Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 32: 32. Kapitel ----------------------- Der schwere Telefonhörer zitterte in Amandas Hand, die mit Kratzern und Dreck übersät war. Auf der Seitenwand der Telefonzelle prangte ein riesiges, gespraytes Zeichen und im Inneren stank es nach Urin und Erbrochenem. Aber das konnte Amanda nur zu leicht ignorieren, wenn sie daran dachte, wie wichtig dieses Telefonat war. „Hallo?“ Der Mann am anderen Ende der Leitung wirkte eher genervt als irritiert. Wenn er mit Technik so bewandert war, wie beispielsweise Clea, war ihm bestimmt die Nummer des öffentlichen Münzsprechers aufgefallen. „Hallo. Hier spricht Amanda. Ich soll Ihnen sagen, dass ich im Auftrag von Nate anrufe.“ Sie konnte sich nur allzu gut daran erinnern, wie Nataniel sie angefahren hatte, als er ihr seinen Namen gesagt hatte. Sie solle ihn bloß niemals bei diesem kurzen Spitznamen rufen. In der letzten Woche, die sie unterwegs gewesen waren, hatte Amanda fast ununterbrochen an Nataniel gedacht. Wie hätte es auch anders sein sollen? Er war unterwegs, um sich demjenigen zu stellen, der seinen Vater umgebracht hatte. Amanda wusste, dass Nataniel keine Ruhe geben würde, bis er seinen Vater gerächt hatte. Egal, ob er ihn tatsächlich gekannt hatte oder nicht. Jetzt zitterte ihre Hand so stark, dass das Kabel, das den Hörer mit dem Apparat verband, gegen die Scheibe der Telefonzelle schlug. Amanda wurde erst wieder aus ihren finsteren Gedanken gerissen, als der Mann ihr antwortete. Sie hatte Probleme, seinem Wortschwall zu folgen und hörte auch gar nicht richtig zu. Immerhin war sie nicht hier, um Fragen zu beantworten. „Wir brauchen zwei Reisebusse. Mit Fahrern, die keine Fragen stellen. Ich gebe Ihnen die Adresse, wo sie uns abholen können. In zwei Tagen. Die Fahrer bekommen dann Anweisungen, wohin sie uns bringen sollen.“ Das Telefonat war danach schnell beendet und Amanda stieg über einen grünlichen Fleck auf dem Boden aus der Telefonzelle hinaus auf die Straße. Palia hatte dort gewartet. Das erste Mal, seit sie sich kannten, trug die Pumadame normale Kleidung, was sie aber keinesfalls weniger attraktiv erscheinen ließ. Das konnten selbst die leicht verknoteten Haare, das eingetrocknete Blut über ihrer Lippe und der Dreck nicht verbergen. Amanda selbst sah ähnlich abgerissen aus und bei ihr kam noch die Müdigkeit dazu. Sie waren eine Woche fast durchgehend gelaufen. Und spätestens nach zwei Tagen war Neid in Amanda aufgekommen. Selbst wenn sich die Wandler nur eine Weile in ihrer tierischen Form befanden, um sich mit dem Tragen des Gepäcks abzuwechseln, sparten sie riesige Mengen an Energie. Amanda konnte das nicht und man merkte ihr immer mehr an, wie viel ihr die Strecke abverlangte. Gegen Ende, als sie auch noch von einem Regenguss überrascht worden waren, war Amanda eine Böschung hinunter gestürzt und hatte sich das Handgelenk verletzt. Das war nicht so schlimm gewesen, als hätte sie sich den Knöchel verstaucht, aber trotzdem hatte es ihre Laune mehr als verschlechtert. Erst heute Nacht würden sie sich alle eine Pause gönnen. Sie hatten im Voraus ein paar Blockhütten und Wohnwägen im Holidaypark gemietet, in denen alle für zwei Nächte unterkommen konnten. Dort würde es auch nicht auffallen, wenn die Busse sie aufsammelten. „Okay, ich nehme die erste Gruppe mit zum Campingplatz. Du kommst mit der nächsten in einer halben Stunde nach und dann hole ich den Rest unserer Leute.