Besteck noch verschmutzt. Sie müsste es erst reinigen und das würde Zeit verbrauchen. Dann doch lieber die Nachwirkungen der Drogen, als an irgendeiner Krankheit zu sterben. Wieder raschelte Papier. Erneute Stille. Wieder warten. Es nervte sie. Es zerrte an ihrer Geduld. An ihrer Kraft. “Ich fass mich kurz...” Die Stimme des Mannes klang ernst. Und sehr dunkel und rau. Das fiel ihr erst jetzt auf. Aber war es doch egal. Sie wollte nur wissen, was er mit ihr zu besprechen hatte. “Mein Name ist Hatake Kakashi. Ein guter Freund hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich ein sehr junges Mädchen wie du auf dem Babystrich einen Namen erkauft.” Sie zuckte mit den Schultern. Na und. Da war sie halt eine der jüngsten Huren hier auf dem Strich. War ihr doch egal. Sie brauchte nur das Geld. Es interessierte sie einen Dreck, ob sie sich nun damit einen Namen oder Rang erkaufte oder nicht. Solange Geld und Drogen da waren, war alles in Ordnung und Unwichtiges egal. Eine Welle voller Schmerz ließ ihren Körper verkrampfen. Sie sackte zu Boden. Umklammerte ihren Bauch. Ihr war wieder so schlecht. “Willst du nicht lieber—“ ”Halt deine verdammte Fresse und komm zum Punkt!” Überrascht riss sie die Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war immer wieder so aggressiv nach einer verflogenen Dosis Heroin. Sie schrie. Wütete. Oder schlug Sachen kaputt. Früher hatte ihre Mutter immer alle Aggressionen an ihr ausgelassen. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte Sarane einfach kein Haar krümmen. Wenn der Kleinen etwas passierte, hätte ihr Leben keinen Sinn mehr. Sie hätte keinen Grund mehr zum Weiterkämpfen... Aber sie wollte leben und das für ihre Tochter. Ihr Körper erbebte. Sie hauchte eine tonloses “Gomen” und wandte den Blick ab. Auf das Gesicht ihrer Tochter. Versuchte damit zur Ruhe zu kommen. Versuchte damit alle negativen Gedanken abzuschütteln. “Du wohnst hier mit deiner Tochter allein. Gehst auf den Strich und nimmst Drogen, um über die Runden zu kommen. Dein Leben ist erbärmlich und grauenvoll. Stimmt’s?” Sie schwieg. Was sollte sie ansonsten auch dazu sagen? Es war die Wahrheit. Sie selbst hatte alles so doch auch gesehen. Es war ihr Leben. Ihr Alltag, der zur Routine wurde. Jeden Tag hatte sie sich dieses Leben immer wieder vor gehalten. Hatte gesagt: “Ha, schau welches schreckliche Schicksal dir widerfährt. Kami muss dich wirklich sehr hassen...” Aber aus dem Munde eines anderen klang es so, als wäre ihr ganzes Leben eine Lüge gewesen. Eine Lüge, die sie sich selber gesponnen hatte. Ein Leben, was sie sich selber kaputt gemacht hatte. Waren es Vorwürfe, welche sie da heraushörte? Sie erkannte es nicht. Was hätte sie denn sonst machen sollen? Sie wusste es doch nicht! Man hatte sie einfach so mit diesem Balg in die kalte Welt gestoßen... “Als wenn du was wüsstest...” Leise kamen die Worte über ihre Lippen. Kaum hörbar. Sie wollte auch nicht, dass es der Andere verstand. “Warum bist du nicht zu jemanden gegangen, der dir hilft? Es gibt viele Anstalten wo jungen Müttern geholfen werden, die selber noch Kinder sind.” Wieder raschelte Papier auf. Stille herrschte wieder im Raum. Unruhe machte sich in ihr breit. Was sollte sie darauf antworten? Es stimmte doch. Sie hätte sich doch Hilfe suchen können. Es gab überall welche. Aber sie hatte alles für sich behalten, weil... “Du hast dich geschämt. Du kamst dir erbärmlich vor. Hattest Angst vor den Reaktionen der Erwachsenen und den Kindern in deiner Umgebung. Angst, dass sie mit dir schimpfen. Dir dein Kind wegnehmen. Oder dich auslachen. Du wusstest nicht, was du genau machen solltest. Wie du mit deiner Lage umgehen solltest. Was eigentlich in Wirklichkeit passiert war. Plötzlich warst du schwanger und wusstest nicht mehr wohin mit diesen Gefühlen und dieser unbekannten Situation. Du kamst dir einsam und verlassen vor. Machst dir Vorwürfe, dass du niemandem etwas gesagt hast. Und am Ende hast du keinen Ausweg mehr gesehen, außer auf dem Babystrich anschaffen zu gehen.” Der Mann klappte das Buch zu. Sakura hörte es nur an dem lauten, dumpfen Geräusch was entstand, wenn man Bücher zuklappte. “Ich liege richtig, oder? Keine Sorge. Viele Mädchen in deinem Alter machen diese Fehler. Du bist da nicht allein.” Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Sie biss sich auf die bebende Unterlippe. Kaute auf dieser herum. Kniff ihre Augen zusammen. Senkte den Kopf zu Boden. Unvergossene Tränen brannten hinter ihren geschlossenen Lidern. Sie wollte doch nicht mehr Weinen. Sie wollte doch nicht mehr schwach sein. Aber diese Worte wirkten wie Balsam auf ihrer kaputten Seele. Sie war nicht allein... Vielen Mädchen erging es ähnlich wie ihr. So unzählige viele... Tränen liefen über ihre Wangen. Sie schluchzte auf. Weinte. Hatte keine Kraft mehr. Hektisch schlug sie ihre Hände vor das Gesicht. Vergrub es in diesen. Wollte nicht, dass man sie weinen sah. Ihr Bettzeug raschelte. Sicherlich erhob Kakashi sich gerade eben von ihrem Bett. Schritte kamen auf sie zu. Aber sie hörte es kaum. Sie nahm nur das Rauschen ihres Blutes in den Ohren war. Das schnelle Schlagen ihres Herzens. “Sakura, ich bin hier, um dir zu helfen. Ich will dich in Atarashii Seimei mitnehmen. Da kannst du einen Entzug machen. Du bekommst dort auch eine Wohnung MIT deinem Kind. Wir werden dir dort helfen, auch mit dem Kleinen. Wir wollen versuchen deine kaputte Seele wieder zu heilen. Aber nur, wenn du wirklich mitkommen willst. Es liegt alles an dir.” “Ich will das alles nicht! Als wenn du etwas wüsstest!” Erstickt kamen diese Worte zwischen mehreren Hicksern über die Lippen. Sie schluchzte herzzerreißend auf. Sie rieb sich immer wieder über die geschlossenen Lider. Versuchte die Tränen zu stoppen, aber sie schaffte es nicht. Sarane neben ihr grummelte leise auf, schlief aber brav weiter. Wut wallte in ihr auf. Wut auf sich. Auf Andere. Auf alles! Als wenn der Andere, was sie alles erlebt hatte! Dennoch ließen die nächsten Worte ihre Wut abflauen... “Ich kann es nicht nachvollziehen, da hast du Recht. Ich kann dich nur damit trösten und dir sagen, dass ich viele Kinder gesehen, die ein ähnliches Schicksal wie du erlebt haben. Es liegt an dir, ob du von den Drogen und der Prostitution wegkommen willst oder ob du dein Leben weiter lebst wie bisher. Es ist deine Entscheidung, ob du die Chance nutzt oder es sein lässt. Ich bin auf jeden Fall hier, um dich mitzunehmen. Um dir zu helfen ein neues und anderes Leben zu erhalten. Einen neuen Anfang. Doch die Entscheidung liegt bei dir.” Atarashii Seimei... Das klang wie das Leben, was sie sich gewünscht hatte. Wie ein Neustart. Ein Neubeginn mit ihrer Tochter. Wie eine Wiedergeburt. Sie wollte es so sehr. Aber hatte Bedenken. Es klang alles fast so, als ob sie krank wäre. Dabei nahm sie doch nur Drogen und ging auf den Strich. Sie wusste zwar, dass sie süchtig war. Aber sie wollte es nicht akzeptieren. Sie konnte es nicht. Sie wusste es war falsch, aber sie wollte es nicht einsehen. Und dennoch... Es klang alles so verführerisch. So verlockend, sodass sie nach diesen kleinen Grashalm griff. Sie sich an ihm klammerte und die Chance nutzen wollte. “N-nimm mich mit...” Ein neues Leben... Ohne Schläge. Ohne Schmerzen. Ohne Drogen. Ohne Geldprobleme. Ohne, dass sie ihren Körper oder ihre Seele ficken lassen musste. Und mit Liebe... _____________________________________________ [1] 140,80 € [2] 99,20 € [3] 60,00 € [4] 144,00 € Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)