All You Wanted von Nikolaus (Taichi x Yamato) ================================================================================ Kapitel 11: When The Tides Come (Yamato) ---------------------------------------- gebetat by ~ Yamatos POV ~ Gleißend schien die Sonne vom Himmel, ließ die rosa Blüten an den Bäumen aufleuchten und gab der blonden Woge um Mums Kopf einen goldenen Schimmer. Sie saß auf der Picknickdecke und malte zusammen mit Takeru in ein kleines Malbuch. Ihre Zeichnungen waren schöner, aber Takeru schien mehr Spaß an der Sache zu haben. Seine kleinen Finger umfassten fest den Buntstift und malten in weiten, kreisenden Bewegungen etwas auf das weiße Papier, während Mum sorgfältig eine Rose in die linke Ecke malte. Sie fing an zu lachen, als Dad meinte, dass Takerus Talent zum Malen genauso beschränkt sei, wie sein Talent zum Kochen. Dads Haar war an manchen Stellen grau geworden und die Geheimratsecken wurden größer. Mum meinte dazu immer, dass es etwas habe. Es verleihe ihm einen Schein von Weisheit. Er selbst mochte sie nicht, hatte es allerdings schon lange aufgegeben, sich die anderen Haare darüber zu kämmen. Zudem hatte Takeru sowieso bei jeder Gelegenheit seine kleinen Hände in seinem Haar und machte jede Mühe zu Nichte. Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Sonne schien durch meine Lider und ließ bunte Punkte vor meinem inneren Auge entstehen. Aber ich genoss die Wärme, das Gefühl, nichts zu tun zu müssen. Es war gut, so wie es war. Niemand verlangte etwas von mir und ich musste mich auch nicht an dem Gespräch von Mum und Dad beteiligen, oder mich mit Takeru beschäftigen. Nicht, dass ich nicht gerne etwas mit meinem Bruder machte, aber er war… laut. Ein kleiner Wirbelwind, den man nicht bändigen konnte. Es wurde mir manchmal einfach zu viel mit ihm. „Schatz, du bist doch nicht etwa schon wieder müde, oder?“, fragte Mum und strich mir durch das Haar. Ich konnte das Lächeln auf ihren Lippen praktisch hören. Wortlos schüttelte ich den Kopf, drehte mich auf den Bauch und sah zu ihr auf. „Willst du nicht mit Takeru etwas malen?“ „… nein.“ Sie seufzte. Nicht böse, eher so, als ob sie gewusst hätte, dass ich das antworten würde, und es sie ein bisschen amüsierte. „Soll ich dir mal was erzählen, Yamato?“, fragte sie, legte ihren Stift beiseite und ließ Takeru alleine weiter malen. Er schien sich nicht daran zu stören, war ganz bei der Sache und gab vergnügte Laute von sich. Dad beobachtete ihn mit einem seligen Lächeln. „Was?“, stellte ich die Gegenfrage und konnte meine Neugierde nicht verbergen. Mum konnte wunderschöne Geschichten erzählen. Sie schmückte sie mit allen Dingen aus, erschuf eine unglaubliche Illusion, und am Ende, hatte ich jedes Mal das Gefühl, wieder gewaltsam in die Realität zurück gezogen zu werden. „Von dem Pandabären Yama“, sagte sie und es freute mich, dass er meinen Namen hatte. Den Spitznamen, den ich anfangs überhaupt nicht gemocht hatte, war auf ihrem Einfallsreichtum gewachsen und es durften mich auch nur sie und Takeru so nennen. Sie, weil sie alles durfte, und Takeru, weil ich ihn lieb hatte und er meinen richtigen Namen öfters falsch aussprach. Dad durfte es nicht, aber ich wusste auch so, dass er niemals das Bedürfnis danach verspürte. „Ja!