Solitude von Riafya (Still with me is only you...) ================================================================================ Prolog: The Beginning --------------------- Arriving on a Thursday, Walking down the streets of another big town And the sun is starting to heat up The environment of the enemy's ground And I'm starting to believe That this is the end And this is the beginning Cause this is the end While I try to calm down My circulation I know I will have to go on to pretend (I know) Cause this is the beginning This is the beginning And this will be the end Ian O'Brien – The Beginning ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Irgendwo am Ende der Welt sollte es eine Schule geben. Ein Hort des Wissens, der Bildung und der guten Manieren. Ihr Name war Royal-Society-High-School und wurde nur von den Söhnen und Töchtern der Reichen und Schönen in unserer Welt besucht. Ab und zu verirrte sich auch ein junges Genie in die Mitte der Schülerinnen und Schüler, um sein außerordentliches Wissen mit den anderen teilen und erweitern zu können. In dem Prospekt, das die Heimleiterin ihm gegeben hatte, hieß es, dass die Einrichtung aus mehreren Häusern bestand. Zuerst wären die vier Schulgebäude, jedes für einen anderen Schwerpunkt des Lehrstoffes eingerichtet und eines mit mehreren Turnhallen. Dann gab es das Gemeinschaftshaus in dem sich eine Bibliothek, eine Aula und Räume für Freizeitaktivitäten wie Töpfern oder Musizieren befanden. Zum Schluss gab es noch drei Häuser, in denen die Bewohner der Schule schliefen: Eines für die männlichen Schüler, eines für die weiblichen Schüler und eines für die Lehrer und Angestellten. Das Gelände befand sich auf einem Berg in der Nähe einer gemütlichen Kleinstadt am Pazifischen Ozean. Es war durchzogen mit einer gigantischen Parkanlage und umgeben von unendlich wirkenden Feldern. Während O-too-san ihn mit dem alten Wagen zu dem Internat brachte, starrte der siebzehnjährige Junge aus dem Fenster und lauschte dem Radiosender, den der Ältere eingestellt hatte. Er steckte bereits in der Schuluniform und sein Haar war ordentlich zurück gekämmt, damit er auf dem Schulleiter einen guten, ersten Eindruck machte. „Vergiss nicht Reino“, hatte die Heimleiterin zu ihm gesagt, während sie seine Krawatte ihren Wünschen entsprechend gebunden hatte, „Du bist der Stolz unseres ganzen Waisenhauses. Nicht jedem wird die Ehre zuteil als Normalsterblicher in der Royal-Society-High-School aufgenommen zu werden. Du musst stets fleißig lernen, damit du deine hervorragenden Leistungen beibehältst und sie keinen Grund haben, dich wieder raus zu schmeißen.“ „Natürlich, Kana-san“, hatte er höflich geantwortet und sich von ihr einen feuchten Kuss auf die Wange drücken lassen. Seine Brüder und Schwestern hatten alle vollzählig beobachtet, wie er und O-too-san seinen Koffer mit den neuen Schulsachen in den Kofferraum gehievt und schließlich losgefahren waren. Einige hatten geweint. Andere hatten ihm einfach neidisch hinterher gesehen. In den Ferien würde er sie alles wiedersehen. Das Waisenhaus gewährte einem solange Unterschlupf, bis man eine Arbeit gefunden und eine eigene Wohnung gefunden hatte. Es war der perfekte Ersatz für jede Familie. Vorausgesetzt man konnte Familie ersetzten. Es war ein Donnerstag in der letzten Woche der Frühlingsferien. Die Schüler des Internats reisten immer einige Tage früher an, damit sie sich wieder an den Tagesablauf und die Umgebung gewöhnen konnten, bevor der Schulalltag begann. Außerdem konnte der Schulleiter so einen besseren Blick auf die neuen Schüler werfen. O-too-san lenkte den Wagen nun auf ein großes Tor zu, neben dem ein Pförtnerhäuschen stand. Ein älterer Mann, der wahrscheinlich schon sein ganzes Leben hier Wache hielt, beobachtete misstrauisch ihr Näherkommen und ließ sich schließlich den Brief des Schulkomitees zeigen, als sie neben ihm angehalten hatten. Er überprüfte das Schriftstück zweimal und beäugte Reino zweifelnd, bevor er schulterzuckend das Tor öffnete und sie hinein ließ. Das fing ja gut an! Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Büro des Direktors. Ein Schild mit der Aufschrift „Rory Takarada – Schulleiter“ wies noch einmal deutlichst daraufhin. O-too-san und Reino wechselten noch einen letzten Blick, dann klopfte der Ältere an. Ein freundliches „Herein“ ertönte und sie traten ein. Das Büro sah aus, wie in den Filmen, die Kana-san so gerne schaute. Altertümliche Möbel, viel Holz und Leder, ein antiker Globus, ein Kamin und Wände voller Bücherregale. Rory Takarada selbst saß hinter einem Monster von Schreibtisch und war gerade an seinem Hightech-PC tätig. Er trug einen eleganten Anzug und das lange Haar, welches überhaupt nicht zu seiner würdevollen Stelle passen wollte, war zu einem kurzen Zopf geflochten worden. Als er seine beiden Besucher erblickte, sprang er erfreut auf und ging um den Schreibtisch herum auf sie zu. „Ah, Lawliet-kun, da sind Sie ja!“ Begeistert schüttelte er zuerst Reino und dann O-too-san die Hand und gebot ihnen dann, auf den Ledersesseln, welche vor seinem Arbeitsplatz standen, Platz zu nehmen. Er selbst ließ sich wieder in seinem Stuhl fallen und stützte sich auf das Holz vor ihm. „Willkommen auf der Royal-Society-High-School. Es ist mir eine Freude, jemand so Begabtes wie Sie bei uns begrüßen zu dürfen.“ „Und für uns ist es eine außerordentliche Ehre, dass Reino einen Platz in ihrer Schule bekommen hat, Takarada-san“, versicherte ihm O-too-san ernsthaft. Rory lächelte daraufhin und fixierte seinen neuen Schüler. „Wir nehmen nicht viele außerhalb der Highsociety auf“, erinnerte er die beiden. „Doch durch Zufall sind wir auf Ihre Talente aufmerksam geworden, weshalb wir Ihnen ein Stipendium bis zu den nächsten Ferien genehmigen. Ob es verlängert wird, hängt von Ihren Leistungen und Ihrem Betragen ab. Wir verlangen von unseren Schülern Verantwortung, Disziplin und im Falle von Anweisungen, Gehorsam. Des weiteren dulden wir keine Art der Gewalt. Wenn Sie mit einem Mitschüler oder Lehrer ein Problem haben, werden Sie das diplomatisch klären, verstanden? Und falls Sie einmal das Bedürfnis haben sollten, irgendwo einschlagen zu müssen: In einer unserer Turnhalle gibt es Boxsäcke“, fügte er schmunzelnd hinzu. Reino nickte grinsend. „Selbstverständlich, Sir.“ „Sehr schön!“ Rory klatsche in die Hände, bevor er nach einem Telefon griff, welches sich auch auf seinem Schreibtisch befand und wählte eine Nummer. „Hallo, Kuu? Könntest du bitte Fuwa-kun zu mir schicken? Ja, genau. Danke.“ Er strahlte Reino an. „Nun, Lawliet-kun, einer Ihrer zukünftigen Klassenkameraden. Er wird Sie zu Ihrem Haus führen und Sie, nachdem Sie ausgepackt haben, durch die Schule führen. Ihr Gepäck müsste sich bereits in Ihrem Zimmer befinden. Solange werden ich und Ihre Begleitung noch ein paar letzte Dinge besprechen.“ „Natürlich, Sir“, entgegnete er höflich. Einige Minuten später klopfte es an der Tür und ein blonder Junge mit kurzen Haaren betrat den Raum. Auch er trug die Schuluniform und lächelte freundlich in die Runde. „Ah, Fuwa-kun, da sind Sie ja. Das hier ist Lawliet-kun, er wird dieses Semester in Ihren Jahrgang kommen. Könnten Sie sich bitte seiner annehmen?“ „Selbstverständlich, Sir“, erwiderte der Junge sofort, während er Reino neugierig musterte. „Darf ich fragen, in welches Zimmer ich Ihn führen soll?“ „In Tsuruga-kuns“, antwortete Rory vergnügt. Reino fiel auf, dass Fuwa bei der Erwähnung dieses Namens die Augen weitete. „Er hat noch keinen Zimmergenossen, soweit ich informiert bin. Und nun fort mit euch, Jungs.“ Kurze Zeit später liefen sie durch das verlassene Schulhaus. Reino gefiel diese neue Umgebung, sie hatte einen leicht altertümlichen Touch und im Sommer herrschte hier sicher eine angenehme Kühle, da die Wände aus Stein waren, welche die Wärme nur spärlich hinein ließen. Die beiden Jungen bestritten ihren Weg schweigend, doch der Neue bemerkte, dass Fuwa ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Schließlich schien der Blondhaarige es nicht mehr auszuhalten und sagte: „Ich bin Shotaro Fuwa, aber du kannst mich gerne Sho nennen.“ Reino blieb stehen und musterte ruhig sein erwartungsvolles Gesicht. Er lächelte. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Sho-kun. Ich bin Reino Lawliet.“ „Rrrawrrriett“, versuchte Sho verwundert seinen Namen auszusprechen. „Das ist kein japanischer Name, oder?“ „Nein. Ein L kommt in der japanischen Sprache normalerweise nicht vor.“ „Coool“, raunte Sho, bevor er damit begann, über alles mögliche aufzuklären: Die Lehrer, die sie hatten, die Ausflüge in die Stadt, welche sie jedes Wochenende unternehmen durften und andere Nichtigkeiten. Schließlich traten sie aus dem Gebäude auf das Schulgelände und Sho führte ihn einen gepflegten Weg entlang, der unter Kirchbäumen hindurchführte, die um diese Jahreszeit immer noch in voller Blüte standen. Nach etwa fünf Minuten kamen sie vor einem Haus an, das früher wahrscheinlich als Scheune gedient hatte. Heute befanden sich darin ein großer Speisesaal, ein Gemeinschaftsraum und viele Zweierzimmer, die alle ein eigenes, kleines Badezimmer besaßen. Zumindest, wenn man Sho Glauben schenken durfte. Als sie das Gebäude betraten, kam ihnen ein Mann in den Dreißigern entgegen. Er trug einen blauen Jogginganzug und passend dazu Turnschuhe. Auch er war blond und seine Augen leuchteten in einem verblüffenden Blau, woraus Reino schloss, dass es sich nicht um einen Japaner handelte. „Ah, da ist ja unser Neuzugang!“, rief er enthusiastisch, als er die beiden Jungen erspähte und ging auf sie zu. „Reino Lawliet, nicht wahr?“ Er streckte ihm die Hand hin und Reino schüttelte sie. „Mein Name ist Kuu Hizuri, ich bin dein Hausvorstand, das heißt solltest du irgendwelche Schwierigkeiten, Fragen oder Probleme haben, kannst du dich jederzeit an mich wenden.“ „Vielen Dank, Hizuri-san“, erwiderte Reino lächelnd. „Keine Ursache, dafür werde ich immerhin bezahlt, nicht wahr?“, meinte der Mann lachend. „Ihr wisst, wo ihr hin müsst?“ „Zu Tsuruga-Sempai, hat der Schulleiter gesagt“, antwortete Sho. „Genau so ist es, Shotaro. Ren war ohnehin viel zu lange alleine, es wird ihm gut tun, endlich einen Mitbewohner zu haben. Nun denn, ihr schafft das schon. Wir sehen uns beim Abendessen.“ Mit diesen Worten verließ er das Gebäude und joggte den Weg entlang, den sie gerade gekommen waren. „Und? Wie findest du ihn?“, fragte Sho neugierig, während sie eine Treppe hinaufstiegen. „Er scheint ziemlich nett zu sein“, antwortete Reino wahrheitsgemäß. „Geht er oft joggen?“ Aus irgendeinen Grund fand sein Klassenkamerad diese Frage irre komisch, zumindest begann er schallend zu lachen. „Was ist daran so witzig?“, fragte er verdutzt. Glucksend schüttelte Sho den Kopf. „Entschuldige, aber... wie du das so unschuldig gesagt hast, ist einfach zu komisch“, erklärte er grinsend. „Weißt du, Hizuri-san ist mit der Vorsteherin der Mädchen verheiratet, Julie Hizuri. Immer, wenn einer von den beiden joggen geht, tut es der andere auch. Ein ziemlicher Zufall, nicht wahr?“ „So, das ist dein Zimmer“, sagte Sho schließlich. Sie befanden sich im obersten Stockwerk des Gebäudes am hintersten Ende des Korridors. Reino war über diesen Umstand erleichtert, so würde er nicht jeden Tag das ganze Haus an seiner Tür vorbei laufen hören müssen. Neben der Tür befand sich ein kleines Schild auf dem die Namen „Ren Tsuruga“ und „Reino Lawliet“ standen. Vorsichtig griff er nach der Türklinke und drückte sie hinunter. Sie ließ sich ohne Probleme öffnen. Das Zimmer, welches sich dahinter befand, war größer, als Reino es erwartet hatte. Von seinem Leben im Waisenhaus war er es gewohnt, nur wenig Platz zu haben, doch hier gab es mehr als genug, sogar für zwei Personen. Die Möbel waren zwei frisch überzogene Einzelbetten jeweils an einer der beiden Seitenwänden. Neben ihnen standen vor zwei großen Fenstern, die genug Licht hinein ließen, um das Zimmer fast vollkommen zu erleuchteten, zwei Schreibtische mit jeweils einen Stuhl davor. Ansonsten gab es für beide noch jeweils einen Kleiderschrank und mehrere Regale, die an der Wand über dem Bett hingen. In der Mitte des Raumes befand sich eine kleine Sitzecke mit drei gemütlich aussehenden Sesseln und einem kleinen Glastisch, auf dem eine gefaltete Tageszeitung, ein Schlüssel und eine handgeschriebene Notiz lag. In die rechte Wand war darüber hinaus eine Tür eingelassen, die wahrscheinlich zu dem erwähnten Badezimmer führte. Reino erkannte sofort, dass es die linke Seite war, welche ihm überlassen wurde, da sich in den Regalen an der rechten Wand bereits einige Bücher, CDs und Familienfotos befanden. Außerdem entdeckte er auf dem Schreibtisch seines Mitbewohners ein Radio, benutzte Stifte und mehrere, vollgeschriebene Blätter. Was ihm sofort auffiel, war die Tatsache, dass alles ordentlich da lag. Ohoh, hoffentlich war sein Mitbewohner kein Ordnungsfanatiker, sonst könnte ihr Zusammenleben unter Umständen etwas schwierig werden. Vor seinem Bett fand er seinen Koffer und die kleine Reisetasche wieder, in denen sich sein ganzer Besitz befand. Sho lief mit offenen Mund durch das Zimmer und betrachtete alles neugierig. Als er den fragenden Blick seines Mitschülers bemerkte, lächelte er verlegen. „Es ist nur so, ich bin noch nie in einem der Eckzimmer gewesen. Das sind immer die am Anfang und Ende des Ganges und werden nur von den Besten der Besten bewohnt. Du hast wirklich verdammtes Glück, dass Rory dich bei Tsuruga-Sempai eingeteilt hat.“ Reino nickte und ging auf den Glastisch zu, um die handgeschriebene Botschaft zu lesen. Sie war von seinem Zimmergenossen. Hallo, Reino Lawliet und willkommen auf unserer Schule. Entschuldige bitte, dass ich nicht da sein kann, um dich auf dem Schulgelände herumzuführen, doch ich bin immer noch bei meiner Familie und werde erst Samstagabend zurückkehren. Ich wünsche dir ein paar schöne, erste Tage und lebe dich gut ein. Bis Samstag, Ren Tsuruga P.s.: Wenn du willst, kannst du mein Radio benutzen, doch ich würde dich bitten, den Rest meiner Habseligkeiten während meiner Abwesenheit in Frieden zu lassen. P.p.s.: Der Schlüssel gehört zu unserer Zimmertür. Schließe am besten immer ab, wenn du das Zimmer verlässt, einige unserer Mitschüler wissen nicht immer, was ihnen gehört. Blinzelnd legte er die Botschaft wieder zurück und wandte sich Sho zu, der ihn neugierig musterte. Als er Reinos Blick bemerkte, zauberte sich ein Lächeln auf sein Gesicht und er sagte: „Ich werde in einer Stunde wieder da sein, um dich etwas herumzuführen. Du kannst ja solange auspacken.“ „Okay, bis dann.“ Sho nickte ihm noch einmal zu und ließ ihn dann allein. Seufzend ließ sich Reino auf einen der Sessel fallen und starrte an die Decke. Hier war er also, in seinem neuen Leben. Das war der Beginn für ein neues Abenteuer und gleichzeitig das Ende eines alten. Kapitel 1: Rain --------------- Soooo, nachdem ich die letzten beiden Tage praktisch durchgeschrieben habe (von der Zeit zum Schlafen, in der Schule und der Erledigung meiner HAs mal abgesehen), bin ich mit einem der wohl längsten Kapitel fertig, das ich je geschrieben habe. XD Und da ich nicht will, dass ihr allzu lange darauf warten müsst, stelle ich es on, ohne noch einmal eine genauere Rechtschreibprüfung gemacht zu haben. Deshalb seid so gut und überlest meine Fehlerchen, ja? Aber jetzt gibt es ein gaaanz großes Dankeschön an Redis, Kyoko-Hizuri und Susilein, die mir zum Prolog ein Kommi geschrieben haben und zusätzlich an Angel-of-innocence, die die FF bereits auf ihrer Favoliste hat. Schön, dass die FF bis jetzt so einen regen Anklang findet. ^o^ Ich hoffe, es bleibt so. *bibber * Nun denn, ich wünsche euch auf jeden Fall viel Spaß mit diesem Kapitel. Bis bald, eure Ayako _________________________________ Take a photograph, It'll be the last Not a dollar or a crowd could ever keep me here I don't have a past I just have a chance, Not a family or honest plea remains to say, Is it you I want, Or just the notion Of a heart to wrap around so I can find my way around Rain rain go away Come again another day, All the world is waiting for the sun Breaking Benjamin - Rain ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Reino lag auf seinem Bett und las in dem abgegriffenen Mary-Poppins Band, den ihm seine Brüder und Schwestern zum Abschied geschenkt hatten. Da es das Liebilngsbuch von ihnen allen gewesen war, rührte es ihn zutiefst und er schwor sich, es in Ehren zu halten. Er las gerade, wie das Kindermädchen mit dem Regenschirm vor der Haustür der Problemkinder landete, als es an der Tür klopfte. „Ja?“, rief er und drehte sich, da er bisher mit dem Rücken zum Eingang gesessen hatte, um. Herein kam Sho und hinter ihm steckte ein schwarzhaariges Mädchen den Kopf herein. „Wow!“, rief sie. „Das ist ja wirklich riesig!“ „Hab ich dir doch gesagt“, entgegnete Sho selbstgefällig und strahlte Reino an. „Hey, wie ich sehe, bist du schon mit Auspacken fertig.“ „Ähm... ja“, erwiderte er und beobachtete, wie das Mädchen sich staunend im Kreis drehte, um alles mit ihrem Blick einfangen zu können. Dabei wehten ihre Schulter langen Haare durch die Luft und ihr bunter Faltenrock hob sich um einige Zentimeter. Beide waren in gewöhnlicher Alltagskleidung gekommen, was Reino erleichterte, so war es kein Fehler gewesen, sich umzuziehen. Lächelnd stand er auf und legte das Buch beiseite, während Sho sie einander vorstellte: „Reino, das ist Chiori Amamiya. Sie ist eine gute Freundin von mir und geht auch in unseren Jahrgang. Chi-chan, das ist Reino Rrrawrriett, der Neue“ „Lawliet“, verbesserte ihn „der Neue“ leise. Chiori ließ neugierig ihren Blick über ihn gleiten und schenkte ihm ein charmantes Lächeln. „Hallo, Reino-kun. Nett dich kennen zu lernen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits, Chiori-chan.“ „So, da ihr euch ja jetzt kennt... wollen wir hinüber zum Gemeinschaftshaus? Dann könnten wir die die Bibliothek, das neue, private Kino und...“ „Warum sollten wir rüber gehen?“, fragte Chiori und machte es sich auf einem der Sessel bequem. „Leute, ich verstehe, warum Kyoko andauernd Tsuruga-Sempai besuchen geht. Hier drin lässt es sich leben. Da lohnt es sich ja förmlich, sich an einem aus der Elite ranzumachen.“ Sho seufzte und setzte sich auf einem Sessel ihr gegenüber. Reino ließ sich nach kurzem Zögern auf dem dritten nieder. „Also dann, Lawliet“, begann das Mädchen und Reino bewunderte sie unwillkürlich für ihre perfekte Aussprache. „Wo kommst du her?“ „Aus einem Waisenhaus in Osaka.“ Chiori blinzelte und Sho blickte ihn bestürzt an. „Deine Eltern sind tot?“ „Ja. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater vor ein paar Jahren bei einem Banküberfall.“ „Oh... Moment, er hat eine Bank überfallen?“, rief Sho erschrocken. Unwillkürlich musste er grinsen. „Nein, dafür wäre er viel zu feige gewesen. Er hatte dort als Kassierer gearbeitet und als er den beiden Dieben nicht schnell genug das Geld in den Sack gab, haben sie ihm einfach durch die Brust geschossen.“ Sein Lächeln wurde bitter. „Er ist sofort gestorben.“ „Und warum bist du jetzt hier?“, fragte Chiori nach einer Minute bestürzten Schweigens. „Ich meine, deine Eltern haben dich wohl nicht hier abgeschoben, also musst du irgendein außerordentliches Talent haben.“ „Nun, meine Noten sind in der Regel relativ gut“, gab er verlegen zu. „Außerdem bin ich ein ganz passabler Musiker.“ „Red keinen Unsinn“, rief Sho, „wenn Takarada-san dadurch auf dich aufmerksam geworden ist, musst du mehr als nur passabel sein. Lasst uns rüber zu den Musikräumen gehen, dort kannst du uns etwas von deinem Können vorführen. Heute werden nur wenige drüben sein, da die meisten noch bei ihren Familien sind.“ Die beiden Freunde sprangen sofort auf und liefen zur Tür. Reino sah ihnen einen Moment lang verdutzt hinterher, bevor er ihnen folgte. Sho und Chiori hatten Recht gehabt, an diesem Tag waren die Musikräume wie ausgestorben. Nur eine junge Lehrerin namens Shoko-san spielte vor ihnen auf einer Geige gedankenverloren eine herzzerreißende Melodie. Es dauerte nicht lange und Reino hatte sein persönliches Werkzeug gefunden. Dabei handelte es sich um einen schwarzen Flügel, der in einem weitläufigen Raum stand und förmlich danach schrie, benutzt zu werden. Ehrfürchtig öffnete er das Instrument und starrte auf die vielen, gespannten Saiten. Bisher hatte er nur ein einziges Mal auf einem solchen Meisterwerk spielen dürfen und das war bei seinem großen Auftritt vor ein paar Monaten gewesen, bei dem offensichtlich auch ein paar Mitglieder der Highsociety gewesen sein mussten, denn ansonsten wäre er jetzt nicht hier. Vorsichtig ließ er sich vor dem Flügel nieder und fuhr mit seinen Fingern über die Taste. Sho und Chiori, die sich beide einen in der Nähe stehenden Stuhl geschnappt hatten und neugierig jeder seiner Bewegungen verfolgten ausblendend, begann er damit, einfache Tonleitern zu spielen und sich mit dem Instrument vertraut zu machen. Egal, wie gut ein Musiker auch ist, wenn er das Instrument, auf welchem er spielen soll, nicht kennt oder einfach nicht damit klar kommt, wird ein Stück, welches er normalerweise im Traum beherrscht, ein Desaster. Man durfte nicht sofort mit einer Sonate oder einem anderen, komplizierten Werk beginnen, nicht, wenn man das erste Mal vor einem Piano saß. Man musste sich langsam vorwärts tasten, so viele Tonleitern, wie nur nötig spielen und erst dann konnte man zu leichteren Stücken übergehen, die schließlich in einem Meisterwerk der Musik enden konnten. Während Reino leise, beinahe zaghaft die a-Moll-Tonleiter spielte, überlegte er, welches Stück er den beiden vorspielen sollte. Er hatte keine Lust auf Klassik, doch er wollte etwas nehmen, was sie kannten. Fasziniert lauschte er den Klängen des Flügels und überlegte, was am besten dazu passte. Ohne wirklich zu bemerken, was er tat, schlugen seine Finger die richtigen Tasten an und kurze Zeit später hatte er mit seinen Händen Across the Stars, eines seiner liebsten Stücke gespielt. Liebevoll ließ er die Töne erklingen und verlor sich ganz in der Musik, die ihn in den letzten Jahren oft durch verschneite Winternachmittage begleitet hatte. Für Reino war Musik wie die Luft zum Atmen, ein Grund seiner Existenz. Musik gab ihm die Kraft, jeden Tag aufzustehen und einen neuen Morgen zu begrüßen. In ihr konnte er sich verlieren und gleichzeitig finden. Er konnte sich auf endlose Reisen durch die Zeit begeben und alles ausdrücken, wofür es keine Worte gab. Mit geschlossenen Augen ließ er den letzten Akkord ausklingen und lauschte einen Moment lang dem Nachhall des Stückes, der immer noch in der Luft lag. Dann explodierte irgendwo neben ihm begeisterter Applaus. Überrascht öffnete er seine Augen und sah zu Sho, Chiori und Shoko-san hinüber, die ihn alle drei begeistert anstarrten. „Das war wunderbar!“, rief die Lehrerin begeistert. „Ich habe noch nie eine so gefühlsvolle Interpretation von Across the stars gehört, wenn man mal von der originalen absieht! Es wirkt fast, als hätten Sie es selbst geschrieben!“ Shoko-san trat mit Tränen in den Augen näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lawliet, Ihnen stehen die Musikräume jederzeit zur Verfügung. Sie verfügen über ein außerordentliches Talent, das dürfen Sie nicht vergeuden! Kommen Sie so oft her, wie sie nur wünschen! Wenn sie Lust haben, können Sie auch ein anderes Instrument erlernen! Ich werde die anderen Musiklehrer dann darüber in Kenntnis setzten, einer wird sich schon finden, der Sie in ihrem Favorit unterrichten kann.“ „Vielen Dank, Shoko-san!“, erwiderte Reino erfreut. „Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber ich werde erst einmal beim Piano bleiben.“ „Natürlich“, entgegnete sie begeistert. „Aber falls Sie es sich anders überlegen...“ „...werde ich mich melden“, versicherte er ihr grinsend. Sie nickte ergriffen und verabschiedete sich nach einigen weiteren Lobpreisungen wieder, um mit dem Spielen ihrer Geige fortzufahren. Reino wandte sich seinen beiden Jahrgangsmitgliedern zu, die ihn allesamt angrinsten. „Ich glaube, du bist gerade zu Shoko-sans Liebling geworden, Lawliet“, kommentierte Chiori. „Kannst du noch was spielen?“, bat ihn Sho. „Du... dein Spiel ist wirklich unglaublich.“ „Klar“, sagte er fröhlich. „Habt ihr irgendeinen besonderen Wunsch?“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Rot ist eine Farbe mit vielen Bedeutungen. Zum einen ist sie die Farbe der Liebe, denn hattest du schon einmal ein Herz gesehen, das nicht rot war? Oder war es die weiße Rose, die ewige Liebe versprach? Eben. Deshalb würde jeder, der in diesem Moment an Kyoko Mogamis Staffelei vorbei kam, davon überzeugt sein, dass die rote Farbe, welche sie auf der ganzen Leinwand verteilt hatte, als ein Zeugnis ihrer „unsterblichen Liebe“ zu Ren Tsuruga interpretieren. Nun, in einem Punkt hätten sie tatsächlich Recht: Das Bild setzte sich mit ihren Gefühlen für diese... „Person“ auseinander. Nur, dass das Rot für blanke Wut stand. Zwei Wochen kein Wort. Nicht ein einziges Wort! Zwar war sie über ihre Verbindung ebenso begeistert wie er, doch letztendlich könnte er wenigstens so tun, als würde er sich ernsthaft für sie interessieren. Aber nein! Anstatt den liebevollen Freund zu spielen, ignorierte er sie! Wütend zog sie den letzten Strich, dann legte sie den Pinsel bei Seite und ließ sich auf einen Stuhl fallen, das Gesicht in ihren Händen vergrabend. Mehr als einmal hatte sie ihre Eltern dafür verflucht, sie ausgerechnet mit Ren Tsuruga zu verloben, den viel versprechenden Erben eines Hollywoodstars und eines der reichsten Männer der Welt. Im Prinzip eine gute Verbindung, im Endeffekt die pure Hölle. Allerdings durfte sie nicht Ren die Schuld an allem zuschieben. Er hatte es sich genau so wenig ausgesucht, wie sie selbst und in der Öffentlichkeit war er der perfekte Verlobte. Doch waren sie allein, oder ging es um Dinge, wie Telefonate oder dergleichen, ließ er sie gnadenlos spüren, was er in Wahrheit von ihr hielt. Mistkerl! „Ohoh“, sagte eine bekannte Stimme und Kyoko musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass es sich um Shoko-san handelte. „Erzähl mir alles, wen willst du umbringen?“ Die jüngere musste unwillkürlich lächeln. „Ren.“ „Ren?“, wiederholte sie verwirrt. „Warum? Hat er euer Einjähriges vergessen?“ „Nein, keine Sorge, in solchen Sachen ist er sehr aufmerksam.“ „Hätte mich auch gewundert, wenn es anders wäre.“ In diesem Moment erklang aus der Ferne wieder das Klavier, welches sie bereits während ihrer Arbeitsphase gehört hatte. Neugierig hob sie den Kopf und lauschte. „Ah, Comptine d'un autre été: l'après midi“, kommentierte Shoko-san lächelnd. „Er hat wirklich eine Schwäche für gute Filmmusik.“ „Wer ist das?“, fragte Kyoko interessiert. „Der Neue, Reino Lawliet“, die Frau grinste das Mädchen verschmitzt an. „Er teilt sich ab sofort das Zimmer mit deinem Liebsten, du solltest dich also gut mit ihm stellen.“ „Sehr witzig, Shoko-san.“ Die Ältere lachte. „Ich lass dich dann mal wieder mit deinen Mordplänen alleine. Vergiss nicht, die Pinsel und Palette auszuwaschen, Liebes.“ Kyoko sah ihr seufzend hinterher und strich sich einer ihrer braunen Haarsträhnen zurück. Danach begann sie, ihren Arbeitsplatz zu säubern. Als sie damit fertig war, stellte sie die Leinwand vorsichtig an einen sicheren Platz, damit sie in aller Ruhe trocken konnte, bis sie das nächste Mal vorbei kam und verließ den Klassenraum. Sie wollte gerade in Richtung Ausgang davon gehen, als der geheimnisvolle Klavierspieler ein neues Stück begann. Ein Stück, dass sie sehr gut kannte. Entschlossen wirbelte sie herum und machte sich auf dem Weg zu diesem Reino wie-auch-immer, um zu sich diesen Kerl mal genauer anzuschauen. Sie hatten die Tür offen gelassen, weshalb sich Kyoko einfach an den Rahmen lehnen und die Anwesenden überblicken konnte. Als erstes erkannte sie Sho Fuwa und Chiori Amamiya, beide aus ihrem Jahrgang, wie sie fasziniert den Neuen beobachteten. In diesem erkannte sie sofort einen Menschen, der durch die Musik lebte. Es schien, als wäre er mit dem Flügel eins geworden und die Vorstellung, sie getrennt voneinander zu sehen, war beinahe unmöglich. Auch die Musik hatte einen anderen Klang als bei Normalsterblichen. Sie hatte eine ungewöhnliche Tiefe, so als wäre es die Seele des Musikers, welche zu den Menschen sprach und nicht bloß seine Finger, die über die richtigen Tasten flogen. So vollkommen anders, als die andere Person, welche sie so viele Male dasselbe Lied hatte üben hören. Schließlich war er am Ende angekommen und löste seine Hände mit einem fast gewalttätigen Ruck, so als wären sie an den Tasten fest gewachsen gewesen. Seine beiden Zuschauer brachen in begeisterten Beifall aus und er lächelte verlegen. Ja, definitiv anders, als die andere Person! „Was war das für ein Stück, Lawliet?“, fragte Chiori neugierig. „Merry Christmas, Mr. Lawrence“, entgegnete er. „Von Ryuichi Sakamoto.“ „Es war wunderschön“, schwärmte Sho. „Na ja... es war ganz passabel...“ „Passabel? Junge, das war nicht einfach nur passabel! Das war phänomenal. Ich glaube, du bist ab heute der beste Pianist unserer Schule!“ „Ich weiß nicht“, warf Chiori zweifelnd ein. „Was ist mit Tsuruga-Sempai?“ „Ren hätte dieses Stück nicht einmal ansatzweise so spielen können“, meldete sich Kyoko zu Wort und alle drei wandten sich zu ihr um. Sho und Chiori sprangen sofort auf und verbeugten sich höflich vor ihr, doch der Neue blieb verdutzt sitzen und beobachtete, wie sie sich ihm langsam näherte. „Hallo, ich bin Kyoko Mogami“, stellte sie sich ihm vor und reichte ihm die Hand. „Reino Lawliet“, antwortete er lächelnd und erwiderte ihre Geste. „Dein musikalisches Talent ist wirklich bemerkenswert“, sagte sie auf eine Art und Weise, die er nicht deuten konnte. „Du wirst sicher eine große Bereicherung für unseren Musikkurs darstellen.“ „Au ja!“, rief Sho begeistert. „Seitdem Tsuruga-Sempai Cello spielt, haben wir keinen vernünftigen Pianisten mehr! Shoko-san wird begeistert sein, sobald du den Klassenraum betrittst.“ Reino blinzelte verwirrt, was Kyoko dazu brachte, nachsichtig zu lächeln. „Shoko-san gestaltet ihren Unterricht sowohl theoretisch als auch praktisch. So studiert sie in der Oberstufe mit ihren Schülern Stücke ein. Sie meint, dass man so ein viel besseres Gefühl für das Wort Musik bekommt.“ Der Blondhaarige hob eine Augenbraue. „Okay... muss ich jetzt Angst haben?“ Sho und Chiori lachten, während Kyoko amüsiert einen Blick auf ihre Armbanduhr fallen ließ. „Oh, es ist schon spät! Komm, Amamiya-chan, wir müssen zum Abendessen und ihr beide“, fügte sie streng an die Jungs gewandt hinzu, „solltet euch auch auf dem Weg zu eurem Speisesaal machen!“ „Ja, Mogami-Sempai!“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der Speisesaal der Jungen war ein heller Raum mit vielen Tischen, an denen bis zu acht Personen Platz finden konnten. Das Essen wurde von einer älteren Dame ausgegeben, die sich als Haruka-san vorstellte und Reino entfernt an seine Heimleiterin erinnerte. Gut gelaunt setzte er sich mit Sho an einen leeren Tisch und betrachtete fasziniert sein Curry. Heute waren noch nicht viele Schüler da. Die meisten verbrachten ihre Zeit lieber bei ihren Eltern. „Aus unserem Jahrgang sind nur wir beide und Mogami-Sempai da“, erklärte Sho ihm unumwunden. „Warum redest du sie eigentlich die ganze Zeit mit Sempai an? Bei... Ren oder wie er heißt, hast du das auch getan. Sind die beiden nicht in unserem Jahrgang?“ „Natürlich! Habe ich doch gerade erwähnt! Tsuruga und Mogami sind die Elite der Elite, Reino-kun. Sie sind beide gut aussehend, haben einflussreiche Eltern und in fast allen Fächern gute Noten. Jeder hier verehrt die Beiden und will zu ihren Freunden zählen. Allerdings sind sie da ziemlich wählerisch.“ „Chiori-chan hatte doch vorhin irgendetwas von wegen, die beiden wären zusammen erwähnt.“ Sho grinste. „Na so was, hast du etwa Interesse an Mogami entwickelt oder warum fragst du das? Ja, sie sind zusammen, verlobt, um genau zu sein.“ „Oh“, rief Reino überrascht. „Ist es nicht etwas früh, jetzt schon über Heirat nachzudenken?“ Sein Gesprächspartner lachte. „Denk ja nicht, dass sie es sich ausgesucht haben. Ihre Eltern haben sie verlobt. Nun, sie sehen zusammen aber auch verdammt gut aus.“ In diesem Moment setzte sich Hizuri-san mit einem rappevollen Teller zu ihnen. „Guten Abend, Jungs“, meinte er fröhlich. Reino fiel auf, dass er seine Joggingsachen mit einer Jeans und einem roten T-Shirt eingetauscht hatte. „N'Abend, Hizuri-san“, erwiderte der Neue höflich, doch Sho verdrehte die Augen. „Reino-kun, solange wir außerhalb des Unterrichts sind, kannst du ihn Kuu-san nennen.“ Kuu gluckste vergnügt. „Habe ich ihm das erlaubt?“ „Es wäre unfair, wenn Sie es nicht tun würden“, beharrte Sho. „Und wenn dem so wäre, dann sollten Sie unverzüglich einen anderen Tisch aufsuchen.“ „Werden Sie jetzt wieder unhöflich, Fuwa-san?“, neckte ihn der Lehrer grinsend. „Das gibt Strafarbeiten, sag ich Ihnen, bis zum Ende des Schuljahres.“ Sho schien nicht sehr beeindruckt von dieser Drohung zu sein. „Natürlich, Sensei. Damit Sie all ihre Freizeit an mir verschwenden.“ Glucksend verdrehte Kuu die Augen und wandte sich Reino zu, der den Dialog neugierig verfolgt hatte. „Also Reino - so darf ich dich doch nennen, oder? Wie gefällt dir unsere Schule bisher?“ „Na ja, so viel habe ich ja noch nicht davon gesehen.“ „Stimmt! Das Wichtigste konnte ich ihm noch nicht zeigen“, warf Sho ein. „Und das wäre?“, fragten beide neugierig. „Der Sportplatz!“ „Ah... ich glaube, ich werde den Musikraum vorziehen.“ Kuu merkte auf. „Der Musikraum? Ah“, ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Stimmt ja, du bist ein bemerkenswerter Pianist, wenn man Rory Glauben schenken darf und der irrt sich in der Regel nie.“ Der Lehrer sah sich vorsichtig um, bevor er sich verschwörerisch über den Tisch beugte. „Glaubt mir, manchmal denke ich wirklich, dass er in Wahrheit ein Elefant ist.