Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 43: 44. Kapitel ----------------------- Amanda hatte die Beine auf einen zweiten Klappstuhl abgelegt und schob ihn immer wieder hin und her. Mit grimmiger Zufriedenheit hörte sie das Kratzen auf dem Fußboden und das leise Summen der Computer im Raum. "Würdest du das bitte seinlassen? Es ist schön, dass du wieder hören kannst, aber das Geräusch macht mich wahnsinnig." Eigentlich hatte Amanda angenommen, Clea sei viel zu sehr darin vertieft, die neuesten Erkenntnisse auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen, um auf sie zu achten. Sie bemerkte auch, wie ihre schwarze Lederhose leicht knirschte, als sie die Beine nun reumütig auf den Boden stellte. Wie sehr man manche Dinge doch erst zu schätzen wusste, wenn man sie eine Weile nicht besessen hatte. Zwar konnte Amanda noch nicht auf beiden Seiten gleich gut hören, aber es wurde von Tag zu Tag besser. Außerdem war endlich das dauernde Schwindelgefühl von ihr gewichen, was sie endlich wieder beweglicher machte. Heute wollte sie endlich einmal wieder aus dem Containerhafen raus. Eric hatte – in ihren Augen – immer wieder das Glück unterwegs zu sein, um Lebensmittel einzukaufen, ein paar Kontaktleute zu besuchen oder andere Dinge zu erledigen. Seit zwei Tagen war er schon unterwegs und hatte nur kurz angekündigt, dass er gegen Abend wieder in der Zentrale sein würde. Sie mussten den Handykontakt trotz Sicherheitsvorkehrungen so kurz wie möglich halten. Deshalb rief Amanda Nataniel auch von der gesicherten Leitung der Zentrale an, anstatt von ihm auf dem Handy erreicht zu werden. Auch wenn die Verbindung über Sven aufgebaut wurde, wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen. Ein winziger Stich fuhr durch ihre Magengrube, als sie daran dachte, wie lange sie Nataniel nicht gesprochen hatte. Zuerst hatte sie ihn nicht erreicht, dann war da der Einsatz gewesen und ihre Verletzung. Sie hatte nicht mit ihm telefonieren können und gestern war er wohl beschäftigt gewesen, dann sie war wieder bei der Mailbox gelandet. Hoffentlich zumindest kein Grund sich Sorgen zu machen. Hätte es einen Zwischenfall mit der Moonleague und dem Rudel gegeben, wären die schlechten Neuigkeiten bis zum Untergrund durchgedrungen. Wahrscheinlich sogar in jedem Fall, bevor Nataniel Amanda überhaupt erreicht hätte. Amanda unterdrückte einen Seufzer. Sie hatte doch gewusst, dass es schwierig werden würde. Das hier war nun mal kein Ferienausflug, bei dem sie Nataniel jeden Tag vom Hotel aus anrufen konnte. Die ersten paar Tage, in denen sie es anstandslos geschafft hatte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, hatten sie in dieser Hinsicht verwöhnt. Ein Blinken auf dem Bildschirm riss Amanda aus ihren Gedanken. Ihre Finger, die sich unbewusst beim Gedanken an Nataniel so stark verschlungen hatten, dass ihre Knöchel weiß hervor traten, griffen nach der Tischkante, um sich mitsamt Stuhl nach vorn zu ziehen. Clea stöhnte bei dem Schaben von Metall auf Metall kurz auf. "'Tschuldige. Was ist das?" Amandas ausgestreckter Finger schwebte Millimeter über dem Bildschirm und deutete so auf die vereinzelt blinkenden Punkte über dem Stadtplan. Es waren nur ein paar, aber das Blinken machte sie nervös. "Die Gelben sind aufgezeichnete Suchaktionen der Klasse 5 Sammler. Die Roten sind gefährdete Orte und die, die blinken..." "Werden gerade durchsucht?!" Zustimmendes Geräusch und Nicken. "Soweit wir wissen. Wir müssen uns auf Informanten verlassen. Das Netzwerk über die Stadt hinweg ist zwar gut, aber viele Mitglieder der Wandlergemeinschaft sind schon ein wenig paranoid und sehen in jedem, der dunkle