Solitude von Riafya (Still with me is only you...) ================================================================================ Kapitel 6: Song for a friend ---------------------------- Let's say take a break from the day And get back to the old garage Because life's too short anyway But at least it's better then average As long as you got me And I got you You know we'll got a lot to go around I'll be your friend Your other brother Another love to come and comfort you And I'll keep reminding If it's the only thing I ever do I will always love I will always love you Yes you Jason Mraz – Song for a friend ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Es klopfte an der Tür und einen Augenblick später steckte Yashiro seinen Kopf in das Zimmer. „Wie geht es ihm?“, fragte er Ren, nachdem er eingetreten war. Der Dunkelhaarige schüttelte mit dem Kopf und sah weiterhin besorgt seinen Zimmergenossen an, der friedlich auf dem Bett lag. „Er ist immer noch nicht aufgewacht. Ich mache mir Sorgen.“ Yashiro nickte und betrachtete seinen besten Freund eindringlich. Ren hatte sich auf einen Stuhl direkt neben Reinos Bett gesetzt, seinen Blick unverwandt auf das Gesicht des Blondhaarigen gerichtet. Er musste wirklich sehr beunruhigt sein. „Kommst du hinunter zum Abendessen?“, fragte Yashiro sanft. Eine kurze Stille folgte, doch schließlich nickte der Dunkelhaarige und stand auf. Allerdings schien er immer noch nicht in der Lage sein, seinen Blick von dem Jüngeren zu lösen. Yukihito seufzte. „Ren, er wird nicht aufwachen, nur weil du ihn die ganze Zeit anstarrst.“ „Ich weiß, es ist nur...“ Der Blonde legte ihm eine Hand auf die Schulter, was Ren dazu veranlasste, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.. „Es ist okay“, sagte Yashiro leise. „Ich weiß, wie viel er dir bedeutet.“ Bei diesen Worten nahm das Gesicht des Schwarzhaarigen einen traurigen Zug an. „Es tut mir Leid, Yukihito“, flüsterte er. „So Leid.“ Sein Freund schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Es ist okay“, wiederholte er. Doch es war nicht okay und Ren wusste das. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Yukihito Yashiro war daran gewöhnt bei alles und jedem nur zweiter Platz zu sein. Sei es in einer Mathearbeit, in einem Wettrennen oder bei seinen Eltern. Es gab immer jemanden, der besser oder wichtiger als er war. Aus diesem Grund wäre es vollauf berechtigt gewesen, wenn er all jene, die ihm überlegen waren, gehasst hätte oder zumindest mit Abneigung begegnet wäre. Dies war allerdings nie der Fall. In der Schule behandelte er alle mit zurückhaltender Freundlichkeit und brachte den Klassenbesten immer eine gewisse Ehrfurcht entgegen, die ihnen überaus schmeichelte. Zuhause war es seine Schwester, die immer den ersten Platz einnahm. Wenn er wieder mit einer glatten Eins nach Hause kam, hieß es: „Warum hast du keine eins plus wie deine Schwester?“ Wenn er einmal keine Zeit für Hausarbeiten hatten, da er für die Schule lernen musste, rief sein Vater: „Warum kannst du deine Zeit nicht besser einteilen, so wie deine Schwester?“ Und wenn er wieder an einem Freitagabend in seinem Zimmer saß und ein Buch las, steckte seine Mutter besorgt ihren Kopf zur Tür hinein und fragte: „Wieso gehst du nicht auch heute Abend weg, so wie deine Schwester?“ Selbst seine Lehrer schienen der Meinung zu sein, dass es wichtig sei, ihn auf sein Versagen aufmerksam zu machen: „Du hast schon wieder die falsche Gleichung verwendet. Deiner Schwester wäre das nie passiert.“ Immer verglichen ihn alle mit der perfekten, wundervollen Aiko. Nur sie selbst schien erkannt zu haben, dass er nicht sie war. „Wenn du in der Schule mal etwas nicht verstehst, ist das nicht schlimm, Yuki-nii-chan“, sagte sie immer lächelnd. „Und es ist auch nicht wichtig, viele Freunde zu haben.