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Später am Abend, als er sich von Sho verabschiedet und in sein Zimmer zurückgezogen hatte, beschloss Reino, das Badezimmer zu inspizieren. Der Anblick ließ ihn für einen Moment inne halten. Im Waisenhaus hatten sie alle ein kleines Badezimmer mit einer chronisch verstopften Toilette und eine alte Badewanne teilen müssen. Von dem Boden und den Wänden ganz zu schweigen. Hier sah alles aus wie neu. Saubere, blaue Fließen, die offensichtlich an das Meer erinnern sollten, strahlten ihm vom Boden und den Wänden her entgegen. Es gab ein schönes, großes Waschbecken mit frischer Seife, eine Dusche, die größte Badewanne, die er je gesehen hatte und eine Porzellantoilette. Auf einem Regal waren einige frische Handtücher gestapelt worden. Begeistert stellte er sich in die Mitte des Raumes und drehte sich einmal im Kreis. „Unglaublich“, murmelte er. Ein paar Minuten später hatte er in dem Schrank mehrere Shampoos, Haarspülungen, Zahncreme, Zahnbürsten und andere Kosmetika gefunden. Für seinen Geschmack schon wieder zu viele. Unschlüssig starrte er die verschiedenen Sorten an, dann griff er schulterzuckend nach dem erstbesten Duschgel und irgendeinem Haarshampoo und stellte sie auf eine Ablage in der Duschkabine. Danach entkleidete er sich behutsam, um sich daraufhin die erste Dusche seines Lebens zu nehmen. Als er sauber und erfrischt vor seinem neuen Schreibtisch Platz genommen hatte, war draußen bereits die Nacht angebrochen. Fröhlich pfeifend holte er ein unbeschriebenes Blatt Papier hervor und suchte sich einen gespitzten Bleistift aus der Stiftdose heraus, die offensichtlich ihm zu gehören schien. Er liebte diese Schule! Man bekam das ganze Material von ihr gesponsert. Aber wenn er bedachte, wie teuer normalerweise die Semestergebühr war, war das das Mindeste, was sie für die Schüler tun konnten. Gut gelaunt begann er damit, ein paar scheinbar zusammenhanglose Striche auf das Blatt zu ziehen, doch etwa eine Stunde später hatte sich daraus die Strandpromenade geformt, an der er heute morgen mit O-too-san vorbeigefahren war. Zufrieden betrachtete er seine Skizze. Es war zwar nicht perfekt, immerhin war er Musiker und kein Maler, doch für seine Ansprüche genügte es. Langsam packte er sein Zeichenzeug wieder weg, stand auf und streckte sich gähnend. Ein Blick auf seine Uhr, die er sich aus dem Waisenhaus mitgebracht und auf das Regal über seinem Bett gestellt hatte, verriet ihn, dass der Abend schon recht fortgeschritten war, weshalb er zum Lichtschalter lief und den Raum in Dunkelheit hüllte. Kurz bevor er in sein Bett hüpfte, riss er die beiden Fenster auf und bemerkte überrascht, dass es zu regnen begonnen hatte. Genießerisch schloss er die Augen und atmete die frische Luft ein. Er liebte den Regen. Die Geräusche, den Geruch, die Farben, einfach alles. Regen war eine der Quellen des Lebens, die Abkühlung an einem heißen Sommertag, das erleichterte Aufatmen nach einer Hitzeperiode. Lächelnd ging er ins Bett und ließ sich von seinem Gesang in den Schlaf lotsen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Es regnete den ganzen Freitag durch, weshalb Sho beschloss, den Ausflug auf den Sportplatz auf Samstag zu verschieben. „Bei Regen wirkt er nicht so gut“, erklärte er beim Mittagessen, da er ein Langschläfer war und deshalb erst vor kurzem das Bett verlassen hatte. „Deshalb würde ich sagen, wir schauen in der Bibliothek vorbei und können dabei auch gleich schauen, ob die Lehrer für heute einen Film in unserem privaten Kino angesetzt haben.“ Es stellte sich heraus, dass die Bibliothek eine große Halle war, in der sich sicher tausende bis an die Decke reichende Regale befanden, jedes voll gestopft mit Büchern. Chiori, die am Eingang des Gebäudes auf sie gestoßen war, erklärte, dass es hier fast jedes Buch zu finden gäbe, von Belletristik bis zu Sachliteratur. Besonders gut gefiel Reino das gut ausgestattete Sammelsurium an Klaviernoten. Er beschloss, demnächst noch einmal alleine hierher zu kommen, um sie in aller Ruhe durchstöbern zu können. Den restlichen Freitag verbrachten sie damit, in Reinos Zimmer Dame zu spielen. Dabei erfuhr er etwas über seine beiden, neuen Freunde. Sho war der älteste Sohn eines Hotelkettenbesitzers, der zur Zeit versuchte, seinen Einflussbereich auf andere Teile der Welt zu erweitern. Deshalb war seine Familie bis nächste Woche Freitag in Europa und da er selbst nicht die erste Schulwoche nach den Ferien verpassen wollte, war er über die Ferien im Internat geblieben. Chiori war die einzige Tochter eines Politikers, der als Abgeordneter im japanischen Parlament tätig war. Sie hatte noch zwei ältere Brüder, weshalb ihre Mutter sie als einziges Mädchen wie ihren Augapfel hütete. Chiori befand sich einen Jahrgang unter Sho und Reino, was für die beiden Jungen jedoch kein Problem darstellte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Am Samstagmorgen schien die Sonne. Deshalb machten die Drei sich am Nachmittag auf dem Weg zum Sportplatz. Dieser befand sich etwa zwei Kilometer von der Schule entfernt mitten in der Parkanlage und hatte eigene Umkleideräume inklusive Duschen und Toiletten. Inzwischen waren bereits viele Leute von den Ferien zurück gekommen und wie es aussah, hatten sich alle auf dem Sportplatz versammelt. Zumindest erklärte das die kleine Menschenmenge, die auf den Tribünen saß und neugierig ein spontanes Fußballspiel zwischen mehreren Jungen beobachtete. Sho führte Reino und Chiori zu einem schattigen Platz zwischen den Bäumen, wo er eine Decke ausbreitete, die er geistesgegenwärtig eingepackt hatte, damit sie sich darauf niederlassen konnten. „Hier versammelt sich am Wochenende fast immer die ganze Schule“, erklärte Chiori fröhlich. „Manche, wie dieses Mädchen dahinten lesen nur, andere spielen Fußball oder etwas anderes, wenn sie genug Leute für ihre Sache begeistern können und die meisten setzten sich einfach auf die Tribünen, um die spontanen Wettstreite zu beobachten und neue Bekanntschaften zu schließen.“ „Eine gute Beschäftigung“, kommentierte Reino, der insgeheim beschloss, seine Wochenenden lieber im Musikraum zu verbringen. „Oh!“, rief Sho plötzlich. „Seht mal, Kotonami-san ist wieder da!“ Neugierig folgte Reino seinen Blick und entdeckte ein paar Meter von ihnen entfernt Kyoko, die heute ein hübsches Kleid trug und sich ins Gras gesetzt hatte, während sie dem endlos wirkenden Monolog einer Zigaretten rauchenden Schwarzhaarigen lauschte. Die Unbekannte war in eine schicke Jeans und ein rotes Top mit Spagettiträgern gekleidet, über das sie eine weiße Stoffjacke gezogen hatte. Sie stand lässig an einen Baum gelehnt da und wirkte alles in allen wie das personifizierte Selbstbewusstsein. „Ah, stimmt“, sagte Chiori. „Ich habe sie heute morgen beim Frühstück gesehen. War mal wieder besonders gut drauf und hat mich vor allen Leuten runtergemacht, nur weil ich aus Versehen ihren Arm gestreift hatte.“ „Bitte? Chi-chan, wie konntest du das tun? Du musst doch wissen, dass man um die heilige Kotonami-san einen Sicherheitsabstand von mindestens zehn Metern halten muss, außer man heißt Kyoko Mogami, Ren Tsuruga oder Yukihito Yashiro.“ „Wer ist sie denn?“, fragte Reino neugierig. „Kanae Kotonami“, erklärte Sho feierlich. „Kyoko Mogamis beste Freundin, was kein Mensch wirklich nachvollziehen kann, bei dem üblen Temperament. Mach lieber einen großen Bogen um sie, Reino-kun. Das ist besser für deine Gesundheit.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Während sich die Schüler am Sportplatz versammelt hatten, beobachtete Rory Takarada von seinem Bürofenster aus, wie eine schwarze Limousine vorfuhr, aus der kurze Zeit später ein Junge und dessen Mutter ausstiegen. Seufzend setzte sich der Schulleiter hinter seinen Schreibtisch und stellte seine Ellbogen auf eben diesen ab, während er seine Hände, wie zum Gebet, faltete. Kurze Zeit später erklang bereits das typische, dezente Klopfen und die beiden Personen kamen herein. „Ren“, sagte er lächelnd. „Tsuruga-san, wie schön, dass ihr wieder hier seid. Setzt euch doch.“ „Vielen Dank, Takarada-san“, sagte die Frau kühl und setzte sich auf einen Sessel ihm gegenüber. Ren blieb stehen. Seufzend betrachtete Rory seinen besten Schüler. Wie immer, wenn der Junge aus den Ferien zurück kam, wirkte er angespannt und wie ein geschlagenes Tier, das keine Zeit gehabt hatte, seine Wunden zu lecken. Nichtsdestotrotz strahlte er eine beeindruckende Selbstsicherheit aus und wirkte wie der perfekte Junge, der er doch war. Perfektion. Was für ein schreckliches Wort. Kein Wunder, dass er zu Hause keine Entspannung fand. Rens Mutter war eine strenge und oft unterkühlte Diva, mit den typischen blonden Haaren und dem weißen Fell, dass sie als Stola trug. Sie erwartete viel von sich und ihren Mitmenschen und wenn es jemand wagte, sie zu enttäuschen, würde diese Person es bereuen. Rory wurde von ihr immer mit einer Spur Überheblichkeit und Arroganz betrachtet, weshalb er die Gespräche mit ihr scheute. Doch sie mussten sein. „Ich bin froh, dass du beschlossen hast, auch dieses Semester bei uns zu verbringen, Ren“, sagte Rory und strahlte den Jungen an, der lächelnd mit dem Kopf nickte und ein „Danke, Sir“ murmelte. „Das sollten Sie auch sein, Rory“, bemerkte Tsuruga-san gnadenlos. „Was soll das eigentlich mit seinem Zimmergenossen? Was fällt Ihnen ein, ihn einfach mit einen Waisen zusammenzuwürfeln?“ Rory seufzte innerlich. Damit hatte er gerechnet. „Reino ist ein wohlerzogener Junge mit einer überdurchschnittlichen, musikalischen Begabung. Außerdem hat ein IQ-Test ergeben, dass er überaus intelligent ist. Vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es keinerlei Nachteile mit sich ziehen wird, dass...“ „Na schön, na schön. Tun Sie doch, was Sie wollen. Aber wenn ich auch nur den Hauch einer Merkwürdigkeit von dem Verhalten dieses Jungen höre, werde ich darauf bestehen, dass er in ein anderes Zimmer kommt. Ansonsten werde ich sowohl Ren also auch unsere Spendengelder zurückziehen, haben Sie mich verstanden?“ Rorys Augen verengten sich. „Ja, Tsuruga-san. Das habe ich sehr gut.“ „Schön“, sagte sie mit einem abschließenden Tonfall und erhob sich. „Ich werde nun gehen.“ Langsam drehte sie sich zu ihren Sohn um und taxierte ihn mit einem strengen Blick. „Strenge dich an. Diese Schule ist teuer und wenn du ohnehin kein Interesse am Lernen hast, kannst du genau so gut auf eine staatliche Akademie gehen. Ich erwarte, dass dein Zeugnis das nächste Mal nicht so eine Enttäuschung wie das letzte Mal darstelle, verstanden?“ „Ja, Mutter.“ Rory starrte die Frau erschüttert an. Ren hatte letztes Mal das beste Zeugnis in seinem Jahrgang gehabt. Überall Einsen, außer in Biologie und Kunst, was jedoch keine Schande war. „Sehr schön. Wir sehen uns dann in den Sommerferien. Auf Wiedersehen, Takarada-san.“ Mit diesen Worten stolzierte sie aus dem Zimmer und ließ den Hauch eines ekelerregend süßen Parfüms zurück. „Entschuldigen Sie bitte ihr Verhalten, Sir“, sagte Ren sofort. „Sie...“ Rory hob seufzend die Hand und brachte ihn damit zum Verstummen. „Ist schon in Ordnung“, erklärte er lächelnd. „Ich kenne sie ja. Möchtest du dich nicht setzten?“ „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber in mein Zimmer gehen, Sir“, entgegnete Ren mit einem schiefen Lächeln. „Natürlich“, entgegnete der Schulleiter nickend. „Ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende.“ Erleichtert drehte sich Ren um und ging zur Tür. „Ach, Ren?“ Der Schüler blieb stehen und drehte sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu ihm um. Rory musterte ihn kurz von oben bis unten, bevor er es sich anders überlegte und seufzte. „Falls du ein Problem mit Reino oder mit irgendjemand anderem haben solltest, kannst du jederzeit zu mir kommen. Ich bin gerne bereit, dir bei der Suche nach einer Lösung behilflich zu sein.“ Der Jüngere lächelte und Rory wusste, dass er es ehrlich meinte. „Vielen Dank, Takarada-san, aber ich denke nicht, dass das nötig sein wird.“ Der Schulleiter nickte ernst und sah dabei zu, wie der Junge sein Büro verließ. Warum waren eigentlich immer die nettesten Kinder mit solchen familiären Situationen gestraft? Er wünschte sich, ihm etwas helfen zu können, doch als Lehrer konnte er nichts weiter tun, als ihm regelmäßig seine Hilfe anzubieten und seinen Schulaufenthalt so erträglich wie möglich zu machen. Auch wenn er wusste, dass das noch lange nicht genug war. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Schülerakte gleiten, die er vor der Ankunft der Beiden studiert hatte. Vielleicht würde ja Reino Lawliet in der Lage sein, Ren auf eine Art und Weise zu helfen, wie er selbst es niemals tun könnte. Kapitel 2: Prayer ----------------- Hush, lay down your troubled mind The day has vanished and left us behind And the wind – whispering soft lullabies Will soothe – so close your eyes Sleep, angels will watch over you And soon beautiful dreams will come true Can you feel spirits embracing your soul So dream while secrets of darkness unfold Let you arms enfold us Through the dark of night Will your angels hold us Till we see the light Hayley Westenra - Prayer ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wie erwartet war das Haus der Jungen leer, nur Kuu-san war in das Analysieren wichtiger Dokumente vertieft und lächelte Ren an, als dieser an ihm vorbei ging. Auch in seinem Zimmer war niemand aufzufinden und er stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, dass sein neuer Zimmergenosse sich an seine Bitte gehalten und die Tür abgeschlossen hatte. Interessiert ließ er seinen Blick über die rechten Seite gleiten. Der Neue hatte nicht viele Besitztümer mitgebracht, so entdeckte Ren nur einen alten Wecker, einen abgegriffenen Mary Poppins Band, mehrere Klaviernoten, eine Buddha-Statue und ein Gruppenfoto, das augenscheinlich vor dem Waisenhaus gemacht wurde, in dem der ihm unbekannte Junge bis vor kurzem jeden Tag verbracht hatte. Außerdem entdeckte er auf dem Schreibtisch mehrere Skizzen von Orten und Personen in der Schule. Auf einem Blatt entdeckte er Fuwa und Amamiya. Das bedeutete wohl, dass ersterer bereits ein reges Interesse an dem Neuen entwickelt hatte. Dann wollte er mal hoffen, dass er einen ähnlichen Geschmack wie der andere hatte. Lustlos ließ er sich auf sein Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. So vergingen Minuten, Stunden und die Sonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen. Er fragte sich, wann sie kommen würde, um ihn zu beschimpfen. Wie um seine Frage zu beantworte, klopfte es in diesem Moment laut an die Tür. Seufzend stand der Schwarzhaarige auf und ging zu seinem Schreibtisch um von dort aus dem Fenster zu starren. „Ja?“ Jemand trat ein und schloss die Tür hinter sich. Ren brauchte sich nicht um zu drehen, um zu wissen, dass es sich um Kyoko handelte, die ihn im Moment wahrscheinlich mit ihren Blicken erdolchte. In diesem Punkt irrte er sich allerdings. Seine Verlobte war zwar mit dem festen Vorsatz hergekommen, ihm eine Schimpftirade zu halten, doch als sie ihn nun erschöpft und mit zusammen gesackten Schultern an dem Schreibtisch stehen sah, konnte sie ihm das nicht mehr antun. Sie hatte keine Ahnung, was in seinen Ferien vorgefallen war, doch egal, um was es sich auch handelte, es hatte diesen Jungen bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele erschüttert. Allein die Tatsache, dass er sich nicht zu ihr umdrehte, bestätigte diesen Gedanken. „Was ist passiert?“ fragte sie. „Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?“ „Du fragst mich das wirklich?“, entgegnete Ren mit einem abweisenden Tonfall. „Sag mir, Kyoko, warum sollte ich mich bei dir melden?“ Die Augen der Braunhaarigen verengten sich. „Weil wir verlobt sind, Ren.“ Jetzt drehte er sich doch zu ihr um und das arrogante Grinsen, welches sie so sehr verabscheute, erschien auf seinem Gesicht. „Keine Sorge, Liebes, so schnell vergesse ich diese Tatsache nicht. Doch nichtsdestotrotz waren wir uns beide einig, dass diese Verlobung eines der unnützen Dinge ist, die unsere Eltern je beschlossen haben?“ Kyoko ballte die Hände und funkelte ihn an. „Ich kann dir in diesem Punkt zwar nicht widersprechen, aber könntest du vielleicht aufhören, dich so zu benehmen, als wäre ich Ungeziefer?!“ Sein Lächeln wurde eine Spur breiter. „Tu ich das?“ „Hör auf, dich über mich lustig zu machen!“, schrie sie und sah so aus, als würde sie sich jeden Moment auf ihn stürzen und erwürgen. „Ich hab die Nase voll, von dir wie ein Spielzeug behandelt zu werden! Ich bin ein Mensch, Ren! Ein Mensch! Mit Gefühlen! Ich hab mir Sorgen gemacht!“ Zweifelnd hob er eine Augenbraue. „Na gut“, lenkte sie ein. „Nicht direkt Sorgen, aber...“ „...es kratzt einfach an deinem Stolz, dass dein Verlobter dich zwei Wochen ignoriert hat“, vollendete Ren ihren Satz. „Das tut mir wirklich sehr Leid.“ „Oh ja, ich sehe schon, wie groß deine Reue ist. Warum bin ich eigentlich das einzige Mädchen auf der ganzen Schule, zu dem du nicht charmant bist?“ „Ganz einfach: Ich kann dich nicht leiden“, antwortete der Junge mit einem perfekten Gentleman-Lächeln, wie Kyoko es insgeheim getauft hatte. Sie setzte gerade zu einer Antwort an, als die Tür geöffnet wurde und Reino mit einer verdutzten Miene die beiden Streitenden anstarrte. „Ähm...“ „Oh, hallo Lawliet-kun!“, sagte Kyoko mit einem charmanten Lächeln und sah zu ihrem Verlobten hinüber, der den Neuankömmling neugierig musterte. „Komm ruhig rein, ich wollte ohnehin gerade gehen.“ „Sicher?“, fragte der Blondhaarige zweifelnd. „Ich meine, ich kann auch noch mal zu Sho und...“ „Ach, red keinen Unsinn. Ich kann mich auch noch ein anderes Mal mit Ren unterhalten. Ihr beide solltet euch lieber erst mal kennen lernen, immerhin müsst ihr die nächsten Monate miteinander auskommen.“ Strahlend lief sie zu Tür, um das Zimmer zu verlassen, doch plötzlich, als wäre ihr noch etwas eingefallen, drehte sie sich um und sagte: „Kümmere dich gut um deinen Zimmergenossen, Ren. Ich möchte keine Klagen hören. Bis spätestens Montag.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Reino starrte Kyoko verdutzt hinterher. Dieser fluchtartige Abgang war recht merkwürdig, besonders, da er in dem Moment, in dem er den Raum betrat, wusste, dass er mitten in einem Streit gelandet war. Er hatte wirklich ein Händchen für falsche Zeitpunkte. Sich verlegen durchs Haar fahrend, wandte er sich dem Anderen zu. Das erste, was er mit Sicherheit sagen konnte, war die Tatsache, dass dieser ziemlich attraktiv war. Ren war etwa einen Kopf größer als er, hatte kurzes, schwarzes Haar und geheimnisvoll wirkende, dunkle Augen. Seine Körperhaltung war entspannt und er musterte Reino mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Einige Minuten lang musterten die beiden Jungen sich einfach, dann stieß Ren sich vom Schreibtisch ab und ging auf den Blondhaarigen zu. „Hallo, mein Name ist Ren Tsuruga. Du musst Reino Lawliet sein.“ Er streckte seine Hand aus und Reino ergriff sie lächelnd. „Genau der bin ich. Freut mich, dich endlich kennen zu lernen.“ „Endlich?“, wiederholte der andere amüsiert. „Na ja“, erwiderte Reino und merkte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. „Sho hat mir schon viel erzählt...“ Ren gluckste. „Das sieht ihm ähnlich.“ Der Schwarzhaarige ließ sich auf einen Sessel setzten und lud Reino ein, es ihm gleich zu tun. „Entschuldige bitte, dass ich nicht hier sein konnte, um dir das Gelände zu zeigen“, sagte er freundlich und Reino wusste, dass er es ehrlich meinte. „Kein Problem“, entgegnete er fröhlich. „Sho war ein guter Führer und ich nehme es niemanden übel, wenn er Zeit mit seinen Eltern verbringen will.“ Darauf wusste keiner der beiden etwas zu sagen und so verfielen sie in ein tiefes Schweigen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Verärgert ging Kyoko den Korridor von Rens Stockwerk entlang. Was fiel diesem Trottel eigentlich ein? Da machte sie sich wirklich Sorgen und er beleidigte sie augenblicklich! Wie sollte sie es bitte schön den Rest ihres Lebens mit dieser Person aushalten, wenn sie ihn jetzt schon am liebsten erwürgen würde? Dieser Junge machte sie wahnsinnig! Sie war so sehr in ihre wütenden Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie jemand die Tür am Ende des Ganges öffnete und seinen Kopf herausstreckte. Erst als sie eine bekannte Stimme „Kyoko-chan“ rufen hörte, blieb sie stehen und wandte sich zu dem Besitzer um. Dabei handelte es sich um einen blonden Jungen, der fast genauso groß wie Ren, extrem schlank und gut aussehend war. Vor seinen blauen Augen ruhte eine viereckige Brille und er schenkte ihr ein freundliches Lächeln, welches sie unwillkürlich erwidern musste. „Yashiro, du bist wieder da.“ „Stimmt, bin vor etwa einer Stunde angekommen.“ Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Ist alles in Ordnung? Du siehst ziemlich aufgebracht aus.“ Lächelnd fuhr sie sich durchs Haar. „Es ist nichts, nur eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Ren.“ Der Brillenträger blinzelte. „Ren ist wieder da?“ „Ja, wahrscheinlich auch nicht viel länger als du, so wie er aussah, als ich bei ihm angekommen bin. Im Moment stellt er sich seinen neuen Mitbewohner vor.“ „Ah, stimmt ja“, Yashiro neigte seinen Kopf nachdenklich zur Seite. „Wie ist er denn so?“ Die Braunhaarige lehnte sich an die nächste Wand und starrte nachdenklich aus dem Fenster, welches ihr gegenüber lag. „Erinnerst du dich noch, wie Ren damals versucht hat Merry Christmas, Mr. Lawrence auf dem Klavier zu spielen?“ „Oh ja... Shoko-san war danach ziemlich deprimiert, dass es nicht einmal unser bester Pianist hinbekommt. Warum fragst du?“ „Ganz einfach“, erwiderte sie und stieß sich von der Wand ab, „weil ich glaube, dass wir das Stück dieses Jahr spielen werden. Wir sehen uns spätestens übermorgen in der Schule.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Tür, die den Flur vom Treppenhaus trennte und stieg nach unten. Yashiro sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Warum konnten Frauen einem eigentlich nicht klare Antworten geben? Die Tür seines Zimmers schließend, drehte er sich in die Richtung von Rens Zimmer um. Sollte er? Oder sollte er nicht? Schließlich gelang seine Neugier Oberhand und er machte sich auf den Weg. Vor der Tür angekommen, räusperte er sich und klopfte an. Die Stimme seines besten Freundes rief: „Herein.“ Strahlend öffnete er die Tür. Zuerst fiel ihm der neue auf, er saß mit dem Profil zu ihm auf einem Sessel und musterte Ren. Dieser saß ihm gegenüber und hatte den Kopf in seine, Yashiros, Richtung gedreht, um zu sehen, wer sie besuchen kam. Der Brillenträger musste nur einen kurzen Blick auf die beiden werfen, um herauszufinden, dass seine Stellung, als Ren Tsurugas einziger, guter Freund gefährdet war. Zwar sprachen die beiden Jungen nicht miteinander und gaben auch sonst keinen Hinweis darauf, dass zwischen ihnen etwas anderes herrschte, als ein stillschweigendes Dulden, doch Yashiro kannte seinen Freund zu gut genug, um zu wissen, dass Ren sich niemals mit jemanden länger als nötig beschäftigen würde, wenn er kein Interesse an dieser Person hatte. Mit anderen Worten, die bloße Tatsache, dass sie sich im Moment gegenüber saßen, ohne mit etwas anderem beschäftigt zu sein, zum Beispiel ein Buch lesen, bestätigte, dass der Neue Rens Interesse geweckt hatte. Yashiro grinste innerlich. Er war schon sehr gespannt darauf zu erfahren, was genau das Interessante an ihm war. Doch im Moment strahlte er Ren einfach nur an und sagte: „Ein verärgertes Vögelchen hat mich von deiner Rückkehr unterrichtet und ich dachte, ich schau mal vorbei und fege die Scherben auf, die es übrig gelassen hat.“ Er betrat den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Währenddessen wandte sich auch der ihm Fremde zu ihm um und hörte neugierig zu. „Ehrlich, Ren, du bist der Einzige, der es schafft, innerhalb der ersten 24 Stunden hier einen Streit mit Kyoko Mogami anzufangen.“ Auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen erschien ein breites Grinsen. „Das sehe ich als Kompliment, Yukihito. Komm, setzt dich zu uns.“ Er wandte sich dem Neuen zu. „Reino-kun, das ist Yukihito Yashiro, mein bester Freund. Yukihito, das ist Reino Lawliet.“ „Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte Yashiro sofort und setzte sich auf den dritten Sessel, „und herzlich willkommen an unserer Schule.“ „Vielen Dank“, entgegnete Reino lächelnd. Yukihito fiel auf, dass er ein offenes, herzliches Lächeln hatte, das jedem Mädchen wahrscheinlich den Atem rauben würde. „Mich freut es auch, dich kennen zu lernen.“ „Wie lange bist du schon wieder hier?“, fragte Ren den Brillenträger. „Eine Stunde und du?“ „Ein bisschen länger. Wie waren deine Ferien?“ Yashiros Augen begannen zu strahlen, dennoch warf er Reino noch einen letzten, abschätzenden Blick zu, bevor er begann, ihm zu erzählen: „Großartig! Mutter hatte die Idee, dass wir nach Europa fahren, also waren wir eineinhalb Wochen in den französischen Alpen Skifahren!“ „Ah, das war sicher ein Erlebnis. Wer war sie?“ Der Älteste der drei verschränkte die Arme und sah Ren schmollend an. „Warum muss eine Frau im Spiel sein, wenn ich von etwas begeistert bin?“ Glucksend schüttelte der Dunkelhaarige den Kopf, während Reino sich auf die Unterlippe biss, um nicht zu grinsen. „Also, wer ist sie?“ „Ein wunderbares Mädchen!“, erklärte Yashiro träumerisch. „Eine Irin, die mit ihren Freunden in demselben Hotel Urlaub gemacht hat, wie wir. Rote Haare, Sommersprossen, grüne Augen und das liebenswürdigste Lächeln, dass du je gesehen hast. Wirklich zu schade, dass die Ferien so schnell wieder um waren.“ Die nächste Stunde erzählte ihnen der Brillenträger in aller Ausführlichkeit von seinen Ferien, was zum Schluss zu einer Diskussion über die Psyche der Frauen führte, an die sich Reino, nach kurzen Anfängerschwierigkeiten, lebhaft beteiligte. Das Ergebnis war, dass er, ohne es zu merken, von Ren und Yashiro in ihren kleinen Freundeskreis aufgenommen wurde und das war etwas, von dem die meisten ihrer Mitschüler nur träumten. Schließlich warf Ren einen Blick auf seine Armbanduhr. „Oh, es ist Zeit fürs Abendessen, lasst uns runter gehen.“ Plaudernd machten sie sich auf den Weg in den Speisesaal. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Reino fiel sofort auf, dass sich Sho wieder an denselben Tisch wie Kuu gesetzt hatte und mit diesem plauderte. Allerdings ließ er dabei seinen Blick immer wieder zum Gang schweifen, um wahrscheinlich nach ihm Ausschau zu halten. Als er ihn bemerkte, hellte sich seine Miene auf, um sich gleich darauf wieder zu verdunkeln, sobald er Ren entdeckte. Der Neue runzelte die Stirn. Zwar hatte er bemerkt, dass weder Sho noch Ren von dem jeweils anderen besonders angetan waren, doch offensichtlich steckte mehr dahinter, als er bisher angenommen hatte. Das zweite, was ihm auffiel war, dass über den Tag einige Jungen zurückgekehrt waren, da der Saal um einiges voller als bei den vorherigen Mahlzeiten war. Etwas störte ihn allerdings: Alle starrten ihn an. Yashiro gluckste, als er seinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Sie sind überrascht, dass du mit mir und Ren hereingekommen bist“, erklärte er flüsternd und schob ihm zum kalten Buffet, den die Essensausgeberin mit Argusaugen bewachte. „Normalerweise sind wir eher unter uns.“ „Und warum macht ihr bei mir eine Ausnahme?“, fragte Reino leise und beobachtete, wie Ren ungerührt Reis in eine kleine Schüssel schaufelte.. „Ganz einfach“, erwiderte Yashiro schmunzelnd, „weil Ren es so entschieden hat. Nimm dir lieber keinen Sushi, der hat manchmal einen seltsamen Nachgeschmack.“ Nachdem sie sich bedient hatten, gingen sie gemeinsam auf Shos und Kuus Tisch zu, da dort als einziges noch genug Plätze frei waren. Reino ließ sich neben seinem ersten Freund in dieser Schule nieder, der ihm ein breites Grinsen schenkte und dann nachdenklich Ren ansah, der sich dem Neuen gegenüber niederließ. Yashiro nahm neben ihm Platz. „Ren, Yukihito, wie schön, dass ihr wieder da seid“, begrüßte Kuu die beiden fröhlich. „Wie ich sehe, habt ihr unseren Neuzugang bereits kennen gelernt.“ „Das haben wir tatsächlich, Kuu-san“, entgegnete Yashiro gut gelaunt. „Dieses Schuljahr verspricht interessant zu werden.“ „In der Tat“, bestätigte Kuu. „Ich hatte heute übrigens eine kleine Unterhaltung mit Shoko-san“, fuhr er an Reino gewandt fort. „Sie möchte unbedingt, dass du dich an ihrem kleinen Orchester beteiligst. Ihr größter Traum ist es nämlich Merry Christmas, Mr. Lawrence aufzuführen, aber bisher hat sie nie einen geeigneten Pianisten gefunden.“ Reino blinzelte. „Sie denkt, dass ich dafür geeignet wäre?“ „Natürlich bist du das!“, rief Sho begeistert. „So, wie du gestern gespielt hast, könnte das niemand! Selbst Mogami-sama war begeistert, obwohl sie nicht so leicht zu beeindrucken ist.“ „Kyoko-chan war über dein Spiel begeistert?“, hakte Yashiro überrascht nach. Auch Ren sah Reino verblüfft an. „Ja, war sie!“, versicherte ihnen Sho. „Sie meinte, sein musikalisches Talent wäre bemerkenswert und dass er das Stück so gespielt hat, wie du, Tsuruga-sempai, es niemals hin bekommen würdest.“ „Tatsächlich?“, fragte Yashiro blinzelnd zur selben Zeit, wie Ren „interessant“ murmelte und Reino weiterhin nachdenklich musterte. „Ach, ihr übertreibt doch alle“, sagte dieser und fuhr sich verlegen durchs Haar. „Ich bin nur ein junger Pianist, der noch viel üben muss, nichts weiter.“ „Genauso ist es“, pflichtete ihm Kuu bei, bevor Sho, der seinen Mund bereits geöffnet hatte, etwas erwidern konnte. „Es ist die Übung, die den Meister macht. Und zwar in allen Dingen.“ „Besonders in den wichtigen Dingen des Lebens“, hörte sie einen Jungen am Nachbartisch murmeln. „Mit denen Kuu-san sich auskennt“, sagte ein anderer. Der ganze Saal brach in schallendes Gelächter aus, während der Lehrer glucksend den Kopf schüttelte und Haruka-san, der Essensausgeberin zuzwinkerte, der man das „Die Jugend heutzutage“ förmlich ansehen konnte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Die erste Nacht mit einer anderen Person im Zimmer. Insgeheim hatte sich Ren darüber so einige Gedanken gemacht. Wäre sein Mitbewohner jemand wie Sho, würde er nie und nimmer schlafen können, doch bei Reino machte ihm Tatsache, dass er die ganze Nacht neben ihm liegen würde, nichts aus. Im Gegenteil, das Wissen, dass der andere bei ihm sein würde, beruhigte ihn aus irgendeinen Grund ungemein. Der Schwarzhaarige lag auf seinem Bett und lauschte den Zahnputzgeräuschen aus dem Badezimmer, die mit einem fröhlichen Summen untermalt waren. Unwillkürlich musste er lächeln. Der Andere schien die Musik wirklich sehr zu lieben. Moment, warum lächelte er, nur weil jemand sang? Und warum war ihm die Gegenwart des Jungen nicht unangenehm? In der Regel ging er anderen Menschen lieber aus dem Weg. Bisher hatte er nur Yashiro als jemanden eingestuft, der ihn nicht störte, sondern eine mit unter amüsante Wirkung haben konnte. Kanae hatte er bisher nur in seiner Gegenwart geduldet, so wie sie ihn duldete und auf Kyokos Gegenwart durfte er bedauerlicherweise nicht verzichten. Doch allen anderen Leuten ging er normalerweise aus dem Weg oder hielt sie zumindest auf einer gewissen Distanz. Bei Reino war es vollkommen anders. Er hatte vom ersten Augenblick an das Gefühl, den anderen irgendwo her zu kennen, so als wären sie alte Freunde, die sich nach jahrelanger Trennung wieder sahen. Doch dies war äußerst unwahrscheinlich.Trotzdem mochte er den Blondhaarige und wollte unbedingt mehr über ihn herausfinden. Er wusste selbst nicht wieso, doch er ahnte, dass hinter dem bis jetzt fröhlich-zurückhaltenden Musiker mehr steckte, als er erahnen konnte. Dies bestätigte zumindest ein Blick in dessen Augen, die einerseits voller Hoffnung, doch andererseits auch voller Schmerz waren. Gut, er war ein Waisenkind, das war nicht einfach und Ren hatte auch keine Ahnung, wie viel Zeit seit dem Tod von Reinos Eltern vergangen war, dennoch hatte er das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund dafür gab – und er wollte wissen, was für einer das war. Doch bis dahin würde es viel Arbeit werden und überhaupt galt es zuallererst diese Nacht zu überstehen. In diesem Moment kam Reino aus dem Badezimmer. Er trug eine dunkle Schlafhose und ein weißes T-Shirt. Darunter erahnte Ren einen dünnen, untrainierten Körper. Wahrscheinlich war der Blondhaarige kein Fan von sportlichen Aktivitäten. „Soll ich das Licht ausmachen?“, fragte er lächelnd. „Klar“, entgegnete Ren und beobachtete, wie der Blondhaarige zum Lichtschalter ging und das Licht löschte. Danach huschte er in sein Bett und versteckte sich unter seiner Bettdecke. „Gute Nacht“, flüsterte er. „Gute Nacht“, entgegnete Ren. „Reino-kun.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Am Sonntag fand Reino eines der Dinge heraus, die Ren ausmachten: Er war katholisch erzogen wurden und ging jede Woche mit ein paar anderen Schülern in die Kirche. „Der Glaube ist ihm sehr wichtig“, erklärte Yashiro, während sie zum Gemeinschaftshaus liefen. „Selbst im tiefsten Winter, wenn die Straßen zugeschneit und im Grunde unpassierbar sind, macht er sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt, um am Gottesdienst teilzunehmen. Ich persönlich kann das nicht nachvollziehen, aber es ist seine Sache.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass er ein Christ ist“, teilte ihm Reino nachdenklich mit. „Bei Volljapanern ist der Glaube nun wirklich nicht so weit verbreitet.“ „Oh, aber Ren ist nur zu einem Viertel Japaner. Sein Vater ist Halbjapaner und seine Mutter kommt aus Europa. Deshalb ist es keineswegs merkwürdig. Wo willst du eigentlich hin?“, fragte der Brillenträger neugierig und spähte zu dem Notenbuch hinüber, das der andere mit sich trug. „In das Zimmer mit dem Flügel“, erwiderte Reino lächelnd. „Shoko-san meinte, ich dürfte jederzeit hinein.“ „Du willst also ein bisschen üben?“, hakte Yashiro nach. „Ja, bisher hatte ich nur selten die Gelegenheit auf einem so tollen Instrument zu spielen.“ „Nun, dann viel Spaß dabei. Ich gehe in unsere hauseigene Schwimmhalle und versuche, acht Bahnen zu schaffen.“ „Okay, bis später!“ Die Jungen trennten sich und Reino stieg zum Musikraum hinauf. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ah, Ren, wie schön, dass du wieder da bist.“ Der Dunkelhaarige schreckte aus seiner Gebetshaltung auf und drehte sich zu dem Mann um, der ihn angesprochen hatte. Dabei handelte es sich um einen Mann mittleren Alters, dessen schwarzes Haar bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Er war in eine weiße Robe gekleidet, wie sie bei katholischen Priestern üblich war und lächelte freundlich. „Pater“, begrüßte Ren ihn ebenfalls lächelnd. „Ich freue mich auch, wieder hier zu sein.“ „Hast du etwas Zeit, mein Sohn?“, fragte der Priester. „Ich hätte da etwas für dich.“ Der Junge erhob sich blinzelnd und folgte dem Mann aus dem Gotteshaus in ein Nebengebäude, wo sich unter anderen die Verwaltung der kleinen Gemeinde befand. Da das Christentum in Japan eine große Minderheit darstellte, waren alle Gemeinden relativ klein und die meisten Kirchen waren ohnehin nur in Großstädten wie Tokyo oder Osaka zu finden. Deshalb war es für Ren eine erfreuliche Überraschung gewesen, als er bei seinem ersten Ausflug in die Stadt eine Kirche entdeckt hatte, wo damals tatsächlich ein Gottesdienst stattgefunden hatte, den auch einige seiner Mitschüler besuchten. Der Priester hatte ihn damals mit offenen Armen empfangen und war immer bereit, sich mit ihm über Gott und die Welt zu unterhalten. Deshalb kam es oft vor, dass er den ganzen Sonntag über in der Stadt bleiben konnte, was sowohl Kyoko, als auch Kanae des Öfteren in den Wahnsinn trieb. Beim Gedanken an die Beiden musste er unwillkürlich schmunzeln. Er war schon sehr gespannt, wie die beste Freundin seiner Verlobten ihn dieses Mal begrüßen würde, wenn sie sich das erste Mal über den Weg liefen. „Wie geht es dir?“, fragte der Priester, als sie in dessen Büro angekommen waren. „Waren deine Ferien angenehm? Du bist nach Hause gefahren, nicht wahr?“ „Ja, Pater, das bin ich“, entgegnete Ren und beobachtete neugierig, wie der Ältere in einer Schublade seines Schreibtischs zu wühlen begann. „Mit geht es soweit gut, vielen Dank der Nachfrage.“ Das Büro war ein kleiner Raum, der nur die nötigsten Möbel besaß. An den weißen Wänden konnte man eingerahmte Fotos von Gemeindeausflüge oder wichtigen Festen erkennen und auf den Fensterbänken wuchsen ein paar Pflanzen der Sonne entgegen. Ren mochte diese Einfachheit, sie bildete einen guten Kontrast zu seinem Zuhause. „Ah! Hier ist es ja!“, rief der Ältere erfreut und zog einen Rosenkranz hervor, den er zugleich Ren in die Hand drückte. „Für mich?“, fragte der Jüngere überrascht und der Priester nickte. „Ich weiß doch, dass deiner bedauerlicherweise verloren gegangen ist und wie ich deine Eltern kenne, werden sie dir keinen neuen zukommen lassen, deshalb schenke ich dir diesen.