“ Palia nickte und die beiden Frauen machten sich auf den Weg zurück in den Wald, wo die anderen Wandler auf sie warteten. Amanda war froh, ihnen gleich so gute Nachrichten übermitteln zu können. Das mit den Bussen würde klargehen. Sie brauchten sich also für zumindest zwei Tage keine weiteren Sorgen zu machen. Sie waren alle so weit gekommen, hatten sich durch dichtes Unterholz geschlagen, hatten dafür gesorgt, dass die Kinder in der Schlucht, die sie zu durchqueren hatten, nicht verletzt wurden und hatten es bis hierher geschafft. Von hier aus würde es nur noch eine Wahl werden. Wer würde sich in welcher Gegend niederlassen, um ein neues Leben dort anzufangen?   ***   Bereits nachdem sie am zweiten Tag in ihrem Wohnwagen aufgewacht war, lagen Amandas Nerven blank. Sie starrte auf den braunen Plastikvorhang, der die aufgehende Sonne nur ansatzweise daran hinderte, durch das Fenster zu scheinen. Verdammt, wie sollte sie es noch einen Tag lang aushalten? Bereits am vergangenen Tag war sie auf Kohlen gesessen und hatte sich nur damit beruhigen können, dass er gesagt hatte, er würde am zweiten Tag zu ihnen stoßen. Heute war dieser Tag und Amanda war klar, dass sie keine Minute, die verging, ruhig ertragen würde. Nataniel konnte jeden Moment auftauchen oder eben nicht. Was, wenn er nicht ankam, bevor die Busse gegen Abend eintrafen? Sie würden nicht auf ihn warten können. Und was, wenn er ... Wütend über sich selbst, und weil ihr Herz so schnell und schmerzhaft schlug, dass ihr beinahe schlecht davon wurde, setzte Amanda sich in ihrem Bett auf. Sie schlich zu der dünnen Pappschiebetür hinüber, hinter der sich die Nasszelle befand, und stellte die Dusche an. Das Wasser war noch nicht warm und Amanda konnte sich ein kleines Quietschen nicht verkneifen, als der eiskalte Wasserstrahl sie traf. Als sie in ein Handtuch gehüllt vor die Küchenzeile trat und ein wenig Instantkaffee machen wollte, kam ihr Palia nackt entgegen. Die beiden teilten sich einen Campingwagen, da sie beide allein waren. Es hatte sich so ergeben und Amanda war froh über die Gesellschaft. Wenn Palia nicht wäre, würde sie wahrscheinlich jetzt schon die Wände hochgehen. „Guten Morgen“, begrüßte Palia Amanda lächelnd und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. „Wir werden joggen gehen und danach werden wir uns mit der Aufteilung des Rudels auf die Busse beschäftigen. Außerdem müssen wir noch mit Sven sprechen, um bestätigen zu lassen, dass die neuen Identitäten fertig sind. Dann müssen sie verteilt werden ...“ Amanda lächelte. „Danke.“   Seit unendlichen zwei Stunden hatten sie alles erledigt. Amanda stand nicht still, sondern strich nervös auf dem Campingplatz und zwischen den Blockhütten herum. Kurz hatte sie Nele gesehen und ihr ein wenig Schattengehen gezeigt. Amanda sah es als Übung an, den Wünschen des Mädchens zu entsprechen. Nele setzte fest, wo Amanda verschwinden und wieder auftauchen sollte. Die Kleine kannte wirklich keinerlei Furcht vor den Schatten, die Amanda nach jedem Gang umgaben. Am Anfang hatte Amanda Abstand von dem Kind gehalten und erwartet, dass Nele wegrennen würde. Aber sie war geblieben. Jetzt war sie bereits so weit, dass Amanda direkt neben ihr wieder auftauchen konnte. Selbst der Gedanke an Nele konnte Amanda aber jetzt nicht mehr abhalten, hin und her zu tigern und sich die schlimmsten Szenarien auszumalen. Immer wieder sah sie die Szene vor sich, wie der Wandler damals ihre Eltern angegriffen und ihren Vater verstümmelt hatte. Doch diesmal waren es nicht ihre Eltern, die mit der riesigen Katze rangen, sondern Nataniel. In Amandas Innerem krampfte sich jedes Mal alles zusammen, wenn sie einem der Rudelmitglieder begegnete. Die