“ „Aber du hast doch auch viele.“ „Nicht doch, du Dummkopf!“, entgegnete sie lachend. „Die meisten von ihnen kenne ich noch nicht einmal wirklich.“ „Warum verbringst du dann Zeit mit ihnen?“ Dem Jungen schien es unbegreiflich, dass man mit jemanden jede Pause zusammen sein könnte, für den man keine freundschaftlichen Gefühle hegte. „Ganz einfach, weil es von mir erwartet wird.“ Dies war eine Antwort, die der Junge noch oft hören sollte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Das erste, was Reino spürte, war, dass er auf etwas weichem lag und sein Kopf sich anfühlte, als würde er gleich zerbrechen. Nichtsdestotrotz öffnete er stöhnend seine Augen. Das Zimmer war in eine angenehme Dunkelheit getaucht und es herrschte absolute Stille. Nur aus der Ferne meinte Reino die Stimmen seiner Mitschüler zu vernehmen. Ob sie beim Abendessen waren? Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Er war in seinem Zimmer. Ren war nicht da und der Wecker mit den Leuchtanzeigen auf dessen Seite verriet ihm, dass es tatsächlich Zeit fürs Abendessen war. Wie war er hierher gekommen? Das letzte, woran er sich erinnerte war, dass er mit Aiko gesprochen hatte. Worüber? Seufzend ließ er seinen Blick durchs Zimmer schweifen, um an Rens schwarzen Rosen hängen zu bleiben. Seine geliebten Rosen, die ihn immer an jenen Jungen erinnern würden, den er so sehr liebte. Moment, wie kam er darauf, dass Ren ihn lieben würde? Er hatte niemals so etwas erwähnt. Oder? Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er hatte offensichtlich zu lange geschlafen, sonst würden ihm seine Erinnerungen nicht solche Streiche spielen. Bisher war das nur einmal vorgekommen und damals hatte er alles vergessen. Warum? Warum hatte er alles vergessen? Was war passiert? Wer war er überhaupt? Und wo war seine Schwester? Reino runzelte die Stirn. Schwester? Was für eine... doch da fiel ihm ein, was genau passiert war, bevor alles dunkel wurde. „Maria“, murmelte er. Der Name kam leicht über seine Lippen, so als hätte er ihn bereits tausendmal ausgesprochen. Gleichzeitig blitzten vor seinem Auge mehrere, undeutliche Bilder auf: Ein blondes Mädchen mit lockigen Haaren, das Seilspringen übt, wie sie über eine Wiese rennt, wie sie ihm Tee gibt, wie es lächelt und dadurch die ganze Welt erhellt. Maria. Seine Schwester. Der kleine, unschuldige Engel, der ihn immer aufmuntern konnte. Wie hatte er sie nur vergessen können? Doch obwohl er sich freute, sie in seinen Erinnerungen wiedergefunden zu haben, fühlte er einen längst vergessenen Schmerz in seiner Magengegend, als er ein weiteres Mal ihren Namen aussprach. Warum hatte er nur das seltsame Gefühl, dass mit ihr etwas schreckliches passiert sein musste? „Ich muss sie finden“, sagte er zu sich. „Wenn sie noch irgendwo dort draußen ist, muss ich sie finden.“ Aber wo sollte er suchen? Als er damals im Krankenhaus aufgewacht war, hatte niemand gewusst, wo er herkam. Sie meinten, sie hätten ihn am Ufer des Flusses gefunden, der durch die Ortschaft floss und ihn schließlich gesund gepflegt. Er war vollkommen unterkühlt gewesen und aus einer Schusswunde in seiner linken Schulter hatte es unaufhörlich geblutet. Die Ärzte hatten damals gesagt, dass es ein Wunder gewesen sei, dass er überlebt hatte. Augenblick. Er war angeschossen worden! Hieß das... könnte es sein, dass... Maria...? Ohne jegliche Vorwarnung wurde die Tür geöffnet und Sho kam hereingeplatzt, gefolgt von einer weinenden Chiori, einem besorgten Kuu und einem offensichtlich verärgerten Ren. Als sie jedoch bemerkten, dass er wach war, erstarrten sie mitten in ihren Bewegungen und sahen ihn alle mit demselben erleichterten Gesichtsausdruck an. Hätte Chiori sich nicht im nächsten Moment dazu entschlossen, ihn mit einer Umarmung erwürgen zu wollen, er hätte wahrscheinlich laut gelacht. Doch so versuchte er verzweifelt, Luft zu bekommen, während das Mädchen sich schluchzend an ihn klammerte und irgendetwas von „große Sorgen“ und „wie konntest du uns solche Angst machen, du Idiot?