Der Malar von TilyaDraug (Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen) ================================================================================ Prolog: Federn -------------- Die Untiefen. Tiefschwarze, samtweiche Erde unter nackten Kinderfüßen. Horizontlose Weiten, durchzogen von dichten Nebelschleiern. Tilya hatte keine Angst. Die erwachsenen Alwen und Verlieken pflegten ihren kleinen Söhnen und Töchtern zu erklären, dass sich alle Kinder in jeder Nacht irgendwo an diesem ruhigen, friedlichen Ort wieder finden würden, und zwar so lange, bis sie dort schließlich ihre Begabung entdeckten. Zwei Wesen würden Tilya bald in den Untiefen begegnen, wie ihr ihre Eltern versprochen hatten, und die neugierige kleine Alverliekin konnte es kaum erwarteten, endlich in ihren faden, ereignislosen Träumen auf sie zu stoßen. Sie hob ihr Köpfchen und blickte in die dicken, den trüben Himmel verhängenden Schwaden, die das kalte Licht einer fremden Sonne sanft über die eintönige Umgebung streuten. Das eine Wesen würde ihr ihre Begabung schenken, das andere Wesen würde sie aus den seichten Untiefen in fantastische, fremde Welten voller aufregender Abenteuer führen, und Tilya wusste gar nicht, auf welche Kreatur sie sich am meisten freuen sollte. Das kleine Mädchen schloss die Augen und lauschte der Stille, die nur von dem ungeduldigen Schlagen ihres jungen Herzens durchbrochen wurde. Inzwischen hatte Tilya es aufgegeben, ziellos in den kahlen Untiefen umher zu irren, um nach jenen beiden Wesen zu suchen. „Wenn es soweit ist, dann findet ihr mich bestimmt ganz von alleine“ flüsterte sie in die kalte, taufeuchte Luft. Plötzlich zerriss ein Rascheln dicht über Tilyas Kopf die Ruhe um sie herum, und sie glaubte kurz, das sirrende Geräusch kleiner, flatternder Flügel hören zu können. Sie blickte erschrocken nach oben aber spürte nur noch einen schwachen Luftzug auf ihrem Gesicht und erkannte gerade noch eine sich rasch von ihr entfernende, schmale Silhouette, die ihre Spuren glitzernd durch den Dunst zog, bevor sie sich langsam in ihm verlor. Tilyas Herzchen machte einen Satz. Sie war nicht mehr alleine hier, und sie wusste, was das bedeuten musste. Sollte in dieser Nacht die Zeit des Erfahrens beginnen, würde sie nun die Welt bald aus neuen Blickwinkeln sehen können? Aufgeregt suchten ihre meeresblauen verliekischen Augen die tiefen, träge vor sich hin wabernden Dunstwolken nach den agilen Bewegungen des Wesens ab, doch nur das verebbende Kräuseln einiger ferner, hauchdünner Schwaden über ihr zeugte von der Tatsache, dass ein Lebewesen Tilyas einsamen Weg gekreuzt hatte. Atemlos rannte sie ein paar Schritte in die Richtung, in die das Tier geflogen zu sein schien, musste sich aber bald eingestehen, wieder einmal die Orientierung in den Untiefen verloren zu haben. Tränen der Enttäuschung verschleierten ihren klaren Blick. Anscheinend war nicht sie das Kind, nach dem dieses Totem gesucht hatte. Niedergeschlagen ließ Tilya ihr dunkles Lockenköpfchen hängen und begann entmutigt, ihre Wanderung durch die Untiefen blindlings fortzusetzen. Ohne auf eine weitere Begegnung mit dem Wesen zu hoffen, schlich sie trübsinnig über die schwarze Erde, als ihre alwischen Ohren plötzlich wieder dieses merkwürdige Surren hinter ihr vernahmen. Ganz behutsam wandte sich die kleine Alverliekin um und erblickte das Tier, das auf ihrer Augenhöhe in dem Nebel zu schweben schien, schwerelos in ihr dahin gleitend, so wie eine Wasserschlange im leichten Strom eines Flusses, während sie einem unvorsichtigen Frostfrosch auflauert. Tatsächlich mutete dieses Wesen wie eine Schlange an, mit seinem