“ „Vi... vielen Dank, Pater“, erwiderte Ren sichtlich bewegt und der Ältere lachte. „Keine Ursache. Aber achte gut auf ihn, mein Sohn.“ „Selbstverständlich.“ Der Rosenkranz war etwas länger, als sein Alter und besaß schwarze und weiße Perlen, die zu einer Kette aufgereiht waren. Ein römisches Kreuz hing an dessen Ende. Dieser Gegenstand war auf jeden Fall schöner, als der Alte. Seine Miene verdüsterte sich, als er sich an seinen Verlust erinnerte. Da hatte er einmal vergessen, abzuschließen und dann war er nicht mehr da. Ab sofort würde er sich nicht mehr davon trennen. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte der Priester und beobachtete seinen Schützling mit wachem Interesse. „Ich hörte, du hättest einen Mitbewohner bekommen?“ Ren steckte den Rosenkranz weg und setzte sich auf einen Stuhl, den der Andere ihm anbot. „Ja das stimmt. Sein Name ist Reino Lawliet. Er ist ein Waise und scheint ein ziemlich guter Pianist zu sein.“ „Scheint?“, wiederholte der Ältere mit hochgezogenen Brauen. „Ich habe ihn bisher noch nicht selbst spielen hören, doch Fuwa-kun hat ihn gestern beim Abendessen mit den höchsten Tönen gelobt.“ „Ren“, sagte der Pater vorwurfsvoll. „Du weißt doch, dass du nicht so abfällig über deine Brüder und Schwestern reden sollst.“ „Entschuldigt, Pater, doch leider bin auch ich nur ein Mensch mit allen Vorurteilen und Fehlern, die uns zu Teil werden.“ „Natürlich. Wie ist dein bisheriger Eindruck von Reino?“ Der Jüngere lächelte. „Er scheint sehr nett zu sein. Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.“ „Das freut mich“, versicherte ihm der Priester. „Es ist schön, dass du einen neuen Freund gefunden hast. Und widersprich mir jetzt nicht. Du weißt, dass ich Recht habe. Doch offensichtlich scheint auch Fuwa-kun Interesse an ihm zu haben, das heißt, wenn Reino sich bereits mit diesem angefreundet hat, musst du das akzeptieren.“ „Aber das tue ich doch, Pater!“ „Oh, davon bin ich überzeugt. Ich wollte es nur noch einmal verdeutlichen.“ Sie plauderten noch eine Weile, dann verabschiedete sich der Jüngere und kehrte in die Schule zurück. Der Priester beobachtete von seinem Fenster aus, wie Ren in Richtung Bushaltestelle davonging. „Lawliet“, murmelte er. „Es ist lange her.“ Er fragte sich, wann der Junge vorbei schauen würde. Doch solange würde er warten müssen und hoffen, dass nicht das geschehen würde, was er im tiefsten Inneren bereits ahnte. Leider würden seine Hoffnungen nicht erfüllt werden. ____________________________________ Herzlichen Glückwunsch! Ihr habt es durch das zweite Kapitel geschafft. Man, habe ich für dieses Kapitel viel Recherche Zeit gebraucht... ich hätte nie gedacht, wie wenig ich eigentlich über die katholische Kirche wusste, bevor ich mich für den lieben Pater damit beschäftigt hatte... allerdings kommt in diesem Kapitel nur ein kleiner Bruchteil der Informationen rein, die ich gesammelt habe... mal sehen, ob ich sie in Zukunft noch verarbeiten werde. (Jaja, bei mir werdet ihr gebildet.) Falls jemand von euch katholisch sein sollte, wäre es nett, wenn diese Person sich meldet und mir sagt, ob ich Unsinn geschrieben habe. XD Außerdem hätte ich da noch ein paar kleine Fragen, die geklärt werden müssten... Wie dem auch sei, ich bedanke mich an dieser Stelle noch schnell bei Redis, Kyoko-Hizuri, Susilein, Angel-of-innocence und Sia-chan für ihre lieben Kommentare zum letzten Kapitel. Nun denn, ich wünsche euch noch ein schönes WE! Bis zum nächsten Kapitel, eure Ayako P.s.: Verbesserungsvorschläge, Lobs, Anmerkungen, Ideen, Morddrohungen oder was auch immer euch auffällt sind jederzeit willkommen, allerdings nicht zwingend notwendig. ^.~ Kapitel 3: Ten Black Roses -------------------------- Life is like a boat in a bottle Try to sail you can't with no air Day by day it only gets harder Try to scream but nobody cares Far away we wait for each other I'm still on that road to nowhere Kiss yourself for me in the mirror Tie a black rose into your hair Don't lose your faith Share another night with me When you're sad and no one knows it I'll send you black roses When your heart's dark and frozen I will send you black roses Ten black roses The Rasmus – Ten Black Roses ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ah, da bist du ja wieder!“, sagte Yashiro als er aus dem Umkleideraum der Schwimmhalle kam und Ren erblickte, welcher gerade aus der Stadt zurückgekehrt war. „Wie war die Predigt?“ „Ganz interessant“, entgegnete der Dunkelhaarige schulterzuckend und sah sich suchend um. „Wo ist Reino-kun? Matsuda-kun meinte, ihr wärt zusammen losgegangen.“ Matsuda war Yashiros Mitbewohner und ging in eine der unteren Klassen. Anfangs hatten die beiden einige Schwierigkeiten, doch inzwischen meinte der Blondhaarige, dass er niemand besseres erwischen hätte können. „Das stimmt, wir sind zusammen losgegangen, doch er wollte ein wenig auf dem Flügel im Musikzimmer üben. Da ich mich aber noch gut an deine Übungen erinnere, dachte ich, dass es für mich besser wäre, eine Runde zu schwimmen.“ Er musterte seinen Freund aufmerksam. „Woher kommt es eigentlich, dass du so ein großes Interesse an ihm hast, wo du doch sonst immer alle Welt ignorierst?“ Ren zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er ist halt nett.“ „Nett“, wiederholte Yashiro. „Natürlich.“ „Natürlich? Yukihito, was geht schon wieder in deinem Kopf vor?“ „Nichts, überhaupt nichts. Ich habe nur laut gedacht. Lass uns doch in den Musikraum gehen und hören, ob er wirklich so gut spielt, wie Fuwa behauptet hat.“ Sie hörten schon vom weitem die melodische Melodie von Beethovens Mondscheinsonate. Als sie den Musikraum betraten, fanden sie dort Reino in Begleitung von Chiori und Sho vor, die ihm gespannt lauschten. Yashiro blieb mit offenen Mund stehen und starrte den Neuen an, während Ren ein Grinsen unterdrücken musste. Ja, dieser Reino Lawliet hatte zweifellos Talent. Kein Wunder, dass Rory ihn aufgenommen hatte. Als die letzten Takte ausgeklungen waren, brachen Sho und Chiori in begeisterten Applaus aus, an dem sich Yashiro nach kurzem Zögern beteiligte. Reino wandte sich überrascht zu den beiden Neuzugängen um und sein Blick traf auf Rens. Selbstzufrieden registrierte dieser, wie der Pianist leicht errötete und ihm ein schüchternes Lächeln schenkte. Das würde noch sehr interessant werden. „Das war wirklich wunderbar!“, rief Yashiro begeistert. „Einfach genial!“ „Ach, das war doch nichts“, entgegnete der Junge offensichtlich peinlich berührt. „Nur eine kleine Übung.“ „Die Mondscheinsonate ist ein sehr anspruchsvolles Stück soweit ich weiß“, entgegnete Ren und alle wandten sich ihm zu. „Erst nach mehreren Jahren Unterricht wird es von dem Lehrer vorgeschlagen. Die Tatsache, dass du so ein Stück als Übung bezeichnest, ist Beweis genug, dass du ein bemerkenswerter Spieler bist.“ Chiori, Sho und Yashiro begannen daraufhin aufgeregt miteinander zu diskutieren. Reino saß derweile stumm auf dem Klavierhocker und schenkte Ren ein freundliches Lächeln, welches der andere erwiderte. „Ah, Tsuruga-sempai“, rief Sho plötzlich. „Wie nett, dich zu sehen, warst du wieder unten in der Kirche?“ Rens Augen verengten sich. „Ich wüsste zwar nicht, was dich das anginge, Fuwa, aber du hast Recht. Was dagegen?“ „Nein, natürlich nicht“, entgegnete der Junge freundlich. „Es war nur eine gute gemeinte Erkundigung.“ „Das ist wirklich nett von dir, Fuwa-kun.“ Yashiro sah stirnrunzelnd zwischen den beiden, die sich gegenseitig mit ihren Blicken zu erdolchen schienen, hin und her, dann seufzte er und griff kurzerhand nach Rens Arm. „Lass uns gehen, Ren. Wir haben Kanae noch nicht begrüßt.“ Der Schwarzhaarige verzog das Gesicht. „Darauf kann ich dankend verzichten. Bis später, Reino-kun, Amamiya-chan und Fuwa-kun.“ Die drei Freunde sahen den beiden hinterher und hörten noch eine ganze Weile, die immer leiser werdende Stimme Yashiros, der auf den anderen einzureden schien. „Was war das denn?“, fragte Reino verdutzt. Chiori seufzte. „Das, mein Lieber, war das alltägliche Leben. Viel Spaß, du bist sowohl mit Sho hier, als auch mit Tsuruga-sempai in einem Jahrgang.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kyoko Mogami und Kanae Kotonami teilten sich ein Zimmer im Erdgeschoss. Anders als bei den Jungen war die Elite des weiblichen Geschlechts nicht mit einem komfortableren Zimmer, sondern mit einem in der Nähe der hauseigenen Onsenquelle. Auch die Jungen besaßen eine, die sich jedoch unweit des Hauses befand und für einige unbekannt war. Wie auch immer. Die beiden Freundinnen hatten den Nachmittag dazu auserkoren, sich bevor der Schulstress von neuem begann, ein letztes Mal in dem heißen Wasser zu entspannen. Um diese Uhrzeit war das Bad in der Regel leer, weshalb sie unter sich waren und in aller Ruhe ihre Ferien besprechen konnten. „Mutter meinte, du sollst das nächste Mal wieder mitkommen“, erklärte die Schwarzhaarige gerade und zog an ihrer Zigarette, von der einige behaupteten, dass sie sie niemals wechselte. Kyoko wusste allerdings, dass ihre Freundin zum einen in der Schule und in ihrem gemeinsamen Zimmer niemals auch nur eine einzige anrührte und zweitens jede Woche in die Stadt fuhr, um sich ein paar Schachteln zu kaufen. „Tatsächlich?“, fragte Kyoko. Sie hatte ihren Kopf auf einem Stein abgelegt, der mit vielen anderen ein Ufer bildete und die Augen entspannt geschlossen. „Vermisst sie ihren Mann?“ Kanae lachte leise. „Muss alles, was sie tut, mit dieser Person zu tun haben?“ Das Mädchen öffnete die Augen und sah sie schweigend an. „Er könnte ihr im Prinzip gestohlen bleiben“, fuhr sie fort und warf ärgerlich ihre Zigarette in einen Mülleimer, der einige Meter von ihnen entfernt am Ufer stand. Kyoko bewunderte sie unwillkürlich für ihre Zielsicherheit. „Ist ohnehin die ganze Zeit unterwegs und wenn er mal nach Hause kommt, pumpt er sich mit Koks oder anderem Zeugs voll. Wir sind ihm im Grunde völlig egal.“ Kanae starrte wütend ins Wasser, während Kyoko weiterhin schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Mit einem drogenabhängigen Rockstar konnte so schnell nichts mithalten. Zumindest, wenn es um schlechte Väter ging. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Die Köpfe der Mädchen schnellten herum. Herein kam eine junge Frau mit goldenen Locken und einen Körperbau, um den sie jedes Model beneidet hätte. Viele würden sie auf dem ersten Blick mit einem Engel vergleichen. Ein Engel mit den Augen eines Dämons. Julie Hizuri, die Frau von dem allseits beliebten Kuu Hizuri, war die Tochter eines Albinos. Zur gewaltigen Erleichterung ihrer Familie hatte sie beinahe nichts von der Krankheit abbekommen, außer stechend, rote Augen, vor denen sich jeder an der Schule möglichst in Acht nahm. Zwar war sie ein herzensguter Mensch, doch ihr Unterricht war gezeichnet mit einer beinahe altmodischen Disziplin und Strenge. „Ah, guten Tag ihr Beiden“, sagte sie mit einer wohlklingenden Stimme. „Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich zu euch geselle.“ „Natürlich nicht, Hizuri-san“, entgegnete Kyoko strahlend und Kanaes bösen Blick ignorierend. „Setzen Sie sich zu uns.“ „Danke, Kyoko-chan.“ Das Handtuch, welches als einziges ihren Körper vor fremden Blicken verbarg, umklammerte sie fest, während sie langsam zu ihnen ins Wasser stieg. Kanae verschränkte demonstrativ ihre Arme und tat so, als würde sie die Anwesenheit der beiden anderen nicht wahrnehmen. Julie schüttelte über dieses Verhalten amüsiert den Kopf und wandte sich Kyoko zu, die ihren Kopf wieder entspannt zurück gelehnt hatte. „Ich habe gehört, dass du gestern wieder eine heftige Diskussion mit deinem Verlobten hattest.“ „Seien Sie doch froh, so müssen Sie nicht befürchten, dass ich plötzlich schwanger werde“, entgegnete Kyoko trocken, was ihre Freundin zu einem breiten Grinsen verleitete. „Mogami-san“, sagte Julie streng, was mit ihren ungewöhnlichen Augen äußerst eindrucksvoll wirkte. „Ich bitte dich.“ „Entschuldigen Sie, Hizuri-Sensei, doch manchmal muss eine Frau tun, was eine Frau tun muss.“ Julie verdrehte die Augen und beschloss, sich Kanae zuzuwenden, die leise lachte. „Wie waren denn deine Ferien, Kanae-chan?“ „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie Kyoko ruhig nennen können, wie Sie wollen, bei mir aber förmlich bleiben dürfen?“ Julie schüttelte den Kopf. „Ihr Beiden seid wirklich schlimm heute.“ „Entschuldigen Sie bitte“, entgegnete Kanae mit einem breiten Lächeln. „Aber Sie wissen ja wie es ist: Die Ferien gehen zur Neige, die Schule weht mit ihrer Fahne und die Schüler wollen jeden umbringen, der das Wort mit sch auch nur in den Mund nimmt.“ „Nun, das Wort mit sch sollte man in der Regel niemals in den Mund nehmen.“ „Ganz meine Rede, Hizuri-san. Deshalb werden wir morgen einfach ausschlafen, entspannen und so tun, als würde es dieses Wort nicht geben!“, erklärte Kanae ernst, während Kyoko mit geschlossenen Augen lächelte. Sie war an diese Dialoge zwischen den beiden gewöhnt. „Wenn du das tust, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du nächste Woche wieder zu Hause bist, mein Schatz.“ „Das würdest du nicht tun, Julie“, entgegnete Kanae ruhig und starrte ins Wasser. „Du würdest mich nicht zurückschicken, während er da.“ Kyoko öffnete ihre Augen und sah zu ihrer Freundin hinüber. Nur wenige wussten, dass Julie in Wirklichkeit die Schwester von Kanaes Vater und damit ihre Tante war. Normalerweise behandelten die beiden sich auch so förmlich, dass jemand, der es nicht wusste, niemals auf die Idee gekommen wäre. Die Braunhaarige beneidete ihre Freundin dafür. Jeder in der Schule wäre gerne mit Kuu und Julie Hizuri verwandt. Zumindest glaubten das alle. Doch ob es wirklich ein erstrebenswertes Ziel war, würde wohl niemand jemals sagen können. Weder jene, die es sich verzweifelt wünschten, noch jemand wie Kanae, die es sich nicht aussuchen hatte können. Kyoko seufzte und ließ sich tiefer ins Wasser sinken. Ob Ren sie jemals als eine Verlobte würde akzeptieren können? Wohl eher nicht. Andererseits konnte sie ihn verstehen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte auch sie sich jemand anderen ausgesucht. „Morgen bekommt ihr übrigens einen Neuen in eurem Jahrgang“, bemerkte Julie beiläufig. Kanae merkte auf. „Tatsächlich? Wen denn?“ „Reino Lawliet“, antwortete Kyoko an Julies Stelle. „Der, der gestern mit Fuwa und Amamiya zusammen war.“ „Der Blonde mit dem unschuldigen Gesichtsausdruck? Armer Kerl, wenn er mit Fuwa rumhängen muss. Teilen sie sich ein Zimmer?“ „Nein, er ist bei Ren.“ Kanae blinzelte überrascht und sah ihre Freundin an. „Ren?“ „Ja und Kuu meinte, dass die Beiden sich gut verstehen“, erklärte Julie fröhlich. „Zumindest haben er und Yukihito-kun sich gestern mit ihm und Fuwa-kun zusammengesetzt.“ „Wow, dieses Unschuldsbündel muss es ja faustdick hinter den Ohren haben“, spekulierte die Schwarzhaarige. Plötzlich breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. „Der morgige Tag wird wohl doch interessanter, als ich gedacht hatte.“ „Übertreib es aber bitte nicht“, bat Kyoko sie. „Wir könnten ihn gut für unseren Musikunterricht gebrauchen.“ „Keine Sorge, Kyoko. Ich werde ihn mir nur mal ansehen.“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Mal sehen, ob ich Fuwa-kun in den Wahnsinn treiben kann.“ Julie und Kyoko wechselten einen kurzen Blick. Das konnte ja heiter werden! ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Warte, ich mach das!“, sagte Ren und stellte sich vor Reino, der verzweifelt versucht hatte, eine Krawatte zu binden. Fachmännisch griff er nach den beiden Enden und begann damit, sie ordentlich zu richten. Reino schaute verlegen zu Boden und murmelte: „Danke.“ Darauf lachte der Schwarzhaarige. „Kein Problem. Am Anfang geht es uns alle so, aber glaub mir, in einem Monat kannst du es ohne Hilfe und mit einer Geschwindigkeit, die heute noch unglaublich scheint.“ Zufrieden trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete ihn kritisch. „Hm.... doch ich denke, du kannst als ein Schüler der Royal-Society-High-School durchgehen.“ Der Blondhaarige sah ihn unsicher an. „Meinst du?“ Ren legte ihm beide Hände auf die Schulter und sah ihn ernst an. „Nein, ich wollte nur höflich sein.“ „Du bist blöd!“, rief Reino lachend und folgte ihm aus ihrem gemeinsamen Zimmer zum Frühstück. Der Speisesaal war relativ leer. Ren erklärte ihm, dass die meisten Jungen entweder bereits auf dem Weg in die Schule waren, um gute Plätze für sich und ihre Freunde zu sichern oder noch immer im Bett lagen. „Der Unterricht beginnt ja erst in einer Stunde“, erklärte Ren. „Und solange Hizuri-san noch hier ist und sich den Bauch voll schlägt, weiß man, dass man alles, aber nicht zu spät ist.“ Reino sah zu Kuu hinüber, der mit ein paar jüngeren Schülern am benachbarten Tisch saß und gut gelaunt mit ihnen plauderte, während große Mengen Reis in seinem Inneren verschwanden. Essen schien wirklich zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zu gehören. „Wir haben übrigens denselben Klassenlehrer“, erklärte Ren ruhig. „Deshalb kannst du dich heute erst mal an mich heften. Zu den anderen Kursen wirst du aber sicher ohne Schwierigkeiten finden können, immerhin hat Fuwa-kun dir den Aufbau unserer Schule erklärt, nicht wahr?“ „Ja, das hat er“, entgegnete Reino vergnügt. „Wie ist unser Klassenlehrer so?“ „Sawara-san? Ganz okay eigentlich. Er unterrichtet Mathematik und Sport. In der Regel schafft er es, seine Schüler in beiden Fächern gut durchzubringen.“ „Ah“, erwiderte Reino und dachte an seine Sportstunden an seiner alten Schule. Wenn es für einen Jungen schandhaft war, unsportlich zu sein, gehörte er in die unterste Schicht in jeder Gesellschaft, wo nach der „Coolness“ bewertet wurde. Dies war der Nachteil, wenn man sein ganzes Leben in Musikzimmern verbrachte, doch im Grunde konnte er damit leben. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Schon vom Weiten konnte man hören, dass in der Klasse von Sawara-san ein „angeregte Diskussion“ herrschte oder um es weniger gehoben auszudrücken: Ein heftiger Streit, der leicht in Mord und Totschlag ausarten konnte. Selbst ohne die Stimmen zu erkennen oder einen Blick in den Raum zu werfen, war allen Schülern und Lehrern - die das bedauernswerte Schicksal hatten, durch den Gang laufen zu müssen - klar, dass es sich um die beiden Oppositionen Kanae Kotonami und Sho Fuwa handeln musste. Und dass weder Ren Tsuruga, noch Kyoko Mogami Lust hatten, einzuschreiten. Reino beobachtete erstaunt, wie die beiden Unruhestifter sich an der Spitze des Klassenraumes, genau vor dem Lehrerpult, anfunkelten und um einen Platz in der hintersten Reihe direkt neben Kyoko kämpften. Die Braunhaarige selbst hatte sich einen Fensterplatz ausgesucht und kritzelte planlos in ihrem Block herum. Ren saß direkt vor ihr und hörte ein paar Klassenkameraden zu, die von einem Fußballspiel in Tokyo berichteten, bei dem sie gewesen waren. Auch die restlichen Schüler störten sich nicht weiter an der kleinen Auseinandersetzung, sondern hatten es sich auf ihren Plätzen gemütlich gemacht oder sich um Reino versammelt, um ihm die üblichen Fragen zu stellen, denen sich Neue nun einmal zu stellen hatten. Zu seiner eigenen Überraschung hatten sie ihm einen Platz in der letzten Reihe zugewiesen und zwar genau neben dem Tisch, um den Kanae und Sho im Moment kämpften. Der Verlierer würde zwei Reihen weiter vorne in der Mitte Platz nehmen müssen. Reino war sich nicht sicher, ob er wirklich neben einem der Beiden sitzen wollte, doch letztendlich würde er sich mit seinem Schicksal abfinden müssen. „Vergiss es, Fuwa!“, rief Kanae gerade und wedelte mit ihrer Hand vor seinem Oberkörper herum. „Ich werde mich neben Kyoko setzten, ob es dir passt oder nicht!“ „Aber Reino-kun ist neu an der Schule!“, entgegnete Sho prompt. „Und wir kennen uns schon, also sei einmal in deinem Leben sozial und lass mich neben ihn!“ „Oh nein! Komm mir jetzt ja nicht damit! Dein Reino-kun oder wie immer er heißt wird sicher auch in einem Fach ohne dich auskommen, Fuwa! Immerhin wird es in den anderen auch, wenn Buddha es gut mit ihm meint.“ „Was willst du damit wieder sagen?“, wollte Sho wissen. „Fragst du mich das gerade wirklich? Eigentlich hätte ich dir ein bisschen mehr Intelligenz zugetraut!“ Während die Auseinandersetzung immer unschöner wurde, lehnte sich Kyoko leicht nach vorne und zischte: „Ren!“ Die Jungen, die eben noch mit ihm gesprochen hatten, verstummten, während der Schwarzhaarige sich langsam umdrehte. „Kyoko?“ Das Mädchen runzelte verärgert die Stirn, sagte jedoch ruhig: „Meinst du nicht, dass es langsam zu weit geht?“ Dabei warf sie den beiden Streitenden einen bedeutungsvollen Blick zu. Ren verengte nachdenklich die Augen. „Im Prinzip war es ja vorauszusehen. Ich meine, was wäre ein neues Schuljahr ohne ein Streit zwischen den Beiden?“ „Ja, aber wenn sie sich vor unseren Augen zerreißen, gibt es nur wieder Ärger mit Sawara-san.“ „Stimmt“, entgegnete Ren. „Also, wen von den Beiden willst du neben dir haben?“ „Weißt du, wie egal mir das ist?“ Der Schwarzhaarige hob eine Augenbraue. „Sei froh, dass Kanae das jetzt nicht gehört hat.“ „Auch ich kann eine Stunde ohne sie überleben“, meinte die Braunhaarige schulterzuckend. Ren wandte sich den anderen Mitgliedern ihrer Klasse zu, die ihnen interessiert lauschten. „Was meint ihr?“ Es dauerte nicht lange, bis ein einstimmiges „Sho“ aus ihren Mündern ertönte. Ren sah zu den Beiden hinüber. „Fuwa!“ Angesprochener drehte sich um und sah ihn fragend an. „Nimm deine Sachen und lass dich neben Reino-kun nieder!“ Grinsend tat Sho wie ihm geheißen und warf Kanae derweile einen überlegenden Blick zu. Diese setzte sich widerwillig auf den letzten, freien Platz. Ren wusste, dass sie später einen Aufstand wegen dieser Entscheidung machen würde, doch darum würde er sich später kümmern. In diesem Moment kam derjenige, der heute damit dran war, nach dem Lehrer zu sehen in den Klassenraum und rief: „Alle auf eure Plätze! Sawara-san kommt!“ Nach einem kurzen Durcheinander war Ordnung und Stille in der Klasse eingetreten und als der junge Lehrer den Raum betrat, wies nicht darauf hin, dass vor kurzem noch ein Streit geführt worden war. „Guten Morgen, Klasse“, sagte er, nachdem er sich hinter dem Lehrerpult aufgestellt hatte. „Und willkommen zu einem neuen Schuljahr.“ Anders als in Europa begann in Japan ein Schuljahr in der Regel im Frühling zur Zeit der Kirschblüten. Die Japaner glaubten, dass der Regen der „Sakura“ Segen brachte, weshalb die Schulen oft von Kirschbäumen gesäumt waren. Normalerweise wurde ein neuer Schüler am ersten Schultag der ganzen Schule vorgestellt. Reino war relativ erleichtert, dass sich diese Privatschule mehr an den europäischen Traditionen festhielt und er ohne großen Aufwand seinen Platz in der neuen Klasse aufnehmen konnte. Außerdem fiel ihm auf, dass seine Klasse um einiges kleiner war, als seine alte in einer öffentlichen Schule. Kein Wunder also, dass die Schüler hier in der Regel bessere Noten hatten, als im restlichen Japan. Nach der ersten Unterrichtsstunde, in der hauptsächlichst organisatorische Dinge geklärt wurden, teilte Sawara-san die Stundenpläne aus. Während sich die anderen bereits auf dem Weg zu ihren nächsten Fächern machten, stellte sich der Klassenlehrer dem neuen Schüler vor und begann, ihm die üblichen Floskeln entgegen zu trällern. „Wir freuen uns, jemand so talentiertes an unserer Schule begrüßen zu dürfen“, erklärte er ernst. „Shoko-san und Takarada-san meinte beide, Sie wären eine große Bereicherung für unsere Musik. Wie dem auch sei“, fügte er hinzu, ohne auf eine Antwort zu achten und reichte ihm seinen Stundenplan. „Wenn Sie irgendein Problem haben, können Sie sich jederzeit an Kuu, ich meine Hizuri-san wenden. Egal ob fachlicher oder privater Natur. Er steht Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung. Aber zur Not können Sie auch auf mich zugehen.“ Es kam Reino so vor, als wolle er sagen: „Wenden Sie sich gefälligst an ihn, ich eigne mich nicht für zwischenmenschliche Beziehungen.“ „Nun denn, wir sehen uns dann morgen in den letzten beiden Stunden in der Turnhalle. Hängen Sie sich einfach an Tsuruga-kun, er ist in demselben Kurs. Sie finden ihren Weg zur nächsten Stunde?“ „Ähm, ja...“ „Gut, dann noch einen schönen Tag.“ Damit wurde er förmlich aus der Tür geschoben, wo ihn ein grinsender Sho erwartete. „Und? Was hast du als nächstes?“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Die Musik, meine Freunde, wird von vielen Leuten als etwas Nebensächliches abgestuft. Besonders von denen, die sie nicht verstehen oder ihr Leben dem Rationalen gewidmet haben. Musik und auch Kunst sind, genauso wie die Literatur, Dinge, bei denen man nicht einfach etwas auswendig lernen muss und dann versteht man alles. Nein, diese Dinge erfinden sich immer wieder neu und sind vom subjektiven Empfinden abhängig. Jeder von euch hat ein Lieblingslied.“ „Oder mehrere!“, kommentierte ein Schüler in der ersten Reihe. Shoko-san lächelte. „Oder mehrere“, stimmte sie ihm zu. „Jeder von euch hört am Morgen gerne Radio oder auch nicht“, fügte sie hinzu, als sie denselben Schüler, der hereingerufen hatte, den Mund öffnen sah. „Fakt ist, die Musik begleitet euch durch den Alltag, sie ist ein Teil des Ganzen und würde sie fehlen, wäre das Leben nicht das gleiche.“ Langsam schritt sie durch die Reihen und bedrückte dabei den Knopf einer kleinen Fernbedienung, die sie in der Hand hielt. Aus den Lautsprechern, die überall im Raum verteilt waren, erklang ein sanftes Klavierstück, das Reino als eine gelungene Interpretation von Queens The Show Must Go On erkannte. „Ich möchte, dass ihr in meinem Unterricht für kurze Zeit vergesst, was ihr überall gelernt habt. Ich möchte, dass ihr euren Verstand ausschaltet und eure Gefühle und Intuition spielen lasst. Ich möchte, dass wir gemeinsam etwas Neues erschaffen. Etwas, dass die Welt bisher noch nicht gesehen hat.“ „Wollen Sie etwa, dass wir komponieren?“, fragte jemand und alle lachten. Shoko-san schüttelte lächelnd den Kopf. „Mir wird zwar Verrücktheit zugeschrieben, mein Lieber, aber so wahnsinnig bin ich nun auch wieder nicht.“ „Wollen Sie damit etwa sagen, dass wir das nicht schaffen werden, Shoko-san?“, wollte Kanae wissen. „Nein, ich will nur sagen, dass ich am Ende der Stunde kein Schlachtfeld vor mir sehen möchte, weil jeder seine eigene Meinung durchsetzten wollte. Ihr werdet spielen dürfen, meine Freunde oder singen, wenn ihr kein Instrument beherrscht. Ihr werdet Noten bekomme, doch welche es sind, ist euch überlassen.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Ganz einfach: An euren letzten Schultag wird es ein Konzert geben, doch wie es aussehen wird und was wir hören werden, ob es ein einfaches Vorspielen oder ein Musical sein wird, das ist ganz allein euch überlassen. Ihr habt drei Monate Zeit und die anderen AGs werden euch sicher mit Freuden helfen. Viel Erfolg.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Was hältst du davon?“, fragte Sho, als sie zurück zum Haus der Jungen liefen. Reino sah ihn fragend an: „Wovon?“ „Dem Konzert“, erklärte er. „Bisher haben die Lehrer nie uns Schülern die Organisation überlassen, weil sie davon überzeugt waren, dass wir es nie im Leben hinbekommen würden.“ „Tja, ich weiß nicht“, meinte er und ließ seinen Blick über die Schar der Jungen gleiten um an Rens Rücken hängen zu bleiben, der einige Meter vor ihnen lief und sich mit Yashiro unterhielt. „Es wird sicher sehr interessant werden.“ „Ja, das denke ich auch! Bin schon sehr gespannt, auf was wir uns einigen werden.“ Reino blinzelte und wandte sich stirnrunzelnd zu ihm um. „Moment, du bist doch überhaupt nicht in meinem Musikkurs.“ „Zum einen ist es eine AG, mein Freund. Zwar wird es zensiert, doch der richtige Musikunterricht sieht ein bisschen anders aus. Voller Geschichte und so weiter, wirst du ja am Freitag merken. Zum anderen hast du Recht, ich bin nicht in deiner Truppe, da ich meine Freizeit mit sportlichen Betätigungen verbringe. Allerdings wollen die Lehrer, dass alle AGs zusammenarbeiten, weshalb wir auch in eure Organisation hineingeplant werden wollen, verstanden?“ Der Neue grinste. „Klar doch: Wir werden euch absichtlich vergessen!“ „Du bist gemein!“, rief Sho und jagte ihn in Richtung des Gebäudes. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Und? Den ersten Schultag gut überstanden?“, fragte Ren grinsend, als Reino frisch geduscht und umgezogen aus dem Badezimmer kam. Auch er hatte sich seiner Schuluniform entledigt und saß in einfacher Alltagskleidung auf einem der Sessel. „Hm.... ging so“, entgegnete der Blondhaarige ernst. Dann fiel sein Blick auf einen Blumentopf, der auf Rens Tisch stand. In ihm befand sich ein Zuchtstrauß mit.... „Schwarze Rosen?“, fragte er überrascht. „Ja, ich weiß“, erwiderte Ren lächelnd. „Die gibt es eigentlich nicht.“ Er stand auf und ging zu der Pflanze hinüber, um liebevoll über ein Blütenblatt zu streicheln. „In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es eine geniale Gärtnerin“, erklärte er sanft. „Sie schaffte das Unmögliche und züchtete die ersten, schwarzen Rosen, die sie kurz vor ihrem Tod ihrem Sohn schenkte.“ „Dir?“, fragte Reino verwirrt. Der andere lachte. „Nein, meine Mutter lebt noch. Diese Rosen sind ein Ableger der eigentlichen Pflanze, die mir der Junge schenkte, als ich hierher musste. Er meinte, damit ich ihn nicht vergesse.“ Der Blondhaarige stellte sich lächelnd neben ihn und musterte die schwarzen Blüten andächtig. „Ihr beide müsst euch ziemlich nahestehen.“ „Standen“, entgegnete Ren und ließ seine Hand auf den Tisch fallen. „Ich hab ihn seit Jahren nicht gesehen.“ „Warum nicht?“ Es war das traurigste Lächeln, dass er je bei dem anderen gesehen hatte, als dieser aus dem Fenster hinaus sah. Draußen hatte inzwischen die Abenddämmerung eingesetzt und die Bäume vor dem Haus waren in ein goldenes Licht getaucht. Unten konnte Reino Sho und ein paar andere Jungen erkennen, die auf dem kleinen Vorplatz Fußball spielten und in der Ferne meinte er, die Silhouette des nächsten Gebirges sehen zu können. „Als ich in den nächsten Ferien nach Hause kam, war er nicht mehr da. Das Einzige, was geblieben war, waren seine Rosen.“ Ein kurzes Schweigen kehrte ein, bevor er hinzufügte: „Meine Mutter meinte, sie wären freiwillig weggezogen, doch die Stadtbewohner erzählen, es wäre etwas Schreckliches passiert und sie wären daraufhin verschwunden. Allerdings habe ich nie erfahren, was das Schreckliche gewesen war.“ Es wäre auch besser, er würde es nie erfahren. Doch seit wann behält das Schicksal für einem die beste Lösung bereit? ____________________________________ Juhu, endlich wird es interessant. *strahl* Mit diesem Kapitel habe ich die eigentliche Story eingeleitet. Bisher habe ich mich ja eher allgemein gehalten, doch ab dem nächsten Kappili gehen wir ein wenig mehr ins Detail und sehen uns die Charaktere mal etwas genauer an. Deshalb eine Frage an euch: Mit wem soll ich anfangen? a) Julie & Kuu b) Sho & Chiori c) Kanae & Kyoko d) Ren & Yashiro Wäre echt nett, wenn ihr mir eure Meinung sagt, denn mir ist es relativ egal. XD Jetzt gibt es noch ein schnelles Dankeschön an Susilein und Angel-of-innocence, dafür, dass ihr euch durch das letzte Kapitel gekämpft und mir danach ein Review hinterlassen habt. *strahl* So, nun muss ich mich aber an das Lernen für meine drei Klausuren nächste Woche machen! Bis bald, eure Ayako Kapitel 4: Song to say goodbye ------------------------------ You are one of God's mistakes, You crying, tragic waste of skin, I'm well aware of how it aches, And you still won't let me in. Before our innocence was lost You were always one of those, Blessed with lucky sevens, And the voice that made me cry. Now I'm trying to wake you up, To pull you from the liquid sky, Cause if I don't we'll both end up, With just your song to say goodbye. My Oh My. It's a song to say goodbye. Placebo – Song to say goodbye ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als Kuu Hizuri Julie Kotonami das erste Mal sah, war er zwölf Jahre alt. An diesem Tag beschloss er, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Im Grunde war er schon immer ein fröhlicher Mensch gewesen, dessen bloße Anwesenheit bewirkte, dass alle Menschen in seinem Umkreis ein Lächeln auf ihre Gesichter zaubern konnten. Nie hätte jemand gedacht, dass er zu einem anderen Individuum unfreundlich sein könnte. Deshalb war es für seine Familie äußerst verstörend gewesen, als sie von seiner großen Abneigung gegenüber diesem Mädchen erfuhren. Doch ihre Gefühle waren nichts im Vergleich zu der Verwirrung des „Opfers“. Julie war zehn Jahre alt, als ihr Vater seinen alten Freund einlud, den sie nur als „Hizuri-san“ kannte. Als der Mann, der oft zum Abendessen vorbei kam mit seinem Sohn in den Salon kam, wo ihr Vater seine Besprechungen zu führen pflegte, hatte sie sich vorsichtshalber hinter dem Rock ihrer Mutter versteckt und spähte vorsichtig zu den beiden Gästen hinüber. Ihr fiel sofort der blonde Junge auf, der in den nächsten Jahren ihr Peiniger werden sollte. Er hatte ein freundliches Gesicht und seine Augen leuchteten in einer ihr ungewohnter Fröhlichkeit, während er sich in dem Raum umsah. Sie wusste sofort, dass es unmöglich war, ihn nicht zu mögen und war sich sicher, dass er nicht wie die Anderen sein würde. Nun, sie hatte Recht. Er würde nicht wie die Anderen sein, sondern weitaus schlimmer. „Das ist mein Sohn, Kuu“, erklärte Hizuri-san Julies Vater. „Ich denke, er wollte unbedingt deinen Sohn wiedersehen.“ Bei diesen Worten ließ er suchend seinen Blick durch das Zimmer gleiten. Julie musste unwillkürlich lächeln. Glaubte dieser Mann etwa, ihr Bruder hätte sich unter einem Sessel versteckt und würde gleich hervorspringen? Wenn er ihn bisher nicht entdeckt hatte, würde er jetzt auch nicht mehr auftauchen. „Ich bin wirklich untröstlich, mein Freund, aber Li ist krank und deshalb nicht Salonfähig“, erklärte der andere Mann ruhig. „Doch wenn es deinem Sohn nicht stört, kann er sich auch mit Julie hier beschäftigen.“ Kuu sah neugierig zu dem kleinen Mädchen hinüber, dass sich hinter Kotonami-san versteckt hatte. Das erste, was ihm auffiel, waren ihre blonde Locken, die sie wie ein Engel erscheinen ließen. Im krassen Gegensatz dazu besaß sie dieselben stechend roten Augen wie ihr Vater. Ein Dämon in Gestalt eines Engels, dachte er fasziniert, während ihre Mutter sie ins in ein angrenzendes Zimmer voller Spielsachen führte. Die Frau fuhr ihrer Tochter liebevoll mit einer Hand durchs Haar, bevor sie sich auf einen Schaukelstuhl an einem Fenster setzte und damit begann, irgendetwas zu stricken. Die Kinder musterten sich gegenseitig, wie um abzuschätzen, ob es der jeweils andere wert war, sich mit ihm abzugeben. Schließlich überwand sich Julie zu einem schüchternen Lächeln. „Hallo, ich bin Julie. Hast du Lust auf ein Kartenspiel?“ Ihre Stimme war sanft und voll von kindlicher Unschuld. Für Kuu vervollständigte es das Bild eines gütigen Engels, der von Gott auf die Erde geschickt worden war, um den Menschen wahre Güte zu zeigen. Aber all dies konnte die roten Augen nicht vertreiben, die ihn neugierig musterten. Eilig wandte er den Blick von ihr ab und sah sich stattdessen im Raum um. „Hizuri-kun?