“ „Also gut“, sie legte sich neben mich und pflückte eine Blume aus, die sie mir in die Hand drückte. Leicht verwirrt betrachtete ich sie, behielt sie aber, weil Mum sie mir gegeben hatte. Alles was sie mir gab, hatte in irgendeiner Weise einen wichtigen Sinn und war kostbar. „Es war einmal ein kleiner Pandabär mit dem Namen Yama. Er aß den ganzen Tag Bambusblätter und wanderte alleine durch die Wälder. Manchmal traf er auf einen anderen Pandabären, aber sobald dieser sich dazu anschickte, ein Gespräch zu beginnen, ergriff Yama die Flucht. Er mochte die Einsamkeit. Eines Tages kam eine schöne Pandabärdame zu ihm und sagte ihm, dass er ein wunderschönes Fell habe. So ein wunderschönes habe sie noch nie gesehen. Yama fühlte sich geschmeichelt, aber er verstand nicht ganz, was sie wollte. Auch nicht, als sie ihm sagte, dass es eine Schande wäre, es dies nicht weiter zu vererben. Als die Dame merkte, dass Yama nicht wirklich Wert auf ihre Gesellschaft legte, ging sie davon. Yama störte es nicht. Er lebte so weiter, wie bisher. Dann kam er eines Tages an einen großen Abgrund. Überall war rutschiges Geröll, aber Yama wollte unbedingt auf die andere Seite, also stieß er einen Baumstamm um und balancierte darüber. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Verzweifelt hielt er sich fest und rief um Hilfe, aber es war niemand außer ihm da. Bald konnte er sich nicht mehr halten und stürzte hinab. Und so ein schönes Fell hat bisher kein anderer Pandabär mehr gesehen.“ Sie beendete die Geschichte, indem sie ihre Stimme senkte und mich ansah. Erwartungsvoll und auch etwas traurig. Ich sah weg. Es bestürzte mich nicht wirklich, dass der Pandabär am Ende gestorben war. Ich mochte keine kitschigen Märchen und deshalb erzählte Mum mir auch keine von dieser Sorte. Dass, was mich störte, war die Tatsache, dass er hauptsächlich schlechte Eigenschaften hatte, obwohl er meinen Namen trug. Normalerweise hatten die Figuren mit meinem Namen ein aufregendes Leben und retteten die Welt, dieser hier starb am Ende. Einsam und ungeliebt. Es gefiel mir nicht. Die Geschichte hatte einen beunruhigend anklagenden Nachgeschmack. „Pandabären sind vom Aussterben bedroht, Yama“, sagte Mum nach einer Weile. „Weil sie immer so viel alleine sind und die Einsamkeit suchen. Ich denke, wenn sie etwas geselliger wären, hätten sie kein Problem mit dem Überleben. Was meinst du, Schatz?“ „Keine Ahnung“, murrte ich beleidigt und drehte mich wieder auf den Rücken. Mir war vollkommen klar, dass sie damit darauf anspielte, dass ich so wenige Freunde hatte und auch nicht versuchte, es zu ändern. Aber ich mochte die anderen Kinder nun mal einfach nicht. Was sollte ich denn dagegen tun? Außerdem war ich erst vor Kurzem sieben geworden, da konnte sich noch so vieles ändern. Wer wusste schon, ob ich später vielleicht nicht ganz viele Freunde haben würde? „Willst du nicht zu mit Takeru auf den kleinen Spielplatz gehen?“, versuchte sie es weiter und spielte mit meinen Haarsträhnen. „Da findet ihr sicher noch ein paar andere Kinder zu spielen. Dann wird es euch hier nicht so langweilig.“ „Mir ist nicht langweilig“, erwiderte ich. „Aber Takeru vielleicht“, hielt sie dagegen. „Dem auch nicht. Er malt.“ „Bitte, Yama“, flehte sie. Ich murrte leise und rappelte mich hoch. Krabbelte zu meinem kleinen Bruder und nahm ihm den Stift aus der Hand. Er sah mich anschuldigend an. „Komm schon, Takeru“, sagte ich und lächelte ihn an. „Wir gehen auf den Spielplatz.