Shadows of the NewMoon von Darklover ================================================================================ Kapitel 11: 11. Kapitel ----------------------- „Ja, Mom. Ich esse genug. Zwar gibt es hier nichts im Vergleich zu deinem Essen, aber ich falle sicher nicht vom Fleisch.“ Nataniel versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Er telefonierte jetzt schon seit einer halben Stunde mit seiner Mutter, die sich erst langsam von ihm beruhigen ließ. Immerhin hatte er sich seit Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet, seit er von zuhause weggegangen war. Das war im Grunde nichts Außergewöhnliches, wenn sie wusste, dass er durch die Wälder ihrer Familie streifte, wenn einmal eine arbeitsruhige Zeit auf der riesigen Farm war oder er Urlaub hatte. Aber das hier war etwas anderes. Er war weiter von seiner Heimat entfernt, als jemals zuvor in seinem Leben. Bevor seine Mutter ihm weiter Löcher in den Bauch fragen konnte, die er so gut wie möglich umschiffte, damit er ihr nicht die Wahrheit erzählen musste und schon gar nicht, dass er verletzt war, unterbrach er sie einfach. „Mom? Ist Dad wieder zuhause? Ich muss dringend mit ihm sprechen.“ Als er losgezogen war, war sein Vater gerade im Ausland gewesen, um sich über eine neue Rinderrasse zu erkundigen, die noch widerstandsfähiger sein sollte, als jene, die sie bereits züchteten. „Ja, ist er. Hast du etwa Probleme? Brauchst du Geld? Ist etwas mit deiner Reisegruppe?“ Er liebte seine Mutter wirklich, aber sie war einfach überfürsorglich, dabei war er fast dreißig. Etwas, das sich nie ändern würde, egal wie selbstständig er im Leben war. Zum Glück hatte er ihr weder etwas von der Nachricht des Raben erzählt, noch wohin er in Wahrheit hingefahren war. Sie glaubte, er befände sich auf einer Gruppenreise quer durch Kanada, wo sie sich alle möglichen Sehenswürdigkeiten ansahen. „Nein, es ist alles bestens. Das sagte ich doch schon. Kann ich also bitte mit Dad reden? Das ist so ein Männerding. Du verstehst schon.“ Sie seufzte am anderen Ende der Leitung. Dieses Männerding kannte sie ganz genau. Es betraf alles, was sie nicht wissen sollte und in den meisten Fällen auch gar nicht wissen wollte. Sie vertraute ihrem Ehemann bedingungslos, wie es bei der Bindung zwischen Gestaltwandlern sehr oft vorkam. Weshalb sie ihn niemals darum bat, ihr die Geheimnisse zu verraten, die ihr Mann und ihr Sohn miteinander hatten. Immerhin gab es dafür wiederum Dinge, die Nataniel und seine Mutter vor seinem Dad verbargen. Alles nichts Außergewöhnliches, aber das war dann so ein Mutter-Sohn-Ding. „Warte kurz, mein Schatz.“ Knistern und Rascheln waren zu hören, danach hörte er leises Flüstern, woraufhin die Stimme seines Vaters folgte. „Na wie geht’s dir, Sohnemann? Was steht an?“ Die Stimme von Nataniels Vater war ruhig, und voller Wärme. Er hatte keine Ahnung, was wirklich los war. Wieso es ihm so schwer fiel, mit seinen Worten herauszurücken, doch er musste es wissen. „Dad, ich will dich etwas fragen“, begann er langsam, während er nach den richtigen Worten suchte und nervös mit dem Zipfel seiner Tagesdecke zwischen den Fingern spielte. „Um was geht es?“ Sein Vater klang nun ernster. Ihm war wohl Nataniels bedrückter Tonfall nicht entgangen. „Bist du alleine? Hört Mom zu? „Nein, sie wollte gerade Lucy stillen, als du angerufen hast. Das wird sie jetzt wohl nachholen. Deine kleine Schwester gleicht mit ihrem Hunger wie dem Rest unserer Familie. Beinahe könnte sie es sogar mit dir aufnehmen.