“ verlauten ließ. Schließlich erbarmte sich Kuu und wies sie auf das offensichtliche hin: „Wenn du ihn nicht sofort loslässt, können wir ihn gleich ins Krankenhaus bringen, Chiori-chan.“ Mit einem hochroten Kopf zog sie ihre Arme zurück und rutschte etwas zur Seite. „Entschuldige, Reino“, sagte sie. „Ich...“ „Ist schon gut“, erwiderte er lächelnd. „Ich wusste schon von Anfang an, dass du mich erwürgen willst.“ Kuu gluckste vergnügt, während Chirori sich peinlich berührt abwenden musste, doch sowohl Sho als auch Ren hatten ernste Mienen aufgesetzt und musterten ihn besorgt. „Es ist schön, dass es dir wieder besser geht, Reino-kun“, verkündete Kuu fröhlich. „Ren und Sho hier sind vor Sorge ja beinahe umgekommen. Es war beinahe schlimmer als bei Chiori-chan.“ Die beiden Jungen warfen ihm vernichtende Blicke zu, während das einzige Mädchen im Raum zustimmend nickte und Reino sich nicht sicher war, ob er sich freuen oder lieber ganz weit weg rennen sollte. Schließlich entschied er sich dafür, mehr Informationen einzuholen. „Was ist passiert?“ „Woran erinnerst du dich denn?“, fragte Kuu freundlich. War es Hizuri-sans Absicht, dass seine Worte so zweideutig klangen? „Ich war... bei meiner Sprechstunde“, antwortete der junge Lawliet, sich darüber bewusst, dass seine Freunde jedes seiner Worte begierig aufsaugten, in der Hoffnung, mehr über seine wöchentlichen Besuche in der Stadt zu erfahren. „Wir haben... geredet und dann muss ich wohl zusammengebrochen sein.“ Er sah Kuu fragend an. Der Lehrer nickte. „Mach dir keine Sorge, sie meinte, dass es normal sei, in einer solchen Situation einen Aussetzer zu haben. Anscheinend ist das ein Selbstschutzmechanismus deines Körpers. Am besten lässt du es dir morgen gleich noch einmal erklären.“ „Wieso morgen?“ „Du hast einen Termin um 14.30 Uhr. Sie war davon überzeugt, dass du ihn brauchen würdest.“ Da hatte sie allerdings Recht. Es war das erste Mal, dass er wirklich zu ihr wollte. Vielleicht konnte sie ihm sogar helfen, seine Schwester zu finden! „Nun, da es dir wieder gut geht, kann ich ja Chiori-chan zu ihrem Haus zurückbringen. Guck mich nicht so an, meine Liebe, du kannst morgen immer noch mit ihm reden. Außerdem weißt du doch, wie Julie sein kann, wenn ihre Küken zu lange hier bleiben. Ich wünsche euch eine gute Nacht, Jungs!“ Im nächsten Augenblick war er bereits zur Tür hinaus und nachdem sie ihnen auch eine gute Nacht gewünscht hatte, folgte Chiori ihm. Zurück blieben Sho, der in der Mitte des Raumes stand und Ren, der sich aus irgendeinen Grund die ganze Zeit nicht von der Tür wegbewegt hatte. Bildete Reino es sich nur ein oder war es gerade um einiges kälter geworden? Plötzlich seufzte Ren und verkündete: „Ich gehe duschen.“ Damit verschwand er im Badezimmer. Sho sah ihm kurz hinterher, dann näherte er sich Reinos Bett, um sich schließlich auf einen Stuhl zu setzten, der aus irgendeinen Grund direkt neben seinem Kopfkissen stand. „Wie geht es dir?“ „Gut, nur etwas Kopfschmerzen“, erwiderte Reino lächelnd. „Wo warst du?“, fuhr Sho fort. „Was sind das für Sprechstunden von denen Hizuri-san immer spricht?“ Der Junge antwortete ihm nicht. „Na schön“, erwiderte sein Freund traurig. „Dann eben nicht.“ „Es tut mir Leid, Sho“, sagte Reino leise. „Aber ich kann einfach nicht.