Klamotten trägt einen verdeckten Sammler." "Nicht zu Unrecht, würde ich sagen." Amandas Augen verengten sich und registrierten nur beiläufig, dass über ihrer eigenen Wohnung ein gelber Punkt prangte. Allerdings war das zu erwarten gewesen. Der im Moment vor sich hin pulsierende Punkt schien sehr viel interessanter. "Warum denn dort?" Clea zuckte die Achseln, lehnte sich in ihrem breiten Bürosessel zurück und kaute auf dem pinken Bleistift in ihrer Hand. "Na ja, wir mögen wissen, wie sich die verschiedenen Sammler-Klassen unterscheiden. Ein Wandler, der nur vom Büro nach Hause fährt, weiß das nicht." "Ein Treffen." Cleas Augen weiteten sich und der Bleistift fiel zu Boden, als sie sich mit dem Sessel umdrehte, um Amanda zu fragen, was sie vorhatte. Die war aufgesprungen, hatte sich die Lederjacke von der Stuhllehne geschnappt, war schon halb durch den Raum. "Ich nehme Francy und Seth mit.", war die einzige Erklärung, die sie abgab. *** Sven hatte ihm - wie Clea für Amanda - ein Ticket für den gleichen Langstreckenbus besorgt, den auch seine Gefährtin genommen hatte. So konnte er seinem Freund gleich den Leihwagen zurückgeben, damit die Kosten nicht noch in schwindelnde Höhen anstiegen. Außerdem war er sich sicher, dass er dort wo er hin fuhr, den Wagen nicht mehr brauchen würde und es käme auch sicherlich nicht gut an, wenn ihn auf der Strecke die Polizei aufhalten sollte und er keinen Führerschein vorweisen konnte. Immerhin besaß er so etwas nicht. Als Gestaltwandler hatte er auch bisher keinen allzu großen Sinn darin gesehen. Sein Gepäck beschränkte sich auf zwei weitere Outfits und seinem Waschbeutel. Wenn nötig, hatte er genug Bares mit, um sich auch vor Ort noch ein paar Dinge zu besorgen, was er aber eigentlich nicht annahm. Endlich im Bus konnte er den Ort vergessen, an dem Amanda sich von ihm verabschiedet hatte und wo auch er hatte einige Minuten warten müssen. Allein die Erinnerung daran ließ ihn noch mehr frösteln, als er es ohnehin schon tat. Zwar hatte er den Anweisungen seiner Gefährtin gehorcht und in den letzten Tagen so viele Kalorien zu sich genommen wie möglich, aber das änderte trotzdem nichts daran, dass er aussah, als hätte er Wochenlang wegen einer schweren Grippe im Bett gelegen. Ein Grund mehr, wieso er die Stunden im Bus dazu nutzte, mangelnden Schlaf nachzuholen, obwohl er sich dabei lediglich auf oberflächliches Dösen beschränkte. Aber gerade diese katzenhafte Eigenschaft schenkte ihm trotzdem genug Erholung, um neue Kräfte zu sammeln. Bestimmt würde er sie dringend nötig haben. *** "Langsam.", ermahnte sich Amanda selbst, als sie über die ersten Brücken des Villenviertels und an den mit Zäunen und Mauern umgebenen Häusern vorbei fuhren. Hier überschritt niemand das Tempolimit, schon gar nicht kurz vor Einbruch der Nacht und mit zwei Motorrädern. Glücklicherweise wollten die Reichen auch nicht auf ein bisschen Natur verzichten, selbst wenn sie sich für ihre Bauten das diesbezüglich unwirtlichste Gelände ausgesucht hatten. Die Pontons lagen sicher und ruhig im Wasser, die Wellen wurden bereits weiter draußen im Hafen gebremst, damit hier niemand seekrank werden konnte. Lächerlich, ein Großstadtviertel komplett auf dem Wasser schwimmen zu lassen und trotzdem so zu tun, als wäre man an einem stabilen Ort. Wie gesagt, zumindest gab es für Francy in ihrer Eulengestalt genug Bäume, um es weniger auffällig erscheinen zu lassen, dass sie hier herumflog. Vor allem das Haus am Ende der Straße, auf das sie gerade zusteuerten, hatte einen regelrechten Wald im Garten. Jeder hatte seine Sammlerleidenschaft, nicht wahr? Mit der Hand bedeutete Amanda Seth den Motor auszuschalten