meisten hatten ihre Meinung über Amanda anscheinend zum Besseren geändert. Was ihr aber jetzt überhaupt nicht weiterhalf. Im Gegenteil. Die eisigen Blicke wären ihr tausendmal lieber gewesen als das Mitleid und die Furcht, die sie jetzt in den Gesichtern ihrer Freunde erkennen konnte. Als ihr gar nichts anderes mehr einfiel, setzte sich Amanda zu den Kindern an den Spielplatz des Campingplatzes und sah ihnen beim Spielen zu. Und doch wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück auf den Weg, den sie gerade erst gekommen waren. Vielleicht hatten Nataniel und die anderen Schwierigkeiten an der Schlucht. Vielleicht war einer von ihnen verletzt und sie mussten ihn tragen. Vielleicht ... Amanda versuchte, alle Zugänge zum Campingplatz zugleich im Auge zu behalten. Sie hatten bloß noch drei Stunden, bis die Busse kamen.   ***   Das Mondlicht bahnte sich seinen Weg durch das Blätterdach und ließ mit seinem silbernen Licht unwirkliche Schemen auf dem Boden erkennen. Er diente ihnen als Lichtquelle und zugleich schützten die Schatten der Bäume sie vor einer Entdeckung. Leise, kaum hörbare Laute von Pfoten, die auf dem Boden vor sich hinschlichen, waren zu hören. Hinter ihm, neben ihm und auch zwei Späher vor ihm. Es waren ungefähr zweiundzwanzig geschmeidige Körper in allen möglichen Größen, Formen und Farben. Er war der Einzige, der vollkommen mit den Schatten verschmelzen konnte. Immerhin war er schwarz. Dennoch war er der Lauteste der Truppe. Doch auch wenn Nataniel es zu verhindern versuchte, konnte er gegen sein Schnauben nichts unternehmen. Er brauchte so dringend Luft, wie er eine Pause brauchte. Trotzdem schleppte er sich unermüdlich auf drei Läufen weiter. Amanda … er wollte zu ihr. Nichts anderes hielt ihn noch auf den Beinen. Um die Schmerzen und die Schwäche zu vergessen, versuchte er sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, was passiert war, denn es war alles so unglaublich schnell gegangen. Mitten im Reservat hatten sie Nicolais Rudel aufgespürt. Es waren ungefähr zwei Hand voll Gestaltwandler, die sich dort verborgen hielten. Zunächst hatte Nataniel an eine Falle gedacht, weil es nur so wenige waren und zugleich gab es einige unter ihnen, die ganz und gar nicht so aussahen, als wären sie zu kämpfen bereit, um ihr Revier und ihren Anführer zu verteidigen. Todesangst hatte er in ihren Augen gesehen und die unausgesprochene Bitte, ihnen zu helfen. Für Nataniel war schnell klar geworden, sollte es wirklich zu einem Kampf der beiden Rudel kommen, würde jeder nur deshalb kämpfen, weil er um sein eigenes Leben fürchten musste. Zumindest was das andere Rudel anging. Seine Männer standen immer noch geschlossen hinter ihm. Sie würden für alles kämpfen, was ihnen lieb und teuer war. Selbst wenn das hieß, gegen ihre ehemaligen Freunde und Nachbarn ins Feld zu ziehen. Denn genau das waren sie doch. Sie kannten sich alle untereinander. Mit dem Unterschied, dass die einen zu große Angst gehabt hatten, sich einem Rudel ohne Führer anzuschließen, während Nicolai ihnen Schutz und Sicherheit versprach. Andererseits gab es jene üblen Kreaturen, die sich nur zu gerne an den Habseligkeiten der anderen labten. Sie waren die brutalsten Gegner gewesen, gegen die Nataniel hatte ankämpfen müssen, nachdem er Nicolai besiegt hatte. Nataniel konnte verstehen, warum sein Vater gegen den Tiger verloren hatte. Er war so viel jünger und trainierter, als er es gewesen war. Doch hierbei kam dem Panther und ihm zugute, dass Nicolai eine der kleinsten Tigerrasse angehörte, die es gab. Somit war der