“ „Ist schon in Ordnung“, flüsterte Sho. Er hatte den Kopf gesenkt, sodass er sein Gesicht nicht sehen konnte, wodurch Reino sich unwillkürlich schuldig fühlte. Sho war ihm ein guter Freund gewesen. Er hätte es eigentlich verdient, mehr zu erfahren, doch wie sollte er ihm etwas erklären, was er selbst nicht verstand? Aus dem Nebenraum konnten sie die laufenden Dusche hören, was sie daran erinnerte, dass noch jemand in der Nähe war. „Wirst du es ihm erzählen?“, wollte Sho wissen. Er bekam keine Antwort. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Als Ren einige Minuten frisch geduscht aus dem Badezimmer kam, war Sho bereits gegangen. Reino befand sich allerdings immer noch auf seinem Bett, hatte jedoch seine Beine angezogen, die Arme um diese geschlungen und seinen Kopf auf seinen Knien abgelegt. Dabei machte er einen ungewöhnlich geknickten Eindruck, ob er sich mit Sho gestritten hatte? „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Dunkelhaarige. „Nein“, war alles, was er als Antwort bekam und er konnte das „ist das nicht offensichtlich?“ förmlich aus seinem Schweigen heraushören. Lächelnd schüttelte er den Kopf und durchquerte den Raum. Bei Reinos Bett angekommen, setzte er sich neben ihn und machte es sich gemütlich. So saßen sie längere Zeit schweigend nebeneinander, beide in ihren eigenen Gedanken versunken und vorgebend, den anderen vergessen zu haben. Draußen auf dem Gang konnte man die Schritte und Stimmen ihrer Mitschüler hören, die sich langsam auf den Weg in die Stadt machten, um einen Kinofilm zu sehen oder anders ihren Abend zu verbringen. Ren erinnerte sich plötzlich daran, dass sein Zimmergenosse bisher noch nie weggegangen war. Warum? „Ren?“ Überrascht drehte der Dunkelhaarige seinen Kopf und sah, dass sein Freund ihn abwartend ansah. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er heute noch etwas von ihm hören würde. „Ja?“ Reino zögerte kurz, bevor er fortfuhr: „Ich... habe Angst.“ „Wovor?“ „Das... weiß ich nicht.“ Ren runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Eine kurze Stille folgte, dann fragte der Blondhaarige: „Hast du eigentlich Geschwister?“ „Nein“, erwiderte sein Freund, obwohl er nicht wusste, was das eine mit dem anderen zu tun hat. „Ich wünschte, ich könnte das auch so sicher sagen, wie du“, murmelte er frustriert. Ren sah ihn fragend an, doch er erhielt keine genauere Erklärung. „Es tut mir leid“, sagte Reino schließlich und wandte seinen Blick wieder von ihm ab. „Ich weiß, dass ihr alle wissen wollt, was los ist und dass ihr euch große Sorgen macht und anstatt euch etwas zu erklären, muss euch mein Gerede wahnsinnig machen.“ „Hat Fuwa das gesagt?“, fragte Ren sanft. „Dass du ihn wahnsinnig machst?“ Zuzutrauen wäre es ihm. Doch der Blondhaarige schüttelte mit dem Kopf. „Das würde er nie tun, Ren. Sho hat ein gutes Herz. Auch wenn du ihn nicht leiden kannst.“ „Das stimmt nicht“, erwiderte er. „Ich habe nichts gegen Fuwa. Er hat etwas gegen mich.“ „Und deshalb kannst du ihn nicht leiden?“ „Würdest du jemanden nett behandeln, der dich immer mit einem Mörderblick ansieht?“ Dies brachte Reino tatsächlich zum Lachen. „Nein, wahrscheinlich nicht.“ Ren lächelte. Er war froh, die Stimmung etwas aufgelockert zu haben, da er es nicht mochte, wenn sein Freund so sorgenvoll wie an diesem Tag war. Zwar brannte er darauf herauszufinden, was mit ihm los war, doch wusste er, dass der Blondhaarige ihm keine Antwort geben würde. Schließlich war es schon immer so gewesen, oder? ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ich weiß nicht, wie du das aushältst“, sagte Sho frustriert und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Es ist grauenvoll!