und ihr in eine Nebenstraße zu folgen. Eine winzige Fußgängerbrücke führte zu einem um diese Tageszeit verlassenen Spielplatz. Dort stiegen sie ab und ließen ihre Transportmittel in einer dunklen Ecke stehen. "Meinst du, wir kommen von hier aus unauffällig wieder auf die Hauptstraße zurück?" Seths Stimme war leise, aber keinesfalls alarmiert. Amanda hatte ihm schon vor ihrem Aufbruch gesagt, dass sie sich hier auskannte. Immerhin war sie nach ihrem zehnten Lebensjahr hier in der Gegend aufgewachsen. Und Onkel Franks Haus mit den schönen Bäumen im Garten war ihr immer in Erinnerung geblieben. "Wir können die nächste Brücke zur Umgehung nehmen und sind dann auf dem Innenstadtring. Dauert länger, ist aber für unseren Abgang sicherer." Bloß ein Nicken. Sehr gut, sie konnten also los. Egal, ob das ein Treffen der Gründer oder ein Grillfest mit ein paar Sammlern werden würde, was Frank da veranstaltete. Oder einfach nur falscher Alarm. Amanda würde dabei sein, um so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Sollte das Ganze aus dem Ruder laufen, war Francy da, um dem Untergrund Bescheid zu geben. So leise es eben ging, liefen Amanda und Seth auf den Garten des Hauses zu. Normalerweise hätte Amanda nun die Lage von Schatten und mondbeschienenen Flächen ausgelotet. Nur um sich sicher zu fühlen. Das hatte sie seit Seths Training nicht mehr nötig. Trotzdem war sie ihm dankbar, dass er sich auf ihrer linken Seite postierte. Ein leises Knacken hätte sie von dort immer noch nicht hundertprozentig rechtzeitig wahrnehmen können. *** Obwohl der Reisebus gut vorankam, blieben sie doch auf dem letzten Stück der Strecke hängen. Ein Unfall auf dem Highway hatte einen kilometerlangen Stau verursacht, in dem sie fest hingen und nur Schrittweise vorankamen. Zu dieser Zeit war Nataniel bereits so aufgeregt, dass er nicht mehr schlafen konnte und die Ungeduld, die durch den Stau langsam in Aggressivität umschlug, machte das Warten auch nicht besser. Als es schließlich so aussah, als würden sie mit einer saftigen Verspätung ankommen, tippte er eine entsprechende SMS an Eric, damit der ihn erst gegen Abend abholen kam. Amanda hatte er nicht erreicht, aber bestimmt hatte ihr Bruder ihr schon gesagt, dass er heute ankommen würde. Wenn nicht, würde das sicher eine ordentliche Überraschung abgeben. Im Grunde war es ihm egal, ob sie wusste, dass er kam oder nicht, weil nur zählte, dass er sie in wenigen Stunden bald wieder sehen würde und so würde wenigstens sie nicht wie auf glühenden Kohlen sitzen und darauf warten, dass er endlich aufkreuzte. Es reichte schon, wenn er selbst die ganze Gefühlspalette durchlaufen musste. Das Warten hatte aber auch sein Gutes. Nataniel hatte endlich die Zeit, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, wozu er in den letzten Tagen nicht gekommen war. Nieals überraschendes Aufkreuzen und den darauf folgenden Tod, hatte alle erschüttert. Sein Rudel wusste bis heute nicht, dass sie es gewesen war, die es verraten hatte. Lediglich Palia hatte er es erzählt, damit sie wenn nötig, die Gruppe beruhigen konnte, sollten sie sich doch noch deswegen Sorgen machen, obwohl alles in letzter Zeit gut verlaufen war. Danach kam die Frage, was er in der Großstadt zu erwarten hatte. Nataniel war, und das gab er wirklich nicht gerne zu, noch nie in einer großen Stadt gewesen. Er mochte zwar am Land schon weit herum gekommen sein, aber das was sich nun vor seinem Fenster abzeichnete, war erdrückend, gewaltig und ging seiner Meinung nach vollkommen gegen die Natur. Die Welt schien nur noch aus Autos, Beton, Glas, Stahl, Asphalt und Menschenmassen zu bestehen. Aber das Schlimmste