“ Kurz lächelte Nataniel bei dem Bild seiner kleinen Schwester, das sich vor sein geistiges Auge schob. Noch war Lucy zu klein, um sich zu verwandeln. Aber sie gab bestimmt ein wunderschönes Berglöwenbaby ab, mit ihren goldfarbenen Augen und dem herzerweichenden Gesichtchen. Nataniel vermisste sie wie den Rest seiner Familie. Er seufzte, dann rückte er mit der Wahrheit heraus. „William Hunter ist tot. Ich bin nicht in Kanada, sondern an dem Ort, wo er ermordet wurde. Vermutlich ein Tiger namens Nicolai. Aber darum geht es jetzt nicht. Dad, welche Beziehung hattest du zu meinem Erzeuger?“ Schweigen. Unbewusst zerriss Nataniel die Spitze der Tagesdecke, als das Gefühl der Bedrückung immer stärker wurde. „Er war mein bester Freund“, begann sein Dad schließlich zu sprechen. Seine Stimme zitterte. Das hatte Nataniel nicht gewusst. Zu hören, dass sein bester Freund nun tot war, musste wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Sofort setzte er sich auf dem Bett auf, als er sich der Tragweite seiner Worte bewusst wurde. Ihm bedeutete sein Erzeuger vielleicht nur sehr wenig, aber seinem Dad wohl sehr viel. „War das der Grund, wieso du mich bei euch aufgenommen hast? Warum ...?“ Warum hatte er ihn weggeben? Warum hatte seine Mutter ihn kurz nach der Geburt weiter gereicht? „Ich konnte ihm diese Bitte nicht abschlagen.“ Nataniel hörte, wie schwer es seinem Dad fiel, die nächsten Worte zu sprechen. „Er hat unsere Familie vor der Registrierung bewahrt. Hat uns einen Ort überlassen, der so weit von allem abgelegen liegt, dass sie kein Interesse an uns hegten. Er wollte nicht, dass du das gleiche Schicksal erleidest, wie dein älterer Bruder. Sein Name war Ryan. Williams und Sarahs erstes Kind. Sein Verlust hätte deine Mutter fast umgebracht, wenn sie ihren Mann nicht gehabt hätte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ihr fiel, dich herzugeben.“ Nataniels Kehle begann sich, schmerzhaft zuzuschnüren. Sein Dad meinte nicht Kyle, seinen jüngeren Stiefbruder, sondern jemand ganz anderes. Einen Bruder, den er niemals kennen gelernt hatte. „W-wie …?“ Seine Stimme versagte. Er konnte nicht fassen, was er da hörte. „Dein Vater ist … war ein geborenes Alphatier. Einige werden schon als solche geboren. Jeder Gestaltwandler erkennt das sofort, wenn er einem begegnet. Er war schon immer dazu bestimmt, seine Art zu vereinen und zu beschützen. Sogar mehr als das. Ihm war es gelungen unsere Clankriege zwischen den verschiedenen Rassen der Raubkatzen zu beenden und uns zu verbünden, wie es schon so lange die Werwölfe tun. Nur so konnten wir uns gegen unsere Feinde behaupten – die Moonleague. Aber genau das machte ihn zum Ziel.“ Inzwischen sank die Stimme seines Dads zu einem Flüstern herab. „Einige Mitglieder der Organisation können Alphatiere ebenfalls erkennen. Anfangs gaben sie sich damit zufrieden, sie und alle Gestaltwandler, die sie finden konnten, zu registrieren und zu beschatten. Aber in jener Nacht, als dein Bruder noch ein Kleinkind war, begannen sie systematisch alle angehenden Alphatiere zu töten … Dein Vater hatte keine Ahnung von dem Plan. Bis dahin hatte er sich immer darauf konzentriert, für Frieden zu sorgen, damit unsere Art so normal wie möglich leben kann, selbst mit der Registrierung. Er konnte Ryan nicht retten, als man deinen Bruder seiner Bestimmung wegen tötete, und kam selbst nur ganz knapp mit dem Leben davon, bei dem Versuch, wenigstens deine Mutter in Sicherheit zu bringen.