Kampf zwar schwierig, aber keinesfalls unmöglich gewesen. Denn auch er war jung und stark. Zugleich war er aber auch um seine eigenen Leute besorgt. Weshalb Nataniel mit Nicolai einen Handel ausgemacht hatte. Sie beide würden alleine gegeneinander antreten. Der Gewinner bekam das Rudel des Verlierers. Wer verlor, konnte frei abziehen. Nur kam die letzte Option gar nicht auf den Plan, denn Nicolai war so versessen darauf, sein Rudel weiterhin zu behalten und noch dazu Nataniels Leute hinzu zu bekommen, dass er so lange und erbittert kämpfte, bis dem Panther nichts mehr anderes übrig blieb, als eine der allzu seltenen Chancen zu nützen, um ihn mit einem Biss ins Genick zu töten. Zwar hatte er dadurch seinen Vater gerächt, aber er fühlte sich keinen Moment lang besser deswegen. Töten konnte einfach nicht gut sein und dennoch ging das Morden weiter. Die wenigen brutalen Mitglieder von Nicolai sahen sich nach dessen Tod dazu veranlasst, ebenfalls gegen Nataniel anzukämpfen, um sich nach dem Sieg über ihn, als neues Alphatier zu erheben. Nur hatten sie wohl nicht mit der Loyalität von Nataniels Männer und zugleich mit seiner eigenen Ausdauer gerechnet. Ein langer und grausamer Kampf war es gewesen. Doch letzten Endes hatte Nataniel keine seiner Männer verloren, sondern sogar noch ein paar verängstigte Mitglieder hinzubekommen. Sie sahen in ihm einen Führer, wie sein Vater es gewesen war und da nun die Quelle ihrer Angst getötet worden war, mussten sie nicht mehr fürchten, sich ihren Freunden anzuschließen. Man hatte sie gerne wieder bei sich aufgenommen. Dennoch blieb es erschreckend, wie ein derart unfähiger Anführer wie Nicolai es geschafft hatte, mit so wenigen Leuten so viel Angst und Leid zu verursachen. Hätte Nataniel schon früher davon erfahren, wäre er gleich gegen ihn zu Felde gezogen und vielleicht hätten sie dann nicht ihre Heimat aufgeben und eine neue Identität annehmen müssen. Nataniel schwankte bedenklich und kam ins Taumeln, als ein anderer Jaguar ihn von der Seite her stützte und ihm somit wieder ins Gleichgewicht brachte. Dankbar schnaubte er Kai zu, den es auch einigermaßen erwischt hatte, aber er konnte wenigstens noch auf vier Pfoten laufen. Nataniel waren nur noch drei funktionstüchtige geblieben. Ein gewaltiger Kratzer zog sich über seinen Rücken, mehrere über seinen Bauch und die Seite. Seine Flanke hatte es ebenfalls ganz schön erwischt und sein Schwanz war gebrochen, denn gegen Ende hin, hatte er einen unnatürlichen Knick und war schmerzhaft geschwollen. Wenigstens den würde er in seiner menschlichen Form nicht mehr zu spüren bekommen. Aber es reichte ihm auch schon so. Der Arm, den er sich schon einmal bei dem Autounfall verletzt hatte, blutete inzwischen nicht mehr so stark, aber dafür gab es eine saftige Fleischwunde dicht über dem Handgelenk. Dabei konnte Nataniel noch froh sein, dass Nicolai nicht die Chance gehabt hatte, ihn ihm ganz abzubeißen. Einen Moment lang hatte es sich tatsächlich so angefühlt, bis ein kräftiger Schlag gegen die Schnauze ihn wieder hatte befreien können. Kein Wunder, dass ihm das eingerissene Ohr nicht einmal wirklich wehtat. Alles an ihm tat weh. Undefinierbar, was jetzt nun am Schlimmsten war.   