“, hörte ihr ihre Stimme fragen. Ihre verdammt freundliche Stimme. Ein ihm bisher unbekanntes Gefühl stieg in ihm auf, ein Gefühl, dass sein ganzes Inneres zum Brodeln brachte. Er brauchte einen kurzen Moment, bis er es als einen bodenlosen Hass identifizierte. „Lass mich in Ruhe“, fuhr er sie an, während seine Augen vor Wut funkelten. „Ich hab keine Lust auf dein dämliches Kartenspiel.“ Erschrocken wich das Mädchen ein paar Schritte zurück und starrte ihn mit geweiteten Augen an. Rote Augen, die sich langsam mit Tränen füllten. „A...aber....“ „Lass mich in Ruhe, du.... Heulsuse! Ich will nichts mit dir zu tun haben.“ Für ein paar Sekunden sahen die beiden sich an, dann wirbelte Julie herum und stürzte schluchzend aus dem Raum. „Julie!“, rief ihre Mutter erschrocken und ließ das Strickzeug fallen, um ihr zu folgen. „Schatz, warte! Was ist denn los?“ Kuu starrte den beiden weiblichen Geschöpfen reglos hinterher und hörte dabei zu, wie Kotonami-sans Stimme sich immer weiter entfernte. Mit etwas Glück würde er dieses Mädchen nie wiedersehen müssen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ja, so war das damals“, sinnierte Kuu feierlich und strahlte seine Klasse an, die ihm mehr (die Mädchen) oder minder (die Jungen) an den Lippen gehangen hatten. „Ich hatte mir sehr gewünscht, sie nie wieder sehen zu müssen, doch dummerweise schickten uns unsere Eltern auf dieselbe Schule, weshalb wir uns noch oft über den Weg laufen mussten.“ „Das ist ja alles gut und schön“, entgegnete Kanae gelangweilt. „Aber warum erzählen Sie uns das? Sollten Sie diese Geschichte nicht lieber für ihre Kinder aufheben?“ „Nun, meine liebe Kotonami-san. Im Grunde seid ihr alle meine Kinder.“ Ein kurzes Schweigen kehrte ein, dass erst durch Kyoko wieder unterbrochen wurde: „Wie kommt es, dass Sie dann trotzdem geheiratet haben?“ „Nun, das ist eine gute Frage, die wir augenblicklich auf die aktuelle Politik übertragen können.“ Ein allgemeines Stöhnen erklang und Reino fuhr bedauernd damit fort, seine kleine Kritzelei zu vervollständigen, während er insgeheim Sho und Ren beneidete, die klug genug gewesen waren, Politik abzuwählen. Zwar musste er zugeben, dass Kuu sich gut darin anstellte, doch letztendlich hätte er darauf verzichten können. Viel lieber würde er im Moment in einem der Musikräumen sitzen und für das Musikprojekt proben, doch stattdessen musste er diese Stunde hier wohl oder übel absitzen. Gelangweilt ließ er seinen Blick nach draußen gleiten und entdeckte Sho und Chiori, die plaudernd auf einer Bank vor der Schule saßen und offensichtlich auf ihn warteten. Unwillkürlich musste er lächeln. Er war froh, in so kurzer Zeit so gute Freunde gefunden zu haben. Inzwischen waren zwei Wochen seit seiner Ankunft vergangen und er genoss jeden einzelnen Tag davon. Doch im Endeffekt war alles besser als dieses elende Waisenhaus. Endlich riss der Klang der Klingel ihn aus seinen Gedanken und er packte wie alle anderen seine Sachen ein. Gerade, als er zur Tür hinausgehen wollte, rief ihn eine Stimme zurück: „Lawliet-kun, kann ich dich bitte einen Moment sprechen?“ Verdutzt drehte er sich um und sah Hizuri-san an, der hinter dem Lehrerpult saß und ein paar Blätter durchsah. Reino zuckte mit den Schultern und ging auf ihn zu. Kuu wartete bis alle Schüler gegangen waren, dann blickte er seufzend auf. Der Jüngere runzelte die Stirn, als er den besorgten Ausdruck sah. Also würde er hier auch nicht davon verschont bleiben. Danke, O-too-san. „Wie geht es dir?“, fragte der Lehrer. „Gut, danke der Nachfrage.“ Die Beiden starrten sich einen Moment schweigend an, dann sagte der Ältere: „Takarada-san hat mir von deinem... Problem erzählt. Eigentlich hatte er gehofft, du würdest von alleine auf uns zukommen, aber das war nicht der Fall.“ „Ja, weil es nämlich kein Problem gibt“, entgegnete der Junge ruhig. „Dein Vormund hat da aber etwas anderes erzählt.“ Da er auf diese Aussage keine Antwort bekam, fuhr er fort: „Ich weiß, dass du ein guter Junge bist, voller Lebensmut und auf keinen Fall verrückt. Deshalb habe ich auch keine Ahnung, warum man es für nötig hält, dich zu Dr. Yashiro zu schicken, aber es wird einen Grund dafür geben.“ Reino merkte auf. „Moment, Dr. Yashiro? Wie in Yukihito Yashiro?“ Kuu nickte. „Meine Frau Julie fährt jeden Freitag hinunter in die Stadt. Sie hat angeboten dich mitzunehmen, damit du ihn aufsuchen kannst.“ Schicksalsergeben sah der Junge zu Boden. „Und wann ist meine erste Sprechstunde?“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Was heißt hier, du kannst heute nicht?“, rief Sho überrascht. „Wir wollten doch zusammen ins Schwimmbad gehen.“ „Tut mir Leid“, entgegnete Reino, während sie gemeinsam die Treppe im Haus der Jungen hoch stiegen. „Es muss leider sein.“ „Aber warum? Wohin musst du denn so dringend.“ „...in die... Stadt.“ Sein Freund runzelte die Stirn. „Wieso das denn?“ Sie waren an der Tür zu Rens und Reinos Zimmer angekommen. Der junge Lawliet öffnete sie, während er sagte: „Erzähl ich dir später... entschuldigst du mich bei Chiori?“ Mit diesen Worten wurde dem Blonden die Tür vor der Nase zugeworfen. Sho starrte sie verdutzt an. Was war das denn gewesen? „Na sowas“, hörte er plötzlich eine amüsierte Stimme sagen. „Habt ihr Streit?“ Er wirbelte herum und funkelte Ren an, der ihr kurzes Gespräch offensichtlich mitgehört hatte. „Als ob du wüsstest, wo er hingeht, Tsuruga.“ Das Lächeln, das der Dunkelhaarige ihm zuwarf, gefiel ihm überhaupt nicht. „Wer weiß. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“ Damit ging er an ihm vorbei und folgte Reino in ihr gemeinsames Zimmer. Sho sah ihm entsetzt hinterher. „Verdammt.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Hallo, Lawliet-kun. Ich bin Aiko Yashiro, es freut mich sehr, dich kennen zu lernen.“ „Guten Tag, Yashiro-san“, entgegnete Reino höflich. Die Frau lächelte. „Du darfst mich ruhig Aiko nennen. Ich bin nicht viel älter als du.“ Aiko Yashiro war Yukihitos ältere Schwester, auch wenn Reino das niemals erkannt hätte, hätte Julie es ihm nicht vorhin im Auto erzählt. Ihr ursprünglich braunes Haar war mit schwarzen, violetten, blauen und anderen Strähnen durchzogen und an ihrer Nase haftete ein silbernes Piercing. Ihre Kleidung stand in einem krassen Gegensatz dazu. Anstatt die üblichen Punkerklamotten, die man normalerweise bei ihrem restlichen Aussehen erwarten würde, trug sie ein blaues Sommerkleid, worüber sie eine weiße Strickjacke gezogen hatte. Offensichtlich mochte sie Extrema. Ihre Praxis befand sich in einer geräumigen Wohnung. Das Zimmer, in dem die Beiden sich befanden, machte einen wohnlichen Eindruck, der durch verschiedene Dekorationen wie Pflanzen, Bilder oder ähnliches verstärkt wurde. Typisch. „Setze dich doch, Lawliet-kun“, sagte Aiko lächelnd und bot dem Jungen Platz auf einem gemütlich aussehenden Sessel an. „Also, warum bist du hier?“, wollte sie wissen. Reino blickte auf seine Hände, die zusammengefaltet, beinahe wie ihm Gebet auf seinen Knien ruhten. „Ich... weiß es nicht.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Julie hasste ihre Zeit in der Schule. Denn obwohl sie in unterschiedlichen Klassen waren und sie jedes Mal neue Verstecke suchte, fand Kuu sie letztendlich doch. Anfangs um sie zu beschimpfen und ihr das Leben zur Hölle zu machen. Später, als er „erwachsener“ wurde, saß er einfach nur in der Nähe und beobachtete sie, immer bereit, sie auf einen Fehler hinzuweisen. Ihr persönlich war der neue Kuu lieber. Zum Einen lernte sie aus seiner Kritik und zum Anderen schützte ihn sie seine ständige Präsenz vor den anderen Schülern, die ihr Äußeres abstoßend fanden. Denn nur er durfte sie ärgern und triezen. Wenn es jemand anderes tat, würde er dafür bezahlen. Was nichts daran änderte, dass es nervig war. Auch Zuhause blieb sie von dem Jungen mit den blonden Haaren nicht verschont. „Kuu, wie schön, dass du wieder da bist?“, sagte ihre Mutter immer begeistert, von dem Freund ihres Sohnes stets begeistert. „Bleibst du zum Essen?“ „Vielen Dank, Kotonami-san. Das ist zu freundlich.“ Doch anstatt sich mit ihrem Bruder zu beschäftigen, setzte er sich immer neben sie und flüsterte ihr Gemeinheiten ins Ohr, wenn alle anderen über etwas lachten. Doch ihre Eltern verstanden diese Gesten falsch und schon bald wurde im ganzen Haus von einer vermeintlichen Romanze gesprochen. Sie konnte darüber nur verzweifeln. „Warum verfolgst du mich ständig?“, fragte sie eines Tages, als er ihr nach dem Unterricht ins Labor gefolgt war, wo sie Edelsteine züchtete. „Was habe ich dir eigentlich getan?“ „Du bist eine Heuchlerin“, hatte er darauf geantwortet. „Das hast du mir getan.“ Sie verstand erst viele Jahre später, wie er das gemeint hatte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Und? Ist deine Sprechstunde bei Aiko-chan gut gelaufen?“, fragte Julie fröhlich, während sie und Reino zurück zur Schule fuhren. „Ich... bin mir nicht sicher.“ Die Blondhaarige warf ihm einen kurzen Blick zu und schwieg. „Hizuri-san?“ „Hm?“ „Warum fahren Sie eigentlich jeden Freitag in die Stadt?“ Ein kurzes Schweigen kehrte ein, in dem nur das gleichmäßige Brummen des Motors zu hören war. Schließlich sagte sie: „Im Prinzip aus demselben Grund wie du.“ Der Junge sah sie erschrocken an. „Aber warum? Ich meine... Sie....“ „Du siehst auch nicht wie jemand aus, der eine solche Behandlung braucht“, erklärte sie ruhig. „Wirst du mir erzählen, warum du zu ihr musstest?“ Er antwortete ihr nicht, was sie dazu bewegte, zu nicken. „Dachte ich mir. Ich lass dich vor der Schule raus, dann müsstest du vor dem Abendessen noch einmal in dein Zimmer können.“ „Okay. Danke, Hizuri-san.“ Wenig später war er in seinem Zimmer angekommen. Im Licht der Abenddämmerung strahlte es ein Gefühl von tiefsten Frieden aus. Erschöpft ließ sich der Junge auf einen der Sessel fallen und schloss die Augen. Ren schien nicht da zu sein, wahrscheinlich war er schon beim Essen und Reino hatte im Moment keine große Lust, hinunter zu gehen, da er dort sicher Sho treffen und ihm Rede und Antwort stehen müsste. Warum mussten auch immer alle übermäßig besorgt sein? Mit ihm war alles in Ordnung! Oder etwa nicht? Frustriert öffnete er seine Augen und ließ sie durch den Raum schweifen, bis sie an Rens schwarzen Rosen hängen blieb. Ohne zu wissen weshalb stand er auf und ging auf sie zu. Ren stellte sie tagsüber immer auf das Fensterbrett, damit sie soviel Sonne wie möglich ab bekamen, doch sobald es dunkel wurde, nahmen sie auf dem Schreibtisch Platz. Fasziniert betrachtete er das vollkommen schwarze Blatt. Wie diese Frau von der sein Mitbewohner diese Rosenart wohl züchten konnte? „Im Prinzip gibt es gar keine schwarze Rosen. Die, die du in den Blumenläden siehst, sind meistens nur gefärbt und nicht natürlich. Dabei versuchen Botaniker auf der ganzen Welt eine echte, schwarze Rose zu züchten, doch bisher konnten sie nur dunkelrote oder dunkelblaue erschaffen.“ „Aber du wirst es schaffen?“ Die Frau lächelte und ließ ihre Finger über die Samen gleiten, welche vor ihr liegen. „Ja. Das wird es, Maria. Damit werden wir reich werden und endlich von diesen Ort weg können.“ „Wirklich?“ „Wirklich.“ Mit geweiteten Augen starrte Reino die Blumen an. „Nein“, murmelte er. „Warum...?“ Entsetzt wich er vor den Blumen zurück und schüttelte den Kopf. „Nein... das hab ich mir nur eingebildet. Ganz sicher.“ „Was hast du dir nur eingebildet?“, fragte eine ihm nur allzu bekannte Stimme neugierig. Der Blondhaarige fuhr herum und starrte die Person an, die vor ihm stand. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Im Speisesaal der Jungen herrschte eine entspannte Atmosphäre. Da es Freitagabend war, planten viele einen Ausflug ins örtliche Kino oder das Kaufhaus zu gehen, welches extra für die Schüler am Wochenende lange geöffnet hatte, da es sich dadurch einen größeren Umsatz versprach. Ein Junge konnte sich der allgemeinen Hochstimmung jedoch nicht anschließen. Sho saß auf einem Stuhl gegenüber von Kuu Hizuri und starrte diesen mit Hundeaugen an. „Bitte, Hizuri-san, ich muss wissen, wohin Reino gegangen ist!“ Der Lehrer lächelte nachsichtig. „Er wird es dir schon selbst erzählen, sobald er wieder da ist.“ Schmollend verschränkte der Schüler die Arme und funkelte den Älteren an. „Kommen Sie schon, so wie sie sich verhalten, muss es ja etwas schlimmes sein.“ Ein leises Lachen vom anderen Ende des Tisches ertönte, wo Ren und Yashiro saßen. Sho wandte sich zu den Beiden um und bemerkte, dass der Dunkelhaarige ihn amüsiert musterte. „Was ist bitte schön so komisch, Tsuruga-kun?“, knurrte er. „Nichts besonders, Fuwa-kun“, entgegnete Ren grinsend. „Deine Ungeduld ist nur äußerst amüsant.“ Kuu und Yashiro brachen in lautes Gelächter aus, während Sho innerlich die verschiedensten Möglichkeiten durch ging, mit denen man das Leben eines Menschen beenden könnte. „Dann sag du mir doch, wo sich dein Zimmerkumpan rumtreibt.“ „Ganz einfach: er musste zum Arzt.“ Sho starrte ihn schockiert an. Zum Arzt? Das war es, was der Andere ihm nicht hatte sagen könne? Aber warum? Immerhin musste jeder mal zum Arzt. Denn jeder war ab und zu krank. Moment. „Er ist krank?“, fragte er seinen Lehrer erschrocken. Sofort hörte Ren auf zu grinsen. Ja, diese Frage hatte er sich auch gestellt, als Reino ihm davon erzählt hatte. Kuu musste unwillkürlich lächeln, als er die Besorgnis in den Augen des Dunkelhaarigen sah. Er hatte noch nie gesehen, dass sich dieser um jemand anderen als Yashiro gesorgt hatte – zumindest ernsthaft. „Keine Sorge, es ist nichts lebensgefährliches. Allerdings wird er wohl jede Woche mit Julie mitfahren müssen.“ „Das hört sich allerdings ernst an“, bemerkte Yashiro besorgt. „Ist es etwas chronisches?“ „Jungs“, rief Kuu lachend, „fragt ihn das doch selbst. Immerhin ist das etwas sehr persönliches.“ Er ließ seinen Blick auf seine Armbanduhr schweifen und runzelte die Stirn. „Allerdings ist er schon etwas spät dran... Ren gehst du mal auf dein Zimmer und schaust, ob er dort ist?“ „Natürlich, Hizuri-san“, entgegnete der Dunkelhaarige sofort und stand auf. Sho beobachtete schmollend, wie er den Raum verließ. Warum hatte Takarada-san Reino eigentlich nicht zu ihm ins Zimmer stecken können? Kuu wandte sich derweil besorgt seinem Essen zu. Er hoffte, dass sein Schüler wirklich in seinem Zimmer war. Denn das bedeutete, dass auch Julie im Haus der Mädchen angekommen sein müsste. Zumindest hoffte er es. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Was Kuu an Julie Kotonami wirklich hasste, war ihre Freundlichkeit. Wenn sie mit diesen breiten Lächeln durch die Schule ging und jeden gut gelaunt grüßte, den sie kannte, egal, ob es für sie ein guter oder schlechter Tag war. Egal, ob sie Geburtstag hatte oder ihr Großvater gestorben war. Egal, ob die Person vor ihr freundlich zu ihr war oder ihr den Tod an den Hals wünschte. Doch am schlimmsten war ihr Verhalten ihm gegenüber. „Guten Morgen, Hizuri-kun“, sagte sie fröhlich. „Wie geht es dir heute?“ Er starrte sie dann immer an, den Engel, der sein ganzes Leben damit verbrachte, anderen Menschen Freude zu bereiten. Dieses heilige Wesen, das alle liebten, die sich für sie Zeit nahmen. Und wie konnte man sie nicht lieben? Immer voller Optimismus, immer gut gelaunt, immer liebevoll und offensichtlich ohne Folgen. Hatte man sie jemals schreien sehen? Nein. War sie jemals traurig? Nein. Und war sie jemals unfreundlich? Nein. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, der angeblich jedes Wochenende auf einer anderen Drogenparty war, täglich die Freundin wechselte und den Traum hegte, ein Rockstar zu werden. Die Leute war nur erleichtert, dass es sein bester Freund Kuu Hizuri regelmäßig schaffte, ihn aus den Schwierigkeiten herauszuholen. „Guten Morgen, Monster“, beantwortete Kuu ihren Gruß und benutzte damit seinen Lieblingsspitznamen. „Mir ging es gut, danke. Zumindest bist du dich dazu entschlossen hast, mit mir zu reden.“ Sie sah ihn ausdruckslos an, während mehrere Leute in der Umgebung ihm böse Blicke zuwarfen. „Und wie geht es dir heute morgen?“, fuhr er mit einem charmanten Lächeln fort, bei dem jedes andere Mädchen rot anlief und ihm ein schüchternes Lächeln schenkte. Für einen Moment schien es, als würde sie sich umdrehen und beleidigt davon spazieren, doch stattdessen erwiderte sie sein Lächeln und entgegnete: „Sehr gut, danke.“ An dem vorangegangen Abend war ihre Mutter gestorben. Kuu hasste ihre Fröhlichkeit, ihren Optimismus, ihre Höflichkeit. Es war einfach unmenschlich. Jeder war einmal wütend, jeder hasste, jeder weinte, jeder schrie sich die Seele aus dem Leib, wenn einem alles, was er liebte genommen wurde. Nur ein Dämon konnte darüber hinwegsehen und lachen. Da war er sich sicher. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Reino sah Ren überrascht an. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, wie dieser hereingekommen war. Der Dunkelhaarige musterte ihn währenddessen mit einer leichten Besorgnis. Der andere (und Jüngere, wie er vor kurzem erfahren hatte) sah ungewöhnlich blass aus, außerdem hatte er auf seine Ansprechversuche nicht reagiert, während er seine Rosen angesehen hatte. Vorsichtig ging er einen Schritt auf ihn zu. „Reino, ist alles in Ordnung?“ „Ähm... ja, du hast mich nur erschreckt“, erklärte der andere und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ich habe mehrmals deinen Namen gerufen.“ Ein kurzes Schweigen kehrte ein, bevor dem Jüngeren ein „Oh“ entwich. „Was hast du eigentlich bei den Rosen gemacht?“, fuhr der Dunkelhaarige fort. „Und warum bist du hier? Es gibt Essen.“ Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht. „Fuwa wartet auch schon sehnsüchtig auf dich.“ Der Blondhaarige blinzelte. Was... war das denn für ein Tonfall? „Ren?“ Angesprochener blickte auf und schenkte ihm ein Lächeln. „Ist dein Arztbesuch gut gelaufen?“ „Ähm.... ja...“ „Das freut mich. Wollen wir hinunter gehen? Es gibt gebratene Tomaten“, fügte er zwinkernd hinzu. Reino sah ihn verdutzt an, bevor er wieder Lächeln musste und seinem Freund aus dem Zimmer folgte. Ren war wirklich sehr aufmerksam, zumindest hatte sonst noch niemand bemerkt, wie sehr er gebratene Tomaten liebte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ah, da ist ja unser verlorenes Lämmchen!“, rief Kuu, als er Reino und Ren hereinkommen sah. „Setz dich zu uns, sonst wird Sho-kun hier noch vor Sorge umkommen.“ Sho schmollte, während Yashiro, Ren und Reino lachten. „Und? Ist alles zu deiner Zufriedenheit gelaufen?“, erkundigte sich der Lehrer, während sich Reino neben Sho setzte und Ren seinen alten Platz einnahm, welcher sich zufälligerweise auf der anderen Seite des Lämmchens befand. „Hm... wie man's nimmt“, entgegnete er munter. „Am liebsten würde ich ja ganz darauf verzichten, doch da das nicht geht, ist es so schon in Ordnung.“ „Das freut mich“, meinte er nickend. „Bei so einem Fall wie deinem ist es gut, wenn man sich mit dem behandelten Arzt gut versteht.“ „Warum musst du eigentlich jede Woche zum Arzt?“, fragte Sho. Reino fiel auf, dass sie fünf und die Essensausgeberin die einzigen waren, die sich noch im Speisesaal befanden. Hatte er wirklich so lange gebraucht? „Ich... würde lieber nicht darüber reden, wenn es okay ist.“ „Aber...“, warf der Blondhaarige ein. „Hey, du hast ihn gehört. Er will nicht darüber reden“, rief Ren und Sho schloss schmollend seinen Mund. Reino jedoch warf dem Dunkelhaarigen einen dankbaren Blick zu, was von Yashiro und Kuu amüsiert beobachteten. Eins zu Null für Ren. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Julie fand an einem Samstag heraus, weshalb Kuu Hizuri sie so sehr hasste. Es war der zwanzigste Geburtstag ihres Bruders, der dieses „Event“ mit einer wilden Party feierte, die sein Vater niemals zugelassen hätte, hätte er davon gewusst. Doch bedauerlicherweise befand dieser sich zur Zeit auf Geschäftsreise. Deshalb war das Haus nun gefüllt mit den verschiedensten Schülern ihrer Schule. Die Schwester des Geburtstagskindes stand alleine in einer Ecke des meist gefüllten Zimmers und nippte ab und zu an ihrer Bierflasche, während ihre Augen besorgt auf ihren Bruder gerichtet waren, der so aussah, als würde er gleich hier und jetzt mit einer ihrer Klassenkameradinnen Sex haben. Tatsächlich entstand später in dieser Nacht ihre spätere Nichte Kanae, doch das ist eine andere Geschichte. Kuu, dem das Verhalten seines Freundes langsam zu blöd war, schnappte sich zwei Cocktails vom Büffettisch und ging auf das Mädchen zu, das in den letzten Jahren beinahe immer seine ungeteilte Aufmerksamkeit genossen hatte dürfen. Viele andere Mädchen hatten sie immer darum beneidet, selbst jene, mit denen er seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hatte. „Sobald es um Julie Kotonami geht, schaltet sein Kopf auf“, erklärten sie. Nun, sie hatten Recht. „Juliella!“, flötete er mit seiner verführerischsten Stimme. „Ich wusste gar nicht, dass du alkoholische Getränke magst.“ Angesprochene warf ihm einen misstrauischen Blick zu, was ihn unwillkürlich stoppen ließ. Bisher hatte sie selbst auf seine gemeinsten Beschimpfungen nur mit einem Lächeln geantwortet. Seltsam. Ob es an dem Alkohol lag? „Was willst du Hizuri?“ „Na sowas? Warum denn so feindselig? Ich wollte doch nur hallo sagen.“ „Wenn du hallo sagst, heißt es in der Regel nichts Gutes“, entgegnete sie kühl und wandte sich ab. Verärgert stellte er die beiden Gläser, welche er gehalten hatte auf einen Tisch in der Nähe und griff nach ihrem Arm, um sie um zu drehen. So kam es, dass er ihr das erste Mal seit ihrer ersten Begegnung wieder in die Augen sah. Bisher hatte er es immer vermieden, weshalb er vergessen hatte, wie sie aussahen und was für eine Kraft sie hatten. Das erste Mal in seinem Leben sah er in das Innere von Julie und dort war nichts von Fröhlichkeit und Optimismus. Dort sah er Trauer, Wut und Hass. Hass auf ihn, der sie die ganzen Jahre verachtet, gedemütigt und geärgert hatte. Der ihr nie in die Augen sah. Und somit nie erkannte, dass sie ihn liebte. Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ Kuu seinen Kopf nach vorne schnellen und legte seine Lippen auf ihre. Die Wahrheit war, an dem Tag, an dem er ihre Augen das erste Mal sah, hatte er sein Herz an sie verloren. Denn in ihnen sah er den stummen Ruf eines gefallenen Engels, der aus seiner Einsamkeit befreit und geliebt werden wollte. Doch das Mädchen hatte es nie zugelassen, hatte sich immer hinter ihrem hübschen Gesicht versteckt und allen etwas vorgespielt. Doch das würde jetzt vorbei sein. Er würde die wahre Julie hervorholen. Die Ohrfeige, die er nach dem besten Kuss seines Lebens bekam, war nur der Anfang. Der Anfang von etwas viel Größerem. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Lächelnd beobachtete der Lehrer seine Frau, die vor dem Laptop saß und eilig eine E-Mail an eine Freundin schrieb. Langsam trat er hinter sie und schlang die Arme um ihren Oberkörper, der sich nach einem kurzen Zögern an ihn schmiegte. Wohlig seufzend vergrub er sein Gesicht in ihren Haaren und sagte: „Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich liebe?“ Er hörte, wie sie leise gluckste. „Ja, mindestens tausend Mal am Tag unserer Hochzeit und eine Millionenmal davor und danach. Lass mich diese Mail zu Ende schreiben, Kuu!“ Anstatt von ihr abzulassen, verstärkte er seine Umarmung. „Ich hab aber etwas viel spannenderes als deine Mail.“ „Und das wäre?“, fragte Julie desinteressiert. Kuu grinste. „Dafür musst du schon ins Schlafzimmer kommen.“ Als Kuu Hizuri Julie Kotonami zum ersten Mal sah, beschloss er zwei Dinge: erstens, ihr das Leben zu Hölle zu machen und sie eines Tages zu heiraten. Manche würde behaupten, dass dieser Entschluss keine Logik hätte, doch für ihn war es eines der natürlichsten Dinge auf der ganzen Welt. _______________________________________ Sooo, das war es auch schon wieder. Ich bin ganz ehrlich: Ich liebe dieses Kapitel. *____* Ich kann mich nicht mal entscheiden was das schönste ist: Die Beziehung zwischen Julie und Kuu oder die Sticheleien zwischen Ren und Sho. XD Deshalb bin ich auch schon sehr gespannt, wie ihr das seht. Doch jetzt erst einmal ein gaaanz großes Dankeschön an Redis, Kyoko-Hizuri, BlackAngel und Susilein (ich hoffe, das Kap war nach deinem Geschmack ^.~). Das nächste Mal geht es mit einen Blick in die Beziehung zwischen Kyoko und Kanae weiter, freut euch schon mal drauf. Bis dann, eure Ayako Kapitel 5: Listen to the Rain ----------------------------- Listen to each drop of rain Whispering secrets in vain Frantically searching for someone to hear Their story before they hit ground Please don't let go Can't we stay for a while? It's just too hard to say goodbye Evanescence – Listen to the Rain ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Die Schuhe standen wieder da. So wie beinahe jeden Tag in letzter Zeit. Ordentlich nebeneinander gereiht am Fuße des Schuhschrankes. Es waren immer dieselben beiden Exemplare aus schwarzem, polierten Leder. Sie wirkten so unschuldig und friedlich. Niemand, der zufälligerweise an ihnen vorbeigekommen wäre, hätte sie beachtet, denn sie waren nur ein weiteres Paar von vielen, die man in der ganzen Stadt finden konnte. Jeder Krawattenträger lief in ihnen, anscheinend waren sie zur Zeit in Mode. Das Mädchen stand an der offenen Haustür und starrte sie an. Ihre Schultasche war ihr schon vor einiger Zeit aus den Händen gefallen, um nun unbeachtet auf dem Boden zu liegen, während der Inhalt der halboffenen Wasserflasche sich auf dem Boden verteilte. In dem Haus herrschte ein bedrückendes Schweigen, nur irgendwo am anderen Ende schien jemand das Radio laufen zu haben. Schließlich war es in der Lage, seinen Blick von den Schuhen zu lösen und drehte sich stattdessen zur Garderobe um. Wie vermutet hing dort der schwarze Mantel. Schwarz. Die richtige Farbe für diese Person. Für einen Moment überlegte die Schülerin, ob man sie schon bemerkt hatte – ansonsten könnte sie nämlich flüchten – doch in diesem Moment rief eine Stimme: „Kyoko, bist du das?“ Eine junge Frau trat aus einem der Räume am Ende des Korridors und betrachtete das Mädchen kritisch. Die sonst immer ordentlich hoch gesteckten Haaren, fielen heute wirr über ihre Schultern. Sie trug nichts weiter als eine schwarze Reizwäsche und einen Bademantel, den sie achtlos übergeworfen hatte, für den Fall, dass es sich um jemand wichtiges handelte. In ihrer rechten Hand hielt sie eine halb niedergebrannte Zigarette, die einen unangenehmen Duft verbreitete. „Schließ die Tür, Kind“, befahl sie barsch. „Es ist nicht mehr Mitte Julie, selbst wenn du das vielleicht denkst.“ „Ja, Kaa-san“, entgegnete das Mädchen leise und ließ die Tür ins Schloss fallen. Der dabei entstehende Knall, hallte noch eine ganze Weile in ihrem Kopf wider. Unwillkürlich fühlte sie sich, als hätte sie sich soeben selbst eingesperrt. „Wo bist du solange gewesen?“, fragte die Frau und zog an ihrer Zigarette. „Du hättest schon vor dreißig Minuten Zuhause sein müssen.“ „Entschuldige, Kaa-san. Ich habe den Bus verpasst und musste auf den nächsten warten.“ „Warum hast du den Bus verpasst?“ „Weil ich Tafeldienst hatte“, flüsterte Kyoko, während sie versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Zeig ihr keine Schwäche. Sobald du das tust, hast du verloren. „Dann hättest du schneller sein müssen“, erwiderte die Frau ungnädig. Das Mädchen starrte schweigend zu Boden und schwieg. Ihre Mutter schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Geh auf dein Zimmer und verhalte dich ruhig. Ich will nicht gestört werden, verstanden?“ „Ja, Kaa-san.“ „Und wisch davor diese Sauerei auf“, rief sie, während sie bereits wieder in dem Raum verschwand, aus dem sie gekommen war. „Du weißt, dass der Parkettboden Wasser nicht verträgt.“ Kyoko starrte ihr schweigend hinterher, während stumme Tränen über ihre Wange liefen. Damals war sie sieben Jahre alt. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Dieser Lawliet gefällt mir überhaupt nicht“, verkündete Kanae und starrte Ren wütend an. „Er tut immer so lieb und nett, das kotzt mich an!“ „Ist dir vielleicht schon einmal die Idee gekommen, dass er wirklich nett sein könnte?“, fragte der Dunkelhaarige, ohne von seinem Buch aufzusehen. „Nett? Dass ich nicht lache! Solche Leute sind nie nett! Es ist genau wie bei dir. Alle denken, du bist der freundlichste, friedfertigste und großzügigste Mensch auf Erden, doch letztendlich bist du nichts als ein widerwärtiger Egoist!“ In aller Ruhe wurde die Seite des Buches umgeblättert. Als jedoch die erwartete Fortsetzung des Monologs ausblieb, blickte Ren überrascht auf. „Nanu? Schon fertig?“ „Was soll das jetzt wieder heißen?“, fuhr sie ihn augenblicklich an. „Ganz einfach, dass wir alle eine längere Rede von dir erwartet haben“, kommentierte Yashiro gähnend. „Kann es sein, dass ihr euch über mich lustig macht?“ Niemand antwortete ihr. „Schön“, rief sie und ließ sich aufs Gras fallen, um dort schmollend die Arme zu verschränken und die Jungen böse anzustarren. Kyoko, die bisher geschwiegen hatte, legte seufzend ihr Buch beiseite. „Kanae, hör auf, Reino-kun immer schlecht zu machen. Er ist wirklich ein sehr netter Mensch und ein talentierte Musiker.“ „Du brauchst ihn ja nur für das Konzert am letzten Schultag“, brummte die Schwarzhaarige verstimmt. „Ansonsten wäre er dir vollkommen egal.“ „Wie kommt ihr eigentlich mit euren Vorbereitungen voran?“, fragte Yashiro hastig, um das Gespräch auf ein sicheres Gebiet zu lenken. „Relativ gut“, erklärte Kyoko. „Wir konnten uns zumindest darauf einigen, dass für ein Musical zu wenig Zeit ist, deshalb machen wir eine Zusammensetzung mehrerer Stücke für Orchester und Chor aus allen Musikepochen, die alle zu einem Thema passen werden.“ „Und was für ein Thema ist das?“, hakte Yashiro nach. „Die vier Jahreszeiten“, antwortete Ren zur allgemeinen Überraschung. „Reino hat es mir erzählt“, fügte er hinzu, als er die verblüfften Blicke der Anderen bemerkte. Augenblicklich verfinsterte sich Kanaes Blick wieder, während Yashiro ein Lächeln unterdrückte und Kyoko die Augen verdrehte. „Er hat natürlich Recht“, bemerkte sie schließlich. „Wobei jede Jahreszeit symbolisch für etwas anderes stehen wird: Der Frühling für die Liebe, der Sommer für die Freude am Leben, der Herbst für die Vergänglichkeit aller Dinge und der Winter für Weihnachten.“ „Ihr werdet doch nicht etwa mitten im Sommer Weihnachtslieder singen, oder? Das wäre schon etwas unlogisch“, meinte Yashiro. „Keine Sorge, es sind keine Weihnachtslieder in diesem Sinne, sondern eher bekannte Stücke wie The Power of Love, What Child is this beziehungsweise Greensleeves oder natürlich Merry Christmas, Mr. Lawrence.“ „Da wird sich Shoko-san aber freuen“, kommentiere Ren diese Auflistung. „Das hat sie sich ja schon seit Jahren gewünscht.“ „Stimmt.“ Daraufhin folgte ein länger anhaltendes Schweigen, in dem Ren, Yashiro und Kyoko sich wieder in ihren Schulbüchern vergruben und Kanae ihren Blick gelangweilt über die Wiese im Zentrum des Schulgeländes schweifen ließ. Es war ein sonniger, warmer Tag, weshalb sich viele Schüler außerhalb der Gebäude versammelt hatten. Auch die vier Freunde hatten sich aus diesem Grund in die freie Natur begeben und sich ein Stückchen freien Grases gesucht, um den Tag entspannt ausklingen zu lassen. „Na sowas“, sagte Kanae plötzlich, was die anderen dazu veranlasste, aufzublicken. „Sind das dahinten nicht Fuwa und Amamiya?“ Tatsächlich liefen unweit von ihnen Sho und Chiori plaudernd einen Pfad entlang, der aus der Schule hinaus in die Stadt hinunter führte. „Warum sind sie denn so allein? Läuft da etwas zwischen den Beiden?“ „Das glaube ich kaum“, murmelte Ren. „Wahrscheinlich laufen sie nur in die Stadt, um dort Reino aufzugabeln und ihn danach in diesen Film zu schleifen, von dem Fuwa so geschwärmt hat.“ „Was macht Lawliet bitte schön um diese Uhrzeit in der Stadt?“, fragte Kanae verwundert. „Es ist Freitag, da entspannt man sich erst einmal von der Schule, bevor man weggeht!“ „Er muss jeden Freitag zu einem Arzt“, erklärte Kyoko. „Deshalb ist er dort unten.“ Alle sahen sie verblüfft an. „Woher weißt du das schon wieder?“, wollte Ren wissen. „Ich habe gehört, wie sich Hizuri-san und Takarada-san darüber unterhalten haben. Allerdings kann ich euch auch nicht sagen, was er dort unten treibt.“ Dabei warf sie ihrem Verlobten einen fragenden Blick zu. „Ich weiß auch nichts“, erwiderte er ruhig. „Er hat mir nichts genaueres erzählt.“ „Tatsächlich?“, hakte Kanae überrascht nach. „Ich hätte eher gedacht, ihr beide wärt ein Herz und eine Seele und er würde dir jedes Detail seines Lebens erzählen.“ „Kanae, nur weil wir uns gut verstehen, heißt es nicht, dass wir ein Herz und eine Seele sind.“ „So sieht es aber aus“, bemerkte sie. „Fast, als würdet ihr euch ewig kennen.“ Bevor Ren etwas erwidern konnte, rief Yashiro wütend: „Sei nicht lächerlich, Kanae! Du beginnst, dich da in etwas hineinzusteigern! Du bist doch nur verstimmt, weil wir deine Hetzerei gegen Reino nicht unterstützen!“ Ren und Kyoko hielten erschrocken die Luft an, während Kanaes Blick mit einer unheimlichen Ruhe auf den Blondhaarigen gerichtet war. Ganz langsam drehte sie ihren Kopf, sodass sie Kyoko und Ren sehen konnte. „Seid ihr auch dieser Meinung?“ Sie antworteten ihr nicht. „Schön“, rief sie und stand auf. „Wenn ihr genug von mir habt, müsst ihr das nur sagen. Ich dränge mich anderen Leuten nicht auf.“ Damit wirbelte sie herum und stolzierte davon. Die drei verbliebenen sahen ihr hinterher. „Sollte ihr nicht besser irgendjemand folgen?“, fragte Kyoko besorgt. „Ihr wisst, wie sie in diesem Zustand sein kann.“ „Wenn du unbedingt den Märtyrertod sterben möchtest, halten wir dich nicht auf“, entgegnete Ren und stand ebenfalls auf. „Ich bin auf meinem Zimmer falls mich jemand sucht.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ein paar Wochen später standen neue Schuhe da. Es waren braune Cowboystiefel, die bei jedem Schritt einen klirrenden Laut erzeugten. Kyoko liebte die Tage, an denen sie diese Boten des Glücks sah. Es bedeutete, dass er da war: Shigeru Tsuruga. Shigeru war ein erfolgreicher Schauspieler, der weltweit bekannt war und geliebt wurde. Er war verheiratet, doch die Ehe kriselte, weshalb er sich den ein oder anderen Seitensprung erlaubte. Tatsächlich war sein Sohn, der in Kyokos Alter war, der einzige Grund, weshalb er bislang nicht die Scheidung eingereicht hatte. Trotz allem war er nie einer von Saena Mogamis Geliebten. „Dein Vater und ich gingen auf dieselbe Schule“, erklärte Shigeru dem Mädchen eines Abends. „Er hat mir damals oft aus der Patsche geholfen. Deshalb fordert er jetzt meine Schuld ein, indem ich ein Auge auf euch werfe.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, während sie leise kicherte. „Hast du etwas Neues von meinem Mann gehört?“, fragte ihre Mutter fröhlich. Sie war immer gut gelaunt, wenn er da war. An diesen Tagen behandelte die Frau sie auch nicht wie einen Störfaktor, sondern wie die Tochter, die sie eigentlich war. „Ja, er will spätestens zu Silvester wieder da sein“, erwiderte der junge Mann. „Damit er das neue Jahr bei seiner Familie verbringen kann.“ „Da tut er endlich etwas vernünftiges“, meinte Saena und zog an einer weiteren ihrer Zigaretten. Es war eine friedliche Zeit, in der Kyoko sich sicher und geliebt fühlte. Eine Zeit, die viel zu schnell verging. Denn bald darauf machte ihre Hoffnung, ihr Licht, ihr Erretter den Vorschlag, der ihr Leben für immer bestimmten sollte: „Sag, warum verloben wir unsere Kinder eigentlich nicht?