“ „Wirklich?“, er grinste begeistert und ließ sein Malbuch unbeachtet auf der Decke liegen. „Toll! Kommen Mama und Papa auch mit? Sind da andere Kinder?“ „Nein, TK“, sagte Mum lächelnd und strich mir durchs Haar, gab mir einen Kuss auf die Stirn und tat bei Takeru das Selbe. Ich mochte es, auch wenn ich es nie sagen würde. „Wir kommen nicht mit. Aber ich bin mir sicher, dass da noch ganz viele andere Kinder sind. Und bleibt in der Nähe, wir wollen euch im Auge behalten können. Sobald was passiert, schreit ihr und kommt sofort zurück, ja?“ „Ja, Mama“, antworteten wir synchron und ich nahm Takeru bei der Hand. Sofort klammerte er sich an mich und ging ganz dicht neben mir, wie als hätte er Angst, ich könnte ihm davon laufen. Ich ging mit ihm zum Spielplatz und während er sich in den Sand stürzte und sofort mit ein paar Mädchen zu reden anfing, setzte ich mich auf einen umgefallenen Baum und stützte den Kopf auf die Hände. Spielplätze waren doof. Sandkästen waren doof. Picknicke, bei denen ich mit anderen Kindern spielen sollte, waren auch doof. Aber ich sagte nichts dagegen, es würde Mum nur unnötig weh tun. Seit sie in letzter Zeit so nah am Wasser gebaut war und ständig die runden Tabletten schluckte, schien sie generell etwas empfindlicher zu sein. Wahrscheinlich hatte sie mir deshalb die Geschichte mit dem Pandabären erzählt. Ich schabte mit der Fußspitze im Sand. Nach einer Weile setzte sich ein Junge neben mich. Er hatte schwarze Haare und braune Augen. Zuerst sagte er nichts, trommelte nur mit den Beinen gegen den Baumstamm. Dann sah er zu mir und fragte: „Wie heißt du?“ „Yamato“, sagte ich. Ich wollte mich nicht mit ihm unterhalten und hoffte, dass er bald wieder ging. Er schien zu merken, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte. „Bist du traurig?“, fragte er. „Nein.“ „Willst… willst du nicht, dass ich da bin?“ „Ja.“ „Wieso?“, wollte er wissen und sah mich verwirrt an. Auf mein „Weil ich dich nicht mag“, sah er noch komischer drein. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem schwarzen Haar. „Du kennst mich doch gar nicht“, sagte er sachlich. „Dann kannst du doch auch noch nicht wissen, ob du mich magst oder nicht.“ „Mir egal“, erwiderte ich desinteressiert und sah weg. „Du bist ganz schön öde, weißt du das?“, er klang ein bisschen beleidigt. Ich wusste, dass ich nicht nett gewesen war und wäre Mum jetzt hier, hätte ich mich sofort entschuldigen müssen, aber sie lag auf der Picknickdecke, ganz weit weg von mir. „Mir egal“, wiederholte ich. Mir fiel die Geschichte mit dem Pandabären ein, der sofort die Flucht ergriff, wenn jemand anderes mit ihm reden wollte. Ich ergriff nicht die Flucht. „Du bist ein Blödmann, Yamato“, sagte er sauer und stand auf. Ich hob kurz den Kopf und beobachtete, wie er mit großen Schritten davon ging. Irgendwie fühlte ich mich ein bisschen mies, weil ich so böse gewesen war. Aber ich hatte einfach nicht mit ihrem reden wollen. Er war einfach zur falschen Zeit gekommen. Und ich würde schon nicht alleine in einen Abgrund fallen, nur weil ich ihn jetzt weggeschickt hatte. Wir gingen erst wieder, als Takeru sich mit einem anderen Jungen in die Haare kriegte und sie sich