Als schließlich der Morgen graute, brach Nataniel erschöpft zusammen und konnte seine völlig lahmgelegten Muskeln auch nicht mehr dazu bewegen, sich noch einmal für ihn einzusetzen. Dabei lag noch die Schlucht vor ihnen und das restliche Stück des Weges. Zwar wollte er es nicht einsehen, aber nachdem sie nun seit der Trennung von ihrem Rudel keine einzige Sekunde lang geschlafen hatten, nur um sie bei ihrem Tempo am Ende nicht doch noch zu verpassen, würde ihnen im Augenblick nichts anderes übrig bleiben, als sich etwas zu erholen. Nataniel hatte es vielleicht am Schlimmsten von allen erwischt, weil er sich am Verbissensten dafür eingesetzt hatte, dass niemandem etwas passierte, aber auch die anderen waren müde und brauchten eine Pause. Weshalb er sie ihnen schließlich gewährte, obwohl Kai ihm anbot, ihn durch die Schlucht zu tragen. Doch das wollte Nataniel nicht. Es würde noch mehr Verzögerung verschaffen, die sie nicht brauchen konnten.   Nach dem es kurz vor Mittag war, weckte Kai ihn mit einem Stupsen der Schnauze auf, so wie Nataniel es ihm befohlen hatte. Sie mussten weiter und zum Glück spielten seine Muskeln auch wieder mit, nachdem er ihnen eine Pause gegönnt hatte. Dennoch würde die Schlucht ein ganzes Stück an Mühsal abgeben, aber sie alle wurden durch die Spuren ihrer Familien angespornt, die sich überall auf ihrem Weg befanden. Nataniel wurde allerdings nur von einer Spur wirklich zu unglaublichen Kräften angespornt. Dazu musste er lediglich Amandas Duft aufschnappen und schon humpelte er entschlossen weiter. Denn inzwischen waren sie so lange getrennt gewesen, dass nichts mehr von seinem Geruch an ihr haftete. Eine Tatsache, die ihm mehr zu schaffen machte, als seine Verletzungen. Immerhin war er nicht nur ein Alphatier, sondern auch ein verdammt dominantes Männchen, wenn es um seine Gefährtin ging. Der Panther konnte ihm in diesem Punkt nur zustimmen. Seine animalische Kraft war es, die ihm letzten Endes den Ansporn für die restliche Strecke gab.   ***   Obwohl alles in ihm ihn dazu drängte, weiterzugehen, ließ er doch den ganzen Trupp am Waldrand haltmachen, um erst einmal zu sehen, wie die Lage aussah. Inzwischen war es bereits wieder dunkel geworden, dennoch konnte Nataniel genau sehen, dass die Reisebusse schon da waren und schon der Großteil seiner Leute in den Sitzen Platz genommen hatte. Sie waren also gerade noch rechtzeitig gekommen. Hätte Nataniel nicht geglaubt, dass sie es noch schaffen würden, er hätte den Geparden losgeschickt, um ihre Ankunft anzukündigen, doch auch dieser war von der Reise erschöpft, weshalb er ihm das nicht auch noch zumuten wollte, obwohl er es freiwillig angeboten hatte. Sie alle mussten sich noch etwas mit dem Ausruhen gedulden. Immerhin hatten sie es noch nicht ganz hinter sich. Die letzte Etappe würden sie noch in den Bussen hinter sich bringen müssen, danach könnten sie einmal kurz durchatmen. Da die ganze Gruppe weder Kleidung hatte, noch so aussah, als wären sie fotosüchtige Touristen, schickte Nataniel eine kleine Wildkatze los. Eines der neuen Mitglieder seines Rudels, aber die Frau war eine gute Bekannte von der verwitweten Löwin, weshalb man sie hoffentlich nicht angreifen würde, während sie versuchte, ihnen ihre Ankunft mitzuteilen. Während die Wildkatze also unauffällig unterwegs war, verwandelten sich die Männer und auch Nataniel versuchte es. Aber es war unglaublich mühsam und schmerzvoll, weshalb er schließlich einfach nur mit geschlossenen Augen und heftig atmend nackt im Gras liegenblieb, während man ihn beschützend einkreiste und zugleich versuchte, die neuen Blutungen zu stillen, die er durch das Wandeln wieder ausgelöst hatte. Verdammt, sterben würde er daran nicht, aber es war die Hölle, in der es nur einen Lichtblick gab – Amanda. Er würde sie gleich wieder sehen. Hoffentlich war ihr nichts passiert.   