Flatmates von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 17: Pink Boxer Briefs ----------------------------- „Klara!“, rufe ich laut und laufe dem Mädchen hinterher, drängle mich durch die Grüppchen, die draußen stehen und rauchen, sich unterhalten, etwas essen, die Nachtluft einatmen und sich eine Abkühlung verschaffen wollen. Einige Meter weiter, kurz vor dem Taxistand, erreiche ich sie. Als meine Hand nach ihrem Arm greift, dreht sie sich stürmisch um und schlägt sie weg, verbietet mir mit dieser Geste jeglichen Körperkontakt. „Klara“, wiederholte ich sanfter. Ihr Anblick versetzt das Schlagen meines Herzens in eine schmerzliche Lage. Es ist eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und Trauer, die ihr hübsches, feminines Gesicht ziert. „Bitte geh nicht. Tu Jannik das bitte nicht an“, rede ich behutsam auf sie ein und entlocke ihr noch immer keine verbale Antwort. „Er ist immer noch dein Bruder, Klara“, sage ich weiter und gehe einen kleinen Schritt auf sie zu. „Tu ihm bitte nicht weh“, flehe ich sie an. „Es hat ihn so viel Überwindung gekostet, es dir zu sagen. Wir haben extra die ganze Zeit für euch dieses Schauspiel aufgezogen, das war auch nicht leicht!“, fahre ich fort und bekomme endlich eine Reaktion. Eine heftige Reaktion. „Ihr hättet auch gern damit weiter machen können!“, schreit sie mich an und rückt wieder etwas von mir ab. „Ich hätte das echt nicht erfahren müssen!“ „Aber... Denk doch mal darüber nach, was du Jannik damit antust!“, entfährt es mir nun auch lauter. „Er hat es die ganze Zeit verstecken müssen. Er hat sich die ganze Zeit verstellt! Rechnest du ihm denn nicht an, dass er sich euch gegenüber geöffnet hat? Dass er euch Vertrauen schenken möchte? Klara, ihr seid ihm so wichtig, versuch das doch zu verstehen, bitte... Jannik erlebt gerade einen Albtraum.“ Heftig schüttelt sie den Kopf, als ob sie meine Worte damit abwehren wollte. „Ich erlebe den Albtraum...“, wimmert sie dann und erzittert. Die Wut ist ihr deutlich ins Gesicht gemalt, ihre Wangen sind rot, ihre Mundwinkel verkrampft. „Klara...“, versuche ich erneut behutsam auf sie einzureden. „Jannik weiß, dass du Zeit brauchen wirst, um das alles zu akzeptieren. Die wird er dir geben.“ „Lass mich in Ruhe, Roman, OK?“, zischt sie hörbar verletzt und dreht sich erneut um, möchte davongehen, doch ich lasse sie nicht, kann sie nicht ziehen lassen. Abermals greife ich mit meiner Hand nach ihr und sie wirbelt wieder herum, schlägt sie weg. „Lass es!“, faucht sie, auch wenn ihre Stimme brüchig ist. „Das eben tut mir leid, Klara“, setze ich wieder sanft an, auch wenn mein Ton nun auch zittrig ist. „Das war nicht fair, das hättest du wirklich nicht sehen müssen. Auch die Sache im Flur, ich...“, mir fehlen die Worte und je mehr Belangloses ich von mir gebe, desto klarer wird mir, dass ich absolut keine Ahnung habe, was ich mit dieser Situation anfangen soll und wie ich mit Klara Frieden schließen kann. Verdammt, wäre doch Julia ihr nur hinterhergelaufen! „Es ist meine Schuld, OK? Ich... Ich hab's nicht ausgehalten meine Gefühle für Jannik unter Kontrolle zu halten. Ich liebe deinen Bruder! Vielleicht hätte ich wirklich warten sollen, bis ihr weg seid und ihn dann mit euch sprechen lassen sollen. Aber... Es sind viele Dinge zwischen uns passiert, es gab keinen Ausweg mehr.“ Während ich mich artikuliere, merke ich, wie Klaras auf mir liegender Blick immer zorniger wird, wie sich immer mehr Schatten in ihre Augen schleichen, wie düster ihre gesamte Miene sich gestaltet. „Jannik war nie so!“, fährt sie mich dann nach einer Weile des Schweigens an. „Mein Bruder war nicht schwul!“, japst sie und geht wieder einen Schritt auf mich zu, fixiert mich mit ihren leicht geröteten Augen. „Du hast ihn schwul gemacht!“, speit sie beinahe hysterisch. „Es ist deine scheiß Schuld!“, keift sie und mir wird schlecht bei ihren Worten. Mir wird schwindelig bei ihrer Aussage. Ich öffne den Mund, will antworten. Aber was? Wut vermengt sich mit einer gewaltigen Ladung Verzweiflung. „Du hast meinen Bruder schwul gemacht!