langen, schlanken Körper, den silbrig schimmernde Federn bedeckten. Zwei Paar spindeldürre schuppige Gliedmaßen mit scharfen Klauen, wie sie Greifvögeln eigen waren, spannte das Wesen dicht unter seinem Körper an. Jetzt erst erkannte Tilya, woher jenes Geräusch kam, das sie zunächst für das ferne Schwirren eines vorbeiziehenden Vogelschwarmes gehalten hatte. Zwei Paar fluoreszierender Flügel, so dünnhäutig, dass selbst das diffuse Licht der Untiefen sie transparent erscheinen zu lassen vermochten, schlugen mit der rasanten Geschwindigkeit von Libellenschwingen auf Hüft- und Schulterhöhe des Tieres in der kalten Luft auf und ab. Der durchdringende Blick aus Schlangenaugen in der Farbe reinster Türkisopale traf den der kleinen Alverliekin und Tilya war es, als würde sie in die Augen ihres Spiegelbildes blicken. Zitternd hob sie ihre rechte Hand und streckte sie ganz behutsam nach der sich elegant in den Nebelschleiern schlängelnden Kreatur aus. Die feinen Härchen auf Tilyas Armen richteten sich auf und ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinab als die Luft um sie herum zu knistern begann. Ihr kam es vor, als hätte sie schon so viel länger als ihr junges, kurzes Leben lang auf diesen einen Augenblick gewartet, auf den Moment, in dem ihr Bewusstsein mit einem uralten, seit jeher für sie bestimmten Teil vereinigt werden würde, der ihrer Seele bisher gefehlt hatte, oder vielleicht auch nur tief in ihr verborgen war. Unendlich vorsichtig berührte sie die harten, glänzenden Federschuppen der Schlange mit ihren Fingerspitzen, und eine angestaute Spannung zwischen dem Kind und der Kreatur schien sich in einem prickelnden Funkenschlag zu entladen, der den Nebel um die beiden in ein gleißendes Leuchten tauchte. Die Helligkeit durchflutete die unendlichen, undurchdringbaren Untiefen, und machte sie zu einem anderen, zu einem vollkommenen Ort, zu einem warmen Meer des Lichtes, in dem sich Tilya unwiderruflich verschmolzen mit einem vermissten Splitter ihres Ichs wähnte. Das Mädchen fing an frösteln, als plötzlich ein eisiger Hauch die Harmonie dieser Atmosphäre gefrieren lies. Dann begann der Nebel, der sich mit der blendenden Helligkeit vollgesogen zu haben schien, sich in winzigen, strahlenden Schneeflocken niederzuschlagen, die sanft in Richtung des dunklen, weichen Erdreichs schwebten, welches sie letzten Endes unbarmherzig verschluckte. Übrig von der neuen, erfüllten, erleuchteten Welt blieb nur eine leere Finsternis um sie herum, als auch die letzten glühenden Tautröpfchen knisternd auf der Erde erloschen und Tilya begriff, dass sie wohl die ganze Zeit über auf diesem öden, schaurigen Terrain umhergewandert war. Die Erkenntnis, dass bisher allein das Licht im Dunst dafür gesorgt hatte, dass sie jede Nacht unbeschwert die Untiefen erkundet hatte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie sich eigentlich in der schwarzen Endlosigkeit des Nichts bewegte, lähmte sie vor stummem Entsetzen. Doch die Vogelschlange war noch bei ihr, und diese Tatsache gab Tilya trotz allem ein Gefühl der Geborgenheit an diesem verlorenen Ort, den sie nun aus einer ganz anderen Perspektive wahrnahm. Sie beobachtete vertrauensvoll ihr Totem, das sich in schillernden Bahnen anmutig um sie kreisend durch die Dunkelheit bewegte, die bedrohliche Schwärze mit ihrem geschmeidigen, fließend durch sie hindurch gleitenden Körper teilte, ohne Tilya dabei aus den türkisen Augen zu verlieren. Da ertönte eine flüsternde Stimme irgendwoher aus den Weiten der Lichtlosigkeit. Es war mehr ein schnarrendes, tiefes Krächzen, ein Geräusch, das Tilya an die Laute eines alten, verendenden Tieres erinnerte und der kleinen Alverliekin einen kalten Schauder über den Rücken jagte. „Endlich bist du hier. Ich habe lange nach jemandem wie dir gesucht.