Zum dritten Mal hatte sie sich jetzt schon verzählt und ermahnte sich zur Konzentration. Sie konnten nicht länger warten und Amanda hatte versprochen, die Wandler hier wegzubringen. Schließlich kam sie bei der ersten Sitzreihe an und nickte dem Fahrer zu. „Vollzählig. Es kommt noch eine Dame zu ihnen, die wird Ihnen den Weg zeigen. Ich fahre mit ihrem Kollegen.“ Der Fahrer war ebenfalls ein Wandler. Nicht registriert, wie Amanda auf den ersten Blick festgestellt hatte. Manchmal wollte sie ihr Sammler-Hirn verfluchen. Aber so wusste sie zumindest, dass eine Gefahr weniger bestand. Auch über die Männer, die ihnen Sven geschickt hatte, würde zumindest die Moonleague das Rudel nicht aufspüren. Ein kleines, beruhigendes Detail, immerhin. Amanda sprang die letzte Stufe aus dem Bus und wurde sofort am Arm gegriffen, noch bevor sie den Boden erreicht hatte. Überrascht starrte sie einen der Männer an, den sie in der vergangenen Woche nur flüchtig kennengelernt hatte. „Thomas, alles in Ordnung? Was ...?“ Anstatt ihr zu antworten, zog der ältere Gepard, dessen Fell genauso von grauen Strähnen durchzogen war wie sein menschliches Haar, Amanda ein Stück herum und zeigte mit dem Kinn zum Waldrand. Palia und die Krankenschwester ihrer Gruppe waren gerade im Laufschritt zu einer Lücke in den Bäumen unterwegs, wo Amanda etwas erkennen konnte. Ob sie sich von Thomas losgerissen oder ob er einfach ihren Arm losgelassen hatte, wusste Amanda nicht. Sie rannte zu den dunklen Bäumen hinüber, wo sie Palia und die Luchsdame gerade verschwinden sah. Ihre Schritte verlangsamten sich zuerst unmerklich, dann deutlicher, bis sie ganz stehenblieb und nur ihrem Atem zuhörte. Der Wind frischte auf und ließ die Baumkronen rascheln, er trug bestimmt ihren Geruch zu den Leuten hinüber, die gerade angekommen waren. Amanda fing an zu zittern und glaubte einen Moment in die Knie zu gehen, bevor sie sich wieder fing und langsam weiterging. Zwei der Männer von Nataniels Trupp zuckten herum und sahen so aus, als würden sie Amanda angreifen wollen. Menschengeruch. Amanda reagierte weder auf die ausgefahrenen Krallen noch auf die anschließende Erleichterung und dann etwas, das sie nicht deuten konnte. Gott, lass es kein Mitleid sein! Irgendein Knoten schien sich in Amandas Innerem gebildet zu haben, der weder ihr Herz schlagen noch sie atmen ließ. Die Krankenschwester hatte sich über Nataniel gebeugt, sodass Amanda sein Gesicht nicht sehen konnte. Selbst der Großteil seines Körpers wurde von der Frau und Palia, die neben ihr kniete, verdeckt. Und trotzdem konnte Amanda das Blut sehen. Wie Nataniel es überhaupt hierher geschafft hatte, war ihr schleierhaft. Er schien aus allen möglichen Wunden eine Menge Blut zu verlieren und bewegte sich überhaupt nicht. Er lag so verdammt still da. Palia hatte Amanda bemerkt und stand auf, um ihr Platz zu machen. Mit flehentlichem Blick sah Amanda ihre Freundin an, die nur lächelte. Nur noch innerlich zitternd und aufgelöst, aber nach außenhin völlig ruhig und gefasst, sank Amanda neben Nataniel, der Luchsdame gegenüber, auf den Waldboden. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie seine Hand nehmen sollte oder ob sie ihm dadurch Schmerzen bereiten würde. Die Luchsfrau schien sich als erstes mit der tiefen Wunde an Nataniels Schulter zu beschäftigen. Amanda hätte nicht sagen können, ob es die schlimmste Verletzung war. Sein Körper sah so aus, als würde er in Fetzen liegen und nur noch funktionieren, anstatt wirklich zu leben. Und doch war seine Haut warm, als Amanda sie mit ihren Fingerspitzen berührte. Wie sie es schon oft getan hatte, schob sie Nataniel die Haare aus der Stirn, wobei ihre Finger eine blutige Spur auf seiner Haut hinterließen. Amanda fiel erst auf, dass sie weinte, als eine Träne auf Nataniels Wange tropfte. „Hab ich nicht gesagt, du bekommst Ärgern, wenn du dich verletzen lässt?