“ Yashiro sah ihn fragend an. „Was genau meinst du jetzt?“ „Zu wissen, immer nur Nummer zwei zu sein!“, flüsterte er. „Sprichst du gerade von Ren und Reino?“, wollte der Brillenträger wissen. „Du solltest dich lieber darüber freuen, dass sie sich so gut verstehen, es wäre doch schlimm, wenn Reino sich hier nicht wohl fühlen würde, oder?“ „Du weichst meiner Frage aus“, entgegnete Sho wütend. „Wie hältst du das aus?“ Ein trauriges Lächeln erschien auf Yashiros Gesicht. „Es wird von mir erwartet, Sho. Deshalb halte ich es aus.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der wichtigste Mensch in seinem Leben war seine Schwester, denn sie war die einzige, die nichts erwartete. Aus diesem Grund versuchte er ihr umso mehr zu geben, sei es durch das teure Parfum zu Weihnachten, das sie sich so sehr gewünscht hatte oder durch seine Gesellschaft, die sie über alles schätzte. Sie war auch der einzige Grund, weshalb er sich in der Schule anstrengte. „Du musst fleißig lernen, Yuki“, sagte sie immer. „Es ist wichtig, dass du eine gute Ausbildung hast! Dann kannst du dir später all deine Wünsche erfüllen.“ Damals sah er sie jedes Mal mit großen Augen an und fragte ehrfurchtsvoll: „Wirklich alle?“ „Ja, Yuki“, entgegnete sie normalerweise lachend. „Wirklich alle.“ Dass sie gelogen hatte, wurde ihm erst viele Jahre später klar. Plötzlich und ohne Vorwarnung ging sie auf dasselbe Internat, wo auch er später lernen würde, weshalb er sie nur noch in den Ferien sehen konnte. Nun rückte er in das Augenmark seiner Eltern, wurde „die große Hoffnung der Familie“ und dadurch zu einer noch größeren Enttäuschung. Besonders schwer traf es seinen Vater, ein berühmter Wissenschaftler, der in der Zellenforschung tätig war und bereits viele bahnbrechende Entdeckungen gemacht hatte. Er hoffte, in seinem Sohn einen würdigen Nachfolger zu finden, doch obwohl Yashiro ein reges Interesse für die Naturwissenschaften entwickelte, erreichte er niemals dieselben Erfolge wie sein Vater. Seine Mutter liebte er genau so sehr wie Aiko und wenn man von ihrem täglichen Tadel über sein Äußeres, seine Schulnoten und sein Verhalten absah, begegnete sie ihm mit derselben herzlichen Zuneigung. Sie war es auch, der er seine Bekanntschaft mit Ren Tsuruga verdankte. Er lernte ihn kennen, bevor Kyoko Mogami in sein Leben trat, auf einer Ausstellung für moderne Kunst in Tokyo. Selbstverständlich war es für beide, die sie nicht viel älter als sieben waren, alles andere als spannend, durch Kunstgalerien zu wandern und sich die Erläuterungen ihrer Eltern anzuhören. Deshalb war es für beide ein wahrer Segen, als ihre Mütter einander als alte Schulfreunde wiedererkannten und sich von da an nur noch miteinander beschäftigten, weshalb die Jungen eine Chance hatten, sich klammheimlich davonzustehlen. Eilig liefen sie durch die Menschenmassen hindurch bis sie zu einem lichtdurchflutenden Raum kamen, der auf eine Veranda führte. Auf dieser hatten sich bereits einige Menschen versammelt und genossen den sonnigen Tag. Ren und Yashiro gesellten sich kurzer Hand zu ihnen und stellten sich an das Geländer, was die Gäste vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte, da sie sich im zehnten Stock eines Hochhauses befanden. Von hier hatte man einen guten Blick über Tokio, der nur von den Hochhäusern auf der gegenüberliegenden Seite unterbrochen wurde. Staunend sahen die beiden Jungen sich um. „Ich bin noch nie so weit oben gewesen!“, rief Yashiro begeistert. „Sieh nur, wie klein die Menschen sind!