“ Ein rasselndes Stöhnen folgte diesen Worten, und Tilya war sich nicht sicher, ob sie dabei Abscheu, Mitleid oder nackte Panik empfinden sollte. Auch konnte sie nicht einordnen, woher die Stimme kam, vielmehr schien die Finsternis selbst zu dem Kind zu sprechen. Tilya meinte, Nervosität aus den peitschenden Schlägen des gefiederten Schweifes ihres Totems deuten zu können, welches immer engere Kreise um das verunsicherte Mädchen zu ziehen begann. „Hier bin ich, Tilya, dreh dich um, Mädchen!“ Nun konnte die kleine Alverliekin den unbekannten Flüsterer eindeutig hinter sich orten. Sie fuhr augenblicklich herum und erkannte in der unschätzbaren Ferne einen undefinierbaren Schemen, der sich viel weiter weg von ihr zu befinden schien, als die Lautstärke der Stimme hätte vermuten lassen. „Ja, sieh mich an! Erkenne mich.“ knarzte der Schatten. „So werden wir nun aneinander gebunden. Du bist mein und ich bin dein.“ Ein Paar rot glühende Augen starrten scharfsichtig aus dem diffusen Grau, welches sich kaum vom tiefen Schwarz der Untiefen abhob und Tilya fühlte die faszinierende Präsenz des Malaren – natürlich, das musste das Wesen sein, welches diese Welt neu erschaffen konnte, der Gegenspieler ihres Totems, der zukünftige ständige Begleiter ihrer Träume… Der Malar näherte sich schwerfällig dem Mädchen. Tilya konnte unscharf eine hagere, gebeugte Silhouette erkennen. Lange, drahtige Gliedmaßen pendelten schlaksig an dem ausgemergelten Körper. „Schau du mich nur ganz genau an, mein Kind! Erfasse meine wahre Gestalt. Du wirst sie dir einprägen und sie niemals vergessen. Ganz egal, in welchen Formen ich dir auch in deinen Träumen nachstellen werde, du wirst meine Anwesenheit allgegenwärtig spüren. Ich werde wach sein, wenn du schläfst und von deinen Ängsten zehren. Du wirst mir geben, was ich brauche, Tilya. Wir gehören nun zueinander, also lass es uns endgültig besiegeln!“ Der Klang seiner Stimme veränderte sich, je näher er ihr kam, zu einem angenehm klingenden, schnurrenden Raunen. Doch Tilya hörte dem Malar gar nicht wirklich zu. Gebannt studierte sie seine langsamen, schleppenden Bewegungen. „Ich komme jetzt und hole dich, Kleine! Gleich habe ich dich. Für immer.“ Voller Neugier darauf, wie der Malar wohl aus der Nähe aussehen würde, hüpfte die kleine Alverliekin aufgeregt einige Schritte auf ihn zu. Er blieb stehen und fixierte sie mit seinen leuchtenden Raubtieraugen. Jetzt konnte sie sogar erkennen, dass sein Körper über und über mit struppigem, grauem und dunkelrotem Fell bedeckt war. Das Wesen wirkte geschwächt, kraftlos und ausgezehrt. Vielleicht war es krank, kam es Tilya in den Sinn. Interessiert begutachtete sie die großen Hände des Malars, die langen, kräftigen Finger, die dicken, klauenbewehrten Pranken, die den mageren Körper trugen. „Jetzt kriege ich dich!“ knurrte der Malar heiser, und begann plötzlich mit einer unerwarteten Geschwindigkeit auf das Mädchen zu zu rennen. Verblüfft registrierte Tilya, dass der Malar trotz seiner ausgemergelten Statur mit der kraftvollen, geschmeidigen Eleganz eines Wolfes über die raumlose Sphäre jagte. Erwartungsvoll wartete sie seine Ankunft ab, und je näher er ihr kam, desto sicherer war sich Tilya, dass der Malar wohl das außergewöhnlichste und schönste Wesen sein musste, das sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Mit Ausnahme der Kronennebeldrachen vielleicht, aber die hatte Tilya bisher nur in Vilthons Tierbücher bestaunen dürfen. Jetzt hatte der Malar das Mädchen fast erreicht, er stoppte seinen Lauf abrupt und blieb schwer keuchend direkt vor Tilya stehen, so dass nur noch eine Armlänge die beiden trennte. Bewundernd musterte Tilya die beiden Reihen scharfer Fangzähne, die aus dem wuchtigen Kiefer des Malars ragten und fuhr mit ihrer Zunge verstohlen über ihre eigenen, noch sehr kleinen Eckzähnchen. Die Vogelschlange hatte sich derweil unbemerkt mit eleganten Bewegungen um Tilyas Hals und Schultern gewunden und zierte das Mädchen jetzt wie ein extravagantes Schmuckstück. „Du rennst nicht weg?