“, schreit Klara mich erneut an. Es ist genau dieser Moment, in dem plötzlich Jannik neben mir auftaucht. Der Augenblick, in dem er die letzten Worte seiner Schwester genau mitbekommt. Die Sekunden, in denen ich mir sicher bin, dass mein Freund zusammenbrechen und wie ein Häufchen Elend auf den Boden fließen wird. Mein Herz bleibt beinahe stehen, als ich mich zu ihm drehe und seine dunklen, fast tiefschwarzen Augen erblicke, die er auf Klara richtet. Ich will meine Hand nach ihm ausstrecken und ihn anfassen, ihn an mich ziehen, doch dazu bleibt mir keine Zeit. „Wie kannst du es wagen, meinen Freund so dermaßen anzufahren?!“, zischt Jannik mit einer bedrohlichen und finsteren Stimme, die mich in meiner Bewegung inne halten lässt. Auch Julia, die hinter ihm angerannt ist, verharrt auf der Stelle, als sie die Worte ihres Bruders vernehmen kann. Es ist wie eine Filmszene in Slow-Motion. „Ich fasse es nicht, dass... dass du so etwas von dir geben kannst!“, fährt er aufgebracht fort. „Ich war schon immer schwul, Klara. Schon immer! Es... Es tut mir Leid, wenn du das nicht wahrhaben kannst und es schwer für dich, das zu akze-akzeptieren! Aber! Wage es ja nicht Roman noch einmal so anzuschreien, klar?!“ Der Alkohol beeinflusst seine Artikulation ein wenig. Seine Emotionen gehen mit ihm durch. Seine Stimme ist laut, bedrohlich, verletzt, ebenso wie verletzend. Er starrt Klara mit einer von Wut verzogenen Grimasse an, er öffnet seinen Mund, will weitersprechen, ihr weiter Dinge entgegenschleudern und ich weiß, dass ich ihn abhalten sollte, doch ich kann nicht, denn meine Glieder regen sich nicht. Bin ich erstaunt, dass Jannik erneut laut geworden ist? Ist es die Tatsache, dass er mich gerade verteidigt hat, die mein Herz wild pochen lässt? Ist es die Schwere dieser eskalierenden Situation, die mich unfähig stimmt, etwas zu unternehmen? Vermutlich eine Mischung aus all dem. „Es reicht!“, mischt Julia sich statt meiner ein und springt zwischen ihre Geschwister, schafft eine menschliche Wand; so als wären die beiden beinahe mit den Fäusten aufeinander losgegangen sieht es aus. Doch es wirkt, denn Jannik hält inne und starrt nun Julia an. „Es reicht, das reicht!“, wiederholt diese und ich sehe, dass auch sie mit ihren vielseitigen Gefühlen kämpfen muss, dass auch sie kurz vor einem Zusammenbruch steht. Sie visiert mich an und spricht zu mir: „Du nimmst Jannik und gehst wieder rein. Ich bringe Klara jetzt nach Hause, ihr kommt später nach, verstanden?!“ Ich nicke, unfähig anders zu antworten. Als ich sehe, dass Jannik schnaubt und wieder etwas sagen will, ist es, als trete mich jemand, als würde mich jemand aufwecken. Ich greife seinen Arm und zwinge ihn, mich anzusehen. „Komm“, sage ich und ziehe ihn mit. Ich blicke nicht zurück. Ich will Klaras Gesicht nicht sehen. Mein Freund und ich sagen nichts. Wir drängeln uns durch die Menge, meine Hand umfasst seinen Oberarm noch immer, vielleicht sogar etwas zu fest, aber ich kann meine Emotionen gerade nicht wirklich kontrollieren. Sie zu kategorisieren habe ich auch schon aufgegeben. Ich bin schlicht und einfach vollkommen durcheinander und erschreckt, schlussfolgere ich also. „Roman!“, dringt Janniks Stimme plötzlich zu mir und wir bleiben stehen, er nimmt meine Hand und drückt sie behutsam von seinem Arm weg. „Das tut ein wenig... weh“, erklärt er leicht lächelnd. „Sorry...“, gebe ich ihm zu verstehen und grinse ein wenig schief. Dann sehen wir uns einfach nur an. Sein Gesichtsausdruck ist so milde, irgendwie auch ein wenig melancholisch. In diesen Momenten nehme ich die laute Musik gar nicht mehr wahr, die zuckenden Körper um uns herum verschwimmen zu einer einzigen Masse. Janniks Hand gleitet zu meinem Nacken. Er zieht mich an sich heran, legt seine Arme um mich. Und so stehen wir einige Momente einfach da, halten uns fest. Ich drücke meinen Kopf gegen seine Halsbeuge und muss mir fest auf die Zunge beißen, um nicht einfach loszuheulen. Ich beginne all mein Vorgehen zu hinterfragen, alle meine Zickereien der letzten Wochen zu bereuen. Ich frage mich, ob es wirklich nicht besser gewesen wäre, mitzuspielen und Janniks Familie in ihrer Illusion zu belassen. Und ich weiß es nicht. So viele Argumente prallen erneut aufeinander und ich schluchze. „Hey...“, murmelt er in mein Ohr und drückt mich noch fester. „Ist doch alles in Ordnung...“ Ich reiße mich sachte von ihm los und wimmere: „Nichts ist in Ordnung! Und das alles ist sogar meine Schuld!