“ „Wie Ameisen“, stimmte ihm Ren zu und kicherte. Leichtsinnig, wie man in diesem Alter nun einmal ist, kletterte der Blondhaarige auf das Geländer und lehnte sich weit darüber, um einen besseren Blick nach unten zu haben. Was er allerdings noch nicht wusste war, dass in solchen Höhen mitunter ein starker Wind wehen konnte, der stark genug war, dass er einen kleinen Jungen mit sich reißen konnte. Allerdings wurde ihm einen Augenblick später diese Tatsache bis in alle Ewigkeit in sein Gehirn eingebläut, da ebenjener Wind aufkam und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Für eine schreckliche Sekunde sah es so aus, als würde er in die Tiefe stürzen, doch im nächsten Moment umklammerten ihn zwei Kinderarme, die ihn kräftig zurückzogen. „Vorsichtig!“, rief Ren lachend. „Oder willst du dort hinunterfallen? Mein Name ist übrigens Ren. Ren Tsuruga.“ „Ich bin Yukihito Yashiro“, entgegnete der Junge peinlich berührt. „Danke für die Rettung...“ Ren lachte nur noch lauter. Von diesem Tag an sahen sie sich öfter und bald wurden sie beste Freunde. Doch weiterhin blieb Yashiro nur an zweiter Stelle. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Die Töne klangen schwermütig im Raum nach. Sie kamen langsam, zögernd, beinahe widerwillig, doch sie kamen und formten sich zu einer traurigen Melodie. Wenn ein Mensch Musik wirklich liebt, kann er damit beginnen, durch sie zu leben und zu sprechen. Er kann all seine Gefühle, Sehnsüchte und Ängste mithineingeben und dadurch selbst der belanglosesten Melodie eine tiefgründige Bedeutung verleihen. Seine Musik war heute deprimierend. Es passte gut zum Wetter. Der Himmel war wolkenverhangen und es sah so aus, als würde es jeden Moment gewittern. Langsam näherte sich Yashiro dem Raum, aus dem die Melodie kam und war nicht überrascht, Reino vor dem Klavier sitzen zu sehen. Besorgt lehnte er sich an den Türrahmen und musterte seinen Klassenkameraden. Er machte immer noch einen kranken Eindruck und seine Musik ließ darauf schließen, dass ihn irgendetwas beschäftigen musste. Doch plötzlich änderte sich die Musik. Die Töne wurden schneller und nahmen einen kecken Zug an, doch der traurige Unterton blieb. „Ich wusste gar nicht, dass du Final Fantasy kennst“, sagte plötzlich eine Stimme rechts von Yashiro und der Brillenträger ging unwillkürlich in Deckung. Er wusste selbst nicht wieso er das tat, aber er hatte das Gefühl, hier nichts zu suchen zu haben. Das Spielen hielt inne. „Ich kenne es auch nicht, aber mein Klavierlehrer glaubte, es würde mir Spaß machen, so ein Lied zu spielen und ich muss ihm Recht geben.“ Es waren Schritte zu hören und Yashiro spähte vorsichtig in das Zimmer hinein. Ren stand mit dem Rücken zu ihm direkt vor dem Flügel und hatte sich Reino zugewandt, der ihn aufmerksam musterte. „Es ist auch ein sehr schönes Stück“, bestätigte der Dunkelhaarige. „Auch wenn die Orchesterversion besser ist.“ „Ist das nicht immer so?“, fragte Reino lächelnd, was Ren fröhlich Glucksen ließ. Yukihito runzelte die Stirn. Er wusste, dass die beiden sich sehr gut verstanden, aber so gut, dass der Blonde den jungen Tsurugaerben zum Lachen brachte? Offenbar hatte er ihre Beziehung unterschätzt. „Wie lange hörst du schon zu?“, fragte Reino. „Greensleaves“, entgegnete Ren und Yashiro wusste, dass er grinste. „Du bemerkst wirklich gar nichts, wenn du in deine Musik versunken bist, oder?“ „Nun... es kann vorkommen“, erwiderte der Blonde peinlich berührt. „Ist doch nicht schlimm“, meinte der Andere eine Spur zu freundlich, wie Yashiro fand. „Spielst du mir noch etwas vor?“ „Was willst du denn hören?“, fragte Reino lachend. Ein kurzes Schweigen kehrte ein, dann sagte Ren: „Mein Lieblingslied.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ „Ich werde heiraten.