zu hauen anfingen. Ich ging dazwischen, packte meinen kleinen Bruder am Arm und warf dem Jungen ein paar Schimpfwörter an den Kopf, die dieser nicht verstand. Er wich meinem bösen Blick aus und fiel zurück in den Sand, Takeru stapfte triumphreich neben mir daher. Mum machte ein erschrockenes Gesicht, als sie Takerus aufgeplatzte Augenbraue sah, aber im Nachhinein schien es nicht so schlimm zu sein. Wir liefen zurück zum Auto, luden die Sachen ein und Takeru und ich setzten uns auf die Rückbank. Dad lobte Takeru dafür, dass er sich das nicht hatte gefallen lassen, Mum hielt entrüstet dagegen. Ich schwieg, zog die Beine an und sah aus dem Fenster. Dads überschwängliche Reden gegenüber Takeru war ich gewohnt. Auf der Fahrt nach Hause war es ruhig. Aber gegen Ende, fing Mum an zu weinen und hörte auch nicht damit auf, als Dad anfing, sie anzuschreien. Takeru begann ebenfalls zu weinen, was Dad nur noch wütender machte. Er drückte mächtig aufs Gaspedal und fuhr uns in einem so raschen Tempo nach Hause, dass mir fast übel wurde. Die Landschaft raste nur so an uns vorbei, ein Gewirr aus Braun und Grün. Takeru hörte nach einer Weile auf zu weinen und schlief auf seinem Kindersitz ein, den großen, brauen Teddybären fest an sich gedrückt. Mum saß zitternd vorne aus dem Sitz, ein Taschentuch auf Nase und Mund gedrückt, und schluchzte unterdrückt. Dad machte ein grimmiges Gesicht, wie als wollte er nur schnell weg von hier. Seine Lippen waren ein schmaler Strich und sein Dreitagebart ließ ihn sehr alt aussehen. Mir war noch nie richtig aufgefallen, wie alt er war. Er bemerkte meinen Blick und sah mich aus dem Rückspiegel böse an. Ich schaute weg. Nach ein paar Minuten kamen wir mit quietschenden Reifen vor unserem Haus an. Ein kleines Haus, eigentlich nur für zwei Personen gedacht. Takeru und ich mussten uns ein Zimmer teilen. Ich mochte es eigentlich, aber wenn er mich bei den Hausaufgaben nervte, wünschte ich mir oft, ein eigenes Zimmer zu haben. Außerdem knarrte das obere Bett unseres Hochbettes, weil Takeru so oft darauf herum gesprungen war. Dad schaltete den Motor ab und Mum stürmte sofort aus dem Auto. Ich beugte mich zu Takeru hinüber und weckte ihn sanft. Er murrte und streckte mir seinen Teddy entgegen, in der stummen Aufforderung, ihn zu für ihn zu halten, während er den Gurt löste und aus dem Auto krabbelte. Ich nahm das Plüschtier entgegen und wartete. Es war ein ganz großer Vetrauensbeweis von Takeru, dass er mir Mr. Pepper gab, schließlich durfte ihn sonst niemand anfassen. Zusammen gingen wir ins Haus, Dad direkt hinter uns. Er versuchte mal wieder, Takeru davon zu überzeugen, dass große Jungen keinen Teddybären mehr brauchten, aber mein Bruder hörte nicht auf ihn, sondern nahm meine Hand und zog mich nach oben. Wir gingen zu dem Zimmer unserer Eltern und klopften an die Türe. Wir konnten ihre Stimme hören, aber ihre Worte waren nicht an uns gerichtet. Sie weinte, schrie auf und warf etwas gegen die Wand. Das hatte sie öfters. „Was ist mit Mama?“, fragte Takeru leise und drückte sich an meine Seite. „Ich glaube, ihr ist ein bisschen schlecht“, sagte ich. „Wir sollten sie besser in Ruhe lassen.