“ Plötzlich war sie jemanden versprochen, den sie nie zuvor getroffen hatte. Plötzlich war ihre ganze Zukunft darauf ausgerichtet, dieser Person eine gute Ehefrau zu sein. Plötzlich war sie dazu bestimmt, erwachsen zu werden. Aber wie konnte ein gerade mal achtjähriges Mädchen erwachsen sein? ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Aiko lächelte Reino freundlich an. „Wie geht es dir heute?“ Der Blondhaarige saß ruhig auf ihrem Sofa (er weigerte sich, sich hinzulegen) und starrte auf die Teetasse in seinen Händen. „Gut, und dir?“ „Oh, ich kann nicht klagen“, erwiderte sie fröhlich. „Was macht das Leben, mein Lieber? Geht euer kleines Musikprojekt voran?“ Reino konnte nicht anders, als nun ebenfalls zu lächeln. „Ja, wir machen große Fortschritte. Shoko-san meint, dass es ein wunderbares Konzert werden wird.“ „Also ist es nicht gefährlich, zu kommen?“, hakte sie nach. „Ich kann es meinen Patienten nämlich nicht antun, plötzlich zu sterben.“ Damit brachte sie ihn zum Lachen, was sie beabsichtigt hatte. „Keine Sorge, so schlechte Musiker hat unsere Schule dann doch nicht.“ „Das freut mich zu hören.“ Ein kurzes Schweigen senkte sich über die Beiden, das der Jüngere dafür nutzte, an dem Tee zu nippen. Er war ihm etwas zu bitter, doch im Endeffekt besser, als das Leitungswasser, welches er früher bei solchen Sitzungen aufgetischt bekommen hatte. Wahrscheinlich, weil Aiko für ihren Job um einiges mehr Geld bekam, als ihre Vorgänger. „Aiko?“ „Hm?“ Sie sah ihn neugierig an. Es war selten, dass er freiwillig das Wort an sie richtete, normalerweise beantwortete er jeden Nachmittag geduldig ihre Fragen oder schwieg sie an, bis Julie vorbei kam, um ihn abzuholen. „Was ist das für ein Tee?“ Überrascht hob sie eine Augenbraue. Er fragte nach dem Tee? Warum? „Das ist eine Spezialmischung aus Rens Heimatstadt“, erklärte sie. „Yukihito hat sie mir als Souvenir mitgebracht, als er vor ein paar Monaten eine Woche bei ihm zu Besuch war. Warum fragst du?“ Nachdenklich ließ er die Tasse in seinen Händen kreisen. „Ich bin mir nicht sicher.“ „Bei was?“ „Na ja... es kommt mir nur so vor... als... hätte ich ihn schon einmal getrunken.“ „Schon einmal getrunken?“, wiederholte sie leise. „Du meinst... vor deiner Zeit im Waisenhaus?“ Reino nickte zögernd. „Und weißt du wo? Und wann?“ „Ich...“ „O-nii-chan! O-nii-chan! Kaa-san hat Tee gekocht, möchtest du auch eine Tasse?“ Das Mädchen mit den blonden Locken rannte auf ihren großen Bruder zu, während sie zwei Tassen in ihren Händen trug. Die Flüssigkeit spritzte bei jedem ihrer Schritte durch die Gegend und hinterließ eine deutlich sichtbare Spur auf dem Teppich. „Maria!“, rief der Junge und sah sie tadelnd an. „Sei vorsichtiger!“ „Entschuldige O-nii-chan“, sagte sie ehrfurchtsvoll und reichte ihm eine nun halb volle Tasse. Amüsiert den Kopf schüttelnd nahm er sie entgegen und nippte daran. Maria tat es ihm augenblicklich nach und verzog angeekelt das Gesicht. „Iiiiih, ist das bitter!“ Der Junge lachte. „Du weißt doch, dass Kaa-sans Tee nicht solange ziehen darf, Maria.“ „Du hast Recht.... entschuldige.“ Ihr Bruder lächelte. „Ist doch nicht schlimm. Dann musst du jetzt einfach den bitteren Tee trinken.“ Augenblicklich erwiderte sie sein Lächeln. „O-nii-chan?“ „Hm?“ „Wenn ich groß bin, werde ich dich heiraten.“ Eine Hand auf seiner Schulter brachte ihn zurück in die Gegenwart. Er lag mit dem Rücken auf dem Sofa. Neben ihm kniete Aiko, hinter der eine besorgt drein blickende Julie stand. „Reino-kun, ist alles in Ordnung?“, fragte die Lehrerin. Doch der Junge hatte seinen Blick unverwandt auf seine Therapeutin gerichtet. „Eine Schwester“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Ich hatte eine Schwester.“ Und dann wurde seine Welt schwarz. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Was sollte das heißen?“, fragte Julie verdutzt und starrte Aiko an. „Entschuldige, Julie, aber ich darf die Probleme meiner Patienten nicht einfach irgendjemanden erzählen. Möchtest du eine Tasse Tee?“ „Der Junge ist ohnmächtig geworden!“, rief die Lehrerin gereizt. „Und du denkst an eine Tasse Tee?“ „Das ist vollkommen normal. Sein Gehirn muss einen Flashback erlebt haben, da kommt es schon vor, dass es sich zum Selbstschutz abschaltet.“ „Muss ich das verstehen?“ „Weißt du, weshalb Reino hier ist?“ „Takarada-san meinte, wegen retrograder Amnesie... was immer das auch ist.“ „Da hat er vollkommen Recht“, erwiderte Aiko nickte und setzte sich entspannt auf einen in der Nähe stehenden Sessel. „Reinos Gedächtnis setzt an dem Tag ein, an dem er in einem Krankenhaus aufwachte und kurze Zeit später in das Waisenhaus kam. Alles, was er wusste, war sein Name und Dinge, die er in der Schule gelernt haben muss. Doch sein eigenes Leben, alles biografische war verschwunden.“ „Das hört sich ziemlich schräg an.“ „Oh, es ist vollkommen normal.“ Sie sah den Jungen besorgt an. „Vor diesem Tag muss etwas schreckliches passiert sein, dass sein Gehirn dazu verleitet haben muss, alles zu vergessen.“ „Und.... was machen wir jetzt?“, fragte Julie. „Warten, bis er wieder aufwacht. Oder du rufst deinen Mann an, damit er dir dabei hilft, ihn wieder in die Schule zu bringen.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kyoko gehörte in der Schule zu jenen, die von allen geliebt wurden. Sie war als ein fröhlicher, sorgenfreier Mensch bekannt, der immer bereit war, jedem zu helfen. Deshalb war es für viele eine Überraschung, als sie sich mit Kanae Kotonami anfreundete, ein rebellisches Mädchen, das immer zuerst mit den Fäusten antwortete, bevor sie jemanden zuhörte. Für Kanae war ihre Freundschaft zu Kyoko mit einer Rettung gleichzusetzen. Immer von allen verachtet und mit einem schwierigen Elternhaus gestraft, war sie daran gewöhnt, sich alleine durchs Leben zu kämpfen und von allen Ablehnung zu erfahren. Kyoko jedoch stand zu ihr, hörte ihr zu und brachte wieder Licht in ihr dunkles Leben. Allerdings glaubte auch sie wie alle anderen, dass ihre Freundin keine größere Probleme hatte, besonders da Sanea ein sehr großzügiges Verhalten an den Tag legte, wenn jemand zu Besuch kam. Natürlich wusste die Schwarzhaarige, dass ihr beste Freundin verlobt war. Allerdings war das auch das einzige, worüber sie informiert worden war. Ihre Samstage verbrachte Kyoko meist in der nächsten Kleinstadt, die etwa zehn Kilometer entfernt lag. Dort lebte in einer schönen Villa die Familie Tsuruga. Anfangs versuchte Ren noch freundlich zu ihr zu sein und seine Zeit mit ihr zu verbringen. Allerdings merkten sie schnell, dass sie besser miteinander auskamen, wenn sie sich nicht sahen, weshalb er hinunter in die Stadt verschwand, um sich dort mit irgendeinen Jungen zu treffen und sie alleine durch den nahen Wald streifte, um seiner Mutter aus dem Weg gehen zu können. Doch als sie vierzehn wurde, änderte sich alles schlagartig. „Wie du weißt, nimmt Ren einige Klavierstunden“, erklärte Tsuruga-san ihr eines Tages. „Bisher hatte sein Lehrer immer in der Woche Zeit, doch ab sofort kann er nur noch am Wochenende. Das heißt, du wirst entweder dem Unterricht beiwohnen müssen, oder nach Hause dir eine andere Beschäftigung suchen müssen.“ Mit anderen Worten: Wenn du dem Unterricht nicht beiwohnst, darfst du dich mit mir beschäftigen. Neugierig ging das Mädchen zu dem Raum, in der ein großer Flügel stand. Bisher hatte sie ihren Verlobten nie spielen hören, sie war gespannt, wie er wohl war. An diesen Tag geschahen zwei Dinge: erstens, sie lernte Rens Klavierlehrer kennen und zweitens, sie hörte das erste Mal das Stück Merry Christmas, Mr. Lawrence. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ In freudiger Erwartung blickte Ren von seinem Buch auf, als die Tür geöffnet wurde. Reino war heute spät dran und er vermisste ihre tägliche Unterhaltung vor dem Abendessen. Als er jedoch sah, wer hereinkam, verflog seine Freude wieder. Stattdessen breitete sich in ihm eine tiefe Besorgnis aus. „Was ist passiert?“ Kuu lächelte beruhigend und durchquerte langsam das Zimmer, um den Jungen, welchen er auf seinen Rücken trug auf dessen Bett abzulegen. „Keine Sorge, alles in Ordnung. Nur ein kurzer Aussetzer.“ „Ein kurzer Aussetzer?“, wiederholte Ren und stand auf, um zu seinem Zimmergenossen gehen zu können. „So sieht das aber nicht aus.“ „Er musste heute viel verarbeiten“, erklärte Kuu und zog dem Schlafenden die Schuhe aus. „Lassen wir ihn einfach schlafen, dann wird er wieder fit sein, wenn er aufwacht.“ Dies beruhigte Ren natürlich vollkommen. „Was musste er verarbeiten? Zu was für einen Arzt geht er eigentlich jede Woche? Und warum scheint es ihm hinterher immer schlechter zu gehen, als vorher?“ „Du scheinst dich sehr für ihn zu interessieren“, bemerkte Kuu lächelnd. „Natürlich. Er ist mein Freund!“ „Dann wirst du verstehen, dass es seine Sache ist, ob er dir alles erzählt, oder nicht.“ Der Blondhaarige deckte Reino vorsichtig zu und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Doch Ren hielt ihn zurück. „Ist mit ihm wirklich alles in Ordnung, Hizuri-san?“ Kuu blieb stehen und schaute zurück zu dem Dunkelhaarigen. Ein trauriges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er Rens entschlossenen Gesichtsausdruck bemerkte. „Wie lange kennst du ihn eigentlich schon, Ren?“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Sie hatte niemals schönere Musik gehörte, als jene, die Rens Klavierlehrer hervorzaubern konnte. Er war selbst noch sehr jung und studierte in der nächsten Großstadt. Um etwas Geld dazuzuverdienen, gab er Unterricht. Die einst so verhassten Samstage wurden zu den Höhenpunkten ihres Lebens. Den ganzen Nachmittag saß sie neben dem Piano und beobachtete den Lehrer, während er mit Ren Merry Christmas, Mr. Lawrence übte. Tsuruga-san und ihre Mutter verstanden dieses Verhalten falsch. „Wie es aussieht, verstehen die Beiden sich endlich“, sagte Saena eines Tages, als sie zum Nachmittagstee vorbeikam. „Ja, seitdem sie Ren bei seinen Übungen zusieht, streiten sie sich nur noch selten und sie scheint ihn nahezu anzuhimmeln“, teilte Tsuruga-san wohlwollend ihre Beobachtungen mit. „Offensichtlich stimmt es, dass Musik Mädchen erweichen lässt.“ Einzig Ren begriff, was der wahre Grund für ihre plötzliche Anhänglichkeit war. „Wenn Kaa-san und deine Mutter herausfinden, dass du dich in den Sensei verliebt hast, bist du so gut wie tot“, eröffnete er ihr eines Tages, als sie gemeinsam auf das Eintreffen ihres Gesprächsthemas warteten. Kyoko zuckte zusammen. „Ist es so offensichtlich?“ „Dass du verliebt bist? Ja. Allerdings glauben alle, ich wäre der Grund.“ Sie runzelte die Stirn. „Macht es dir etwa nichts aus?“ „Warum sollte es?“, fragte er. „Ich habe nicht darum gebeten, verlobt zu werden.“ „Und warum machst du dir dann solche Sorgen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab einfach keine Lust, da mit hineingezogen zu werden.“ „Stimmt“, bemerkte sie spitz, „du hängst lieber mit diesem Sohn dieser Blumenverkäuferin herum.“ „Genau so ist es“, entgegnete er lächelnd. „Er ist wenigstens nicht du.“ Die Nächste, die von ihrer Schwärmerei erfuhr, war keine Geringere als Kanae. „In letzter Zeit bist du ziemlich komisch“, stellte sie in einer Pause fest. Kyoko antwortete ihr nicht. „Bist du verliebt?“ „Wie kommst du darauf?“ „Du schaust manchmal so seltsam in die Ferne wie all die anderen Mädchen, wenn sie wieder an irgendeinen Jungen denken. Also? Wer ist er?“ „Niemand, den du kennst.“ „Werde ich ihn kennenlernen?“ ... „Nein.“ Und damit sollte sie Recht haben. Es war an Rens fünfzehnten Geburtstag, als aus ihrer Schwärmerei mehr wurde. Sie war eingeladen und traf auf den Klavierlehrer. Eine freundliche Unterhaltung, eine flüchtige Berührung, viele Gläser des Sekts, den ihre Mutter ihr erlaubt hatte zu trinken, das war alles, was die anderen mitbekamen. Ein zögernder Kuss, eine entschlossene Erwiderung, ein leises Lachen, eine lange Nacht voller Freude und drei Worte, die im Moment wilder Ekstase ausgestoßen wurden. Aus einer Nacht wurden Nächte. Aus einem Tag Wochen. Aus Verliebtheit Liebe. Doch... „So sehr ich dir das auch gönne, wir sind immer noch verlobt“, erklärte Ren. „Und falls du es vergessen haben solltest: ab diesem Jahr gehe ich auf ein Internat! Dann hast du keine Ausrede mehr, hierher zu kommen.“ „Wir werden schon einen Weg finden“, erwiderte Kyoko verstimmt. Ihr Optimismus wurde am nächsten Tag zerstört. „Du wirst auf dasselbe Internat wie Ren gehen“, verkündete Saena und zog an ihrer Zigarette. Erschrocken blickte ihre Tochter von den Tomaten auf, die sie gerade zerteilt hatte. „Was?“ „Du hast schon richtig gehört“, entgegnete ihre Mutter desinteressiert. „Rory Takarada ist ein guter Mann und seine Schüler genießen eine sehr gute Ausbildung. Außerdem wird Kotonami-san auch dorthin gehen, so wirst du auch nicht von deiner lieben Freundin getrennt, falls du dir deswegen Sorgen machst.“ „Aber...“ „Kein aber. Du gehst dorthin. Das ist mein letztes Wort.“ Kanae fand sie an dem Abend vor ihrer Abreise auf einer Schaukel sitzend. Es regnete in Strömen, was gut war, denn so konnte niemand ihre Tränen sehen. Schweigend stellte sie sich hinter ihre Freundin und wartete. „Er ist weg“, sagte Kyoko mit brüchiger Stimme. „Ein Monat Amerika.“ „Weiß er...“ Sie nickte. „Er hat gesagt, er wird warten bis ich wiederkomme. Dann will er um meine Hand anhalten und wir werden zusammen glücklich werden.“ „Aber du bist verlobt.“ „Ich weiß“, schluchzte sie. Ohne weiter darüber nachzudenken schlang Kanae ihre Arme um ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Während das Mädchen ohne Sorgen ihren Tränen freien Lauf ließ, lauschte die Schwarzhaarige dem Regen. Er hatte etwas beruhigendes an sich. Doch Kyoko schien diese Tatsache noch nicht erkannt zu haben. ________________________________ Wow, ich bin fertig. *verblüfft bin* Ich muss sagen, dass dieser Kapitel mir einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Zuerst wusste ich nicht, welches Lied ich nehmen soll und zweitens wie ausführlich ich das Ganze mache. Da ich diese FF allerdings nicht sooo sehr in die Länge ziehen wollte, habe ich die zwischenmenschlichen Beziehungen in diesem Kapitel nur angedeutet, um euch viel Platz für mögliche Interpretationen zu lassen. Deshalb gibt es nun auch ein großes Dankeschön an Kyoko-Hizuri, Susilein und BlackAngel für die lieben Kommentare zum letzten Kappili. *verbeug* Im nächsten schauen wir uns mal an, was für ein Leben der gute, alte Yashiro führt und vielleicht wird es auch eine erste Offenbarung geben, was Ren und Reino angeht... mal sehen, wie viel Zeit ich zum Schreiben habe. XD Ich wünsche euch eine schöne Woche! Bis bald, eure Ayako Kapitel 6: Song for a friend ---------------------------- Let's say take a break from the day And get back to the old garage Because life's too short anyway But at least it's better then average As long as you got me And I got you You know we'll got a lot to go around I'll be your friend Your other brother Another love to come and comfort you And I'll keep reminding If it's the only thing I ever do I will always love I will always love you Yes you Jason Mraz – Song for a friend ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Es klopfte an der Tür und einen Augenblick später steckte Yashiro seinen Kopf in das Zimmer. „Wie geht es ihm?“, fragte er Ren, nachdem er eingetreten war. Der Dunkelhaarige schüttelte mit dem Kopf und sah weiterhin besorgt seinen Zimmergenossen an, der friedlich auf dem Bett lag. „Er ist immer noch nicht aufgewacht. Ich mache mir Sorgen.“ Yashiro nickte und betrachtete seinen besten Freund eindringlich. Ren hatte sich auf einen Stuhl direkt neben Reinos Bett gesetzt, seinen Blick unverwandt auf das Gesicht des Blondhaarigen gerichtet. Er musste wirklich sehr beunruhigt sein. „Kommst du hinunter zum Abendessen?“, fragte Yashiro sanft. Eine kurze Stille folgte, doch schließlich nickte der Dunkelhaarige und stand auf. Allerdings schien er immer noch nicht in der Lage sein, seinen Blick von dem Jüngeren zu lösen. Yukihito seufzte. „Ren, er wird nicht aufwachen, nur weil du ihn die ganze Zeit anstarrst.“ „Ich weiß, es ist nur...“ Der Blonde legte ihm eine Hand auf die Schulter, was Ren dazu veranlasste, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.. „Es ist okay“, sagte Yashiro leise. „Ich weiß, wie viel er dir bedeutet.“ Bei diesen Worten nahm das Gesicht des Schwarzhaarigen einen traurigen Zug an. „Es tut mir Leid, Yukihito“, flüsterte er. „So Leid.“ Sein Freund schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Es ist okay“, wiederholte er. Doch es war nicht okay und Ren wusste das. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Yukihito Yashiro war daran gewöhnt bei alles und jedem nur zweiter Platz zu sein. Sei es in einer Mathearbeit, in einem Wettrennen oder bei seinen Eltern. Es gab immer jemanden, der besser oder wichtiger als er war. Aus diesem Grund wäre es vollauf berechtigt gewesen, wenn er all jene, die ihm überlegen waren, gehasst hätte oder zumindest mit Abneigung begegnet wäre. Dies war allerdings nie der Fall. In der Schule behandelte er alle mit zurückhaltender Freundlichkeit und brachte den Klassenbesten immer eine gewisse Ehrfurcht entgegen, die ihnen überaus schmeichelte. Zuhause war es seine Schwester, die immer den ersten Platz einnahm. Wenn er wieder mit einer glatten Eins nach Hause kam, hieß es: „Warum hast du keine eins plus wie deine Schwester?“ Wenn er einmal keine Zeit für Hausarbeiten hatten, da er für die Schule lernen musste, rief sein Vater: „Warum kannst du deine Zeit nicht besser einteilen, so wie deine Schwester?“ Und wenn er wieder an einem Freitagabend in seinem Zimmer saß und ein Buch las, steckte seine Mutter besorgt ihren Kopf zur Tür hinein und fragte: „Wieso gehst du nicht auch heute Abend weg, so wie deine Schwester?“ Selbst seine Lehrer schienen der Meinung zu sein, dass es wichtig sei, ihn auf sein Versagen aufmerksam zu machen: „Du hast schon wieder die falsche Gleichung verwendet. Deiner Schwester wäre das nie passiert.“ Immer verglichen ihn alle mit der perfekten, wundervollen Aiko. Nur sie selbst schien erkannt zu haben, dass er nicht sie war. „Wenn du in der Schule mal etwas nicht verstehst, ist das nicht schlimm, Yuki-nii-chan“, sagte sie immer lächelnd. „Und es ist auch nicht wichtig, viele Freunde zu haben.“ „Aber du hast doch auch viele.“ „Nicht doch, du Dummkopf!“, entgegnete sie lachend. „Die meisten von ihnen kenne ich noch nicht einmal wirklich.“ „Warum verbringst du dann Zeit mit ihnen?“ Dem Jungen schien es unbegreiflich, dass man mit jemanden jede Pause zusammen sein könnte, für den man keine freundschaftlichen Gefühle hegte. „Ganz einfach, weil es von mir erwartet wird.“ Dies war eine Antwort, die der Junge noch oft hören sollte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Das erste, was Reino spürte, war, dass er auf etwas weichem lag und sein Kopf sich anfühlte, als würde er gleich zerbrechen. Nichtsdestotrotz öffnete er stöhnend seine Augen. Das Zimmer war in eine angenehme Dunkelheit getaucht und es herrschte absolute Stille. Nur aus der Ferne meinte Reino die Stimmen seiner Mitschüler zu vernehmen. Ob sie beim Abendessen waren? Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Er war in seinem Zimmer. Ren war nicht da und der Wecker mit den Leuchtanzeigen auf dessen Seite verriet ihm, dass es tatsächlich Zeit fürs Abendessen war. Wie war er hierher gekommen? Das letzte, woran er sich erinnerte war, dass er mit Aiko gesprochen hatte. Worüber? Seufzend ließ er seinen Blick durchs Zimmer schweifen, um an Rens schwarzen Rosen hängen zu bleiben. Seine geliebten Rosen, die ihn immer an jenen Jungen erinnern würden, den er so sehr liebte. Moment, wie kam er darauf, dass Ren ihn lieben würde? Er hatte niemals so etwas erwähnt. Oder? Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er hatte offensichtlich zu lange geschlafen, sonst würden ihm seine Erinnerungen nicht solche Streiche spielen. Bisher war das nur einmal vorgekommen und damals hatte er alles vergessen. Warum? Warum hatte er alles vergessen? Was war passiert? Wer war er überhaupt? Und wo war seine Schwester? Reino runzelte die Stirn. Schwester? Was für eine... doch da fiel ihm ein, was genau passiert war, bevor alles dunkel wurde. „Maria“, murmelte er. Der Name kam leicht über seine Lippen, so als hätte er ihn bereits tausendmal ausgesprochen. Gleichzeitig blitzten vor seinem Auge mehrere, undeutliche Bilder auf: Ein blondes Mädchen mit lockigen Haaren, das Seilspringen übt, wie sie über eine Wiese rennt, wie sie ihm Tee gibt, wie es lächelt und dadurch die ganze Welt erhellt. Maria. Seine Schwester. Der kleine, unschuldige Engel, der ihn immer aufmuntern konnte. Wie hatte er sie nur vergessen können? Doch obwohl er sich freute, sie in seinen Erinnerungen wiedergefunden zu haben, fühlte er einen längst vergessenen Schmerz in seiner Magengegend, als er ein weiteres Mal ihren Namen aussprach. Warum hatte er nur das seltsame Gefühl, dass mit ihr etwas schreckliches passiert sein musste? „Ich muss sie finden“, sagte er zu sich. „Wenn sie noch irgendwo dort draußen ist, muss ich sie finden.“ Aber wo sollte er suchen? Als er damals im Krankenhaus aufgewacht war, hatte niemand gewusst, wo er herkam. Sie meinten, sie hätten ihn am Ufer des Flusses gefunden, der durch die Ortschaft floss und ihn schließlich gesund gepflegt. Er war vollkommen unterkühlt gewesen und aus einer Schusswunde in seiner linken Schulter hatte es unaufhörlich geblutet. Die Ärzte hatten damals gesagt, dass es ein Wunder gewesen sei, dass er überlebt hatte. Augenblick. Er war angeschossen worden! Hieß das... könnte es sein, dass... Maria...? Ohne jegliche Vorwarnung wurde die Tür geöffnet und Sho kam hereingeplatzt, gefolgt von einer weinenden Chiori, einem besorgten Kuu und einem offensichtlich verärgerten Ren. Als sie jedoch bemerkten, dass er wach war, erstarrten sie mitten in ihren Bewegungen und sahen ihn alle mit demselben erleichterten Gesichtsausdruck an. Hätte Chiori sich nicht im nächsten Moment dazu entschlossen, ihn mit einer Umarmung erwürgen zu wollen, er hätte wahrscheinlich laut gelacht. Doch so versuchte er verzweifelt, Luft zu bekommen, während das Mädchen sich schluchzend an ihn klammerte und irgendetwas von „große Sorgen“ und „wie konntest du uns solche Angst machen, du Idiot?“ verlauten ließ. Schließlich erbarmte sich Kuu und wies sie auf das offensichtliche hin: „Wenn du ihn nicht sofort loslässt, können wir ihn gleich ins Krankenhaus bringen, Chiori-chan.“ Mit einem hochroten Kopf zog sie ihre Arme zurück und rutschte etwas zur Seite. „Entschuldige, Reino“, sagte sie. „Ich...“ „Ist schon gut“, erwiderte er lächelnd. „Ich wusste schon von Anfang an, dass du mich erwürgen willst.“ Kuu gluckste vergnügt, während Chirori sich peinlich berührt abwenden musste, doch sowohl Sho als auch Ren hatten ernste Mienen aufgesetzt und musterten ihn besorgt. „Es ist schön, dass es dir wieder besser geht, Reino-kun“, verkündete Kuu fröhlich. „Ren und Sho hier sind vor Sorge ja beinahe umgekommen. Es war beinahe schlimmer als bei Chiori-chan.“ Die beiden Jungen warfen ihm vernichtende Blicke zu, während das einzige Mädchen im Raum zustimmend nickte und Reino sich nicht sicher war, ob er sich freuen oder lieber ganz weit weg rennen sollte. Schließlich entschied er sich dafür, mehr Informationen einzuholen. „Was ist passiert?“ „Woran erinnerst du dich denn?“, fragte Kuu freundlich. War es Hizuri-sans Absicht, dass seine Worte so zweideutig klangen? „Ich war... bei meiner Sprechstunde“, antwortete der junge Lawliet, sich darüber bewusst, dass seine Freunde jedes seiner Worte begierig aufsaugten, in der Hoffnung, mehr über seine wöchentlichen Besuche in der Stadt zu erfahren. „Wir haben... geredet und dann muss ich wohl zusammengebrochen sein.“ Er sah Kuu fragend an. Der Lehrer nickte. „Mach dir keine Sorge, sie meinte, dass es normal sei, in einer solchen Situation einen Aussetzer zu haben. Anscheinend ist das ein Selbstschutzmechanismus deines Körpers. Am besten lässt du es dir morgen gleich noch einmal erklären.“ „Wieso morgen?“ „Du hast einen Termin um 14.30 Uhr. Sie war davon überzeugt, dass du ihn brauchen würdest.“ Da hatte sie allerdings Recht. Es war das erste Mal, dass er wirklich zu ihr wollte. Vielleicht konnte sie ihm sogar helfen, seine Schwester zu finden! „Nun, da es dir wieder gut geht, kann ich ja Chiori-chan zu ihrem Haus zurückbringen. Guck mich nicht so an, meine Liebe, du kannst morgen immer noch mit ihm reden. Außerdem weißt du doch, wie Julie sein kann, wenn ihre Küken zu lange hier bleiben. Ich wünsche euch eine gute Nacht, Jungs!“ Im nächsten Augenblick war er bereits zur Tür hinaus und nachdem sie ihnen auch eine gute Nacht gewünscht hatte, folgte Chiori ihm. Zurück blieben Sho, der in der Mitte des Raumes stand und Ren, der sich aus irgendeinen Grund die ganze Zeit nicht von der Tür wegbewegt hatte. Bildete Reino es sich nur ein oder war es gerade um einiges kälter geworden? Plötzlich seufzte Ren und verkündete: „Ich gehe duschen.“ Damit verschwand er im Badezimmer. Sho sah ihm kurz hinterher, dann näherte er sich Reinos Bett, um sich schließlich auf einen Stuhl zu setzten, der aus irgendeinen Grund direkt neben seinem Kopfkissen stand. „Wie geht es dir?“ „Gut, nur etwas Kopfschmerzen“, erwiderte Reino lächelnd. „Wo warst du?“, fuhr Sho fort. „Was sind das für Sprechstunden von denen Hizuri-san immer spricht?“ Der Junge antwortete ihm nicht. „Na schön“, erwiderte sein Freund traurig. „Dann eben nicht.“ „Es tut mir Leid, Sho“, sagte Reino leise. „Aber ich kann einfach nicht.“ „Ist schon in Ordnung“, flüsterte Sho. Er hatte den Kopf gesenkt, sodass er sein Gesicht nicht sehen konnte, wodurch Reino sich unwillkürlich schuldig fühlte. Sho war ihm ein guter Freund gewesen. Er hätte es eigentlich verdient, mehr zu erfahren, doch wie sollte er ihm etwas erklären, was er selbst nicht verstand? Aus dem Nebenraum konnten sie die laufenden Dusche hören, was sie daran erinnerte, dass noch jemand in der Nähe war. „Wirst du es ihm erzählen?“, wollte Sho wissen. Er bekam keine Antwort. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als Ren einige Minuten frisch geduscht aus dem Badezimmer kam, war Sho bereits gegangen. Reino befand sich allerdings immer noch auf seinem Bett, hatte jedoch seine Beine angezogen, die Arme um diese geschlungen und seinen Kopf auf seinen Knien abgelegt. Dabei machte er einen ungewöhnlich geknickten Eindruck, ob er sich mit Sho gestritten hatte? „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Dunkelhaarige. „Nein“, war alles, was er als Antwort bekam und er konnte das „ist das nicht offensichtlich?“ förmlich aus seinem Schweigen heraushören. Lächelnd schüttelte er den Kopf und durchquerte den Raum. Bei Reinos Bett angekommen, setzte er sich neben ihn und machte es sich gemütlich. So saßen sie längere Zeit schweigend nebeneinander, beide in ihren eigenen Gedanken versunken und vorgebend, den anderen vergessen zu haben. Draußen auf dem Gang konnte man die Schritte und Stimmen ihrer Mitschüler hören, die sich langsam auf den Weg in die Stadt machten, um einen Kinofilm zu sehen oder anders ihren Abend zu verbringen. Ren erinnerte sich plötzlich daran, dass sein Zimmergenosse bisher noch nie weggegangen war. Warum? „Ren?“ Überrascht drehte der Dunkelhaarige seinen Kopf und sah, dass sein Freund ihn abwartend ansah. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er heute noch etwas von ihm hören würde. „Ja?“ Reino zögerte kurz, bevor er fortfuhr: „Ich... habe Angst.“ „Wovor?“ „Das... weiß ich nicht.“ Ren runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Eine kurze Stille folgte, dann fragte der Blondhaarige: „Hast du eigentlich Geschwister?“ „Nein“, erwiderte sein Freund, obwohl er nicht wusste, was das eine mit dem anderen zu tun hat. „Ich wünschte, ich könnte das auch so sicher sagen, wie du“, murmelte er frustriert. Ren sah ihn fragend an, doch er erhielt keine genauere Erklärung. „Es tut mir leid“, sagte Reino schließlich und wandte seinen Blick wieder von ihm ab. „Ich weiß, dass ihr alle wissen wollt, was los ist und dass ihr euch große Sorgen macht und anstatt euch etwas zu erklären, muss euch mein Gerede wahnsinnig machen.“ „Hat Fuwa das gesagt?“, fragte Ren sanft. „Dass du ihn wahnsinnig machst?“ Zuzutrauen wäre es ihm. Doch der Blondhaarige schüttelte mit dem Kopf. „Das würde er nie tun, Ren. Sho hat ein gutes Herz. Auch wenn du ihn nicht leiden kannst.“ „Das stimmt nicht“, erwiderte er. „Ich habe nichts gegen Fuwa. Er hat etwas gegen mich.“ „Und deshalb kannst du ihn nicht leiden?“ „Würdest du jemanden nett behandeln, der dich immer mit einem Mörderblick ansieht?“ Dies brachte Reino tatsächlich zum Lachen. „Nein, wahrscheinlich nicht.“ Ren lächelte. Er war froh, die Stimmung etwas aufgelockert zu haben, da er es nicht mochte, wenn sein Freund so sorgenvoll wie an diesem Tag war. Zwar brannte er darauf herauszufinden, was mit ihm los war, doch wusste er, dass der Blondhaarige ihm keine Antwort geben würde. Schließlich war es schon immer so gewesen, oder? ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ich weiß nicht, wie du das aushältst“, sagte Sho frustriert und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Es ist grauenvoll!“ Yashiro sah ihn fragend an. „Was genau meinst du jetzt?“ „Zu wissen, immer nur Nummer zwei zu sein!“, flüsterte er. „Sprichst du gerade von Ren und Reino?“, wollte der Brillenträger wissen. „Du solltest dich lieber darüber freuen, dass sie sich so gut verstehen, es wäre doch schlimm, wenn Reino sich hier nicht wohl fühlen würde, oder?“ „Du weichst meiner Frage aus“, entgegnete Sho wütend. „Wie hältst du das aus?“ Ein trauriges Lächeln erschien auf Yashiros Gesicht. „Es wird von mir erwartet, Sho. Deshalb halte ich es aus.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der wichtigste Mensch in seinem Leben war seine Schwester, denn sie war die einzige, die nichts erwartete. Aus diesem Grund versuchte er ihr umso mehr zu geben, sei es durch das teure Parfum zu Weihnachten, das sie sich so sehr gewünscht hatte oder durch seine Gesellschaft, die sie über alles schätzte. Sie war auch der einzige Grund, weshalb er sich in der Schule anstrengte. „Du musst fleißig lernen, Yuki“, sagte sie immer. „Es ist wichtig, dass du eine gute Ausbildung hast! Dann kannst du dir später all deine Wünsche erfüllen.“ Damals sah er sie jedes Mal mit großen Augen an und fragte ehrfurchtsvoll: „Wirklich alle?“ „Ja, Yuki“, entgegnete sie normalerweise lachend. „Wirklich alle.“ Dass sie gelogen hatte, wurde ihm erst viele Jahre später klar. Plötzlich und ohne Vorwarnung ging sie auf dasselbe Internat, wo auch er später lernen würde, weshalb er sie nur noch in den Ferien sehen konnte. Nun rückte er in das Augenmark seiner Eltern, wurde „die große Hoffnung der Familie“ und dadurch zu einer noch größeren Enttäuschung. Besonders schwer traf es seinen Vater, ein berühmter Wissenschaftler, der in der Zellenforschung tätig war und bereits viele bahnbrechende Entdeckungen gemacht hatte. Er hoffte, in seinem Sohn einen würdigen Nachfolger zu finden, doch obwohl Yashiro ein reges Interesse für die Naturwissenschaften entwickelte, erreichte er niemals dieselben Erfolge wie sein Vater. Seine Mutter liebte er genau so sehr wie Aiko und wenn man von ihrem täglichen Tadel über sein Äußeres, seine Schulnoten und sein Verhalten absah, begegnete sie ihm mit derselben herzlichen Zuneigung. Sie war es auch, der er seine Bekanntschaft mit Ren Tsuruga verdankte. Er lernte ihn kennen, bevor Kyoko Mogami in sein Leben trat, auf einer Ausstellung für moderne Kunst in Tokyo. Selbstverständlich war es für beide, die sie nicht viel älter als sieben waren, alles andere als spannend, durch Kunstgalerien zu wandern und sich die Erläuterungen ihrer Eltern anzuhören. Deshalb war es für beide ein wahrer Segen, als ihre Mütter einander als alte Schulfreunde wiedererkannten und sich von da an nur noch miteinander beschäftigten, weshalb die Jungen eine Chance hatten, sich klammheimlich davonzustehlen. Eilig liefen sie durch die Menschenmassen hindurch bis sie zu einem lichtdurchflutenden Raum kamen, der auf eine Veranda führte. Auf dieser hatten sich bereits einige Menschen versammelt und genossen den sonnigen Tag. Ren und Yashiro gesellten sich kurzer Hand zu ihnen und stellten sich an das Geländer, was die Gäste vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte, da sie sich im zehnten Stock eines Hochhauses befanden. Von hier hatte man einen guten Blick über Tokio, der nur von den Hochhäusern auf der gegenüberliegenden Seite unterbrochen wurde. Staunend sahen die beiden Jungen sich um. „Ich bin noch nie so weit oben gewesen!“, rief Yashiro begeistert. „Sieh nur, wie klein die Menschen sind!“ „Wie Ameisen“, stimmte ihm Ren zu und kicherte. Leichtsinnig, wie man in diesem Alter nun einmal ist, kletterte der Blondhaarige auf das Geländer und lehnte sich weit darüber, um einen besseren Blick nach unten zu haben. Was er allerdings noch nicht wusste war, dass in solchen Höhen mitunter ein starker Wind wehen konnte, der stark genug war, dass er einen kleinen Jungen mit sich reißen konnte. Allerdings wurde ihm einen Augenblick später diese Tatsache bis in alle Ewigkeit in sein Gehirn eingebläut, da ebenjener Wind aufkam und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Für eine schreckliche Sekunde sah es so aus, als würde er in die Tiefe stürzen, doch im nächsten Moment umklammerten ihn zwei Kinderarme, die ihn kräftig zurückzogen. „Vorsichtig!“, rief Ren lachend. „Oder willst du dort hinunterfallen? Mein Name ist übrigens Ren. Ren Tsuruga.“ „Ich bin Yukihito Yashiro“, entgegnete der Junge peinlich berührt. „Danke für die Rettung...“ Ren lachte nur noch lauter. Von diesem Tag an sahen sie sich öfter und bald wurden sie beste Freunde. Doch weiterhin blieb Yashiro nur an zweiter Stelle. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Die Töne klangen schwermütig im Raum nach. Sie kamen langsam, zögernd, beinahe widerwillig, doch sie kamen und formten sich zu einer traurigen Melodie. Wenn ein Mensch Musik wirklich liebt, kann er damit beginnen, durch sie zu leben und zu sprechen. Er kann all seine Gefühle, Sehnsüchte und Ängste mithineingeben und dadurch selbst der belanglosesten Melodie eine tiefgründige Bedeutung verleihen. Seine Musik war heute deprimierend. Es passte gut zum Wetter. Der Himmel war wolkenverhangen und es sah so aus, als würde es jeden Moment gewittern. Langsam näherte sich Yashiro dem Raum, aus dem die Melodie kam und war nicht überrascht, Reino vor dem Klavier sitzen zu sehen. Besorgt lehnte er sich an den Türrahmen und musterte seinen Klassenkameraden. Er machte immer noch einen kranken Eindruck und seine Musik ließ darauf schließen, dass ihn irgendetwas beschäftigen musste. Doch plötzlich änderte sich die Musik. Die Töne wurden schneller und nahmen einen kecken Zug an, doch der traurige Unterton blieb. „Ich wusste gar nicht, dass du Final Fantasy kennst“, sagte plötzlich eine Stimme rechts von Yashiro und der Brillenträger ging unwillkürlich in Deckung. Er wusste selbst nicht wieso er das tat, aber er hatte das Gefühl, hier nichts zu suchen zu haben. Das Spielen hielt inne. „Ich kenne es auch nicht, aber mein Klavierlehrer glaubte, es würde mir Spaß machen, so ein Lied zu spielen und ich muss ihm Recht geben.“ Es waren Schritte zu hören und Yashiro spähte vorsichtig in das Zimmer hinein. Ren stand mit dem Rücken zu ihm direkt vor dem Flügel und hatte sich Reino zugewandt, der ihn aufmerksam musterte. „Es ist auch ein sehr schönes Stück“, bestätigte der Dunkelhaarige. „Auch wenn die Orchesterversion besser ist.