“ Nataniel konnte kaum noch atmen, so sehr entsetzte ihn diese neue Information. Beinahe hätte er das Handy zerbröselt, da sich seine Hand so fest darum ballte, dass das Gehäuse protestierend knackte. „Ryan wäre ein Alphatier geworden, Nataniel. Du bist ebenfalls dazu bestimmt. Deshalb gaben deine Eltern dich weg. Damit man dich nicht ebenfalls umbringen konnte. Man sieht es dir nicht mehr an, aber das Potential zum Führer hat immer in dir geschlummert.“ „Nein.“ Nataniel schüttelte den Kopf, als weigere er sich, das zu hören. „Ich bin kein Anführer. Ich kann niemanden beschützen.“ Der Leopard hatte Recht. Er war wirklich nur ein armseliges Würstchen. Zu schwach, um gegen eine schwächere Raubkatzenart anzukommen. Wie könnte er da jemals gegen einen Tiger ankommen, wenn es selbst seinem Vater nicht gelungen war? „Wenn du es akzeptierst, wird sich dein Potential entfalten. Genau deshalb bist du doch dorthin gereist, oder etwa nicht? Ich kann dir nur raten, es nicht zu leugnen, sondern anzunehmen. Aber wie du dich auch entscheidest, vergiss nicht, du kannst immer nach Hause kommen. Deine Familie ist für dich da.“ Ja, seine Pflegefamilie würde ihn auch weiterhin beschützen, selbst wenn er den Schwanz einzog und sich winselnd unterm Bett verkroch. Wie könnte er jemals der Sohn seines Vaters sein, wo er doch schon das Zittern bekam, wenn er nur daran dachte, Verantwortung für mehr als nur sein Leben zu übernehmen? Lange schwiegen sie beide am Telefon, bis Nataniel wieder in der Lage war zu sprechen. Er dankte seinem Dad dafür, dass er ihm die Wahrheit erzählt hatte, teilte ihm jedoch mit, dass er noch eine Weile nicht nach Hause kommen würde und er bloß nichts seiner Mom erzählen sollte, damit sie sich nicht aufregte. Danach verabschiedeten sie sich und Nataniel vergrub den Kopf in sein Kissen, um das Brüllen zu dämpfen, das sich schließlich seinen Weg durch seine Kehle bahnte.   ***   Amanda wachte mit Kopfschmerzen und verschwommenem Sichtfeld auf. Zuerst war da der Eindruck von Licht, das nur durch einen kleinen Bereich auf ihre Füße fiel. Alles drehte sich ein wenig, als sie den Kopf anhob und sich bewegen wollte. Sie blinzelte hektisch, als ihr klar wurde, dass sie auf einem Stuhl festgebunden war. Ihr Puls schnellte in die Höhe und ihre Atmung schien sich einen Augenblick zu überschlagen, bevor sie sich wieder zur Ruhe rief. Als Erstes musste sie ihre Lage analysieren, dann konnte sie immer noch in Panik ausbrechen. Sie befand sich in einer Art Schuppen oder Rumpelkammer. Überall an den Wänden hingen Werkzeuge und in den Regalen lagen Schrauben und Ersatzteile jeglicher Art herum. Amanda hob den Kopf noch etwas weiter, was ihr wieder ein unangenehmes Klingeln in den Ohren verursachte und sah zu dem kleinen Fenster hinüber, durch das warmes Licht in den Raum fiel. Es schien bereits zu dämmern, denn das Licht fiel in einem Winkel herein und war außerdem von einer Farbe, die vermuten ließ, dass die Sonne gerade unterging. Neben dem Fenster öffnete sich jetzt die Holztür in den wackeligen Scharnieren, die nur quietschend nachgaben. In dem erleuchteten Rechteck zeichneten sich zwei dunkle Silhouetten ab, in denen Amanda zumindest die Frau von vorhin erkannte. Sie schwieg genauso wie ihr Begleiter, aber beide durchbohrten Amanda regelrecht mit ihren Blicken. „Was wollen Sie von mir?“, fragte Amanda leise. Sie wollte ihre Tarnung der etwas zu neugierigen Journalistin nicht sofort aufgeben. Vielleicht hatten sich diese Leute nur etwas zu enthusiastisch gegen einen Eindringling verteidigen wollen. Allerdings verriet ihre Stimme garantiert, dass Amanda nicht vor Angst schlotterte. Im Auge von unvermeidlicher Gefahr wurde sie immer seltsam ruhig. „Dasselbe möchten wir dich fragen.