für ihn, waren die unzähligen Gerüche. Wie es die Hunde hier aushielten, konnte er sich nicht vorstellen. Obwohl er glaubte, dass diese geradezu darauf versessen waren, weil ihre Nase hauptsächlich ihre Welt darstellte. Umso mehr es also zu riechen gab, umso besser konnten sie ihre Umgebung wahrnehmen. Nataniel teilte diese Meinung nicht. Er war verdammt froh, als er endlich aus dem stickigen Bus mit den vielen fremden Menschen kam und erst einmal tief durchatmen konnte. Eine SMS genügte und Eric wusste Bescheid, dass er endlich angekommen war. Während er wartete, sah er sich skeptisch um und kämpfte gegen ein geradezu klaustrophobisches Gefühl der Einengung an. Das war nicht seine Welt. Erst recht nicht, da es überall hell war, obwohl der Himmel sich schwarz über ihm abzeichnete. Hier schien wohl nie jemand zu schlafen. *** Sie hatten die meiste Zeit im Schatten der Bäume gestanden. Obwohl immer wieder ein Klasse 5 Sammler Runden gedreht und mit seiner Waffe in Richtung Miniwaldstück gezeigt hatte, waren sie nicht entdeckt worden. Immerhin machte ihr kurzes Verschwinden und Wiederauftauchen keinerlei Geräusche, wenn man mal von Seths und ihren eigenen schweren Atemzüge absah. Das Einzige, was hätte auffallen können, war die totale Abwesenheit von Geräuschen. Kein Tier war mehr in der Nähe. Selbst Francy, die das Wabern der Schatten um die Körper ihrer Freunde vorher noch nie miterlebt hatte, zog sich mit einem Eulenschrei in weiten Kreisen um das Haus zurück. Amanda sah sich die Szene mit wachsendem Unbehagen an. Die meisten der Anwesenden kannte sie, hatte sie bis vor ein paar Monaten sogar mit Vornamen angesprochen, solange es nicht um offizielle Rangfolgen oder Dergleichen ging. Solange sie keine Befehle empfangen hatte. Ein leichtes Ekelgefühl vor sich selbst überfiel Amanda, als sie daran dachte, wie blind sie für die Machenschaften der Moonleague gewesen war. Und dabei nahm sie auch ihr Aufwachsen in der Organisation nicht in Schutz. Sie hätte es rechtzeitig erkennen und gleich aus dem Inneren dagegen ankämpfen müssen. Seths Hand legte sich nur für wenige Sekunden auf ihre Schulter, schaffte es aber doch, Amanda zu beruhigen. Seine dunklen Augen streiften ihr Gesicht und sein warmes Lächeln ließ sie ihre Konzentration wieder auf die Vorgänge im Garten richten. G1 bis G5 saßen hier auf der Terrasse, klimperten mit Silbergeschirr auf den weißen Tellern und unterhielten sich lachend über das, was sie mit dem Untergrund vorhatten. "Bis jetzt hat noch niemand die Kleine in der Stadt gesehen." Der rote Lippenstift von G3 hinterließ einen deutlichen Abdruck auf dem Sektglas, das sie auf dem großen Holztisch abstellte. "Meinst du, dass sie dieses Zusammentreffen mit dem Panther und seiner Meute überhaupt überlebt hat?" Warum mussten sie sich gerade über sie unterhalten? Amandas Wut kochte so dermaßen hoch, dass sie ihre Finger von dem kleinen Ast nehmen musste, an dem sie gelegen hatten. Sonst hätte sie ihn spätestens bei den nächsten Worten vom Baum abgebrochen und eventuell ihre Position verraten. Die Stimme schnitt ihr tiefer ins Herz, als es jede Andere der Anwesenden hätte tun können. Der Mann mit den kurzen, grauen Haaren hatte einen Arm locker über die Lehne der Hollywoodschaukel gelehnt und seine hellen Augen strahlten spitzbübisch, als er das Wort ergriff. "Amanda hatte schon immer etwas für diese bemitleidenswerten Tiere übrig. Würde mich aber nicht wundern, wenn der Kerl ihr zum Dank die Kehle durchgebissen hätte, nachdem sie ihn befreit hat." Das Lachen der Gruppe erreichte Amandas Gehör gar nicht mehr. Ihr Körper bebte unter der Anspannung jedes einzelnen Muskels. In ihrem