“ „Ist das nicht immer so?“, fragte Reino lächelnd, was Ren fröhlich Glucksen ließ. Yukihito runzelte die Stirn. Er wusste, dass die beiden sich sehr gut verstanden, aber so gut, dass der Blonde den jungen Tsurugaerben zum Lachen brachte? Offenbar hatte er ihre Beziehung unterschätzt. „Wie lange hörst du schon zu?“, fragte Reino. „Greensleaves“, entgegnete Ren und Yashiro wusste, dass er grinste. „Du bemerkst wirklich gar nichts, wenn du in deine Musik versunken bist, oder?“ „Nun... es kann vorkommen“, erwiderte der Blonde peinlich berührt. „Ist doch nicht schlimm“, meinte der Andere eine Spur zu freundlich, wie Yashiro fand. „Spielst du mir noch etwas vor?“ „Was willst du denn hören?“, fragte Reino lachend. Ein kurzes Schweigen kehrte ein, dann sagte Ren: „Mein Lieblingslied.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ich werde heiraten.“ Yukihito blickte überrascht von seinem Buch auf. Sie saßen in der privaten Bibliothek von Rens Vater, der einzige Ort, wo sie vor Tsuruga-san sicher waren. Rens Mutter hatte die größte Leidenschaft ihres Mannes niemals nachvollziehen können, duldete sie jedoch naserümpfend, da sie ihm zu viel verdankte, als dass sie sich beschweren könnte. „Kyoko-chan?“, fragte Yashiro. „Das weiß ich doch, das hast du mir schon erzählt.“ „Ja, aber es kommt mir so vor, als hätte ich davor noch nicht begriffen, was es bedeutet.“ Der Blondhaarige legte stirnrunzelnd das Buch beiseite und sah ihn ruhig an. „Du willst sie nicht heiraten.“ „Nein.“ „Warum tust du es dann?“ Ren lächelte. „Weil es von mir erwartet wird.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Das Musikzimmer war in eine sanfte Dunkelheit gehüllt. Keiner von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, das Licht anzuschalten, es wäre ohnehin unnötig gewesen, da der junge Pianist im Moment keine Noten brauchte. Draußen begann es zu regnen und man konnte die Schreie der anderen Schüler hören, die lachend zu den umliegenden Gebäuden rannten. „Dein Lieblingslied?“, wiederholte Reino verdutzt. „Okay.... was ist denn dein Lieblingslied?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Ren grinsend. „Sag du es mir.“ „Witzbold! Woher soll ich das denn wissen?“ „Rate!“, meinte er. „Hm.... wahrscheinlich wirst du einfach zu jedem Lied, das ich spiele sagen, dass es dein Lieblingslied ist, was?“ Er hatte es neckend gemeint, doch Rens Gesicht verzog sich zu einem sanften Lächeln und er sah ihn liebevoll an. „Genau so ist es.“ Verblüfft blinzelte der Blondhaarige. Wie meinte er das denn nun wieder? Ren legte seinen Kopf auf das Klavier und sah ihn immer noch mit demselben Gesichtsausdruck an, allerdings konnte Reino nun auch einen Anflug von Trauer darin erkennen. „Weißt du, manchmal glaube ich, dass deine Musik das einzig gute auf dieser Welt ist.“ In diesem Moment erhellte der erste Blitz das Zimmer und kurz darauf rollte der Donner über das Land. Als wäre dies ein Startzeichen gewesen, begann der Junge zu spielen. Der Flur vor dem Raum war leer. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Später fuhr Julie ihn wieder zu Aiko. Die Lehrerin war gut gelaunt und erzählte ihm verschiedene Anekdoten aus dem Unterricht, die ihm jedes Mal zum Schmunzeln und manchmal auch zum Lachen brachten. Es regnete immer noch, doch das Gewitter hatte aufgehört. Yashiros Schwester begrüßte ihn heute auf dem Fußgängerweg vor ihrer Praxis. Sie trug einen sonnengelben Mantel und schützte sich mit einem knallig grünen Regenschirm vor dem Regen. In ihrer anderen Hand hielt sie einen weiteren Regenschirm – tomatenrot. „Wir werden heute erst einmal einen kleinen Spaziergang machen“, erklärte sie ihm fröhlich. „Das wird uns gut tun.“ „Bei dem Wetter?“, rief Julie lachend. „Aiko-chan, es bringt nichts, wenn er sich erkältet.“ „Das wird er nicht, keine Sorge! Unser Ziel ist ein schönes, kleines und vor allem warmes Café.“ „Soll ich euch nicht lieber hinfahren?“, fragte die Lehrerin. Aiko schien kurz darüber nachzudenken, dann stimmte sie gut gelaunt zu. Das Café befand sich direkt gegenüber der Kirche. Es war relativ klein und die Inneneinrichtung war in warme Farben gehalten, weshalb es einen sehr gemütlichen Eindruck machte. An diesem Tag hatten sich hier relativ viele Besucher eingefunden, aus diesem Grund konnten sich die Beiden ungestört an einem Tisch am Fenster unterhalten. „Was möchtest du trinken, Reino-kun? Eine heiße Schokolade? Kaffee? Tee? Oder möchtest du etwas essen? Komm, such dir aus, was immer du willst, ich bezahle.“ Aiko schien sehr guter Laune zu sein. Zumindest strahlte sie übers ganze Gesicht und summte fröhlich vor sich hin, während sie auf eine Kellnerin warteten. „Wie geht es dir heute?“, fragte sie schließlich, als sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten. „Ich... weiß es nicht“, murmelte Reino und sah aus dem Fenster. „Ich denke besser.“ „Das freut mich zu hören“, entgegnete sie sanft. „Wirst du mir sagen, was passiert ist? Du hast etwas von einer Schwester erzählt.“ „Das ist richtig“, sagte der Junge und wandte sich wieder ihr zu. „Ihr Name ist Maria und du musst mir helfen, sie zu finden.“ Stirnrunzelnd musterte sie den entschlossenen Gesichtsausdruck des Blondhaarigen und nickte ernst. „Ich werde tun, was ich kann. Das verspreche ich dir, Reino-kun.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der Pater stand am Fuß der Kirche und spähte durch den Regen zu dem Café auf der anderen Straßenseite hinüber. Er war gerade von einigen Einkäufen wiedergekommen, als er gesehen hatte, wie Aiko Yashiro mit einem ihrer Patienten aus einem Auto gestiegen und in das Gebäude hineingerannt war. Normalerweise hätte es ihn nicht weiter interessiert. Er wusste, dass sie sich immer gut um ihre Schützlinge kümmerte und gut allein mit den schwierigsten Fällen klar kam. Aber dieser Patient war nicht einfach irgendein schwieriger Fall. Er war Reino Lawliet. „Hey, ist das dort nicht Reino-kun?“ Überrascht drehte der Priester sich um und entdeckte Chiori Amamiya und Sho Fuwa einige Meter von sich entfernt stehen und ebenfalls zu dem Café hinüber sehend. „Na sowas, wer ist denn diese junge Frau?“, fragte Sho gerade überrascht. Seine Freundin sah ihn vorwurfsvoll an. „Also wirklich Sho, das ist Aiko Yashiro, Yukihito Yashiros Schwester. Sie ist Psychologin. Ah, da geht Reino also jede Woche hin! Zur Psychotherapie!“ „Oha! Aber... warum macht er daraus so ein großes Geheimnis?“ „Na, würdest du das an die große Glocke hängen? Reino hat offensichtlich ein ernstes Problem! Wer weiß, was ihm in der Kindheit alles passiert ist! Ich würde das auch nicht einfach so rumerzählen.“ Der Pater hob eine Augenbraue. Interessant, also vertraute der junge Lawliet seinen neuen Freunden nicht so sehr, wie er eigentlich angenommen hatte. Vielleicht wusste er ja doch mehr, als er angenommen hatte. Mit einen breiten Lächeln trat der Mann auf die beiden Jugendlichen zu, die ihn erst in diesen Moment bemerkten. „Hallo, ihr Beiden“, sagte er freundlich. „Mir scheint, wir haben die gleichen Interessen.“ __________________________________________________________ So, an dieser Stelle ende ich fürs Erste. Und bevor ihr fragt: Ja, es ist ein Cliffhanger. Stört das jemanden? Mich nicht. XP Zu dem Kapitel sag ich diesmal nichts, außer, dass es mir eine menge Kopfzerbrechen bereitet hat. Aber im Endeffekt bin ich zufrieden. Nun zu den wichtigen Ankündigungen: Solitude hat eine Beta: ist so gut, die bisherigen Kapitel nacheinander durchzulesen und zu korrigieren. Die verbesserten Versionen werden immer in gewissen Abständen sowohl hier als auch auf ihrer Seite pi-pu.com hochgeladen. Das heißt, dieses Kapitel ist zwar noch nicht korrigiert (aus Zeitgründen) aber in den nächsten Monaten wird es eine verbesserte Version geben, versprochen. *verbeug* Deshalb gibt es an dieser Stelle noch mal ein riesengroßes Dankeschön an sie, dass sie sich die Zeit dafür nimmt bzw. nehmen wird. *knuddel* A propos Dankeschön: Maeil, Sia-chan, Susilein, Kyoko-Hizuri und XxX-DarkEye-XxX, danke für eure lieben Kommentare zum letzten Kapitel. *strahl* Ohne eure motivierenden Worte würde ich jedes Kapitel wahrscheinlich für sinnlos halten. XD Deshalb danke, dass ihr mich immer wieder vom Gegenteil überzeugt. Aber das war es auch schon wieder. Ich wünsche euch eine wunderbare Woche! Bis bald, eure Ayako Kapitel 7: Possession --------------------- Listen as the wind blows From across the great divide Voices trapped in yearning Memories trapped in time The night is my companion And solitude my guide Would I spend forever here And not be satisfied And I would be the one To hold you down Kiss you so hard I'll take your breath away And after I'd wipe away the tears Just close your eyes dear Sarah McLachlan - Possession ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Im Prinzip war es die Schuld seiner Eltern, beschloss er. Sie waren es, die ihn hierher verfrachtet und in diese überaus unangenehme Situation gebracht hatten. Er konnte nichts dafür, er war minderjährig, hatte nichts zu sagen und musste tun, was sie von ihm verlangten. Er hätte nicht anders handeln können. Das änderte alles nichts daran, dass er im Moment am liebsten im Boden versinken würde – oder zumindest ganz weit weg sein wollte. Ihm wäre sogar egal, wo. Hauptsache nicht hier. Obwohl... ein Gefängnis oder der Schauplatz eines Krieges müsste es nun auch wieder nicht sein. Allerdings war es sehr unwahrscheinlich, dass er hier allzu bald weg kam und deshalb versuchte er, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, während ihn rund vierzig Kinderaugen anstarrten. „Das ist Shotaro Fuwa-kun“, erklärte die Lehrerin ihnen freundlich. „Er wird ab heute in unsere Klasse gehen.“ Sie sah sah sich in dem Raum um. „Wo setzten wir dich... ah, neben Kyoko-chan ist ein Platz frei.“ Eilig setzte er sich neben das Mädchen und ignorierte die neugierigen Blicke seiner neuen Mitschüler. Damit wäre sein Schicksal nun besiegelt. „Hallo, ich bin Kyoko Mogami.“ Sho blickte auf und sah das Mädchen überrascht an. Sie schien offensichtlich nett zu sein und ihre braunen Augen sahen ihn freundlich an. „Sho“, murmelte er leise und sah schnell wieder weg, konnte aber sehen, wie ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht erschien. Vielleicht war sein Schicksal doch nicht so schlecht, wie er befürchtet hatte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Es regnete in Strömen. Selbst die Regenschirme, die sie über ihre Köpfe gespannt hatten, halfen da nicht viel. Im Grunde hätten sie ganz darauf verzichten können. In der Stadt wurde es auch nicht besser. Zwar war hier nichts von dem schrecklichen Wind zu spüren, der über die Felder wehte, aber die Fassaden wirkten einfach zu trostlos, als dass man sich wirklich an ihnen erfreuen könnten und die Menschen, die bei diesem Wetter unterwegs waren, sahen allesamt aus, als würden sie am Liebsten jemanden umbringen. Sho war sich nicht ganz im klaren, warum er sich von Chiori hatte überreden lassen, mitzukommen. „Es ist für Reino-kun!“, hatte sie gesagt. „Wir können ihn in der Stadt abholen und zusammen etwas unternehmen! Du hast immerhin selbst gesagt, dass er ziemlich niedergeschlagen aussah. Wir müssen ihn aufmuntern!“ Als er sich davon immer noch nicht hatte überzeugen lassen, hatte sie scharfe Geschütze aufgefahren. „Lass uns etwas tun, was Ren Tsuruga nicht kann, Sho. Lass uns seine Freunde sein.“ Eigentlich war das unfair gewesen. Sie wusste genau, dass sie ihn damit immer überreden konnte. Doch er hatte sich auch nicht gewährt. Er war sich darüber bewusst, dass er niemals gegen Ren ankommen würde, in welcher Beziehung auch immer. Deshalb musste er etwas tun, was nur er tun konnte und das war genau das, was Chiori vorgeschlagen hatte: Er musste Reino ein Freund sein. Aus diesem Grund war er sich nicht sicher, ob das hier wirklich richtig war. Der Pater hatte sie in sein persönliches Arbeitszimmer eingeladen, warum auch immer. Nun saßen sie an seinem Schreibtisch und tranken Tee, während Chiori fröhlich mit ihm plauderte. Das war eine ihrer besten Eigenschaften: Sie konnte jederzeit und an jedem Ort mit jedem Menschen ein Gespräch beginnen. Manchmal beneidete er sie darum. Heute nicht. „Was meinten Sie damit, wir hätten dieselben Interessen wie Sie?“, fragte er misstrauisch, als Chiori kurz Luft holte. Augenblicklich verstummte ihr Redefluss und sie sah ihn mit großen Augen an. Er konnte ihr „Sei nicht immer so direkt“ förmlich hören. „Ich meinte es genauso, wie ich es sagte“, entgegnete der Pater ruhig, doch in seinen Augen blitzte es. „Und was soll das für eine Sache sein?“, wollte er weiter wissen. „Ganz einfach: Reino Lawliet.“ Die beiden Schüler starrten ihn verdutzt an. „Reino-kun?“, wiederholte Chiori ungläubig. „Was wollen Sie bitte schön von ihm?“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen und sie wich vor ihm zurück – soweit es auf dem Stuhl möglich war, auf dem sie saß. „Ich wusste es! Sie sind pädophil und schwul noch dazu!“ „Also ich muss doch bitten!“, rief der Pater empört. „Das sind ungerechte Unterstellungen! Ich bin ein katholischer Priester!“ „Das waren seit jeher die Schlimmsten!“, beteuerte sie. „Sho, lass uns von hier verschwinden! Wir müssen Reino warnen! Und die Polizei rufen.“ „Chiori... jetzt übertreibst du aber wirklich“, entgegnete Sho genervt. Er war ihre übereiligen Schlussfolgerungen schon seit Jahren Leid. Mit ernsten Augen drehte er sich wieder zum Pater um. „Also los. Beantworten Sie ihre Frage. Was wollen Sie von ihm?“ „Hm... ein Gespräch wäre vielleicht nicht schlecht.“ Er ließ ein Stückchen Würfelzucker in seine Tasse gleiten. „Wollt ihr auch welchen?“ Die Jugendlichen schüttelten mit dem Kopf, worauf er bedauernd mit den Schultern zuckte und Tee hinzu schüttete. „Ich finde es eigentlich sehr schade, dass er nicht schon früher zu mir gekommen ist“, fuhr er fort. „Ich hätte gedacht, sobald er heraus fände, dass ich hier bin, würde er sofort angerannt kommen. Diese vollkommen unerwartete Ignoranz ist doch sehr enttäuschend, wenn ihr versteht, was ich meine. Allerdings bestärkt er damit auch meine Theorie über den Zweck seines Hierseins.“ Shos Augen verengten sich. „Was soll das schon wieder heißen? Was haben Sie mit Reino zu schaffen, woher sollte er wissen, dass Sie hier sind und was soll das für ein Zweck sein, von dem Sie da reden?“ Er war sehr genervt. Es reichte schon, dass sich Ren besser mit seinem Freund verstand, aber jetzt kam auch noch irgendein Christenpriester daher und das war eindeutig zu viel. Warum sollte Reino denn hier sein? Wer war er überhaupt? Was wusste er? Nichts. Er wusste absolut nichts. Wie immer. Ren hatte er bestimmt alles erzählt. „Was ich mit Reino-kun zu schaffen haben, ist einfach zu erklären: Ich bin ein alter Freund seiner Mutter.“ Der Pater lächelte. „Sie war so ein guter Mensch und ihre Kinder erst. Eins entzückender als das Andere. Alle drei haben unserer Gemeinde viel Freude bereitet, das kann ich euch sagen.“ „Soll das heißen, Reino-kun ist auch Christ und hat in der Stadt gelebt, von der Sie kommen?“, fragte Chiori verblüfft. „Ja und nein“, antwortete er ausweichend. „Bedauernd muss ich zugeben, dass er nicht zu uns kam, um mit uns zu beten. Er spielte nur für uns auf der Orgel. Er ist ein bemerkenswerter Musiker, die ganze Familie war es. Sein großer Bruder wollte sogar Musik studieren, in Amerika, wenn ich mich nicht irre. Bei uns spielte er jedoch auf Geige, während ihre Schwester sang.“ Ein sanftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, während er sich an die vergangenen Tage erinnerte. „Sie war ein kleiner Engel. Äußerst entzückend anzuschauen und ihre Stimme ließ jeden Menschen verstummen.“ „Reino-kun hat uns nie erzählt, dass er Geschwister hat“, rief Chiori erschrocken. Sho konnte es ihr nachfühlen. Normalerweise schwieg man sich nicht über so etwas aus. „Auch nicht von einer Mutter“, fügte er hinzu. „Sind Sie sich sicher, dass er es ist? Vielleicht verwechseln Sie ihn ja.“ „Oh nein, das tue ich nicht. Den Jungen würde ich überall wiedererkennen. Außerdem hat er seinen Namen behalten. Ich hörte, er war die letzten Jahre in einem Waisenhaus?“ „Das ist richtig“, bestätigte der Fuwa-Erbe nickend. „Dahin ist er also verschwunden“, murmelte der Erwachsene gedankenverloren. „Ich muss sagen, das war wirklich clever. Dort würde ihn sicher keiner suchen.“ „Wovon reden Sie jetzt schon wieder?“, rief Sho und sprang auf. „Was ist hier eigentlich los? Wer ist Reino-kun? Was tut er hier? Und was reden Sie da von seiner Familie? Warum hat er uns nichts von ihr erzählt? Was ist denn mit ihr passiert, dass er nicht mehr bei ihnen ist?“ Der Pater sah die beiden Teenager durch ernste Augen an. „Warum er hier ist, kann ich nur spekulieren, doch ich tippe auf Rache.“ Chiori und Sho blinzelten. „Rache?“ „Ja, Rache.“ Er sah düster auf ein Bild hinter ihnen. „Rache an der Familie Tsuruga.“ „Warum sollte er sich an den Tsurugas rächen wollen?“, fragte Chiori mit einer Stimme, die aussagte, dass sie nun gar nichts mehr verstand. „Ganz einfach: Sie haben seine Familie ermordet.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag erhellte ein unerwarteter Blitz die Welt. Das Gewitter war zurückgekommen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Hast du schon gehört? Kyoko-chan soll Tsuruga-sempai heiraten!“ „Was?! Wie fieß! Er ist so cool! Wie kann er jetzt einfach vergeben sein? Aber andererseits ist das logisch. Wenn ich seine Mutter wäre, würde ich auch dafür sorgen, dass er so schnell wie möglich vergeben ist.“ „Trotzdem. Warum ausgerechnet Kyoko-chan? Sie hat doch schon alles, was man sich wünschen kann.“ Sho sah über seine Schulter zu den Mädchen, die in der letzten Reihe des Busses saßen und sich lautstark über die neueste Meldungen unterhielten, die in der Schule die Runde machten. Dass ihr Gesprächsthema nur ein paar Reihen vor ihnen saß, schienen sie gekonnt zu ignorieren. Oder sie hofften einfach, dass es sich äußern würde. „Stört es dich gar nicht, dass sie schon wieder über dich reden?“, fragte er Kyoko. „Nein, wieso sollte es?“, entgegnete sie schulterzuckend. „Sollen sie ruhig reden, so verbreitet es sich von selbst und ich habe meine Ruhe.“ Sho sah sie zweifelnd an, sagte jedoch nichts. Sie waren beide vierzehn Jahre alt und es war bereits zwei Monate seit jenem Tag, als Kyoko den Klavierlehrer ihres Verlobten kennen gelernt und sich in diesen verliebt hatte. Nicht, dass Sho etwas davon gewusst hätte. Er war nur ein Klassenkamerad, nichts weiter. Wobei er der einzige Klassenkamerad war, der immer neben ihr sitzen durfte. So auch an diesen Tag, als sie innerhalb des Klassenverbandes auf den Weg zu einem Freizeitpark waren. Die anderen Jungen und Mädchen sprühten förmlich vor Eifersucht. Sie wollten es sein, die mit Kyoko-chan den Tag verbrachten, nicht dieser Junge. Nun, er konnte auch nichts dafür, dass sie ihn erwählt hatte. Oder dass sowohl Kanae Kotonami, als auch Ren Tsuruga in der Parallelklasse waren und somit nicht mitkamen. „Was hältst du davon, wenn wir alle Achterbahnen durchgehen, zur Mittagspause eine Pizza essen und zum Abschluss mit dem Riesenrad fahren?“, fragte Kyoko, während sie das Prospekt ihres Zielortes studierte. „Hört sich toll an.“ Er versuchte so enthusiastisch wie möglich zu klingen. „Wir können auch einfach alle Geisterbahnen durchgehen oder im „geheimnisvollen Labyrinth spazieren gehen, wenn es dir lieber ist“, meinte sie grinsend. Kyoko war die Einzige, die von seinem schwachen Magen wusste. Eine Achterbahnfahrt wäre für diesen tödlich. „Vielleicht wäre das tatsächlich besser“, meinte er und kratzte sich verlegen am Kopf. Sie lachte leise und widmete sich wieder dem Prospekt. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Es war seltsam, seine Therapiestunden in einem Café abzuhalten. Es hatte etwas Irrationales an sich. Doch im Grunde war alles in seinem Leben irrational geworden. „Also dann mal los, Reino-kun. Sag mir, woran du dich erinnerst.“ „Ich wünschte, ich könnte das so einfach erklären“, meinte der Junge seufzend. „Ich... verstehe es nicht.“ „Deshalb bin ich ja da“, meinte Aiko aufmunternd. „Sag mir, was in deinem Kopf vorgeht und ich sag dir, was mit dir nicht stimmt.“ Ihr Grinsen war daraufhin so breit, dass der Jüngere nicht anders konnte, als zu glauben, dass mit ihr vielleicht wirklich alles gut gehen würde. „Wir haben in einer Stadt gelebt“, begann er. „Wir hatten einen Blumenladen und tranken jedes Wochenende den Tee, den du mir gegeben hast.“ Er lächelte. „Wir waren relativ glücklich.“ Aiko nickte aufmunternd, damit er fort fuhr. „Wir waren drei Kinder. Mein großer Bruder, der Musik studierte, meine kleine Schwester mit der wundervollen Stimme und ich.“ „Der Klavierspieler“, beendete sie seinen Satz. „Ihr wart wirklich ziemlich musikalisch, was?“ „Ja“, entgegnete er fröhlich. „Kaa-san meinte immer, es wäre wichtig, singend und musizierend durchs Leben zu gehen, denn dann sähe die Welt gleich viel fröhlicher aus.“ „Sie war eine sehr weise Frau.“ „Ja, das stimmt.“ Aiko sah ihn forschend an. „Kann es sein, dass du dich wieder an alles erinnerst?“ „Ich... weiß es nicht“, gestand er leise. „Es ist seltsam. Mit jedem Moment, der vergeht, kommen neue Bilder, neue Eindrücke, neue Erlebnisse. Es ist als... wären meine Erinnerungen hinter einem Damm verschlossen gewesen, der nun soweit geöffnet wurde, dass sie Tropfen weise heraus kommen und an ihren geordneten Platz zurückkehren.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Das muss sich furchtbar schräg anhören.“ „Nicht schräger als das, was ich sonst immer zu hören bekomme“, beruhigte sie ihn grinsend, wurde jedoch sofort wieder Ernst. „Weißt du, was mit deiner Familie passiert ist und warum du alleine in diesem Waisenhaus angekommen bist?“ „Nein“, antwortete er niedergeschlagen. „Ich versuche, mich zu erinnern, aber es hat keinen Sinn. Ich weiß nur, dass es dunkel war und kalt und dass es furchtbar weh tat. Mehr nicht.“ „Das bedeutet wohl, dass, was immer auch passiert ist, der Grund für deine Amnesie ist“, erklärte sie ruhig. „Dein Körper beschützt dich vor einem schrecklichen Erlebnis.“ Sie schluckte. „Es tut mir Leid, aber es kann sehr wahrscheinlich sein, dass deine Familie tot ist.“ „Damit rechne ich bereits“, erwiderte er leise. „Auch wenn ich hoffe, dass es nicht so ist.“ „Hattet ihr auch einen Vater?“, fragte sie nach einem Moment der Stille. Reinos Gesicht verdüsterte sich. „Ja. Aber er war ein Idiot.“ „Warum?“ „Er hat Kaa-san zum weinen gebracht“, erklärte er ruhig. „Niemand hat das geschafft, außer er.“ „Und deshalb mochtest du ihn nicht?“ „Nein. Deshalb war er ein Idiot. Aber er war ein guter Mensch und wollte nur das Beste für uns. Doch leider hatte er eine andere Definition von dem Begriff als wir.“ „Das hört sich sehr kompliziert an.“ „Das ist es für Außenstehende wahrscheinlich auch. Für uns war es die Normalität.“ „Erzähl mir, was passiert ist, Reino.“ „Nein“, sagte er fest und schüttelte mit dem Kopf. „Das hat nichts mit der Suche nach meiner Schwester zu tun. Wenn sie noch lebt, müssen wir sie finden, Aiko! Sie ist noch ein Kind! Sie kommt alleine nicht klar!“ „Alles klar“, meinte sie seufzend. „Dann erzähl mir von deiner Schwester.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Im Großen und Ganzen war der Tag doch recht lustig gewesen. Zwar hatte Sho die meiste Zeit damit verbracht, neben einer Achterbahn zu stehen und darauf zu warten, dass Kyoko mit ihrer Fahrt fertig war, um mit ihr zur Nächsten zu laufen, doch es hätte schlimmer sein können. Nun saßen sie in der Gondel des großen Riesenrads, das den ganzen Freizeitpark überragte und eine unglaubliche Aussicht bot. Doch dass in genau diesem Augenblick die Sonne unterging, war einfach nur schrecklich kitschig. „Danke, dass du heute bei mir warst.“ Sie weinte. Er wusste selbst nicht weshalb, aber sie tat es. „Du bist so ein guter Mensch.“ Noch mehr Tränen. Warum? Hatte er etwas Falsches getan? Schließlich der Satz, der alles bedeutete und doch nichts: „Ich will nicht heiraten. Zumindest nicht Ren.“ Warum nicht? „Er hasst mich. Zu jedem anderen Mädchen ist er nett, aber mich hasst er.“ Warum? „Ich bin seine Verlobte. Ich nehme ihm die Freiheit, selbst zu entscheiden.“ Und du liebst ihn nicht. Nein, das tat sie nicht. Sie liebte jemand anderes. Doch er selbst war es auch nicht. Eine Umarmung. Tröstende Worte. Heiße Tränen. Die Erkenntnis, dieses Mädchen zu lieben. Die Gewissheit, sie niemals zu besitzen. Die Wut, dass jemand anderes sie haben würde, doch nichts von dem da sein würde, was er fühlte. Die Eifersucht, die Trauer, die Verzweiflung. Das Ende. Nach diesem Abend sprach Kyoko nicht mehr mit ihm. Und es brach ihm das Herz. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Die Familie Tsuruga soll Reinos Familie umgebracht haben?“, wiederholte Sho grinsend. „Das würde denen ähnlich sehen.“ „Was meinst du damit, Sho?“, fragte Chiori erschrocken. „Tsuruga-sempais Familie ist doch sehr ehrenwert und dafür bekannt, nur Gutes zu tun.“ „Und doch stecken sie fest in den Geschäften der Yakuzas drin“, fügte der Pater ruhig hinzu. „Die japanische Mafia“, hauchte das Mädchen. „Was haben sie mit Reinos Familie zu tun?“ „Sie waren so dumm, sich bei ihnen zu verschulden“, erklärte der Pater. „Und leider konnten sie die Schulden nicht schnell genug zurückzahlen.“ „Das heißt also“, begann Sho langsam, „dass sie seine Familie ausgeschaltet haben, weil sie ihre Schulden nicht begleichen konnten.“ Der Pater nickte. Augenblicklich brach Chiori in Tränen aus. „Das ist ja grauenhaft! Der arme Reino-kun!“ Auch der Blondhaarige war entsetzt. Kein Wunder, dass Reino ihm nie etwas erzählt hatte! Und er Dummkopf war auch noch beleidigt gewesen. Er kam sich wie der größte Idiot auf dieser Welt vor. Plötzlich öffnete jemand die Tür und alle drehten sich zu dem Neuankömmling um. Es war Ren, doch er sah nicht so aus, wie seine Mitschüler es gewohnt haben. Er war leichenblass und es hatte den Anschein, dass er sich jeden Moment übergeben würde. „Bitte sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist.“ Sein Blick war unverwandt auf den Pater gerichtet. „Bitte sagen Sie mir, dass sie das nicht getan hat.“ Der Pater seufzte bedauernd. „Ich fürchte doch.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Viele Leute fragten immer, warum Sho Ren hasste. Manche glaubten, weil der Andere einfach klüger und besser aussehend war. Weil er selbst nicht so perfekt war. Doch das stimmte nicht. Ren bekam immer alles, was er wollte und das, ohne es selbst zu begehren. Gute Noten. Die besten Privatlehrer. Freunde. Bewunderung. Und Kyoko. Doch Ren liebte Kyoko nicht, sondern verachtete sie. Sho liebte Kyoko, doch sie sprach nicht mehr mit ihm. Als Reino sich mit Ren anfreundete, war es für ihn, wie ein Déjà-vu. Wieder bekam der Andere etwas, das er zuerst für sich gefunden hatte. Wieder blieb er allein zurück. Und wahrscheinlich würde es nur wieder damit enden, dass jemand weinen würde. Aber es stimmte nicht. Er war nicht allein. In seiner neuen Schule hatte er Chiori gefunden, die einzige Person, die Ren ihm nicht wegnehmen würde, nicht wegnehmen konnte. Viele fragten, warum Sho Fuwa Ren Tsuruga hasste. Die Wahrheit war: Er hasste ihn nicht. Er konnte nur nicht verstehen, warum er nicht denselben Wert in den Dingen sah, die er selbst so sehr begehrte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Es ist nicht deine Schuld, Ren“, sagte der Pater ruhig, als der Junge sich zu ihnen gesetzt hatte. „Sie hat sie nicht wegen deiner Freundschaft zu Reino-kun umbringen lassen.“ „Es war wegen Kyoko, nicht wahr?“ Sho und Chiori zuckten zusammen. Der Schwarzhaarige hörte sich so an, als könne er jeden Moment einen Mord begehen. „Weil sie sich unbedingt mit Reinos Bruder einlassen musste und aus Mutters Sicht das größte Verbrechen aller Zeiten beging.“ „Du wusstest, dass sie es wusste?“ „Ich habe sie reden gehört“, erklärte Ren und Sho erschrak, als er erkannte, dass seine Hände zitterten. „Kaa-san und Mogami-san. Dieser Idiot ist zu Kyokos Eltern gegangen und hat um ihre Hand angehalten.“ Er schüttelte heftig mit dem Kopf und der Blondhaarige sah, wie leise Tränen an seiner Wange herab liefen. „Ich habe ihm gesagt, er soll verschwinden“, fuhr er fort, doch es war deutlich, dass es ihm schwer fiel, Fassung zu bewahren. „Und seine Familie mitnehmen. Als sie nicht mehr da waren, hatte ich gehofft, er hätte auf mich gehört. Aber er hat es nicht. Er ist geblieben, weil wir gemeinsam nach Tokyo wollten, wenn ich aus der Schule zurück käme. Und jetzt sind sie tot.“ Ren vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Seine zuckenden Schultern verrieten, dass er hemmungslos zu weinen begonnen hatte. Eilig hastete der Pater um seinen Schreibtisch herum und zog den Teenager in eine tröstende Umarmung. „Es ist nicht deine Schuld“, wiederholte er. „Du hast getan, was du konntest. Niemand hätte sie retten können. Wären sie geflüchtet, hätten sie sie früher oder später gefunden. Außerdem sind sie nicht alle tot. Reino lebt noch.“ Der Pater zögerte kurz, bevor er fort fuhr: „Du musst es ihm sagen, Ren. Du musst ihm sagen, dass du weißt, wer er ist. Sonst hält er dich wohl möglich für einen Verräter und wird dich in seine Rache einbeziehen.“ Ren schüttelte den Kopf und sah ihn fest an. „Reino ist nicht so ein Mensch, Pater. Er nimmt an niemanden Rache, egal, was man ihm antut und mir würde er nie schaden. Das wissen Sie doch genauso gut wie ich, oder?“ Der Erwachsene lächelte. „Natürlich. Ich mache mir nur Sorgen.“ Chiori und Sho wechselten einen Blick. „Würde uns vielleicht auch mal jemand aufklären?“ Diese Frage zauberte ein Lächeln auf Rens Gesicht. „Erst, wenn er es weiß.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Bist du dir sicher, dass du alleine zurückgehen willst?“, fragte Aiko besorgt. „Du kannst auch solange bei mir auf Julie oder meinetwegen auch mich selbst warten, damit wir dich zurückbringen...“ „Nein, es geht wirklich in Ordnung“, sagte der Junge. „Das Gewitter hat ja aufgehört und ich liebe die frische Luft nach dem Regen.“ „Das ist ja schön und gut, aber es wird bereits ziemlich dunkel.“ „Mach dir keine Sorgen. Es ist Wochenende, es werden ganz viele andere Schüler auf dem Weg von der Schule in die Stadt oder zurück sein.“ „Na schön... aber melde dich bitte, wenn du in der Schule angekommen bist, ja? Ich mache mir sonst wirklich Sorgen.“ Reino versprach es ihr und sah dabei zu, wie sie zu ihrer Praxis davon lief. Sobald sie um die nächste Ecke gebogen war, drehte er sich zur Kirche um und spähte zu dem Gebäude hinüber, wo Licht brannte. Er wusste, dass Chiori, Sho und Ren dort waren und wahrscheinlich redeten sie mit dem Pater. Er hatte sie alle gesehen, wie sie hinein gingen und nicht wieder heraus kamen. Auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, was das sollte. Ren – okay. Der war gläubig und traf sich öfters mit ihm. Aber Sho und Chiori? Kurz überlegte er, ob auch er sich hinein schleichen und herausfinden sollte, was los war, doch dann zuckte er mit den Schultern. Wenn es ihn etwas anginge, würden sie ihn heute Abend schon darauf ansprechen. Er hatte mit seinem halben Gedächtnis schon genug Probleme, er brauchte nicht noch mehr. Also lief er kurz entschlossen aus der Stadt hinaus. Es war ein schöner Abend, der den nahenden Sommer erahnen ließ. Langsam spazierte er aus der Stadt und lief ein Stück die Hauptstraße entlang. Dann überlegte er, dass es schön wäre, über das Feld zu laufen. Der Weg war zwar verlassen, aber es ging schneller und dort würde er noch mehr das Gefühl haben, mitten in der Natur zu sein. Fröhlich pfeifend schlug er diesen Weg ein. Doch diese Entscheidung würde er teuer bezahlen müssen. Er war etwa in der Mitte des Feldes, als er plötzlich von mehreren Personen umstellt wurde. Erschrocken versuchte er, zu entkommen, doch es waren zu viele und sie waren zu stark und einer von ihnen hob einen Stein auf, während die anderen ihn fest hielten, und stieß ihm damit auf den Hinterkopf. Danach gab es für ihn nur noch Dunkelheit. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Das Zimmer, dass er und Ren sich teilten, lag dunkel und verlassen da, als das Klopfen ertönte. Kurz darauf steckte Kyoko ihren Kopf zur Tür herein. „Ren? Reino? Ist jemand da?“ Als sie keine Antwort erhielt, wollte sie wieder gehen. Doch dann fiel ihr Blick über Rens schwarze Rosen und sie hielt inne. „Was zum...?“ Die schwarzen Blütenblätter waren allesamt auf den Boden gefallen. Kapitel 8: Wish you were here ----------------------------- So, so you think you can tell Heaven from Hell, Blue skys from pain. Can you tell a green field From a cold steel rail? A smile from a veil? Do you think you can tell? How I wish, how I wish you were here. We're just two lost souls Swimming in a fish bowl, Year after year, Running over the same old ground. What have we found? The same old fears. Wish you were here. Pink Floyd – Wish you were here ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Er bemerkte zuerst nicht, dass das Telefon klingelte. Das war der Nachteil, wenn man die Angewohnheit hatte, lautstark Musik zu hören, man war für alles andere taub. Vielen fanden es merkwürdig, dass er, der Schulleiter einer renommierten Schule, solch eigenartige Verhaltensweisen an den Tag legte. Aber hey, man blieb nicht jung, indem man wie alle anderen Sonntagnachmittags im Gemeindehaus Kaffee trinken ging und über die neuesten politischen Begebenheiten diskutierte, sondern indem man etwas gutes für Körper und Geist tat. Und was war da besser als Wolfgang Amadeus Mozarts Violinsinfonie Nummer 1? Zumindest stellte Rory Takarada sein Radio schnell leise und griff nach dem Telefon. „Royal-Society-Hight-School, Takarada am...“ „Rory-san, ich mache mir Sorgen!“, schrie ihm die Stimme von Aiko Yashiro entgegen, bevor er seinen Satz beenden konnte. „Weißt du, ob Reino-kun in der Schule angekommen ist?“ Der Lehrer runzelte die Stirn. „Weißt du, ich bin zwar Schulleiter, aber im Gegenteil zu Albus Dumbeldore aus den Harry Potter Romanen weiß ich nicht zu jedem Zeitpunkt, wo sich meine Schüler herumtreiben und in welchen Problemen sie jetzt schon wieder stecken. Gibt es denn einen Grund für deine Sorgen?“ „Ja! Wir hatten heute wieder eine Sitzung und danach ist er alleine zurück in die Schule gelaufen, da er einen Spaziergang machen wollte. Das war jetzt vor vier Stunden!“ „Ja... und?“ „Er wollte mich anrufen, Rory-san. Sobald er auf dem Schulgelände angekommen ist.“ Ihre Stimme klang jetzt Tränen erstickt. „Was, wenn ihm etwas passiert ist?“ „Okay, Aiko-chan, jetzt atme einmal tief durch. Reino ist ein Teenager. Vielleicht ist er mit seinen Freunden danach ins Kino gegangen oder er sitzt in einem Musikzimmer und hat die Zeit vergessen. Ich werde jetzt Kuu anrufen und fragen, ob er wieder angekommen ist. Sicher ist alles in Ordnung.“ „Gut... du meldest dich doch, wenn du mehr weißt?“ „Natürlich. Und jetzt entspann dich erst einmal. Du weißt selbst am allerbesten, was geschieht, wenn man sich zu oft aufregt.“ Kopfschüttelnd legte er auf und wählte Kuus Nummer. Aiko machte sich einfach immer zu viele Sorgen. Das sollte man nicht so ernst nehmen. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl im Magen. Der Lehrer meldete sich bei fünften Klingeln. „Ah, gut dass du da bist. Sag, Reino-kun ist doch heute zu Aiko gegangen, nicht? Ist er seitdem schon einmal zurückgekommen?