“ Der Mann hatte sich direkt vor Amanda gestellt und blockierte das Licht, das gerade so ihre Schuhspitzen erreicht hatte. „Ich war nur hier, um nach dem Weg zu fragen. Ich hab mich verfahren.“ Wäre er in seiner Tierform gewesen, hätten sich jetzt wohl seine Schnurrbarthaare verächtlich gehoben. Er kaufte ihr die Geschichte nicht ab. „Natürlich. Und du hast dieses Ding zwar dabei, kannst aber nicht damit umgehen.“ Wie ein giftiges Insekt hielt er ihr den PDA vor die Nase, der nur einen dunklen Bildschirm zeigte. „Sie wissen doch … Frauen und Technik.“ Ihr entkam so etwas wie der Ansatz eines Lachens, dessen Abbrechen man durchaus auf Angst oder Nervosität schieben konnte. Amanda konnte nicht anders, als zurückzuzucken, als sich die große Hand des Mannes um ihren schlanken Hals legte und sie die Krallen auf ihrer Haut spüren konnte, die er ausfuhr. „Du solltest mir die Wahrheit sagen.“ Sein Gesicht näherte sich dem von Amanda. Allerdings sah diese gerade ganz wo anders hin. Die Frau stand ein Stück von ihr entfernt und sah sich die Szene eindeutig mit Nervosität an. Sie fühlte sich absolut nicht wohl in ihrer Haut und rang in einer verzweifelten Geste die Hände. Der Kerl mochte ein guter Schauspieler sein. Seine Frau war es nicht und Amanda war sich sicher, dass das hier weniger gefährlich für sie war, als es den Anschein hatte. Die Hand legte sich fester um ihren Hals und zwang Amanda schließlich doch dem Mann ins Gesicht zu sehen. „Hören Sie“, krächzte sie angestrengt, während ihr langsam aber sicher die Luft wegblieb. Wahrscheinlich war der Typ gerade deswegen gefährlich, weil er nicht mit seiner eigenen Kraft umgehen konnte. „Ich suche nur jemanden.“ Mist, wenn er weiter so zudrückte, würde ihr bald wieder schwarz vor Augen werden. Bereits jetzt konnte Amanda fühlen, wie sich ihr Blut in ihrem Gesicht staute. Sie musste rot wie eine Tomate sein, während Tränen in ihre Augen stiegen. „Frank …“ Die Stimme der Frau passte absolut zu ihrer Schönheit. Sie klang wie ein Glockenspiel und hatte auf Frank eine scheinbar einzigartig beruhigende Wirkung. Langsam drehte er sich zu der Frau um und ließ Amanda ein wenig los, die verzweifelt nach Luft schnappte. Sie hustete und versuchte an der Hand vorbei zu schlucken, die der Mann immer noch auf ihrem Hals belassen hatte. „Ich … Ich suche einen Mann. Sein Name ist Eric. Eric Johnson.“ Erstaunlicherweise ließ Frank ihren Hals los, als er Erics Namen hörte. Sofort machten sich Erleichterung und Hoffnung in Amanda breit. Die Frau, deren Namen Amanda noch nicht kannte, sah zwischen Frank und ihrer Gefangenen hin und her. Sie wusste offensichtlich nicht, was sie tun oder sagen sollte und versuchte Hilfe in Franks Gesicht zu finden. Der sah allerdings immer noch mit steinerner Miene auf Amanda hinab, die inzwischen trotz dieses kleinen Erfolgs versuchte, sich aus den Fesseln um ihre Handgelenke zu befreien. „Warum willst du ihn finden?“ Sie kannten ihn. Am liebsten hätte Amanda ihrer Freude laut Ausdruck verliehen, aber das konnte immer noch ein großer Fehler sein. Immerhin hieß das nicht, dass sie Eric freundlich gesonnen waren. Sie konnten ihn getötet haben und seine Verbindung zu Amanda nur als weiteren Grund ansehen, mit ihr ebenfalls so zu verfahren. „Ich bin seine Schwester. Er ist vor ein paar Monaten verschwunden und ich mache mir Sorgen. Ich will nur wissen, ob es ihm gut geht.