“, wisperte sie leise und vor tränenerstickter Stimme. Als sich Amanda kurz über die Augen wischte, hinterließ sie selbst auf ihrer Wange einen roten Streifen.   So kurz nach der Verwandlung war der Schmerz fast niederschmetternd. Darum verlor er auch für einen Moment das Bewusstsein, bis Amandas Geruch ihn wieder in die Realität zurückriss, wie es nichts anderes konnte. Er spürte ihre kühle Haut auf seinem Gesicht und etwas Feuchtes, das definitiv nicht von seinem Blut stammen konnte. Seine Augen öffneten sich und blickten seine Gefährtin glasklar an. Obwohl er noch andere um sich herum spüren und im Augenwinkel auch sehen konnte, gab es in diesem Augenblick nur sie. Es brachte ihn unwiederbringlich zum Lächeln. Weshalb er seine Hand nach ihrem Gesicht ausstreckte und über ihre Wange streichelte. Hoffentlich verzieh sie ihm, dass er sie vollkommen beschmierte, immerhin war das seine fast abgebissene Hand, aber in ihrer Nähe war alles weniger schlimm. Nataniel war so unsäglich erleichtert, sie wiederzusehen und bei sich zu wissen, dass er in diesem Augenblick glücklicher denn je war, obwohl er eigentlich anders hätte empfinden müssen. „Wenn ich wieder gesund und wir alleine sind, freue ich mich schon auf den Ärger. Sei bloß nicht zu gnädig mit mir, ja?“ Seine Stimme war stärker, als sein Zustand vermuten ließ, aber das waren alles zwar teilweise tiefe, aber dennoch nur oberflächliche Verletzungen. Sein Körper würde sich schon in den nächsten Tagen sehr gut erholt haben. Gefahr bestand also keine mehr. Er hielt immerhin mehr aus als ein gewöhnlicher Mensch, und solange keine inneren Organe beschädigt worden waren, standen seine Überlebenschancen so hoch wie sonst auch. Es ärgerte ihn, dass er Amandas Gesicht wieder loslassen musste, als die Luchsdame ihm die Hand verband, so wie sie es notdürftig mit dem Rest seines Körpers getan hatte. Danach wollte er sogar schon selbst wieder aufstehen, um zu den Bussen zu gelangen, aber vor allem auch, um Amanda in die Arme zu schließen. Keiner der Anwesenheit ließ das jedoch zu, also fügte er sich in sein Schicksal und ließ sich in eine große Decke wickeln. Inzwischen hatte man auch seine Männer versorgt und ihnen etwas zum Anziehen gegeben. Es waren bereits laufende Gespräche über die Ereignisse der vergangenen Tage im Umlauf. Bestimmt würde die ganze Geschichte sich bereits bis zu den letzten Mitgliedern vorgearbeitet haben, noch ehe sie alle im Bus saßen. Da man ihm selbst als Alphatier seinen Willen nicht ließ, nahmen ihn zwei muskulöse Leoparden zwischen ihre menschlichen Körper und trugen ihn zu einem der Busse, dabei dicht gefolgt von Amanda. Aus Platzgründen legte man ihn ganz hinten in die letzte Reihe auf mehreren Sitzen ab. So dass auch Amanda noch Platz fand und die Luchsdame in der Nähe war, sollte sich irgendetwas an seinem Zustand verschlechtern. Eine reine Sicherheitsmaßnahme, die in seinen Augen völlig unnötig war.   Sie fuhren erst ein paar Minuten lang, aber das reichte für Nataniel schon aus, dass er mit Amandas Hand an seinem Gesicht und somit ihrem Duft in der Nase einschlief. So vollkommen fertig, wie er war, sollte das auch kein Wunder sein, obwohl er bis zuletzt dagegen angekämpft hatte. Sie jetzt zu verlassen, selbst wenn es nur das Gefängnis des erholsamen Schlafes war, war schwieriger, als er sich eingestehen wollte. Doch er hatte sie wieder. So konnte er nur darauf hoffen, dass sie nicht weg sein würde, wenn er wieder zu sich kam.   