“ „Aber sie weint“, erwiderte er. „Trotzdem“, ich zog ihn in unser Zimmer und während er anfing mit seinen Spielzeugautos auf der Rennbahn herum zu fahren, holte ich meine Gitarre aus der Ecke und übte. Mein Traum war es, einmal eine große Gitarre zu besitzen. Mit Metallseiten, Plektron und allem Drum und Dran. Möglicherweise auch eine E-Gitarre. Doch dafür brauchte ich Geld und Talent, deshalb übte ich jeden Tag. Takeru setzte sich nach einiger Zeit neben mich und hörte mir abwesend zu, während das leise Weinen von Mum durch die Wände drang. Dad telefonierte laut im Erdgeschoss. Wir verzichteten an diesem Abend auf das Essen, bis auf ein paar Schokoriegel und ein Butterbrot für den unersättlichen Takeru, gab es nichts. Nachdem wir uns die Zähne geputzt und uns umgezogen hatten, versuchten wir es noch einmal bei Mum, aber sie antwortete nicht. Unter der Tür schien kein Licht hindurch. „Komm“, sagte ich leise zu Takeru und nahm in bei der Hand. „Wir gehen schlafen.“ Er nickte. Ein lauter Schrei von unten ließ uns zusammen zucken. Ich schubste Takeru ins unser Zimmer und schloss die Türe. Er sah mich mit ängstlichem Blick an. Ich versuchte zu lächeln, aber es fiel unsagbar kläglich aus. Obwohl es Takeru nicht aufzuheitern schien, kletterte er nach oben in sein Bett und sah zu mir hinunter. „Schläfst du heute bei mir?“, fragte er. Ich zögerte. „Dad sagt doch immer, das machen große Jungen nicht.“ „Dad sagt auch, dass Mr. Pepper doof ist“, erwiderte er mürrisch. Ich schaltete das Licht aus und blieb einen Moment unschlüssig vor dem Hochbett stehen. Dann erklomm ich die ersten Sprossen und kletterte zu ihm ins Bett. Er machte ein glückliches Geräusch und drückte sich ganz fest an mich, schlang die Arme um meinen Oberkörper. Ich fühlte mich wohl. Zwar war es etwas peinlich, aber ich mochte es mit Takeru in einem Bett zu schlafen. Es beschützte mich vor Alpträumen und die Angst die in mir aufstieg, wenn die Schreie aus dem Nachbarzimmer ertönten, war nicht so schlimm, wie wenn ich alleine schlief. Ich drückte mich an ihn, zog die Decke bis zur Nase hoch. Der arme Mr. Pepper wurde zwischen uns erquetscht. Dann hörte ich den Knall. Mit einem lauten Schrei fuhr ich aus dem Schlaf. Mein Herz raste, pochte so laut, dass ich meinen flachen, hektischen Atem kaum hörte. Ich war von Schweiß durchnässt, meine nassen Haare, die Decke und das Laken klebten an mir. Mit bebenden Händen strich ich mir die Strähnen aus dem Gesicht, schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Wacklig stand ich auf, ging langsam zum Fenster hinüber und öffnete es. Kalte Luft schlug mit entgegen, der Schweiß auf meiner Haut fühlte sich an wie Eis. Ich atmete tief ein und lehnte mich zitternd an den Fensterrahmen. Es war einer der Träume gewesen, die mich eigentlich schon seit Jahren nicht mehr heimsuchten. Die Träume, die zwischen Schrecken und Glück, Dunkelheit und Licht hin- und her schwankten. Ich wusste nicht, ob das alles wirklich damals so passiert war, so genau konnte ich mich nicht mehr entsinnen, aber dass dies alles Realität gewesen war, wusste ich. Mum hatte mir wirklich die Geschichte erzählt, der Junge war am Spielplatz zu mir gekommen. Ich hatte bei Takeru geschlafen und den Schuss gehört. Es stellte sich heraus, dass Takeru den Schuss nie gehört hatte. Er war nur aufgewacht, weil ich mich plötzlich so hektisch bewegt hatte und aus dem Zimmer gerannt war. Als ich damals die Türe zu Mums Zimmer