“ Bei diesen Worten sah sie in die braunen Augen der Frau. Bei ihr hoffte sie auf mehr Mitgefühl und Verständnis zu treffen als bei Frank, dessen Krallen immer noch ausgefahren waren, obwohl seine Hand schlaff neben seinem Körper hing. Amanda hätte nicht mit dem gerechnet, was als Nächstes passierte. Frank ging zu einem der Regale hinüber, zog eine Rolle Klebeband hervor und trat wieder auf Amanda zu. Ihre Augen weiteten sich und sie versuchte – natürlich zwecklos – seinen Händen zu entgehen. „Nein, warten Sie doch, ich …“ Der Rest des Satzes ging in Gemurmel unter, als Frank ihr das Klebeband über den Mund legte und es neben ihrer Wange mit einer seiner Krallen von der Trommel trennte. Dabei ritzte er Amanda wohl unabsichtlich ein wenig die Haut auf, was sie zusammenzucken ließ. Sie versuchte weiter zu sprechen und die Frau mit ihren Blicken irgendwie dazu zu bringen, ihr zuzuhören. Aber Frank legte das Klebeband wieder ins Regal und schob die Frau zur Tür hinaus, die er ordentlich hinter sich verschloss und einen dicken Riegel vorlegte. Amanda konnte Holz auf Holz hören, bevor sie anfing zu toben. Sie bäumte sich unter ihren Fesseln auf dem Stuhl auf und schaffte es sogar sich vorzubeugen und damit in Richtung Tür zu wanken. Mit dessen zusätzlichem Gewicht warf sie sich gegen das Holz, das zwar laut knarrte, aber keinen Zentimeter nachgab. Noch dreimal versuchte es Amanda unter gedämpften Rufen und einem Wutausbruch, der sich gewaschen hatte. Beim vierten Versuch rutschte die Stuhllehne an einer der Holzbohlen ab und der Türgriff schlug hart gegen Amandas Schulter. Scheiße!, schrie sie in den Klebebandstreifen und setzte die Beine des Stuhls wieder auf den staubigen Boden. Selbst im Sitzen trat sie noch nach einem der in der Nähe stehenden Regale. Eigentlich musste sie nur warten, bis die Sonne vollkommen unterging. Dann konnte sie sich hier raus bringen, aber was, wenn Frank schneller zurückkam, als vermutet. Und was, wenn er diesmal die Frau nicht dabei hatte, um ihn davon abzuhalten, ihr die Haut vom Körper zu ziehen?   ***   Es mussten Stunden vergangen sein, bevor Nataniel wieder in der Lage war, sich so weit zu beruhigen, dass er nicht alles zu Kleinholz verarbeiten wollte, was er erreichen konnte. Er hatte es sogar geschafft, nichts in diesem Raum zu zerstören, wenn man mal von den blutigen Abdrücken von Fingernägeln in seiner Handfläche absah, die er sich zugefügt hatte, als er sie fest zu Fäusten ballte. Schließlich konnte er sich sogar so weit durchringen, um zu Amandas Zimmer zu gehen. Er hatte einige Fragen an sie, die garantiert alles andere als angenehm für sie sein würden. Im Augenblick hasste er die Organisation mehr denn je und sie war nun einmal ein Mitglied davon. Gewisse Dinge musste sie einfach wissen. Inzwischen hatte Nataniel noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil er sie angelogen hatte. Sie war nicht besser. Was verschwieg sie ihm denn alles, um diese Höllenbande zu schützen? Das lautstarke Hämmern an ihre Tür brachte absolut nichts, da es weder stark genug war, um seine Wut abzubauen, noch irgendeine Reaktion in dem Zimmer dahinter hervor zu rufen schien. Entweder sie ignorierte ihn, oder sie war gar nicht da. Um sicherzugehen, eilte er ohne Rücksicht auf seine Schmerzen die Treppe hinunter, um sich auf dem leeren Kundenparkplatz wieder zu finden. Der Dodge war weg und er hatte noch nicht einmal bemerkt, wie sie alleine losgezogen war. Eigentlich sollte es ihn nicht kümmern, was sie trieb, doch er war so verdammt stinksauer auf sie und alles, was mit dieser verfluchten Moonleague zu tun hatte, dass er sich dazu zwang, die Hauptstraße entlang zu joggen, um nach ihrem Wagen Ausschau zu halten. Es würde bald dunkel werden und sie war noch immer nicht zurück. Eine Tatsache, die ihm nicht ganz behagte. Was wenn sie auf einen