Die Anderen hatten sich anfangs immer wieder nach Nataniel umgedreht und ihn besorgt angesehen. Sein Zustand war auch wirklich besorgniserregend, auch wenn Nataniel selbst sich das nicht eingestehen wollte. Er war noch immer am ganzen Körper mit seinem eigenen Blut beschmiert, auch wenn das meiste von den Verbänden, die man ihm angelegt hatte, verdeckt war. Als er endlich eingeschlafen war und sein Atem langsam und gleichmäßig ging, sah Amanda aus dem Fenster. Es war zwar nicht so entspannend, wie selbst zu fahren, aber die vorbeiziehende Landschaft hatte trotzdem etwas Beruhigendes an sich. Die Sterne über ihnen leuchteten hell und zauberten Amanda ein Lächeln auf die Lippen, das sich nur noch verstärkte, als sie wieder Nataniel ansah. Sie hatte ihn wieder. Natürlich hatte sie die ganze Zeit die Hoffnung nicht aufgegeben, aber sie hatte sich auch mehr Sorgen gemacht, als sie ihm gegenüber jemals zugeben würde. Erst jetzt, wo er so friedlich neben ihr in dem Bus schlief, der sein Rudel in die Freiheit bringen würde, fiel ihr auf, wie sehr sie sich bereits nach so kurzer Zeit mit ihm verbunden fühlte.   ***   Die gesamte Fahrt über hatte Amanda aus dem Fenster gesehen und kein Auge zugetan. Sie war müde und ausgelaugt, aber ihr Körper wollte genauso wie ihr Geist, noch nicht zur Ruhe kommen. Erst wenn sie Nataniel einigermaßen sicher in einem Bett und an einem sicheren Ort wusste, würde sie auch abschalten können. Sie war froh, als der Bus endlich in die Einfahrt eines riesigen Hotels einbog. Die Rezeption schien extra für sie alle geöffnet zu haben, und wenn Amanda den leeren Parkplatz richtig interpretierte, hatte Sven dafür gesorgt, dass hier niemand außer ihren Leuten übernachtete. Amanda grinste kurz. Sie würde diesen Sven gern einmal kennenlernen und ihn Clea vorstellen. Die beiden Männer, die Nataniel in den Bus getragen hatten, wuchteten seinen Körper einigermaßen sanft in die Höhe und schafften es ihn ins Hotel zu bringen, ohne dass er aufwachte. Die Zimmer waren für sie vorbereitet, was bedeutete, dass sie ihn wirklich nur ins Bett packen mussten. Amanda bedankte sich bei den beiden Männern und schloss die Tür leise hinter sich. Eine kleine Lampe auf dem Nachtkästchen tauchte den sauberen Raum in warmes Licht. Das Zimmer war hell und freundlich eingerichtet, mit wenig Schnickschnack und nur einem bunten Bild an der Wand. Auf unnötig leisen Sohlen machte sich Amanda auf den Weg ins Bad, schnappte sich eine Schüssel und füllte lauwarmes Wasser hinein. Sie war sich sicher, dass Nataniel nicht einmal aufwachen würde, wenn sie eine Kanone neben ihm zünden würde. Sie brachte noch zwei Waschlappen und ein weiches Handtuch mit und begann Nataniel ein wenig von dem inzwischen eingetrockneten Blut zu befreien. Dabei ging sie vorsichtig und geduldig vor. Erst als die kleine Uhr auf dem Nachttisch bereits vier Uhr morgens anzeigte, wusch sie die Sachen notdürftig im Waschbecken aus, putze sich selbst die Zähne und legte sich dann völlig erledigt zu Nataniel ins Bett. Ihn zu umarmen wagte sie nicht, aber sie deckte ihn mit einem Leintuch zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, die weniger mitgenommen aussah. Sie würde ihn so lange schlafen lassen, wie er es nötig hatte. Sie waren alle nicht mehr auf der Flucht. Jetzt hatten sie endlich alle Zeit der Welt. Der Gedanke machte Amanda so ruhig, dass sie endlich einschlafen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)