öffnete, war es dunkel. Nur das fahle Mondlicht schien in den Raum, enthüllte genügend, um sich für immer in meine Erinnerung zu brennen. Die Tabletten, die Mum früher genommen hatte, waren gegen ihre Schizophrenie gewesen, unter der sie erblich bedingt litt. Die Depressionen hatten sich daraus ergeben. Dad hatte nie wirklich damit umgehen können, war schnell aggressiv und wütend geworden. Der Tränenausbruch im Auto war wegen der Depression gekommen. Damals hatte ich das noch nicht gewusst, aber Dad hatte das alles dem Notarzt erzählt, der sie damals abgeholt hatte. Ich war mit ihm mitgefahren und nach einigem Zögern erzählte er es auch mir. Sie hatte sich mit der Waffe erschossen, die neben ihrem Kopf lag. Ein einziger Schuss, direkt ins Gehirn, sofortiger Tod. Ich hatte es nie begriffen, schließlich schien sie immer so glücklich. Aber innerlich war sie tausend Tote gestorben, die Stimmen hatten sie um den Verstand gebracht. Der Notarzt meinte, ich sei noch zu jung dafür und in gewisser Weise hatte er auch Recht, aber ich wollte es einfach Wissen. Die Neugierde der kleinen Kinder. Sie brachte mich jahrelang um den Schlaf. Auf Takerus Frage heute Abend, wie Mum gestorben sei, hatte ich nicht geantwortet. Aus einem ganz simplen Grund: Ich hatte die Freude in seinen Augen glänzen gesehen, die Sympathie für Mum, an die er sich nur noch so schemenhaft erinnern konnte. Er sollte sich dieses positive Bild nicht dadurch zerstören, dass sie sich selbst ermordet hatte. Dass sie an einer Krankheit gelitten hatte, die auch in uns stecken konnte. Der junge Notarzt hatte damals gesagt, dass wir spätestens bei unserer Volljährigkeit jemanden aufsuchen sollten, der uns sagen konnte, ob wir ebenfalls darunter litten oder nicht. Natürlich wäre das sinnlos, wenn wir schon seit geraumer Zeit Stimmen hörten, die uns zum Selbstmord rieten. Ich hatte Angst davor, selbst einmal so zu werden. Panische Angst. Aber der junge Notarzt hatte gemeint, dass es ganz unterschiedlich sein konnte. Manchmal vererbte es sich und manchmal nicht. Er hatte mir den Kopf getätschelt und gesagt, dass ich mir darüber keine Gedanken zu machen bräuchte, wahrscheinlich würde es mich nicht treffen. Und ich hatte sein freundliches Lächeln gesehen und ihm geglaubt. Und das tat ich jetzt immer noch. Oder? _ „Du bist ganz schön blass“, sagte Taichi besorgt und blieb stehen. Ich sah ihn nicht an, blickte hinüber auf den dicht besiedelten Schulhof. Vor ein paar Tagen hatte mich niemand dort gekannt. Seit gestern wussten sie nicht nur alle wie ich heiß hieß, sondern auch noch, dass ich in aller Öffentlichkeit einen Nervenzusammenbruch hatte. Sie hatten es schließlich alle gesehen. Alle. Mir wurde übel. „Bist du dir sicher, dass du heute schon wieder in die Schule willst?“, fragte er und strich über meinen Arm. „Es würde dir keiner übel nehmen, wenn du’s nicht tust, schließlich…“ „… haben sie ja alle gesehen, dass ich wie ein Irrer zusammen gebrochen bin, ja ich weiß“, fauchte ich zurück. „Danke für die Erinnerung. Es wird so schon schlimm genug werden.“ Ich zog meinen Arm zurück, presste ihn an meine Brust. Es gab keinen Grund böse zu Taichi zu sein und es tat mir im gleichen Moment schon wieder leid. Er würde der Einzige sein, der mich heute nicht komisch von der Seite ansehen und über mich tuscheln würde, ich sollte ihn nicht vergraulen. „Ich… tut mir leid. Das war nicht so gemeint.