“ fragte der Malar die Kleine hechelnd. „Hast du keine Angst vor mir?“ Tilya überlegte kurz. „Nein, ich glaube nicht“ antwortete sie ihm und trat, als wolle sie ihre Worte dadurch bekräftigen, noch näher an den Malaren heran, so dass sie den seltsamen Duft, der von diesem Tier ausging, wahrnehmen konnte. Er ähnelte dem muffigen Geruch einer Riesenwollspinne an einem verregneten, warmen Frühsommertag. Der Malar taxierte Tilya argwöhnisch mit seinem starren Blick. „Das solltest du aber. So läuft das Spiel. Du hättest vor mir fliehen müssen und ich dürfte dich jagen. Und wenn ich dich zu fassen kriege, soll dich diese unsere erste Berührung vor Schreck erwachen lassen. Auf diese Weise allein sind die Bande zwischen uns zu besiegeln.“ Er sprach stockend, zögerlich, fast schon verunsichert und wirkte, als hätte Tilyas Verhalten ihn total aus dem Konzept gebracht. Tilya streckte aus einem Impuls heraus die Hand nach dem Malar aus und berührte neugierig das harte, borstige Fell seines Armes. Als hätte er sich an dem Mädchen verbrannt, wich der Malar erschrocken vor ihr zurück. Die Vogelschlange ringelte sich angespannt enger um Tilyas Schultern, wobei ihre kühlen Schuppen, die sanft über Tilyas Haut streiften ein angenehmes Gefühl auf ihrem vor Aufregung glühendem Körper hinterließen. Das Totemtier hatte seinen Blick nicht von dem Malaren abgewandt, seit es sich beschützend um Tilya gelegt hatte, und immer noch beäugte es das fremde Wesen voller argwöhnischem Misstrauen. Der filigrane Körper des Tieres zitterte vor Erregung, und in Tilya wuchs der beunruhigende Eindruck, ihre Schlange würde auf etwas warten, auf ein ganz bestimmtes Ereignis, vielleicht auf ein Zeichen, welches es zum Anlass nehmen könnte, den Malaren anzugreifen. Tilya jedoch schien es unverständlich, weshalb die Gegenwart des Malars eine derartige Beklommenheit bei dem Totem auslösen konnte. Gebannt blickte sie tief in seine faszinierend scharlachroten Augen, die sie an die einer Waldohreule erinnerten. Doch irgendetwas stimmte mit ihnen nicht. Eine laue Unbehaglichkeit machte sich nun auch im Leib des Kindes breit. Tilya kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und suchte in den Blicken des Malars angestrengt nach der Ursache dieses seltsamen Gefühls. Sie glaubte, die Antwort in dem Spiegelbild zu finden, welches sich in den Augen des Tieres reflektierte. Als hätte der Malar ihre Gedanken gelesen, senkte er sofort den Blick und das Mädchen biss sich verärgert auf die Zunge. Der Malar wandte sich nun der Vogelschlange zu. „Du hast Tilya bereits erwählt, denn sie gehört jetzt zu dir“ murmelte der Malar leise, mehr zu sich selbst als zu dem Totem. „Vorher hätte sie kein Malar hier in den Untiefen erkennen können. Doch ich sehe sie jetzt deutlich vor mir, und ich bin auch der erste, der sie aufgespürt hat. Damit sind wir nun aneinander geschmiedet. So sollte es sein – so muss es sein, Mädchen. Du bist das richtige Kind für mich!