Gestaltwandler gestoßen war, wie er auf den Leoparden? War sie vielleicht schon tot? Der Jaguar in seinem Kopf fauchte laut und lief unruhig hin und her. Er wollte sie wieder haben. Nataniel wusste nicht genau, wo er sie suchen sollte, nahm aber an, dass sie ihren Plan wieder aufgenommen hatte, um die Farmen abzuklappern. Also war er so frei, sich bei der nächstbesten Gelegenheit einfach einen fahrbaren Untersatz zu 'borgen'. Es war ein altes Motorrad, das nur mit Müh und Not ansprang, als er es kurzschloss. Woher er sein Wissen dazu nahm, würde er seinen Eltern auf ewig verschweigen, wie auch ein paar andere Sachen in seinem nicht ganz so tadellosen Leben. Schließlich machte er sich endlich auf den Weg, um dorthin zu fahren, wo sie gestern die Suche vorerst hatten aufgeben müssen. Doch schon bei der nächsten Einfahrt nach dem Ort, wo sie den Leoparden erschossen hatte, war Nataniel klar, dass sie nicht hier gewesen war. Ihr Geruch fehlte vollkommen. Vielleicht hatte sie sich in der gegengesetzten Richtung auf die Suche gemacht.   Es war die mühsamste Suche seines bisherigen Lebens, da er bei weitem keinen so guten Geruchssinn hatte wie ein Hund oder gar ein Werwolf. Inzwischen war er so reizbar, dass er keine Rücksicht mehr auf seine körperliche Schwäche nahm, sondern ihn diese Tatsache eher nur noch wütender machte. Das änderte sich für einen Moment, als Nataniel schließlich auf Amandas Geruch stieß. Zwar hing er nur schwach in der Luft, aber er konnte ihm folgen. Dazu musste er viel langsamer fahren, was ihn verdammt wurmte, da die Sonne bereits den Horizont blutig färbte, aber wenigstens hatte er endlich ihre Spur gefunden. Von der Wut über die Dinge, die er erfahren hatte, angestachelt, fuhr er unermüdlich der Spur nach, ließ dabei die Einfahrten aus, die sie zwar genommen, aber auch wieder verlassen hatte, bis er irgendwann auf den intensiven Geruch ihres Blutes stieß. Nataniel bremste die Maschine auf einer unwegsamen Straßeneinbiegung schlitternd ab, ließ sie einfach in den nächsten Straßengraben kippen und warf seine Kleidung hinten nach. Dann verwandelte er sich, um der Spur besser folgen zu können. Nur ein Stück weiter fand er einen einzelnen Blutstropfen auf dem Schotterweg. Es war wirklich nicht viel, aber es war noch nicht vollkommen getrocknet. Sie musste also hier sein. Dabei fiel ihm aber nun auf, dass auch der Geruch von anderen Personen in der Luft hing. Gestaltwandler. Nataniel schlich sich in den Wald, dabei auf jede noch so kleine Information achtend, die ihm Auskunft über seine Umgebung gab. Einerseits half es ihm, sich nicht von der Tatsache ablenken zu lassen, dass Amanda vermutlich verletzt sein musste, auch wenn es wohl nicht schlimm war. Immerhin könnte sie sich auch nur geschnitten haben oder so etwas in der Art, aber bevor er es nicht mit Sicherheit wusste, würde er keine Ruhe geben. Auf dem Waldboden fand er immer wieder Spuren von Raubkatzen und der Geruch hing intensiv in der Luft. Er wurde immer nervöser, aber zugleich machte ihn das auch unglaublich wachsam. Als er endlich wieder Licht zwischen den Bäumen sehen konnte, das nicht von der Straße her kam, wurde er immer langsamer und schlich sich nur noch in geduckter Haltung voran. Dabei achtete Nataniel peinlichst genau auf die Windrichtung. Er wollte nicht riskieren, dass man ihn noch einmal so überraschte, wie der Leopard es getan hatte. Er traf auf eine Farm, wie sie hier in der Gegend wohl üblich waren. Allerdings interessierte ihn hierbei nicht das Haupthaus, sondern zuerst Amandas Dodge in der Einfahrt und der Schuppen in der