“ Yukihito blickte überrascht von seinem Buch auf. Sie saßen in der privaten Bibliothek von Rens Vater, der einzige Ort, wo sie vor Tsuruga-san sicher waren. Rens Mutter hatte die größte Leidenschaft ihres Mannes niemals nachvollziehen können, duldete sie jedoch naserümpfend, da sie ihm zu viel verdankte, als dass sie sich beschweren könnte. „Kyoko-chan?“, fragte Yashiro. „Das weiß ich doch, das hast du mir schon erzählt.“ „Ja, aber es kommt mir so vor, als hätte ich davor noch nicht begriffen, was es bedeutet.“ Der Blondhaarige legte stirnrunzelnd das Buch beiseite und sah ihn ruhig an. „Du willst sie nicht heiraten.“ „Nein.“ „Warum tust du es dann?“ Ren lächelte. „Weil es von mir erwartet wird.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Das Musikzimmer war in eine sanfte Dunkelheit gehüllt. Keiner von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, das Licht anzuschalten, es wäre ohnehin unnötig gewesen, da der junge Pianist im Moment keine Noten brauchte. Draußen begann es zu regnen und man konnte die Schreie der anderen Schüler hören, die lachend zu den umliegenden Gebäuden rannten. „Dein Lieblingslied?“, wiederholte Reino verdutzt. „Okay.... was ist denn dein Lieblingslied?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Ren grinsend. „Sag du es mir.“ „Witzbold! Woher soll ich das denn wissen?“ „Rate!“, meinte er. „Hm.... wahrscheinlich wirst du einfach zu jedem Lied, das ich spiele sagen, dass es dein Lieblingslied ist, was?“ Er hatte es neckend gemeint, doch Rens Gesicht verzog sich zu einem sanften Lächeln und er sah ihn liebevoll an. „Genau so ist es.“ Verblüfft blinzelte der Blondhaarige. Wie meinte er das denn nun wieder? Ren legte seinen Kopf auf das Klavier und sah ihn immer noch mit demselben Gesichtsausdruck an, allerdings konnte Reino nun auch einen Anflug von Trauer darin erkennen. „Weißt du, manchmal glaube ich, dass deine Musik das einzig gute auf dieser Welt ist.“ In diesem Moment erhellte der erste Blitz das Zimmer und kurz darauf rollte der Donner über das Land. Als wäre dies ein Startzeichen gewesen, begann der Junge zu spielen. Der Flur vor dem Raum war leer. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Später fuhr Julie ihn wieder zu Aiko. Die Lehrerin war gut gelaunt und erzählte ihm verschiedene Anekdoten aus dem Unterricht, die ihm jedes Mal zum Schmunzeln und manchmal auch zum Lachen brachten. Es regnete immer noch, doch das Gewitter hatte aufgehört. Yashiros Schwester begrüßte ihn heute auf dem Fußgängerweg vor ihrer Praxis. Sie trug einen sonnengelben Mantel und schützte sich mit einem knallig grünen Regenschirm vor dem Regen. In ihrer anderen Hand hielt sie einen weiteren Regenschirm – tomatenrot. „Wir werden heute erst einmal einen kleinen Spaziergang machen“, erklärte sie ihm fröhlich. „Das wird uns gut tun.“ „Bei dem Wetter?“, rief Julie lachend. „Aiko-chan, es bringt nichts, wenn er sich erkältet.“ „Das wird er nicht, keine Sorge! Unser Ziel ist ein schönes, kleines und vor allem warmes Café.“ „Soll ich euch nicht lieber hinfahren?“, fragte die Lehrerin. Aiko schien kurz darüber nachzudenken, dann stimmte sie gut gelaunt zu. Das Café befand sich direkt gegenüber der Kirche. Es war relativ klein und die Inneneinrichtung war in warme Farben gehalten, weshalb es einen sehr gemütlichen Eindruck machte. An diesem Tag hatten sich hier relativ viele Besucher eingefunden, aus diesem Grund konnten sich die Beiden ungestört an einem Tisch am Fenster unterhalten. „Was möchtest du trinken, Reino-kun? Eine heiße Schokolade? Kaffee? Tee? Oder möchtest du etwas essen? Komm, such dir aus, was immer du willst, ich bezahle.“ Aiko schien sehr guter Laune zu sein. Zumindest strahlte sie übers ganze Gesicht und summte fröhlich vor sich hin, während sie auf eine Kellnerin warteten. „Wie geht es dir heute?