“ Energisch stakste der Malar einen Schritt auf Tilya zu und stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie den Klang seiner letzten Worte, die er mit tiefer, rasselnder Stimme voll trotziger Entschiedenheit geradezu heraus gebellt hatte, dumpf in ihrem kleinen Körper vibrieren spürte. Bevor sie jedoch die abermals Gelegenheit dazu bekommen konnte, hinter das Geheimnis seiner Raubvogelaugen zu kommen, schloss der Malar diese in seinem verzweifelten Versuch, die Fassung zu bewahren. Tilya beobachtete ihn hilflos in seinem Bemühen, seine Atmung in ruhigere, gleichmäßigere Rhythmen zu lenken. Sie hörte das Knacken der verkrampften Gelenke seiner Klauen und das schreckliche Knirschen mahlender Zähne. Das bedrückende Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben keimte in Tilyas Gewissen auf wie eine giftige Wucherpflanze. Auf eine seltsame Art fühlte sie sich schuldig, als sie da vor diesem fremden, großen, aus einem ihr nicht ersichtlichen Grund völlig niedergeschmetterten Wesen stand, welches offenbar gerade mit höchster Konzentration nach einer Lösung für ein Problem suchte, das Tilya womöglich zu verantworten hatte. Und immer noch war ihr völlig schleierhaft, worum es dem Malar letztendlich ging. Sie wollte ihm gerade mitleidig anbieten, ihr zu erklären, was sie zu tun hatte, damit es ihm besser ginge, als der Malar plötzlich seine roten Augen aufriss und sie mit einem grauenhaften Blick wahnsinniger Erkenntnis durchbohrte. Tilya schnappte erschrocken nach Luft, als sich der Malar mit einem irren Grinsen um seine gebleckten Fänge langsam zu ihr hinunter beugte, so dass sein heißer Atem auf ihrer Stirn dampfende Glut hinterließ. „Ich kriege den Staub!“ Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff er mit seinen langen, knochigen Finger das perlmuttartig schimmernde Geschöpf um Tilyas Hals, und bevor das Kind begriff, was geschah, verschwand sein neuer kleiner Gefährte zwischen langen, dolchartigen Reißzähnen. Die herrlichen Schuppen des Totems knirschten furchtbar im Rachen des Malars. Eine silberne Feder schwebte sanft zum schwarzen, bodenlosen Grund der Untiefen, die Tilyas schrillen Schrei verschluckte. Es war Tilyas eigene, gellende Stimme, welche das Mädchen letztendlich aus der lähmenden Ohnmacht dieses Alptraumes in die Realität katapultierte. Der Anblick des Malars, ihre eigene Erscheinung, das gesamte unergründliche Schwarz der entleerten Untiefen verblasste wirbelnd in dem reißenden Strudel ihrer Panik. Endlose Momente lang gab es nur die gähnende Dunkelheit, das Kind und seinen Schrei des Entsetzens, bis Tilya endlich zu realisieren begann, dass sie wieder in ihrem Bettchen saß, erwacht, stocksteif und klamm von kaltem Angstschweiß. Doch das erste, was sie überhaupt wirklich spürte, war die knisternde Spannung in ihrem kleinen Körper, eine kribbelnde Elektrizität, die auf ihrer Haut prickelte und sich in winzigen Funken auf den weichen Stoff ihrer Bettdecke entlud. Sie nahm, immer noch hysterisch kreischend, die zu Tode erschrockenen Gesichter ihrer aus dem Schlaf gerissenen Eltern im matten grünlichen Schimmer der Glühbeeren wahr, die sonore Stimme ihres Vaters, der in seiner Hilflosigkeit versuchte, beruhigend auf sie einzureden, die warmen Hände ihrer Mutter auf ihren tränennassen, glühenden Bäckchen. Das war alles viel zu viel für das Mädchen. Ihr Blick verlor sich im milden grünen Dämmerlicht ihres Kinderzimmers, als ihre andauernden Schreie die letzten Luftreserven ihrer kleinen Lungen forderten und ihre Stimme brach. „Er hat die Vogelschlange gefressen! Das Monster hat meine Vogelschlange gefressen!“ stieß Tilya mit letzter Kraft hervor, bevor sie restlos erschöpft in den Armen ihrer Eltern in sich zusammensank. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)