Nähe, den gerade ein Mann und eine Frau verließen und danach die Tür verriegelten. Nataniel knurrte leise, als er die zwei Gestaltwandler verschwinden sah, war zugleich aber auch erleichtert, als schon kurze Zeit später die alte Holztür von innen erschüttert wurde. Amanda … sie musste da drin sein. Da er die beiden Gestaltwandler nicht mehr sehen konnte, schlich er sich von hinten an den Schuppen heran und suchte eine Stelle, an der er rein kommen konnte. Da war nur ein Fenster, direkt neben der Tür, aber das wäre einfach zu offensichtlich gewesen. Die Sonne ging immer weiter unter. Er beeilte sich. Nachdem er den Schuppen dreimal von jeder Seite gründlich gemustert hatte, ohne sich selbst blicken zu lassen, fand er schließlich ein kleines Schlupfloch. Dicht am Boden, waren bereits ein paar Holzlatten der Hütte herausgebrochen. Wenn er noch etwas grub, würde er dort hindurchpassen. Gedacht, getan. Der Boden war sandig und für seine Pranken kein Hindernis. Fast lautlos gelang es ihm, hindurchzuschlüpfen. Hier drin war es bereits sehr dunkel, weshalb er sich gut in den Schatten verbergen konnte. Als er jedoch Amanda an einen Sessel gebunden vorfand, wäre es fast mit seiner Ruhe vorbei gewesen. Er wollte am liebsten knurren und brüllen, stattdessen verwandelte er sich zurück. Blieb aber so weit in Schatten, dass sie nur sein Gesicht sehen konnte, wenn sie sich umdrehte. „Amanda …“, flüsterte er leise und mit rauer Stimme. Er war emotional einfach total hin und her gerissen, weshalb er nicht sicher war, was er als Nächstes tun sollte.   Amanda hatte bereits ein leichtes Schimmern seiner Augen im Schatten gesehen, bevor er sie angesprochen hatte. Was machte er denn hier? Sie wäre sehr gut ohne ihn ausgekommen und … Als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, das halb im Dunkeln lag, schluckte sie hart und von einer Sekunde auf die andere schien sich ein Felsbrocken in ihrem Magen geformt zu haben. Selbst damals, als sie zum ersten Mal im Wald mit seiner menschlichen Gestalt zusammengetroffen war, hatte ihr nicht so viel Hass entgegen geschlagen, wie sie ihn jetzt in seinen Augen lesen konnte. Amandas Handflächen wurden feucht und sie versuchte sich, so unauffällig wie möglich von den Fesseln zu befreien. Nataniels eiskalte Augen machten ihr in diesem Moment mehr Angst, als es Franks Hand vorhin getan hatte, als er versuchte, ihr die Luft abzuschnüren. Die Tatsache, dass er nicht auf sie zukam, sondern im Schatten stehen blieb und sie nur ansah, war es, die sie so nervös machte. Hätte er sie retten wollen, wäre er auf sie zugekommen und hätte ihr das Klebeband abgenommen. Da er sich keinen Zentimeter bewegte, wartete Amanda darauf, dass er sich verwandeln und ihr nach einem einzigen Sprung die Kehle aufreißen würde. Dieser verdammte Spruch hatte also doch seine Tücken. Sie hatte sich den Feind so nah geholt, dass sie jetzt mit ihm in der Falle saß und ihm völlig ausgeliefert war. Ihre Augen verengten sich ein wenig und sie schob den Stuhl so, dass sie Nataniel ins Gesicht sehen konnte. Wenn er sie schon umbringen wollte, dann sollte er ihr dabei in die Augen blicken. Einen verzweifelten Moment lang hoffte Amanda, dass die Sonne schnell genug untergehen würde. Wäre sie stärker gewesen, hätte sie den Sonnenschatten ausgenutzt. Sollte sie das selbst in dieser Situation nicht riskieren? Sie hörte die Worte ihrer Mutter in ihrem Kopf und ließ es bleiben. Stattdessen ließ sie sich weiter von Nataniels blauen Augen aufspießen und atmete allmählich ruhig und gleichmäßig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)