“ „Nein, bisher noch nicht“, entgegnete der Lehrer überrascht. „Warum? Willst du ihn sprechen?“ „Nein, nein“, Rory zögerte kurz, bevor er fragte: „Sag, sind Ren und Fuwa-kun da?“ „Ja, sie sind vor etwa einer Stunde aus der Stadt zurückgekommen. Warum? Ist etwas passiert?“ Der Schulleiter schwieg einen Moment. „Ruf mich bitte an, sobald Reino-kun wieder da ist, ja? Ich muss jetzt noch etwas Wichtiges erledigen.“ „Natürlich, bis dann“, erwiderte Kuu überrascht und legte auf. Augenblicklich wählte Rory Julies Nummer. „Ist Amamiya-san da?“ „Ja, sie ist in ihrem Zimmer.“ „Allein?“ „Natürlich, warum fragst du?“ „Reino-kun ist nicht zufälligerweise bei ihr, oder?“ „Nein, natürlich nicht. Er muss schon vor Stunden in seinem Zimmer angekommen sein, zumindest meinte Aiko, er wäre allein zurückgegangen. Warum? Was ist los?“ „Nicht so wichtig, es war nur eine Frage. Mach dir noch einen schönen Abend.“ Er legte auf und blieb für einen Augenblick reglos sitzen. Dann wählte er Aikos Nummer. „Ich glaube, wir haben ein Problem“, sagte er, sobald sie abgehoben hatte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Das ist ziemlich schräg“, sagte Yashiro und starrte auf die Blütenblätter, die sich unter Rens schwarzen Rosen ausgebreitet hatten. „Gibt es so etwas überhaupt, dass alle Blüten gleichzeitig verwelken?“ „Nicht, dass ich wüsste“, meinte Kyoko und sah zu ihrem Verlobten auf, der zwischen ihnen stand und stumm auf die Pflanze starrte. Er sah nicht gut aus, ganz und gar nicht gut. Sein Gesicht war ungewöhnlich blass und seine Hände zitterten kaum merklich. Bisher hatte sie ihn nur in zwei Situationen so gesehen: Immer, wenn er von einem Gespräch mit seiner Mutter kam und an den Tag, an dem sie vor dem abgebrannten Haus seines besten Freundes und ihrer großen Liebe gestanden hatten. Noch heute kamen ihr die Tränen, wenn sie nur daran dachte, weshalb sie die Erinnerung eilig aus ihrem Kopf vertrieb. „Es gibt eine Situation, an der eine Pflanze all ihre Blüten verliert“, sagte Ren plötzlich und die Beiden anderen sahen ihn gespannt an. Er ging auf seinen Schreibtisch zu, bückte sich und begann, jedes einzelne, schwarze Blatt aufzulesen. Kyoko fiel auf, dass er sie mit einer ungewohnten Sanftheit berührte. Reino musste ihm wirklich viel bedeuten. „Und was ist das für eine Situation?“, wollte Yashiro wissen, als der Schwarzhaarige nicht fortfuhr. Er bekam keine Antwort. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass Reino wirklich der Reino sein soll“, murmelte Kyoko. „Wo wir ihn doch beinahe jede Woche gesehen haben. Wie oft hat er seinen Bruder abgeholt? Und wie oft bin ich zu euch gekommen, um dich rechtzeitig zurück ins Haus zu zerren? Wieso habe ich ihn nicht sofort erkannt?“ „Vielleicht wolltest du ihn nicht erkennen“, schlug Yashiro vor. Sie schien diesen Gedanken kurz zu überdenken. Dann sah sie Ren hoffnungsvoll an. „Meinst du, wenn er es überlebt hat, dass Jeremy auch...?“ „Ich weiß es nicht, Kyoko“, erwiderte er sofort. „Aber ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen.“ Verärgert ballte sie ihre Hände zu Fäusten, bevor sie zu ihm ging, sich vor ihm niederkniete, ihn bei den Schultern packte und damit begann, ihn heftig zu schütteln. „Hör auf, immer so negativ zu sein!“, schrie sie, was Yashiro augenblicklich zusammen zucken ließ. „Und lass dich nicht so gehen! Reino lebt, verdammt noch mal! Er lebt und du kannst froh darüber sein!“ Tränen liefen nun über ihr Gesicht und sie hörte auf damit, ihn zu schütteln. „Warum kann er also nicht auch leben.“ Ren starrte sie einen Moment lang ausdruckslos an, beobachtete, wie ihre Tränen langsam über ihre Wangen rollten, wie sie kurz davor war, zu zerbrechen. Ohne lange zu überlegen, zog er sie in eine tröstende Umarmung. „Es tut mir Leid“, murmelte er. „So Leid.“ Anstatt etwas zu erwidern, vergrub sie ihren Kopf in seiner Schulter und ließ all die Trauer heraus, die sie in den letzten Monaten zurückgehalten hatte. Yashiro stand währenddessen neben den Beiden und fragte sich, warum das alles passieren musste. Doch es gab noch eine Frage, die ihn beschäftigte. Wo war Reino? Auch Ren machte sich Sorgen. Sho und Chiori hatten ihm auf dem Rückweg erzählt, dass sein Freund von Aiko therapiert wurde und in der Regel dauerten ihre Sitzungen nicht so lange. Die Tatsache, dass die Rosen, die der Junge ihm damals geschenkt hatte, so plötzlich verblüht waren, halfen auch nicht dabei, seine Bedenken zu zerstreuen. Plötzlich musste er lächeln, als es sich an ihre erste Begegnung erinnerte. Bereits damals schien sich alle nur um Rosen gedreht zu haben. Rosen und Musik. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Es war einer der seltenen Tage, an den Tsuruga-san mit ihrem fünfjährigen Sohn durch die Straßen der Stadt spazierte. Die anderen Stadtbewohner grüßten sie ehrfurchtsvoll und jene, mit denen die inoffizielle Herrin der Stadt zu sprechen gedachten, lobten den „süßen, kleinen Jungen“ und den neuesten Film von Tsuruga-sama, der in letzter Zeit leider nur selten Zuhause war. Sobald sie an ihnen vorbei war, drehten sich alle Bürger zu ihr um und stellten alle dieselbe, stumme Frage: „Wohin ist sie nur auf den Weg?“ Diese Antwort sollte sehr bald die junge Mrs. Lawliet herausfinden. Sie und ihr Mann waren gebürtige Engländer und waren erst vor kurzem nach Japan übergesiedelt, um hier einen Blumenladen zu eröffnen. Beziehungsweise, Mrs. Lawliet wollte es. Ihr Mann ging anderen Beschäftigungen nach, die viel mit dem Broterwerb von Tsuruga-san zu tun hatten. Nicht, dass sie davon gewusst hätte. Ihr Mann verstand sich darauf, Dinge vor ihr zu verheimlichen. Sie hatte drei Kinder. Zwei Söhne, sechzehn und fünf Jahre alt, sowie eine Tochter, die erst vor einigen Monaten das Licht der Welt erblickt hatte. Der Altersunterschied, inklusive ihrer jungen Erscheinung waren selbstverständlich ein Skandal gewesen, allerdings war sie geschickt darin, jeglichen Fragen auszuweichen. Als Tsuruga-san und ihr Sohn den Laden betraten, war sie gerade dabei, ihre Tochter im Wohnzimmer zu stillen, weshalb ihre Söhne im Verkaufsbereich waren. „Guten Tag, Tsuruga-san“, sagte der Älteste sofort höflich, während Reino von den Blumen aufblickte, die er gerade untersucht hatte. „Guten Tag, Jeremy“, erwiderte sie ruhig. „Wo ist deine Mutter?“ „Im Wohnzimmer, sie stillt meine Schwester. Soll ich sie holen?“ „Ich bitte darum.“ Nickend lief er davon. Während sie wartete, sah sich Tsuruga-san prüfend das Sortiment an. „Gar nicht mal so schlecht für eine Ausländerin“, murmelte sie und nahm eine besonders ausgefallene Pflanze näher in Augenschein. Ren nutzte diesen kurzen Moment, in dem ihre Aufmerksamkeit nicht auf ihm lag dazu, sich seinerseits umzusehen. Schon bald fand er Blumen, denen er einen Namen zuordnen konnte: Rosen. Zuhause hatten sie jede menge davon, allerdings wuchsen sie auf runden Sträuchern und nicht aus bunten Eimern. Allerdings sahen die in der hintersten Reihe dunkler aus, als die, die er kannte. Neugierig trat er näher. „Das sind Kaa-sans schwarze Rosen.“ Überrascht blickte er auf. Der jüngste Sohn der Blumenhändlerin hatte seine Augen aufmerksam auf ihn gerichtet und schien jede seiner Bewegungen zu beobachten. „Schwarze Rosen?“, wiederholte Ren. „Aber die gibt es doch gar nicht.“ „Das stimmt“, entgegnete der Junge und der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. „Deshalb wird Kaa-san sie ja erschaffen und dann wird sie berühmt.“ Tsuruga-sans Sohn blinzelte. Dieser Junge irritierte ihn. Normalerweise wagten die anderen Kinder es nicht, ihn auch nur anzusehen und dieser sprach nicht nur mit ihm, sondern widersprach ihn auch. Automatisch breitete sich ein herzliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Ich bin Ren.“ „Reino.“ Die Beiden sahen sich grinsend an, ohne zu wissen, dass gerade die wichtigste Beziehung in ihrem Leben begonnen hatte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Tsuruga-san kaufte an diesem Tag mehrere Blumenkörbe und unterhielt sich angeregt mit Mrs. Lawliet, an der sie ein großes Interesse zu entwickeln schien, zumindest kam sie daraufhin des Öfteren vorbei, um mit ihr zu plaudern. Aus diesem Grund tolerierte sie die sich anbahnende Freundschaft zwischen Ren und Reino, die vor allem dadurch vertieft wurde, dass sie gemeinsam von Jeremy im Klavierspielen unterrichtet wurden. Wobei Reino schon bald um einiges besser war, als sein Freund. „Das ist einfach zu erklären“, meinte er eines Tages, als Ren sich darüber beschwert hatte. „Du musst das hier lernen, weil deine Mutter darauf besteht. Da fällt es dir selbstverständlich schwerer, es wirklich zu genießen. Der Schwarzhaarige hatte daraufhin gelächelt. „Aber es macht mir doch Spaß!“ „Ich weiß. Aber der Trotz ist dennoch da. Außerdem liegt mir das musizieren im Blut“, meinte der Andere grinsend. „Sieh dir nur Maria an. Auch sie beginnt schon zu singen.“ „Sehr witzig, wirklich“, meinte er sarkastisch, konnte aber sein Lächeln nur schwer verbergen. Sein Freund grinste nur. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als sie acht Jahre alt wurden, verlobten Rens Eltern ihn mit Kyoko. Allerdings lernte er sie erst einige Jahre später kennen. Dafür trat in dieser Zeit Yukihito Yashiro in ihr Leben. Er kam des Öfteren zu Besuch und dann streiften sie zu dritt durch die Stadt und den nahen Wald. Dennoch wurde der Junge ihnen niemals so wichtig, wie sie sich aneinander waren. Mit den Jahren waren sie nämlich beinahe unzertrennlich geworden und die Stadtbewohner nannten sie Spaßeshalber „Zwillinge“. Bald darauf wurde jedoch „Drillinge“ daraus. Maria liebte und verehrte ihren großen Bruder und sah dessen Freund als eine Art Heiligen an. Deshalb folgte sie den Beiden bald auf Schritt und Tritt, was alle mit einer gewissen Belustigung beobachteten. „Sein Sie vorsichtig, Lawliet-san“, sagten die Leute oft zu ihrer Mutter, wenn sie in ihren Laden kamen. „Sonst wird ihr kleines Mädchen noch zu einen Jungen.“ Die junge Frau nahm es mit Humor und freute sich, dass ihre Kinder glücklich waren. Niemand hätte gedacht, dass sich dies jemals ändern würde. Nicht einmal Tsuruga-san selbst. Wahrscheinlich war der ganze Skandal deshalb für alle so schockierend, da es keine Vorwarnung gab. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ich mache mir Sorgen.“ Der vierzehnjährige Reino blickte von seinen Mathehausaufgaben auf. Sie saßen im Garten der Lawliets. Maria hatte gerade Gesangsunterricht und Mrs. Lawliet war im Laden beschäftigt, weshalb die Beiden relativ ungestört für die Schule lernen konnten. Das war relativ selten der Fall, da normalerweise immer Reinos kleine Schwester da war, um sie zu stören. „Worüber?“ „Deinen Bruder und Kyoko“, erklärte Ren und spielte nachdenklich mit seinem Bleistift. „Sie haben an meinem Geburtstag miteinander geschlafen.“ Reino fluchte. „Deine Mutter wird die Beiden killen.“ „Nur, wenn sie es erfährt“, meinte der Schwarzhaarige schulterzuckend. „Sie wird es erfahren“, murmelte sein Freund, der plötzlich recht gehend beunruhigt schien. „Wenn du es schon mitbekommen hast...“ Er schwieg kurz, bevor er mit brüchiger Stimme hinzufügte: „Sie wird uns alle umbringen, wenn sie in Jeremy eine Gefahr sieht.“ Bevor er sich versah, wurde er in eine feste Umarmung gezogen. „Mach dir keine Sorgen“, murmelte Ren sanft. „Das wird nicht passieren.“ „Was macht dich da so sicher?“ Reino war es gewohnt, dass sein Freund ihn öfter in den Arm nahm und es störte ihn auch nicht sonderlich. Es tat gut, ab und zu von jemanden gehalten zu werden, der stärker als man selbst war und der einem dadurch neue Kraft und Zuversicht gab. „Ich werde mit Kyoko reden und ihr sagen, dass sie vorsichtiger sein soll. Sie wird aufpassen, da bin ich mir sicher. Und wenn Kaa-san davon erfährt, werde ich rechtzeitig da sein, um euch zu warnen. Versprochen.“ Der Blondhaarige lehnte sich lächelnd tiefer in die Umarmung. „Ich weiß. Ich will nur nicht, dass Kaa-san und Maria etwas passiert.“ Das brachte Ren zum Lachen. „Was denn? Ist Jeremy dir etwa egal?“ „Der kann auf sich aufpassen“, meinte Reino grinsend. „Wenn er dir schon deine Verlobte ausspannt.“ eine kurze Stille senkte sich über die Beiden, bevor sie gleichzeitig in lautes Gelächter ausbrachen. „Ich fände es nicht schlecht, wenn Kyoko die Verlobung lösen würde, um mit Jeremy zusammen zu kommen“, meinte Ren schließlich. „Das würde jede menge Probleme lösen.“ „Ja, dann bekommst du deine lang ersehnte Freiheit wieder“, meinte Reino spaßhaft. „Bis deine Mutter eine neue Verlobte gefunden hat, versteht sich.“ Der Schwarzhaarige verzog sein Gesicht. „Sprich nicht davon, mir wird sonst noch schlecht.“ „Sei nicht so ungerecht. Es gibt viele nette Mädchen da draußen. Du wirst auch eines Tages eines finden, das dir gefällt.“ Ren zog seine Arme wieder zurück und stand auf, was sein Freund verwirrt beobachtete. „Ren?“ „Tut mir Leid, aber mir ist gerade eingefallen, dass ich heute früher Zuhause sein muss“, erklärte er mit einem gequälten Lächeln. „Kaa-san hat ein paar Besucher eingeladen.“ „Oh, verstehe“, sagte Reino mitfühlend. „Soll ich dich bis zu eurem Haus begleiten?“ „Nicht nötig“, meinte er eilig. „Du musst dringend mit deinen Hausaufgaben fertig werden, sonst wird der Sensei wieder schimpfen. Bis morgen!“ Winkend lief er davon, einen verwirrten Reino hinter sich zurücklassend. Nie im Leben würde er zugeben, warum er in Wahrheit so eilig die Flucht ergriff. Doch seinen besten Freund so heiter von ihm und irgendeinen Mädchen reden zu hören, war... irgendwie seltsam. Wobei er dieses Gefühl selbst nicht verstand. Er wusste nur, dass er weg musste und das sehr schnell. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ein Jahr später kam Saena Mogami zu Besuch. Im Grunde war das nichts ungewöhnliches, sie und Tsuruga-san trafen sich des Öfteren, doch ihr Blick verriet nichts Gutes, weshalb Kyoko und Ren sich vor die Tür des Arbeitszimmers stellten und gespannt lauschten. Was sie hörten, war alles andere als gut. „Kennst du einen Jeremy Lawliet?“, fragte Saena. „Jeremy? Ja, er ist der Sohn von meiner Blumenhändlerin. Du weißt schon. Von ihr haben wir unseren Strauß schwarze Rosen. Außerdem unterrichtet er Ren im Klavierspiel. Warum? Was ist mit ihm?“ „Er ist zu uns gekommen“, erklärte Saena und ihre Stimme zitterte von unterdrückter Wut. „Dieser unverschämte Bengel ist zu uns gekommen und hat um die Hand meiner Tochter angehalten.“ Kyoko atmete erschrocken ein und Rens Augen weiteten sich. Verdammt! „Wie kommt er denn auf diese absurde Idee?“, fragte Tsuruga-san betont ruhig, doch Ren wusste, dass sie insgeheim eins und eins zusammenzählte. „Offenbar haben sie bereits seit einem Jahr ein Verhältnis“, antwortete Saena. „In eurem Haus.“ Die Anschuldigung in ihren Worten war nicht zu überhören. „Ich verstehe“, murmelte Tsuruga-san. „Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Ich werde mich darum kümmern.“ Ren und Kyoko wechselten einen kurzen Blick, bevor sie gleichzeitig nickten und machten, dass sie wegkamen. Sie mussten die Lawliets warnen! ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ein paar Monate standen die Beiden vor dem abgebrannten Blumenladen, in denen sie noch vor einem Jahr beinahe täglich gewesen waren. Nun war nur noch Asche übrig. „Nicht einmal den Garten haben sie in Ruhe gelassen“, murmelte Ren. Er war leichenblass und zitterte unkontrolliert. Kyoko bewunderte ihn dafür, dass er nicht weinte, wo ihr die Tränen schon vor Stunden gekommen waren, als sie an dem Gebäude vorbei gefahren waren, um zur Villa der Tsurugas zu kommen. Niemand hatte ihnen gesagt, was passiert war. Im Grunde waren nur zwei Szenarien möglich: Entweder hatte die Familie das Haus selbst in Brand gesteckt und befand sich nun wieder in England oder einen anderen Teil der Welt oder aber Tsuruga-san war dafür verantwortlich und ihre Asche befand sich irgendwo zwischen den Trümmern. Beide hofften, dass ersteres der Fall war, wobei sie letzteres für wahrscheinlicher hielten. „Ich kann nicht glauben, dass wir sie nie wiedersehen werden“, schluchzte Kyoko und fiel verzweifelt auf die Knie. „Ich kann nicht glauben, dass alles vorbei sein soll.“ Als sie zu ihrem Verlobten aufblickte, konnte sie auch auf seinem Gesicht eine nicht endende Tränenspur erkennen und ihr wurde klar, dass sie nicht die Einzige war, die den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte. Ein paar Stunden später fand sie Yashiro, der es nach langem Zureden schaffte, die Beiden dazu zu bewegen, mitzukommen. Auch er war auffallend blass, was sie daran erinnerte, dass auch er die Familie sehr gemocht hatte, obwohl er niemals mit ihr so warm geworden war, wie die beiden Anderen. Kurz darauf stieß auch Kanae zu ihnen, die von Mogami-san angerufen worden war, damit sie auf Kyoko Acht geben konnte. Zu viert setzten sie sich in Rens Zimmer, wo sie lange Zeit blieben und einfach schwiegen. Von diesem Tag an, waren sie normalerweise nur unter sich und gestatteten es niemand anderen, sich ihnen anzuschließen. Viele glaubten, es liege daran, dass sie so perfekt und reich waren. Niemand hätte jemals gedacht, dass der wahre Grund so traurig sein könnte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Langsam tauchte Ren aus seinen Erinnerungen wieder auf. Es war schon ziemlich spät, Kyoko und Yashiro waren schon vor langem verschwunden und Reino war immer noch nicht zurückgekommen. Draußen war es bereits stockdunkel, weshalb er begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Es sah seinem Freund nicht ähnlich, so lange auf sich warten zu lassen. Schon allein deshalb, weil er es hasste, anderen Leuten Sorgen zu bereiten. Das war schon immer so gewesen und hatte sich bis heute nicht geändert. Wo blieb er nur solange? Plötzlich klopfte es an die Tür und Rory kam herein, gefolgt von vier Personen: Aiko Yashiro, dem Pater und zwei Polizisten. Ren stand stirnrunzelnd auf und sah die fünf Erwachsenen fragend an. „Ren, ich fürchte, wir kommen mit beunruhigenden Neuigkeiten zu dir“, sagte der Schulleiter ernst. „Das hier sind Inspektor Takagi und sein Partner Sato. Bevor wir dir mitteilen, was wir dir zu sagen haben, müssen sie dir ein paar Fragen stellen.“ „Okay...“, antwortete er verwirrt. „Dann schießen Sie mal los, Inspektor.“ „Weißt du, wo in der Nähe deine Mutter eine ihrer Basislager hat?“, fragte Takagi sofort. Ren blinzelte. „Warum wollen Sie das wissen?“ „Beantworte zuerst unsere Frage.“ „Das kann ich nicht, ohne zu wissen, um was es geht. Sie hat hier in der Nähe nämlich mehr als ein Lager. Wenn Sie mir sagen, worum es geht, werde ich vielleicht wissen, welches es am ehesten sein konnte.“ Und ob es sich lohnte, sich gegen seine Mutter zu wenden. Die Yakuzas nahmen Hochverrat nicht besonders auf die leichte Schulter. Die Polizisten wechselten einen Blick, doch es war der Pater, der ihm antwortete: „Es geht um Reino-kun, Ren. Wir glauben, dass deine Mutter ihn entführt hat.“ Die Augen des Schülers weiteten sich und er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. „Wie lange?“, fragte er. „Fünf Stunden“, sagte Aiko. Ihm fiel auf, dass ihre Augen schrecklich gerötet waren. „Oh, ich war so dumm. Ich hätte darauf bestehen sollen, ihn zu begleiten.“ „Es ist nicht Ihre Schuld, Yashiro-san“, sagte Takagi freundlich. „Niemand hätte ahnen können, dass ihm etwas auf dem Rückweg passieren würde.“ „Wie kommen Sie darauf, dass er von meiner Mutter entführt wurde?“, wollte Ren wissen. Er war daran gewöhnt über seine Mutter befragt zu werden, das gehört einfach zu seinem täglichen Leben dazu. „Wir haben Augenzeugenberichte, die bestätigten, dass es Männer waren, die zu ihr gehören, die den armen Jungen mit sich gezerrt haben. Doch du wirst sicher verstehen, wenn wir keine Namen nennen können, oder?“ „Natürlich“, murmelte Ren und dachte schnell nach. Was sollte er tun? Wenn er seine Mutter verriet, würde er wahrscheinlich das nächste Opfer sein, doch wenn er es nicht tat, würde Reino hundertprozentig hingerichtet werden. //Wenn er nicht schon tot ist//, flüsterte eine Stimme in ihm, die er jedoch ignorierte. Reino durfte nicht tot sein. Nicht, wo er ihn gerade erst wiedergefunden hatte. Entschlossen blickte er zu den Erwachsenen auf, die ihn alle erwartungsvoll musterten. „Es gibt drei Möglichkeiten, aber sie sind schwer von hier aus zu beschreiben. Nehmen Sie mich mit, dann kann ich sie hinführen.“ „Ren, das ist gefährlich!“, rief der Pater. „Das ist mir egal“, entgegnete der Junge und sah ihn fest an. „Das ist die einzige Chance, die Sie haben“, erklärte er den Polizisten. „Entscheiden Sie.“ Rory konnte nicht anders, als über die verdutzten Mienen der Anderen zu lächeln. Er hatte immer gewusst, dass in dem Jungen mehr steckte, als nur einer Yakuza-Erbin. Genauso wie er sich sicher gewesen war, dass Reinos Anwesenheit ihm gut tun würde. Doch dass er Recht gehabt hatte, hätte er bis zu diesen Augenblick nicht gedacht. „Nehmen Sie ihn mit, Inspektor“, meinte er deshalb munter. „Er wird sich ja doch nicht abbringen lassen.“ „Sind Sie sich sicher, Takarada-san?“, meinte Takagi zweifelnd. „Vollkommen.“ Denn es gab sie wirklich: Die Menschen, die alles für ihre Freunde taten. _______________________________________ Ach Gottchen, ist das jetzt aber dramatisch. Da bekomme ich ja als Autorin beinahe selbst Angst um die armen Charaktere und das, obwohl ich weiß, was mit ihnen geschehen wird. Besonders, da der arme Reino ja seit seinem Niedergeschlagen werden vom letzten Kapitel nicht mehr vorkam, nicht? Nun ja.... zumindest habe ich mit diesem Kapitel endlich beinahe alle Vorgaben, die Susilein mir damals machte, als ich ihr versprach, eine FF zu schreiben, erfüllt: 1. es geht um Shonen-Ai und 2. das Lied Wish you were here wurde verwendet. Wobei ich vermute, dass sie eher die Version von Blackmore's Night oder Roxette meinte. Ich persönlich denke jedoch, dass das Beste Wish you were here immer noch von Pink Floyd ist und hoffe, dass sie mir verzeiht, dass ich darum dieses Lied genommen habe. *verbeug* Ansonsten bedanke ich mich jetzt noch bei Kyoko-Hizuri, Maeil und schwertkrabbe für eure lieben Kommentare zum letzten Kapitel. *strahl* So... jetzt liegen noch etwa zwei vor uns. Mal sehen, was sie uns bringen werden. Bis bald, eure Ayako Kapitel 9: Russian Roulette --------------------------- Take a breath, take it deep „Calm yourself“, he says to me If you play, you play for keeps Take the gun, and count to three I'm sweating now, moving slow No time to think, my turn to go And you can see my heart beating You can see it through my chest Said I'm terrified, but I'm not leaving I know that I must pass this test So just pull the trigger. Rihanna – Russian Roulette ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Sie saßen am großen Küchentisch. Reino, Maria, Jeremy und die Eltern. Ihnen gegenüber hatte sich Tsuruga-san niedergelassen und in ihrer neuesten Stola aus Dalmatinerfell sah sie Curella Devil ähnlicher denn je. Neben ihr saß je einer ihrer treuesten Untergebenen. „Ich schlage vor, wir spielen ein Spiel“, sagte sie mit einem gekünstelt liebevollen Blick auf die Kinder. „Ein wundervolles Spiel.“ Sie holte eine Pistole aus ihrer Handtasche hervor und legte sie auf den Tisch. „Es nennt sich Russisches Roulette.“ Die Erwachsenen sahen sie allesamt ausdruckslos an, während Maria sich ängstlich an Reino klammerte. „Was ist das für ein Spiel, O-nii-chan?“, flüsterte sie. „Keine Sorge“, sprach Tsuruga-san sie direkt an. „Es geht schnell. Habt ihr was dagegen, wenn ich beginne?“ Sie richtete den Lauf ihrer Pistole direkt auf Reinos Vater und drückte ab. Ein lauter Knall ertönte und im nächsten Moment lag der Mann auf dem Boden, bevor sich eine Blutlache um ihn herum ausbreitete. Es war beeindruckend, dass Maria nicht anfing, zu weinen. „Bedauerlich“, meinte die Frau schulterzuckend und reichte die Waffe an einen ihrer Untergebenen weiter. Dieser richtete sie auf die Mutter. Die Regeln des Russischen Roulettes sind schnell zu erklären. Man hat eine Pistole, doch nicht in jeder Mündung ist eine Kugel. Darum ist es Zufall, ob ein Schuss abgeben wird oder nicht. Reinos Mutter hatte Glück. Die Pistole wurde sofort an sie weitergeben. Sie wollte sie auf Tsuruga-san richten, doch diese schüttelte liebenswürdig mit den Kopf. „Immer auf den nächsten in der Runde, meine Liebe.“ Ihre Hand zitterte, als sie sich zu ihrem ältesten Sohn umdrehte. „Verzeih mir“, flüsterte sie. Er lächelte. „Ist schon gut, Kaa-san. Drück einfach ab. Dann ist alles gut.“ Ein Schuss ertönte. Er konnte noch ein kurzes „Gut gemacht“ hervor würgen, bevor er seinen Vater auf den Boden folgte. Jämmerlich schluchzend gab sie die Pistole an ihren jüngsten Sohn weiter, der gezwungen war, sie auf seine Schwester zu richten. In Marias Augen war keine Angst zu erkennen, sie sah ihn beinahe aufmunternd an. „Ich hab dich lieb, O-nii-chan“, sagte sie und lächelte. „Ich werde dir vergeben.“ Im nächsten Moment lag auch sie mit allen anderen am Boden. Zwei Runden später waren nur noch er und Tsuruga-san übrig. „Nun denn, du bist dran, mein Junge“, sagte sie liebenswürdig. „Du hast die Chance, das hier unbeschadet zu überstehen. Nutze sie gut.“ Ohne zu zögern griff er nach der Pistole und richtete ihren Lauf auf die Frau, die ihm heute Abend alles genommen und zwei Menschen erschießen hatte lassen. Maria und einen ihrer Untergebenen. //Bitte, lass da eine Kugel drin sein//, schickte er ein Stoßgebet an den Himmel. //Lass diese Frau für ihre Untaten bezahlen.// Er drückte zu. Nichts passierte. Die Mündung war leer. „Ich bin dran!“ Sie klang wie ein kleines Kind, das seine Belohnung abholen durfte. „Sayonara, mein Lieber“, sagte sie und drückte sofort ab. Der letzte Schuss des Abends ertönte. Er gesellte sich zu seiner Familie auf dem Boden. Wie eine Wahnsinnige lachend und ohne zu überprüfen, ob sie wirklich tot waren, verließ sie den Raum und schrie ihren Untergebenen, die draußen gewartet hatten, Anweisungen zu. Kurze Zeit später stand das Haus in Flammen und niemand wagte, die Feuerwehr zu rufen, da alle Nachbarn wussten, was passiert war. So merkte auch niemand, dass keineswegs alle Bewohner des Hauses tot waren. Ihm tat alles weh. Das überraschte ihn, er hätte viel mehr gedacht, dass nur die Schusswunde schmerzen würde. Leider tat ihm sein Körper diesen Gefallen nicht. Es hatte ihn alle Kraft geraubt, an seiner Familie vorbei in den Garten zu kriechen, der direkt an den Fluss grenzte. Er wusste, dass dieser Weg seine einzige Chance war. Auf der Straße würden sie ihn sofort entdecken. Auf dem Fluss sah nie jemand nach. Zumindest nicht in dieser Jahreszeit, kurz vor Wintereinbruch, wenn man jeden Tag mit dem ersten Schnee rechnete. Mühselig bahnte er sich seinen Weg über das Gras, vorbei an dem großen Kirschbaum, wo er und Maria immer gesessen hatten, um auf herunterfallende Früchte zu warten. Vorbei an dem Sandkasten, wo er seinen ersten Kuchen gebacken hatte. Vorbei an dem alten Fahrrad, mit dem er noch vor ein paar Stunden durch die Stadt gefahren war und das nun für immer dort liegen würde, ohne darauf zu hoffen, jemals wieder aufgehoben zu werden. Und schließlich vorbei an dem Beet schwarzer Rosen, das für sie alle Hoffnung gewesen war, doch sie letztendlich im Stich gelassen hatte. Dann war er endlich am Fluss. Das Wasser war schnell, wie immer, doch man konnte darin schwimmen, er und die anderen Kinder hatten es oft getan. Von dieser Stelle aus hatte man außerdem einen guten Blick auf die Tsuruga-Villa, die wie ein Palast über der Stadt thronte und jede Straße zu überwachen schien. Irgendwie tat es weh, zu wissen, dass er den Sohn der Familie nie wieder sehen würde. „Bitte vergiss mich nicht, Ren“, flüsterte er, bevor er sich in die einladenden Fluten stürzte, die ihn augenblicklich in eine feste Umarmung zogen und weit weg trugen. Hinter ihm ging sein Haus in Flammen auf, die alles vernichteten, was ihm wichtig gewesen war. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Er lag auf einem Betonboden. Einem kalten Betonboden. Um ihm herum herrschte völlige Finsternis, nur auf den Platz wo er lag, war ein Lichtstrahl gerichtet, der ihn blendete, wenn er zu dessen Ursache hinüber spähen wollte. Ihm war klar, dass sich noch jemand in diesem Raum befand und ihn beobachtete. Wahrscheinlich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis etwas passieren würde. Wenn er nur wüsste, was. Sein Kopf dröhnte von dem Schlag, die ihm die unbekannten Männer versetzt hatten. Doch was ihm am Meisten zu schaffen machte, waren die Erinnerungen, die plötzlich wiedergekommen waren und ihn endlich verstehen ließen, warum er alles vergessen wollte, vergessen musste. Er hatte seine Schwester getötet. Der Rest seiner Familie war auch tot. Es war alles die Schuld seines Bruders. Warum hatte er auch zu Mogami-san gehen müssen? Andererseits, nein. Jeremy traf keine Schuld. Für all das war nur eine einzelne Person verantwortlich. „Wie ich sehe, bist du endlich wach.“ Mit zusammen gekniffenden Augen blickte er auf. Sie konnte froh sein, dass er gefesselt war, sonst wäre er sofort aufgesprungen und hätte sich auf sie gestürzt. Auf dieses Monster, dieser Mörderin, diese Frau, die sein Leben zerstört hatte und es wahrscheinlich bald ganz beenden würde. Es klang unmöglich, dass sie Rens Mutter sein sollte. „Was haben Sie mit mir vor?“, fragte Reino. Zwar konnte er es sich vorstellen, aber sollte sie ruhig ihren triumphalen Moment haben, in dem sie ihm ihren Plan bis ins kleinste Detail darlegte. Bösewichte taten so etwas immer. Außerdem bekam er so Zeit, über einen Fluchtplan nachzudenken, wobei es den wahrscheinlich nicht gab. „Im Moment? Gar nichts.“ Sie schenkte ihm ihr zuckersüßes Lächeln, das er schon immer gehasst hatte und kniete sich neben ihn hin. Es überraschte ihn, dass sie in ihrem hautengen Kleid und der typischen Dalamtinerstola dazu im Stande war. Zumindest, ohne dass der Stoff riss. „Also erfreuen Sie sich einfach über meinen Anblick, was?“ Ihr Lächeln verwandelte sich in ein grauenhaftes Grinsen und sie streichelte mit geheuchelter Sanftheit über seine Haare. Es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, nicht vor ihrer Berührung zurück zu zucken. „Das habe ich schon immer an dir gemocht, Reino-kun, deine pfiffige Art und schnelle Kombinationsgabe. Wirklich zu schade, dass ich sie nicht für mich einsetzten kann.“ Er beschloss, nicht darauf zu antworten. Darum fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: „Es ist tatsächlich sehr bedauerlich, dass es so enden muss, aber eigentlich habe ich es immer gewusst, seit dem Tag, an dem Ren dich das erste Mal als Freund bezeichnet hatte: Du würdest ein Parasit sein. Ein Störfaktor, der irgendwann beseitigt werden muss. Diese Dummheit deines Bruders war nur ein weiterer Punkt, um eure Familie zu beseitigen, früher oder später wäre es ohnehin geschehen.“ „Tun Sie das mit jedem Menschen, der sich mit Ihrem Sohn anfreundet?“, entgegnete er provokativ. „Armer Yashiro.“ „Oh nein, du dummer Junge“, rief sie lachend und zog ihre Hand wieder zurück. „Freundschaften kann er haben, so viele er will. Besonders, wenn sie so gut betucht sind. Aber es schadet auch nie, Anhänger in den unteren Schichten zu haben. Selbst gegen eine Liebschaft hätte ich nichts gehabt.“ „Und was ist dann an mir das Problem?“ „Ganz einfach“, meinte sie zuckersüß. „Du warst weder ein Freund, noch ein Anhänger, noch eine Liebschaft. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis du ihn fallen gelassen hättest, nicht wahr? Und was wäre aus ihm geworden? Ein gebrochener, zerrissener Mensch. Das konnte ich ihm doch nicht antun. Wobei, ich möchte fair sein.“ Reino schnaubte. Dass sie das Wort „fair“ überhaupt kannte, war schon überraschend genug. „Es war sicher deine Mutter, die dich dazu angestiftet hatte, nicht wahr? Ich hätte niemals gedacht, dass sie zu so etwas fähig wäre, doch man kann sich leicht in Menschen irren.“ Reino sah sie ausdruckslos an. „Jeder denkt, du bist ein netter, herzensguter Junge.“ Ihre Stimme war nun nicht mehr als ein Flüstern. Aus irgendeinen Grund war das noch unheimlicher, als wenn sie schrie. „Der wunderbare Pianist. Der freundliche, hilfsbereite Sohn der Blumenhändlerin. Der beste Freund meines Sohnes. Doch ich kann durch deine Fassade hindurch blicken. Ich weiß, warum du wieder da bist. Du willst Ren zerstören. Aber das werde ich nicht zulassen. Du wirst ihn nicht zerbrechen.“ „Das stimmt. Diese Rolle fällt bereits Ihnen zu.“ Sie gab ihm eine Ohrfeige. Verdammt, er hatte vergessen, wie stark ihre Schläge waren. „Ich werde dich vernichten, Reino Lawliet. Genieße deine letzten Stunden in diesem Leben.“ Damit stand sie auf und ging. „Sie irren sich“, rief er plötzlich. Unwillkürlich hielten ihre Schritte inne und sie drehte sich wieder zu ihm um. „Wie meinst du das?“ „Ganz einfach: Sie haben nur die halbe Wahrheit erkannt“, er versuchte sich mühsam aufzurichten und sah ihr fest in die Augen, oder zumindest zu dem Punkt, wo er ihre Augen vermutete. „Ihre Nachforschungen werden immer dürftiger.“ „Sei froh, dass ich mir für dich einen ganz besonderen Tod ausgedacht habe, Reino-kun, sonst würde ich es jetzt sofort hinter mich bringen.“ Mit diesen Worten verschwand sie und ließ ihn mit seinen Gedanken allein. Erschöpft legte er sich auf den Boden und starrte in die Dunkelheit. Die schlechte Nachricht war, er würde bald tot sein. Die Gute: Er würde seine Familie wiedersehen. „Tut mir Leid, Ren“, flüsterte er lächelnd. „Es scheint so, als müsste ich dich schon wieder allein lassen.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der Grund, weshalb er sich mit Ren Tsuruga angefreundet hatte, war kein edler. Es war kein gegenseitiges Verständnis oder der Wunsch, nach einer Freundschaft. Es war auch nicht eine Chemie, die zwischen ihnen stimmte. Auch nicht Mitleid mit den Tsuruga-Erben, der keine wirklichen Freunde hatte. Es war nichts weiter als kalte Berechnung. „Der Junge scheint dich zu mögen, Reino“, hatte seine Mutter beim Abendessen gesagt. Es war der Tag, an dem Ren das erste Mal in den Blumenladen gekommen war und Reino ihm von den schwarzen Rosen erzählt hatte. „Du musst dafür sorgen, dass das so bleibt.“ „Warum?“, hatte er gefragt. Damals war er noch zu jung gewesen, um die Gedankengänge Erwachsener zu begreifen. „Weil du deinem Vater damit helfen wirst, besser bei Tsuruga-san dazustehen und wir können etwas Ansehen gebrauchen.“ Niemand wusste, dass die ganze Familie Lawliet sich darüber bewusst war, was Reinos Vater in Wahrheit tat. Allerdings sprachen sie ihn niemals darauf an, da sie seinen Wunsch, anonym zu bleiben, berücksichtigten. Eigentlich hatten sie immer gehofft, er würde selbst mit der Sprache herausrücken. „Denk an deine Schwester, Reino“, fuhr sie fort, als er nicht überzeugt aussah. „Wenn wir Tsuruga-sans Unterstützung haben, können du und sie die besten Schulen besuchen und Jeremy kann seinen Wunsch erfüllen und im Ausland studieren. Tu es für euch.“ Also beschloss er, lieb zu Ren Tsuruga zu sein und ihm eine Freundschaft vorzugaukeln. So schwer konnte das doch nicht sein, oder? „Du darfst dich aber selbst nicht emotional an ihn binden, Nii-chan“, erklärte ihm sein großer Bruder am selben Abend. „Die Tsurugas sind allesamt Mörder und Monster. Wenn du so jemanden gern hast, wirst du selbst zu einem Monster. Vergiss nicht, was sie mit Hariko-san gemacht haben.