Inneren brüllten die Wut und der Hass wie ein verheerender Waldbrand, der von dem Schmerz ihrer sich auflösenden Finger nur noch angefacht wurde. Sie wollte zu ihm. Die schweren Motorradstiefel gruben sich bereits sprungbereit in den Boden. Amanda würde schnell genug sein. Ein Gang durch die Schatten und sie würde Derek zeigen, wer hier wem die Kehle aufschlitzte. Ihnen allen würde sie das Lachen aus den Gesichtern wischen. Nataniel und sein Rudel waren so viel menschlicher als diese Versammlung, die es viel zu lange geschafft hatte, ihre Grausamkeiten hinter dem angeblichen Schutz der Menschheit zu verstecken. Ein Schritt nach vorn. Die Schatten klafften bereits unter Amandas Stiefelspitze und ihr Körper schrie mit ihrer Seele nach Erlösung um die Wette. Sie ließ sich fallen. Das Gewicht seines Körpers hielt Amanda am Boden fest. Sie spürte seine Hand auf ihrem Mund und konnte sich nur mit allergrößter Gewalt davon abhalten, hinein zu beißen. Es musste seltsam aussehen, wie sie beide bewegungslos im Sand unter der leicht schwingenden Schaukel des dunklen Spielplatzes lagen. Seth auf ihr, die flache Hand auf ihren Mund gepresst und sie beide schwer atmend. Nicht zu vergessen die klebrigen Schatten, die wie ein langsam zerfallender Kokon um sie waberten. Er hatte sie aufgehalten. Nur eine Sekunde länger und sie wäre bei den Gründern gewesen. Wahrscheinlich hätte sie zumindest G2 erwischt – Derek, ihren Ziehvater – und hätte ein ordentliches Blutbad angerichtet, bevor die Wachen sie einfach erschossen hätten. In Amandas Augen hätte sich auch das gelohnt. Ihre Wut war immer noch so verzehrend, dass sie selbst unter Seths Körper eingeklemmt das Zittern nicht unterdrücken konnte. Am liebsten hätte sich ihre Anspannung in einer Tränenflut entladen und so nah an Seths Körper schien das nicht allein von der Situation herzurühren, der er sie gerade entrissen hatte. "Ich werde die Hand wegnehmen." Seine Stimme war weich und warm. Seine Augen schienen mit Amandas Blick verschmolzen zu sein. Dunkelheit, die in ebenso tiefe Dunkelheit blickte. Unter größter Anstrengung nickte sie ansatzweise und zog zischend die Luft ein, als er sie endlich losließ. Amanda merkte auf ihrem gesamten Körper, wie er sich vorlehnte, wie die Distanz zwischen ihnen zusammenschrumpfte und sie sogar seinen Geruch einatmen konnte. Seine Lippen schwebten nur Millimeter über ihren. "Seth, nein. Ich…" Amanda drehte den Kopf zur Seite und schob Seths Oberkörper von sich weg. Dann war er verschwunden. Das fehlende Gewicht auf ihrem Körper ließ Amanda beinahe erstaunt in die Höhe fahren. Sie sah sich nach ihm um, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Er würde erst wieder auftauchen, wenn sie gegangen war. In Nächten wie diesen, wenn Amanda an so vielen wirren Gedanken zu knabbern hatte, war die Stadt für sie ein Segen. Mit dem Motorrad raste sie durch die Straßen, schlängelte sich durch den immer noch dichten Verkehr und sah sich als Teil eines wuselnden Ameisenhaufens. Jedem lasteten Probleme auf der Seele. Sie war nur eine unter vielen und das schien ihre privaten Sorgen schrumpfen zu lassen. Nataniel. Seth. Die Moonleague. Alles schien auf ihren Helm einzuhämmern, bis sich Amanda nicht mehr weiterzufahren traute. Ihr zielloser Weg hatte sie an den Ort geführt, den sie schon seit Jahren gern zum Nachdenken nutzte. Oder einfach nur, um ungestört vor sich hin zu starren und auf einen Wink des Schicksals zu hoffen. Die Uferpromenade war gesäumt von Büschen und Bäumen, die eine Allee neben den Lokalen mit einladenden Terrassen bildeten. So nah an den Hochhäusern und doch so weit entfernt vom hektischen Trubel des