“, fragte sie schließlich, als sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten. „Ich... weiß es nicht“, murmelte Reino und sah aus dem Fenster. „Ich denke besser.“ „Das freut mich zu hören“, entgegnete sie sanft. „Wirst du mir sagen, was passiert ist? Du hast etwas von einer Schwester erzählt.“ „Das ist richtig“, sagte der Junge und wandte sich wieder ihr zu. „Ihr Name ist Maria und du musst mir helfen, sie zu finden.“ Stirnrunzelnd musterte sie den entschlossenen Gesichtsausdruck des Blondhaarigen und nickte ernst. „Ich werde tun, was ich kann. Das verspreche ich dir, Reino-kun.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der Pater stand am Fuß der Kirche und spähte durch den Regen zu dem Café auf der anderen Straßenseite hinüber. Er war gerade von einigen Einkäufen wiedergekommen, als er gesehen hatte, wie Aiko Yashiro mit einem ihrer Patienten aus einem Auto gestiegen und in das Gebäude hineingerannt war. Normalerweise hätte es ihn nicht weiter interessiert. Er wusste, dass sie sich immer gut um ihre Schützlinge kümmerte und gut allein mit den schwierigsten Fällen klar kam. Aber dieser Patient war nicht einfach irgendein schwieriger Fall. Er war Reino Lawliet. „Hey, ist das dort nicht Reino-kun?“ Überrascht drehte der Priester sich um und entdeckte Chiori Amamiya und Sho Fuwa einige Meter von sich entfernt stehen und ebenfalls zu dem Café hinüber sehend. „Na sowas, wer ist denn diese junge Frau?“, fragte Sho gerade überrascht. Seine Freundin sah ihn vorwurfsvoll an. „Also wirklich Sho, das ist Aiko Yashiro, Yukihito Yashiros Schwester. Sie ist Psychologin. Ah, da geht Reino also jede Woche hin! Zur Psychotherapie!“ „Oha! Aber... warum macht er daraus so ein großes Geheimnis?“ „Na, würdest du das an die große Glocke hängen? Reino hat offensichtlich ein ernstes Problem! Wer weiß, was ihm in der Kindheit alles passiert ist! Ich würde das auch nicht einfach so rumerzählen.“ Der Pater hob eine Augenbraue. Interessant, also vertraute der junge Lawliet seinen neuen Freunden nicht so sehr, wie er eigentlich angenommen hatte. Vielleicht wusste er ja doch mehr, als er angenommen hatte. Mit einen breiten Lächeln trat der Mann auf die beiden Jugendlichen zu, die ihn erst in diesen Moment bemerkten. „Hallo, ihr Beiden“, sagte er freundlich. „Mir scheint, wir haben die gleichen Interessen.“ __________________________________________________________ So, an dieser Stelle ende ich fürs Erste. Und bevor ihr fragt: Ja, es ist ein Cliffhanger. Stört das jemanden? Mich nicht. XP Zu dem Kapitel sag ich diesmal nichts, außer, dass es mir eine menge Kopfzerbrechen bereitet hat. Aber im Endeffekt bin ich zufrieden. Nun zu den wichtigen Ankündigungen: Solitude hat eine Beta: ist so gut, die bisherigen Kapitel nacheinander durchzulesen und zu korrigieren. Die verbesserten Versionen werden immer in gewissen Abständen sowohl hier als auch auf ihrer Seite pi-pu.com hochgeladen. Das heißt, dieses Kapitel ist zwar noch nicht korrigiert (aus Zeitgründen) aber in den nächsten Monaten wird es eine verbesserte Version geben, versprochen. *verbeug* Deshalb gibt es an dieser Stelle noch mal ein riesengroßes Dankeschön an sie, dass sie sich die Zeit dafür nimmt bzw. nehmen wird. *knuddel* A propos Dankeschön: Maeil, Sia-chan, Susilein, Kyoko-Hizuri und XxX-DarkEye-XxX, danke für eure lieben Kommentare zum letzten Kapitel. *strahl* Ohne eure motivierenden Worte würde ich jedes Kapitel wahrscheinlich für sinnlos halten. XD Deshalb danke, dass ihr mich immer wieder vom Gegenteil überzeugt. Aber das war es auch schon wieder. Ich wünsche euch eine wunderbare Woche! Bis bald, eure Ayako Hosted by Animexx e.V. 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