“ Natürlich konnte er das nicht vergessen. Die ganze Stadt hatte gesehen, wie der arme Bäcker eines Morgens abgeholt wurde und nie wieder zurück kam. Sein Haus war einen Tag später nichts als eine Ruine gewesen. Deshalb musste Ren sein Freund werden, aber er nicht seiner. Denn er wollte kein Monster sein. Lange Zeit ging das gut. Er bemerkte, sie sich der um einige Monate ältere immer mehr auf ihn einließ und seine spärlich gesäte Freizeit am liebsten mit ihm verbrachte. Bald kamen sie auch auf dieselbe Grundschule, wo sie gemeinsam die Grundlagen fürs Leben lernten und noch unzertrennlicher wurden, als zuvor. Oft war es sehr einfach, zu vergessen, wessen Sohn er war und das er sich nicht mit ihm anfreunden durfte, nicht richtig zumindest. Aber es wurde immer schwerer. Aus diesem Grund war er erleichtert, als sie auf verschiedene Mittelschulen geschickt wurden, so gab es wenigstens einen Ort, an dem er nicht andauernd jemanden etwas vorspielen musste. Eigentlich wusste er selbst nicht mehr genau, wann alles plötzlich anders geworden war. Nur, dass es irgendwann passierte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Die Töne des Klaviers tanzten übermütig durch den Raum, während draußen die Sonne unterging. Sie erzählten Geschichten von Festen, auf denen sie gewesen waren. Frohe Tage, Tage des Glücks, als kein Leid die Gäste der Feierlichkeiten erreichen konnte. Wenn man sie hörte, wollte man sich ihnen anschließen. Man wollte sich im Kreis drehen, die Augen schließen und davonfliegen. Doch so funktionierte das Leben nicht und bald war auch der letzte Ton wieder verschwunden. Nur der Spieler blieb zurück, die Hände noch über den Tasten, während er versuchte, das Stück loszulassen, was sich immer noch in seinem Kopf abspielte. Plötzlich klatschte jemand neben ihm in die Hände. „Wunderbar, Reino! Einfach klasse! Du hast es endlich geschafft!“ Grinsend drehte sich der Jüngere zu seinem Bruder um. „Ja, alles dank dir, O-nii-chan! Du bist ein toller Lehrer.“ Jeremy lief vor Freude rot an. „Ach was... du bist einfach ein genialer Spieler! Wenn du so weiter machst, können wir uns bald schwereren Stücken zuwenden.“ „Ich hoffe, du hast Recht. Ich würde mich freuen.“ „Das glaube ich dir gerne“, meinte Jeremy fröhlich und klopfte ihm auf die Schulter. „Komm, lass uns hinunter gehen, es gibt gleich essen.“ Gemeinsam liefen sie in die Küche, wo ihre Mutter bereits den Tisch gedeckt hatte und nun gedankenverloren aus dem Fenster sah. „Habt ihr eure Schwester gesehen?“, fragte sie, sobald die Jungen den Raum betreten hatten, jedoch ohne sich zu ihnen umzudrehen. Reino bemerkte, dass ihre Stimme seltsam rau klang. „Ich kann sie weder im Haus noch im Garten finden.“ „Wahrscheinlich spielt sie wieder nebenan bei ihrer Freundin“, meinte ihr jüngster Sohn schulterzuckend. „Ich kann sie holen gehen, wenn du willst.“ „Nein, nein... nicht nötig“, entgegnete sie eilig. „Sie hat sich jede schöne Stunde im Leben verdient.“ Bei diesen Worten wechselten Reino und Jeremy einen Blick. Dieses Verhalten war ungewöhnlich für ihre Mutter. In der Regel war sie eine fröhliche, optimistische Frau, die sich von nichts so leicht erschüttern ließ. Deshalb war ihr Blumenladen ein beliebter Treffpunkt aller Hausfrauen, da sie dort plaudern konnten und dabei ein paar Tipps für ihre Gärten absahnten. Doch heute war sie traurig und beide wussten, dass es dafür nur einen Grund geben konnte. „Too-san kommt heute nicht nach Hause, oder?“, fragte Jeremy behutsam. „Nein“, flüsterte seine Mutter. „Tut er nicht.“ Reino biss sich auf die Unterlippe, während in seinem Magen ein dumpfes Gefühl aufstieg, das er nicht wirklich einordnen konnte. Sein Vater hatte versprochen zu kommen. Um sechs Uhr. Pünktlich zum Essen. Doch er kam nicht und brach seiner Frau ein weiteres Mal das Herz. Es gab nichts, was Reino mehr hasste, als die Tränen seiner Mutter, denn er wusste, dass er nicht in der Lage war, sie jemals zu trocknen. Denn die einzige Person, die dazu in der Lage gewesen wäre, war derjenige, der sie so verletzte. Das folgende Abendessen verlief schweigend. Weder Jeremy noch Reino wagten es, ihre Mutter anzusprechen. Sobald sie aufgegessen hatten, wurden sie hinaus in den Garten gescheucht, um die Blumen zu gießen, um die sie viele Leute beneideten. Erst als es vollkommen dunkel wurde, gingen sie wieder herein und bemerkten, dass ihre Schwester immer noch nicht nach Hause gekommen war. „Ich werde doch mal nach nebenan gehen und nachfragen“, sagte der Ältere von Beiden, während sie ihre Mutter in ihrem Schlafzimmer schluchzen hörten. „Bleib du hier und kümmer dich um die Blumen im Laden. Kaa-san hat sie sicher wieder vergessen zu gießen.“ Reino nickte nur und sah dabei zu, wie sein Bruder in die Stadt verschwand. Danach ging er in den Laden seiner Mutter. Er war nicht besonders groß, aber es reichte, um die ganze Familie zu beschäftigen. Seufzend machte er sich daran, zwischen den Pflanzen hindurchzulaufen, um die eine oder andere zu gießen, während er den Rest unangetastet ließ. Es war schwer, einzuschätzen, wann man ihnen zu viel oder zu wenig Wasser gab. Einige brauchten jeden Tag einen ganzen Fluss, während andere wochenlang mit einem Regentropfen ausgekommen wären. Aus diesem Grund bewunderte er seine Mutter. Sie hatte ein Gespür dafür, wann sie etwas hegen und pflegen musste oder ob es im Moment in Ruhe gelassen werden sollte. Auch bei der Erziehung ihrer Kinder konnte er diese Fähigkeit erkennen. Doch leider vergaß sie alles, sobald es um ihren Mann ging. Er war gerade dabei, die Tulpen vor dem Verkaufstresen zu begutachten, als er ein Klopfen hörte. Überrascht drehte er sich um und sah, dass jemand vor der Ladentür stand und irgendetwas auf seinem Rücken trug. Doch bei näheren Hinsehen konnte er erkennen, dass es nicht etwas sondern jemand war. Seine Schwester! Kopfschüttelnd ging er zur Tür und schloss sie auf. Wahrscheinlich war sie beim Spielen eingeschlafen und Jeremy hatte sie nach Hause tragen müssen. Typisch. Erst, als er die Tür geöffnet hatte, sah er, dass es sich keineswegs um seinen Bruder handelte, der sie getragen hatte. Es war Ren. Ein Ren, der offensichtlich in den Fluss gefallen war. „Was hast du angestellt?“, fragte Reino misstrauisch und ließ ihn herein. „Du bist klitschnass!“ Da fiel sein Blick auf den Körper seiner Schwester und seine Augen weiteten sich. „Was hast du mit Maria gemacht?!“ „Gar nichts!“, rief Ren eilig und ließ den Körper des Mädchens vorsichtig auf den Boden gleiten, wo er schlaff liegenblieb. „Ich habe sie so gefunden. Im Fluss!“ Er sah Reino besorgt an. „Habt ihr sie denn nicht vermisst?“ Der Junge antwortete ihm nicht sofort, sondern betrachtete zunächst näher den Körper seiner Schwester. Auch sie war klitschnass und wirkte viel eher wie eine Leiche, als ein lebhaftiges, kleines Mädchen. Wäre da nicht das regelmäßige Heben und Senken ihres Bauches gewesen, würde er ernsthaft beunruhigt sein. Langsam ging er neben ihr in die Knie und fuhr langsam strich langsam eine Strähne zurück, die ihr hübsches Gesicht verdeckt hatte. Was war mit ihr geschehen? Und was hatte Ren damit zu tun? „Keine Sorge, es geht ihr gut“, flüsterte dieser auf einmal. Als Reino aufblickte, konnte er sehen, dass er ihn besorgt musterte. „Sie war so froh und munter wie immer. Erst auf dem Nachhauseweg ist sie eingeschlafen.“ Langsam hockte er sich neben Reino und fuhr dem Mädchen ebenfalls sanft durchs Haar. „Vielleicht sollte sie sich besser etwas warmes anziehen. Sonst erkältet sie sich noch.“ Er war sich nicht sicher, warum, aber diese Worte machten ihn furchtbar wütend. So kam es, dass Reino nun all seinen Ärger über seinen Vater, seine Mutter und auch sich selbst auf den einzigen Menschen ausließ, der gerade in greifbarer Nähe war. Ren. „Vielleicht sollten wir das tun, ja?“, flüsterte er und schaffte es nur mit Mühe, dass seine Stimme nicht bebte. „Vielleicht sollten wir sie umziehen, sie ins Bett bringen, vielleicht sogar ins Krankenhaus?“ Er wurde immer lauter und Ren sah ihn verdutzt an. Was war denn jetzt los? „Sie könnte sich ja erkälten. Könnte krank werden. Vielleicht sogar sterben?“ Er sprang auf und hätten Blicke töten können, würde Ren nun als eine Leiche vor ihm liegen. „Was weißt du schon? Du, der du behütet aufgewachsen bist, ohne irgendwelche Geldsorgen und kleine Geschwistern für die du Verantwortung übernehmen musst? Du, dem alles zufällt, egal ob in der Schule, im gesellschaftlichen Leben oder... was weiß ich wo!“ Langsam stand Ren auf und musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. Doch Reino ließ sich davon nicht beirren: „Du tust immer so, als wärst du ein lieber, netter Mensch, der ja ach so sehr zu bemitleiden ist, aber in Wahrheit hast du keine Ahnung davon, was es heißt, ein schwieriges Leben zu führen! Du bist genau wie deine Mutter, die denkt, dass ihr die Welt zu Füßen liegt und sie nur mit den Fingern zu schnipsen braucht, damit ihre Wünsche erfüllt werden. Du machst mich krank! Ihr macht mich krank!“ Während seines Monologs hatten sich seine Augen mit Tränen gefüllt und anstatt sich besser zu fühlen, wie er gehofft hatte, fühlte er sich nur noch schlechter. Ren war in diesem Moment der Grund für all seine Probleme. Wegen ihm, musste er jeden Tag eine Lüge leben. Wegen ihm und seiner Mutter kam sein Vater nicht nach Hause. Deshalb weinte seine Mutter – wegen ihm! Wegen ihm war Maria nun in diesen Zustand, egal wie sehr Ren auch beharrte, nichts damit zu tun zu haben. Wegen ihm. Wegen ihm. Wegen ihm! Es war alles nur seine Schuld! Plötzlich schlangen sich zwei Arme, die stärker als er waren, um seinen Körper und zogen ihn fest an einen Anderen. „Ist schon okay“, flüsterte Ren. „Es ist okay.“ Nein, ist es nicht!, schrie es in seinem Kopf, doch alles, was Reino tun konnte, war die Umarmung zu erwidern und zu weinen, bis keine Tränen mehr übrig zu sein schienen. Danach erzählte er ihm alles. Und anstatt wie ein Monster zu reagieren, war Ren freundlich und verständnisvoll. Vielleicht... hatte sich seine Familie ja doch geirrt. Aber nur vielleicht. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Hier, das ist für dich.“ Ren blickte überrascht von seinem halb gepackten Koffer auf und begutachtete den Gegenstand, den sein Freund ihm hinhielt. „Schwarze Rosen?“, fragte er verblüfft. Reino nickte lächelnd. „Kaa-san hat es endlich hinbekommen. Die perfekte Formel. Wenn alles gut läuft, kann Too-san damit die Schulden abbezahlen und wir können uns endlich von deiner Mutter lösen.“ Der Schwarzhaarige grinste breit. „Das ist toll! Wirklich! Ich freue mich für euch!“ Behutsam nahm er ihn den Topf ab, in dem ein kleiner Spross der Pflanze wuchs, die für die Familie der Blumenhändlerin Hoffnung symbolisierte. „Ich werde sie hüten, als wäre sie mein Augapfel“, versprach er feierlich. Grinsend ließ sich Reino auf sein Bett fallen und beobachtete, wie er das Geschenk vorsichtig beiseite stellte und mit dem Einpacken fortfuhr. „Davon bin ich überzeugt.“ Ren verdrehte die Augen, konnte aber sein Grinsen nicht verstecken. Mit einem Mal wurde der Jüngere der Beiden ernst. „Ich kann nicht glauben, dass du morgen schon weggehst. Es wird einsam ohne dich.“ „Es ist ja nur bis Weihnachten“, entgegnete der Andere ruhig. „Und wir werden uns schreiben, nicht wahr?“ „Worauf du dich verlassen kannst! Ich lasse mich nicht einfach vergessen, nur weil du plötzlich bei der Highsociety bist!“ „Höre ich da etwa Eifersucht in deiner Stimme?“ „Ach, halt den Mund!“ Für ein paar Minuten kehrte Stille ein, in denen beide ihren eigenen Gedanken nachhingen. Doch dann schlang Reino mit einem Mal seine Arme von hinten um Rens Oberkörper und vergrub seinen Kopf in dessen Schulterblatt. „Ich werde dich vermissen“, flüsterte er mit brüchiger Stimme. Lächelnd legte Ren seine Hände auf Reinos. „Ich dich auch. Mein Freund.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ren starrte die ganze Fahrt über aus dem Fenster und sah dabei zu, wie die Lichter der Straßenlaternen und Häuser zu einem einzigen Strahl vermischten, der ihnen überallhin zu folgen schien. Er schwieg, außer wenn sie an eine Kreuzung kamen und er den Polizisten den Weg zeigen musste. Insgesamt waren es zwanzig Streifenwagen und vier Hubschrauber, die ihnen folgten. Immerhin ging es darum eine der führenden Yakuzas bei frischer Tat zu ertappen, da war ein großes Aufgebot nur angebracht. Er wusste, dass er hierfür bezahlen würde. Seine Mutter würde ihm den Hals umdrehen, sobald sie davon erfuhr und mit etwas Pech würde auch der Rest ihrer Leute nicht begeistert sein. Aber zu viel war zu viel. Sein Vater hatte sich bisher nie in ihre Geschäfte eingemischt, da sie ihn „nichts angingen“ und hatte auch ihm von Kindesbeinen an eingetrichtert, seiner Mutter nicht in die Quere zu kommen. Aber hier ging es nicht ums Geschäft. Es ging um den einzigen Menschen, der ihm wirklich etwas bedeutete. Man durfte das nicht falsch verstehen. Auch Yashiro war ihm sehr wichtig und er würde für ihn in dieser Situation wahrscheinlich genau dasselbe tun, aber mit Reino war es schon immer etwas Besonderes gewesen. Wahrscheinlich, weil er der Einzige gewesen war, der ihm etwas geben konnte, was er immer gesucht hatte: eine Familie. Denn das, was er besaß, konnte man nicht so nennen. Niemals. „Bist du dir sicher, dass es kein weiteres Versteck gibt?“, riss ihn Satos Stimme aus seinen Gedanken. Eilig nickte er. „Ja, das, wo wir hinfahren, muss das letzte sein. Allerdings ist es möglich, dass sie ihn an einen anderen Ort gebracht hat, der weiter weg liegt. Es ist schwer zu sagen.“ Das Gesicht des Polizisten verfinsterte sich. „Verdammte Yakuzas. Sie gehören alle erschossen, wenn man mich fragt. Nichts für ungut, Tsuruga-kun.“ „Kein Problem“, meinte Ren schulterzuckend. Er war es gewohnt. „Aber wer hätte gedacht, dass einer von den Lawliets überlebt hat“, murmelte Takagi, der den Wagen fuhr. „Damals war nichts als Asche übrig geblieben. Ich frage mich wirklich, wie der Junge es geschafft hat.“ „Das werden wir mit etwas Glück bald herausfinden können“, erwiderte sein Partner grimmig. „Wir sind da.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Mit einem Schlag war das Licht wieder da und um ihn herum waren laute Stimmen zu hören. „Polizei!“, rief jemand. „Tsuruga-san, sie haben uns...“ „...müssen hier weg...“ „...zu gefährlich....“ „...gessen Sie den Jungen...“ „...nicht wert, zu...“ „Seid alle still!“, schrie Tsuruga-sans schrille Stimme und Reino zuckte unwillkürlich zusammen. Sie war ziemlich nah. „Loki, du kümmerst dich um die Evakuierung. Nehmt alles mit, was ihr tragen könnt und macht, dass ihr wegkommt.“ „Und was werden Sie tun?“, fragte eine männliche Stimme. „Ich kümmer mich um den Jungen und komm dann nach. Nein, du wirst mich nicht aufhalten. Ich habe nicht dieses Risiko auf mich genommen, um die Sache nun unausgefochten zu lassen. Raus! Alle.“ Er hörte, wie sich mehrere Leute eilig entfernten, bis nur noch ein einzelner Atemzug hinter ihm übrig blieb. Zögernd drehte er seinen Kopf so, dass er über seine Schulter sehen konnte. Einen Moment später wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Tsuruga-san stand einige Schritte von ihm entfernt mit dem süßesten Lächeln aller Zeiten, während sie den Lauf eines Gewehres auf ihn gerichtet hatte. „So, Reino-kun“, sagte sie liebevoll. „Ich wollte eigentlich etwas spektakuläreres mit dir anstellen, aber die Polizei lässt mir leider keine andere Wahl, als unser kleines Spiel von vor ein paar Jahren zu Ende zu bringen.“ Eilig drehte sich der Jüngere vollends um, sodass er sie ohne Mühe ansehen konnte. „Sie sind wahnsinnig“, rief er. „Ich bin ein Junge! Ein ganz normaler Junge, der Ihnen absolut nichts antun kann!“ „Tut mir Leid, deine Illusionen zerstören zu müssen, aber das ist ein Irrtum.“ Auf einmal nahm ihr Gesicht den Ausdruck völliger Zufriedenheit an. „Es gibt übrigens noch etwas, dass du wissen muss, bevor du stirbst.“ Er runzelte die Stirn. „Und das wäre?“ „Oh, ganz einfach“, meinte sie zuckersüß. „Deine Schwester lebt noch.“ In dem Moment, in dem sich seine Augen weiteten, drückte sie ab. Die nächsten Minuten waren für ihn verschwommene Eindrücke, die von einem Schmerz durchzogen waren, den er bereits kannte, jedoch niemals wieder hatte spüren wollen. Er merkte nur am Rande, wie Tsuruga-san sich zurückzog, wie er alleine war, bis auf einmal tausend – so kam es ihm zumindest vor – Polizisten hinein gestürmt kamen. Das Nächste, was er klar und deutlich bemerkte war, wie ihn jemand in eine verzweifelte Umarmung zog und heiße Tränen auf sein immer kälteres Gesicht fielen. Er wusste sofort, wer es war. „Ren...“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen und es fiel ihm schwer, die braunen Augen zu erkennen, die sich augenblicklich auf ihn richteten. „Du darfst nicht sprechen, Reino!“, sagte er zu ihm. „Du musst ruhig sein! Wir kriegen das irgendwie hin, versprochen!“ Langsam hob er seinen Arm und legte ihn auf die Wange des Jungen. „Maria...“, flüsterte er mühevoll. „Sie lebt.“ Ren schien geradezu zu erstarren. „Du musst.... sie finden.“ Er nickte. „V...versprich... es.“ Eilig griff Ren nach der Hand, die an seiner Wange lag und nickte abermals. „Ich verspreche es.“ Zufrieden lächelte Reino und ließ seine Hand weiter gleiten, bis sie sich auf Rens Nacken befand. Vorsichtig zog er den Kopf des Anderen zu sich hinunter. Das letzte, was er wahr nahm, waren Rens Lippen auf seinen, die durch dessen Tränen seltsam salzig schmeckten. Danach gab es nur noch Dunkelheit. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter ihm ein Märchen erzählt. Darin ging es um eine Rose, die einem jungen Helden gehörte, der jedes Mal aufs Neue in eine Schlacht zog. Mit jeder Wunde, die ihm zugefügt wurde, verlor sie ein weiteres ihrer wunderschönen Blätter. Der Held war sehr traurig darüber, da er die Blume über die Jahre lieb gewonnen hatte und fürchtete, dass sie eines Tages völlig verblühen könnte. Trotz allem konnte dies ihn nicht davon abhalten, weiterzukämpfen, bis irgendwann der Tag kam, an dem er von einem Pfeil getroffen wurde und im selben Moment starb, in dem die Rose ihr letztes Blütenblatt verlor. Seitdem glaubten die Leute, dass es nur einen Moment gibt, in der eine Rose all ihre Blätter mit einem Mal verliert: wenn ihr Besitzer im Sterben liegt. Damals dachte er, dass es eine sehr schöne Geschichte gewesen war, doch gleichzeitig war sie schrecklich traurig. Wenn er sich recht erinnerte, war Maria seiner Meinung gewesen. Aber nur vielleicht. ____________________________________________ Puhhhh, endlich bin ich mit diesem Kapitel fertig. Ich muss sagen, es hat mich wirklich geärgert und zwischendurch habe ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, diese ganze Fanfiction abzubrechen, aber ich habe es doch geschafft, dieses Kapitel zu beenden. *mich tierisch freu * Zum Inhalt äußere ich mich lieber nicht, bin gespannt, was ihr dazu zu sagen habt. Deshalb gibt es noch ein riesiges Dankeschön an Kyoko-Hizuri für ihr liebes Kommentar zum letzten Kapitel! *sie abknuddel und ihr einen Teddybären hinstell * Ein Kapitel folgt, dann sind wir am Ende! Mal sehen, was noch kommt! Bis bald, eure Ayako Epilog: Forbidden Colours ------------------------- Ich bin fertig.... ich kann es selber noch gar nicht fassen, aber es ist wahr. Irgendwie macht mich das fast traurig, da mir diese Fanfiction mit der Zeit doch ziemlich ans Herz gewachsen ist. Doch wie jedes Mal bin ich auch heute wieder froh, etwas vollendet zu haben. Dieser Epilog ist genau das: ein Epilog. Das heißt, er ist kurz, etwas gehetzt, aber meiner Meinung nach dennoch ein hübscher Abschluss. Jedoch könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr das genauso seht. An dieser Stelle möchte ich mich noch bei ein paar Leuten bedanken. Zuerst natürlich bei Susilein, ohne die dieser Fanfiction nie entstanden wäre. *sie durchknuddel* Ich hoffe, sie hat dir gefallen. ^o^ Als nächstes bei schwertkrabbe. Vielen, vielen Dank, dass du dich dieser Fanfiction angenommen und sie korrigiert hast. *verbeug* Entschuldige, dass ich selbst noch nicht mit der Korrektur der Kapitel nachgekommen bin... und ich hoffe, in diesem Kapitel sind nicht zuuu viele Fehler...... ^^“ Und nun natürlich bei allen Lesern, Kommischreibern und den Leuten, die das hier auf ihrer Favoritenliste haben. Ihr seid die Besten!!!!!! *euch allen einen Eisbecher schenk * Doch nun genug von mir, viel Vergnügen mit diesem Kapitel. Bis zu einer anderen Fanfiction, eure Ayako ______________________________________________ The wounds on your hands never seem to heal I thought all I needed was to believe I'll go walking in circles While doubting the very ground beneath me Trying to show unquestioning faith in everything Here I am, a lifetime away from you The blood of christ, or a change of heart My love wears forbidden colours My life believes My love wears forbidden colours My life believes in you once again David Sylvain & Ryuichi Sakamoto – Forbidden Colours ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Musik war tatsächlich in der Lage, die ganze Welt in Trauer zu versetzten. Zumindest kam es Chiori so vor, als sie sich in den Rängen der Zuschauer umsah. Während die Männer und Jungen noch versuchten, eine gefasste Miene aufzusetzen, liefen allen weiblichen Geschöpfen Tränen über die Wangen. Es war verständlich. Ren hatte nie zuvor schöner gespielt. Es war der Tag des großen Konzertes. Etwas, worauf sie alle hin gearbeitet hatte, worauf sie sich gefreut hatten. Nun war es sinnlos. Seitdem Reino... nicht mehr zurückgekommen war, hatte alles einen traurigen Ton angenommen. Besonders schlimm hatte es um Ren gestanden. Chiori hatte ihn noch nie so blass gesehen und laut Yashiro hatte er lange Zeit nicht einmal etwas gegessen. Stattdessen war immer wieder ins Musikzimmer verschwunden, um zu spielen. Anfangs war es Cello gewesen. Die Töne der Saiten waren durch das ganze Gebäude gedrungen und hatten alle anderen zum verstummen gebracht. Die Trauer, der Schmerz, die Schuld, alles war dort zu hören gewesen. Doch nach ein paar Tagen hatte es sich geändert. Plötzlich sah man ihm vor dem großen Flügel sitzen und angestrengt auf die Tasten starren, so als würde er hoffen, dass wenn er nur lange genug dasitzen würde, alles wie früher sein würde. Doch nichts wurde wie früher. Manche Dinge ließen sich nicht rückgängig machen. Langsam drehte sie ihren Kopf zur Seite und musterte Sho, der mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck neben ihr stand. Sein Auftritt war bereits vorbei, er und sein Team hatten dem Publikum eine phänomenale Show mit Basketbällen geliefert, die besonders die Jüngeren an High School Musical denken ließ. Trotzdem war er noch hier und Chiori wusste ganz genau warum, denn es war der selbe Grund, weshalb sie hier stand. „Er spielt es tatsächlich“, flüsterte Sho. „Und es beinahe so schön, wie seines.“ Seine Freundin nickte und lehnte sich vorsichtig an ihn. Sofort schlang er einen Arm um ihre Schulter und zog sie in eine freundschaftliche Umarmung. Ren tat das, was Reino nicht mehr tun konnte. Er spielte Merry Christmas, Mr. Lawrence. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Im Grunde ist es ja der Name des Filmes“, erklärte Shoko leise. „Ren spielt gerade das Thema daraus, was zufällig denselben Namen hat. Allerdings ist es auch noch als Forbidden Colours bekannt, jedoch ist das nur die Version, in der auch gesungen wird.“ „Es ist ziemlich traurig“, flüsterte Julie, die neben ihr stand und die einzelne Gestalt auf der Bühne besorgt betrachtete. „Meinst du, er wird wieder?“ „Natürlich“, entgegnete Shoko zuversichtlich. „Es war nun einmal ein großer Schock. Es wäre für jeden einer gewesen.“ „Ich kann es immer noch nicht glauben“, sagte Kuu, der in diesem Moment zu ihnen getreten war und einen Arm um seine Frau legte. „Ich wusste natürlich, wie wir alle, dass Tsuruga-san nicht die freundlichste Person auf Erden ist, aber dass sie gleich eine ganze Familie auf dem Gewissen hat? Kein Wunder, dass Reino-kun seine Erinnerungen vergessen wollte.“ Beide Frauen nickten. Nachdem Reino vor einem Monat entführt und niedergeschossen wurde, hatte die Polizei und der japanische Geheimnisdienst die Suche nach Tsuruga-san aufgenommen. Nach zwei Wochen hatten sie sie tatsächlich gefunden und nach einer filmreifen Verfolgungsjagd in Gewahrsam genommen. Tags darauf war sie von ihrem Mann besucht worden, der die Scheidung einreichte und kurz darauf seine Geliebte, die er offensichtlich schon seit mehreren Jahren heimlich getroffen hatte, zu sich in die große Villa holte. Heute saßen sie zusammen im Zuschauerraum, um Ren anschließend mit zu sich nach Hause zu nehmen. Shoko war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Was der Junge nun vor allem brauchte, war Ruhe und viel Zeit und nicht eine Gerichtsverhandlung und Reporter, die den ganzen Tag den Eingang seines Hauses belagerten. Es war nicht einfach, der Sohn einer Berühmtheit zu sein. „Macht euch nicht so viele Sorgen“, sagte sie schließlich zu Kuu und Julie, obwohl sie ihren Worten selbst nicht glaubte. „Er wird schon klar kommen.“ Aber mit manchen Dingen kommt man nie klar. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kanae stand mit verschränkten Armen an eine Wand gelehnt und musterte die beiden Gestalten vor sich, die von der Seitenbühne aus gespannt zu Ren schauten. „Warum hat er eigentlich gerade dieses Lied genommen?“, fragte sie genervt. „Nur um Shoko-san einen Gefallen zu tun?“ „Natürlich nicht“, entgegnete Kyoko ruhig. „Es war Reinos Lieblingslied.“ Yashiro, der an ihrer Seite stand, nickte nur. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Alles in allem war das Konzert ein großer Erfolg. Das Publikum war beeindruckt von der meisterhaften Leistung aller Schüler und so endete der Tag in einer entspannt, fröhlichen Stimmung. Nun, da bereits die Nacht einbrach, waren die meisten dabei, ihre Sachen zu packen, um noch in dieser Stunde nach Hause zurückzukehren. Nur die wenigstens würden bis zum nächsten Tag warten, da die meisten Eltern teure Hotelzimmer gemietet hatten, in denen sie die Nacht verbringen würden und dabei wollten sie die Anwesenheit ihrer Kinder genießen. Vorausgesetzt, man konnte es so nennen. Ren stand in der Mitte seines Zimmers und starrte auf das Bett, in dem bis vor kurzem noch Reino gelegen hatte. Ohne ihn wirkte alles seltsam leer. Er hatte nie begriffen, wie groß dieser Raum eigentlich war, bis zu jenem Abend, als er allein dahin zurückkehrte. Er war sich nicht sicher, ob er jemals wiederkommen würde. Eigentlich hatte er es überhaupt nicht vor. Zwar müsste er rein theoretisch noch mindestens ein Schuljahr hier bleiben, damit er auf die Universität gehen konnte, die seine Familie für ihn ausgesucht hatte, doch ob die ihn nach all diesen Skandalen noch nehmen würde, war fraglich. Aber was sollte er dann mit seiner Zukunft anfangen? Nun, er würde es schon früh genug herausbekommen. In diesem Moment klopfte es an der Tür und nach einer Minute Schweigen kam jemand herein. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war. „Kaa-san hat unsere Verlobung aufgelöst“, verkündete Kyoko sofort. „Ich dachte, du solltest es wissen.“ „Gut.“ „Deine Mutter wird vermutlich die Todesstrafe erhalten, das weißt du, oder?“ Er schwieg. Seufzend verschränkte sie die Arme. „Ren... was wirst du tun?“ Für einen Moment glaubte sie, keine Antwort zu bekommen, doch dann drehte er sich langsam zu ihr um und sah sie mit müden Augen an. „Morgen werde ich Reino besuchen gehen. Danach... wer weiß.“ „Okay“, entgegnete sie nickend. „Ich wünsche dir alles Gute.“ „Ich dir auch.“ Sie drehte sich um, damit sie den Raum verlassen konnte, doch bevor sie das tun konnte, fuhr er fort: „Ach, Kyoko?“ Sie warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu und blinzelte überrascht, als sie den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen sah. „Du wärst die besten Frau gewesen, die ich mir hätte wünschen können.“ Vollkommen überrumpelt blinzelte sie mehrmals, bevor sie schallend zu lachen begann und kopfschüttelnd nach draußen ging. Die einzelne Träne, die dabei jedoch über ihre Wange lief, hatte er noch gesehen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als die Dunkelheit wieder zu schwinden begann, befand Reino sich wieder in seinem alten Haus. Blutend lag er auf dem Boden ihrer Küche, umgeben von seiner Familie. Es war die Nacht des russischen Roulettes und in der Nähe konnte er bereits das Knistern des Feuers hören. Warum war er gerade hierher zurückgehert? Warum musste das seine letzte Erinnerung sein? Andererseits machte es Sinn. Eigentlich hätte er in jener Nacht sterben sollen. Tsuruga-san hatte nur zu Ende gebracht, was aufgeschoben wurde. Weshalb hatte er dann das Gefühl, dass irgendein Detail fehlen würde? „O-nii-chan?“ Es war ein Wort, doch es bedeutete die Welt. Langsam drehte er den Kopf und sah Maria, die ihn mit geweiteten Augen ansah. Sie lebte also tatsächlich! Aber... wie...? „Hör auf, Leiche zu spielen, Reino“, fauchte auch bereits die Stimme seines Bruders, der sich nun mühevoll erhob und ausdruckslos auf die leblosen Körper ihrer Eltern schaute. „Wir müssen hier raus, bevor sie bemerkt, dass wir noch leben. Ihr erinnert euch an den Plan?“ Reino blinzelte. Plan? Was für ein Plan? „Natürlich“, rief Maria sofort. „Wir gehen alle auf unterschiedlichen Wegen aus dem Haus und machen uns dann auf den Weg zu Tante Miyako, die uns zu Flughafen bringt!“ „Genau“, entgegnete Jeremy nickend. „Von dort fliegen wir zurück nach England. O-kaa-san und O-too-san haben sich für uns geopfert! Wir müssen das also unbedingt schaffen, ja? Du gehst durch den Keller, Maria. Du nimmst den Fluss, Reino und ich gehe durchs Fenster. Wartet nicht aufeinander, sondern geht so schnell wie möglich zu Miyako! Und vergesst nicht, ihr dürft nicht entdeckt werden! Habt ihr verstanden?“ Die Beiden nickten. „Gut, dann los!“ Sofort machten sie sich auf den Weg in die Freiheit. Wer hätte gedacht, dass nur zwei von ihnen entkommen würden? ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Jemand klopfte an die Tür, doch wie immer ignorierte Reino es. Er hatte kein Interesse daran, jemanden um sich zu haben. Er wollte nur weg. Wohin, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht ins Jenseits? Oder nach England? Was würde er nicht alles tun, um seine Schwester wiederzusehen? Dieses engelsgleiche Wesen. Dieses freundliche, liebevolle Geschöpf. Wie hatte er sie jemals vergessen können? „Wenigstens lebt sie“, murmelte er, während jemand hereinkam. „Wenigstens das.“ „Redest du von Maria?“, sagte eine Stimme. Seine Stimme. Sofort verschloss er seinen Mund und starrte stur gerade aus. Vielleicht war es kindisch, vielleicht verrückt, aber er wollte ihn nicht hier haben. Niemals. Nie mehr. Es tat zu sehr weh. Aber noch schlimmer war der Gedanke, ihn nie wieder zu sehen. Es wäre, wie ein Weltuntergang. Immerhin war er das Letzte, was ihm geblieben war. Er hörte, wie sich Ren seufzend auf einen Stuhl setzte, der neben dem Bett stand, in dem er aufgewacht war. Soweit er es mitbekommen hatte, befand er sich in einem Krankenhaus. Doch im Grunde spielte es keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle. Er sollte tot sein. Warum lebte er? „Wirst du jemals wieder ein Wort mit mir wechseln?“ Warum war da Schmerz in Rens Stimme? Warum konnte es ihm nicht egal sein? Warum musste er immer so verdammt freundlich sein? Warum konnte er ihn nicht hassen? „Ich habe mit den Ärzten gesprochen. Sie sagen, du kannst jederzeit hier heraus, wenn du es wünschst. Die Polizei bietet dir zudem ein Zeugenschutzprogramm an. Wenn du willst, kannst du eine neue Identität annehmen und ein neues Leben anfangen.“ „Du willst also, dass ich gehe?“ Es war das Erste, was er seit seinem Aufwachen zu ihm sagte. Reino bemerkte, wie Ren ihn verblüfft ansah, bevor ein erleichterter Ausdruck aus seinem Gesicht erschien. „Natürlich nicht“, sagte er sanft. „Ich möchte nur, dass du all deine Möglichkeiten kennst. Und wenn du weg willst, dann kann ich es verstehen. Jeder würde es an deiner Stelle wollen.“ „Und was ist mit dir?“, fragte Reino und drehte sich das zu seinem Freund um. „Was wirst du tun?“ „Was soll ich tun?“, flüsterte der Andere. „Was soll ich tun, damit du wieder lachen kannst?“ Einen schrecklichen Moment lang fürchtete er, keine Antwort zu bekommen, doch dann sagte der Jüngere: „Bring Kyoko her. Ich muss mit ihr reden.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Zwei Monate später ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Zu dritt liefen die Teenager durch den Garten, während die Besitzerin des Hauses munter auf sie einredete. Da sie ausschließlich Englisch sprach und einen äußerst merkwürdigen Dialekt benutzte, hatten Kyoko und Ren große Mühe, ihren Ausführungen zu folgen, doch Reino schien keinerlei Probleme zu haben. Lächelnd nickte er an den richtigen Stelle und gab sogar ab und an einen Kommentar von sich. Es hatte nicht lange gedauert, den Aufenthaltsort der Lawliets herauszufinden. Tatsächlich hatte die japanische Polizei schon seit längerem Kontakt zu ihnen, da sie gehofft hatten, ihr verschwundenes Familienmitglied wiederzufinden. Heute war es endlich soweit. Nach einigen Diskussionen, mehreren Stunden in einem Gericht und einem äußerst ereignislosen Flug befanden sie sich in einem bezaubernden, malerischen Dörfchen auf den britischen Inseln. Wenn Ren sich umsah, konnte er überall Blumen erkennen, die es auch in dem Laden gegeben hatte, der so viele Stunden seines Lebens bestimmt hatte. Es fiel ihm immer noch schwer, zu akzeptieren, dass diese Zeit nun für immer vorbei war. Seufzend lief er weiter und warf Reino schnell ein aufmunterndes Lächeln zu, als dieser sich fragend zu ihm umdrehte. Ihre Vergangenheit war wohl tatsächlich endgültig vorbei. „O-nii-chan!“ Doch als er sah, wie Maria sich kreischend auf ihren Bruder stürzte und auch Kyoko in einer festen Umarmung von Jeremy Lawliet verschwand, wurde ihm klar, dass es gar nicht nötig war, in die die Vergangenheit zurückzukehren. Manchmal war die Zukunft genauso schillernd. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Irgendwo am Ende der Welt sollte es eine Schule geben. Ein Hort des Wissens, der Bildung und der guten Manieren. Ihr Name war Royal-Society-High-School und wurde nur von den Söhnen und Töchtern der Reichen und Schönen in unserer Welt besucht. Ab und zu verirrte sich auch ein junges Genie in die Mitte der Schülerinnen und Schüler, um sein außerordentliches Wissen mit den anderen teilen und erweitern zu können. Doch kein Genie hatte jemals für soviel Wirbel gesorgt, wie Reino Lawliet. Als Rory Takarada das erste Mal für dieses Schuljahr das Schulgelände betrat, war er von einer seltsamen Heiterkeit umgeben. Er hatte gewusst, dass der Junge Veränderungen bringen würde, doch wie sie letztendlich aussahen, hatte selbst seine kühnsten Vorahnungen in den Schatten gestellt. „Mal sehen, was uns dieses Mal erwarten wird“, meinte er und grinste breit, als er hinter sich ein Stöhnen hörte. „Es ist mir relativ egal, Takarada-san“, verkündete Kuu Hizuri. „Solange es nur weniger dramatisch ist.“ Das Lachen des Schulleiters, welches daraufhin ertönte, konnte man wahrscheinlich selbst im fernen England hören, wo eine Familie einer neuen Zukunft entgegen blickte. Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)