Alltagslebens, zogen sich viele Touristen und auch Städter hierhin zurück, um sich das Glitzern des Wassers anzusehen, das beruhigende Schlagen der Wellen gegen den Strand. Amanda mochte es hier, wo der Puls der Stadt bisweilen ganz stillstand, er aber auch nie völlig zum Erliegen kam. Mit pochenden Kopfschmerzen setzte sie sich auf eine Bank direkt neben einem beleuchteten Springbrunnen und betrachtete den Horizont. Warum hatte Seth sie abgehalten? Alle Gründer hätten den Tod in diesem Moment verdient gehabt. Amanda hätte es tun können, ohne noch mehr Wandler oder Mitglieder des Untergrunds zu gefährden. Bloß sich selbst. Und das wäre ein kleines Opfer gewesen. Sie bemerkte gar nicht, wie sich ihre Hand unbewusst auf ihren Bauch legte und beruhigend warm einen Moment dort liegen blieb. *** Pünktlich wie ein Uhrwerk erschien Eric bei ihm, um ihn abzuholen. Sie gaben sich kurz fast schon brüderlich die Hand, wobei Nataniel versuchte, den besorgen Blick zu ignorieren, da er sicherlich so aussah, wie er sich fühlte und trotzdem nichts dagegen tun konnte. Stattdessen erkundigte er sich nach Erics Befinden und wie er mit den Gestaltwandlern hier zurecht kam. Während der Fahrt schwiegen sie beide. Nataniel musste ehrlich zugeben, dass er nicht nach Amanda fragen konnte. Bestimmt hätte Eric ihm etwas gesagt, wenn etwas passiert wäre, da das aber nicht der Fall war, musste er einfach annehmen, dass es ihr gut ging. Als sie allerdings bei den Containern ankamen, teilte Eric ihm mit, dass Amanda im Augenblick anscheinend nicht da sei und vermutlich erst spät nach Hause kam. Auf Nataniels Frage hin, wo sie denn sei, konnte ihr Bruder nur die Schultern zucken. Offenbar wusste er selbst nichts Genaueres, weil er nicht hier gewesen war, als sie aufbrach. Die Enttäuschung darüber ließ sich kaum verbergen, dennoch riss er sich zusammen. Amandas Bruder bot ihm an, Nataniel seine Unterkunft zu zeigen, aber er lehnte ab, da er lieber auf Amanda warten wollte und während er das tat, bekam er die Gelegenheit mit ein paar städtischen Gestaltwandlern zu sprechen, die ihn ebenso skeptisch musterten, wie er sie. Kein Wunder, ob Wandler oder nicht, jeder fremde Neuankömmling könnte eine Bedrohung darstellen. Vor allem, wenn man wie ein Alphatier roch und somit natürliche Autorität ausstrahlte. Dass Nataniel hier der einzige mit dieser Veranlagung war, glaubte er nicht, aber bisher hatte er kein anderes Alphatier getroffen. Schließlich, als es immer später wurde und er sich kaum noch aufrecht halten konnte, wurde er von Eric geradezu dazu genötigt, sich endlich etwas frisch zu machen und dann ins Bett zu gehen. Wenn Amanda zurückkam, würde er es ohnehin erfahren, da Platz knapp war und er somit bei ihr unterkam. Was er sowieso verlangt hätte. Mehrere Wochen von seiner Gefährtin getrennt waren Folter genug. Räumliche Trennung war daher mehr als nur unangebracht. Keine einzige Nacht länger, wollte er in einem leeren Bett schlafen müssen. Endlich alleine, spürte er, wie die ungewohnte Umgebung ihn immer mehr einzuengen drohte, da er aber von Ungeduld und Müdigkeit regelrecht aufgefressen wurde, hielt sich das Gefühl in erträglichem Maße. Trotzdem hatte er sich nur kurz gewaschen, ehe er ständig in dem viel zu kleinen Raum auf und ab ging. Nicht einmal Amandas Duft konnte ihn trösten, denn ohne sie war es eben nichts weiter, als ein Geruch. Hohl und leer. Gegen vier Uhr morgens trugen ihn seine bleiernen Beine nicht mehr, weshalb er sich auf das Bett setze, sich bald auch hinlegte und schließlich nach dem ewig langen Tag und der anstrengenden Zeit des Wartens einschlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)