“ Er lachte und legte mir einen Arm über die Schulter. Der Körperkontakt war ungewohnt, aber ich mochte ihn. Ich fühlte mich gleich nicht mehr so klein und schutzlos. Es war dumm, dass ich mich so an ihn hängte, mich selbst so von ihm abhängig machte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Taichi hatte etwas, was mich anzog, wie die Motten das Licht. Dabei wusste ich doch, dass es im Nachhinein so nur noch mehr schmerzen würde, wenn ich letztendlich wieder alleine da stand. „Kein Problem“, sagte er gutmütig. „Ich wäre auch etwas nervös. Und… ach ja…“ Er stockte und lief rosa an. Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen. „Was?“ „Ich hab mit Shusuke gesprochen und…“, er zögerte. „Yama, es tut ihm wirklich Leid. Dein Zusammenbruch von gestern hat ihm die Augen geöffnet. Er würde sich gerne bei dir entschuldigen. Er…“ Ich unterbrach ihn, in dem ich mich unsanft von ihm löste und ihn böse ansah. Er erwartete doch nicht wirklich, dass ich nach einer simplen Entschuldigung einfach so mit Shusuke wieder im Reinen war! Er hatte mich fünf elendige, lange Jahre über traktiert, geschlagen und gedemütigt. Ein einfaches Es tut mir leid reichte da nicht. Wahrscheinlich würde er es in ein paar Monaten schon wieder vergessen haben und dann würde es wieder von Vorne losgehen. Er, zusammen mit seinem hirnlosen Freund, war der Grund gewesen, weshalb ich die Schule gehasst und mich vor ihr gefürchtet hatte! Es hatte mich so viel Überwindung gekostet jeden Morgen durch das Tor zu treten, in der ständigen Angst, in einem der Flure von ihnen überfallen zu werden. Ich konnte ihre Stimmen in meinem Kopf hören, ihr Lachen und ihre Anschuldigen, all das vermischt mit der Panik, die Krankheit meiner Mutter geerbt zu haben, und schizophren zu werden. Irgendwann einmal in einer Irrenanstalt zu landen, einsam und verlassen und von niemandem geliebt zu sterben, in den Abgrund fallen und keiner würde mich je wieder sehen, geschweige denn an mich denken, weil ich so unfreundlich gewesen war und niemanden an mich heran gelassen hatte, wie dieser verdammte Pandabär! Da half sicherlich keine Entschuldigung, egal wie ernst gemeint sie war. Egal, wie Leid es ihm tat und wie sehr es ihm die Augen geöffnet hatte. Weder Shusuke noch Taichi wussten, wie es war, Opfer solcher Peinigung zu werden. Für sie war das Leben bunt und fröhlich, sie besaßen in ihrem Leben kein einziges Problem. Sie wurden nicht von der Außenwelt abgeschlossen und waren selbst nicht einmal zu unfreundlich, um sich wenigstens an ihrem Rand festklammern zu können. Sie liefen nicht jeden Tag am rutschigen Abgrund entlang und drohten zu stürzen, mit dem Hintergedanken, dass es doch sowieso egal wäre. Dass sich doch sowieso niemand darum scheren, geschweige denn, sie vermissen würde. Was dachten sie denn, was ich war? Eine Puppe, bei der man den Schalter umlegte und dann einfach so weiter lebte, wie bisher? Mal ganz davon abgesehen, dass es bei mir kein bisher gab. „Yama, komm schon. Ich hab ihm gesagt, du würdest mit ihm reden“, sagte er leise und fügte hastig hinzu: „Du musst ja nichts sagen. Hör ihm einfach zu.“ „Nein“, sagte ich kalt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was >nein