“ Wieder drückt er mich gegen sich und ich kann mich nicht aus seiner Umarmung befreien, also gebe ich auf und heule einfach weiter. Dass Raphael und Hauke mittlerweile bei uns stehen und auch Schorsch gerade auf uns zukommt, merke ich in diesem Moment einfach nicht. Nur am Rande bekomme ich mit, wie Jannik ihnen die Situation etwas durcheinander und zusammengefasst schildert. Ich probiere mich zur Besinnung zu rufen und befehle mir, mich zusammen zu reißen. Janniks Arme geben mich letztendlich frei und ich erblicke Raphael, der mich mit einem traurigen Lächeln begutachtet. Wir bleiben nur noch kurz. Jannik trinkt nichts mehr. Niklas und Jürgen tauchen nicht mehr auf. Unsere Freunde bringen uns zum Taxistand. Wir kommen vielleicht eine Stunde später als die Mädchen nach Hause, in der Wohnung brennt noch Licht. Julia und Klara sitzen am Küchentisch, reden. Als ich vorsichtig eintrete, natürlich erst nachdem ich an der angelehnten Tür geklopft habe, erhebt Julia sich umgehend und tritt auf mich zu, schiebt mich ganz leicht aus der Küche und geht mit mir in den Flur. Ich kann nur einen kurzen Blick auf Klaras Rücken werfen. „Jetzt lieber nicht, Roman“, sagt Julia und nickt auch Jannik kurz zu. Ihre Miene erzittert leicht, als sie ihren Bruder eine Weile lange mustert. Dann geht sie auf ihn zu und umarmt ihn. Sie verharren eine Weile in dieser Pose und dann spricht Julia wieder zu uns: „Morgen. Morgen setzen wir uns am besten alle mal zusammen. Jetzt will ich mit ihr alleine sprechen, OK?“ Mein Freund und ich nicken. Wir schweigen, knipsen irgendwann das Licht aus. Ich halte Jannik während der gesamten Nacht in meinen Armen, spüre seinen Rücken an meinem Körper, muss ständig an seine ausdruckslose Miene denken und will mir gar nicht ausmalen, was für Gedanken durch seinen Kopf heute gerast sind. Möchte nicht an das Gespräch denken, welches morgen vor ihm liegt. Vor uns. Vor Klara. „Roman...?“, ertönt seine Stimme ganz sachte. „Ja?“, antworte ich ebenso sanft und mein Freund regt sich nun, dreht sich zu mir herum, sodass er mich küssen kann. Ganz weich fühlen sich seine Lippen an. Nur einige Sekunden dauert sein Kuss. Er seufzt und drückt dann sein Gesicht an meine Brust, kuschelt sich an mich und meine Hände streicheln sachte über seinen Rücken und Schultern. „Das wird schon wieder...“, versuche ich ihn zu beruhigen. Er sagt nichts. „Irgendwann wird sie das sicherlich verstehen können“, probiere ich ihn weiterhin zu besänftigen. Er presst sich noch fester gegen mich und seufzt ganz leicht. Und dann schläft er ein. Und obwohl ich nach einer Weile feststellen muss, dass ich in einer extrem unangenehmen Position liegen muss, bewege ich mich nicht. Denn ich will ihn nicht aufwecken. Ich weiß nicht, wie ich letztendlich schaffe abzudriften, aber als ich wach werde, liege ich auf meinem Rücken und Jannik sitzt neben mir, an das Bettgestellt gelehnt und ein Buch lesend. Ich drehe mich auf die Seite und unsere Augen treffen sich. „Guten Morgen“, begrüße ich ihn und er legt umgehend das Buch weg, legt sich an meine Seite, drückt seine Lippen auf die meinigen. Seine Antwort auf meine Begrüßung. Wir kuscheln einige Minuten und eigentlich scheint der Tag wie ein völlig normaler anzufangen. Wären da nicht die Bilder der gestrigen Nacht, die einen verfolgen, im Bewusstsein lauern. Jannik und ich, wir beide können sie vernehmen, nicht abschütteln und ein Schleier der Nervosität legt sich auf uns, als wir den Morgen nun offiziell durch diese Begrüßung einläuten. „Wie geht’s dir?“, frage ich ihn vorsichtig und er seufzt, wendet seinen Blick ab. „Keine Ahnung, Mann...“, gibt er mir zu verstehen. Ich streichle ganz sanft über sein Gesicht. „Ich helfe dir“, wispere ich und er lächelt ganz leicht, schaut mich wieder an und ich kann ganz deutlich Aufregung in seinen Augen lesen. „Ich gehe jetzt duschen“, verkündet er dann und ich nicke stumm. Während er im Badezimmer verschwindet, bleibe ich einfach liegen und starre die Decke an, lasse die Szenen der vergangenen Nacht in meinem Kopf Revue passieren und mir wird abermals schwindelig, sachte wirr. Das leichte Klopfen an der Tür bekomme ich beinahe gar nicht mit und schrecke auf, als Julia plötzlich neben mir steht. Ein kleiner Stein fällt mir vom Herzen, als ich erkenne, dass ich völlig zugedeckt bin und ausnahmsweise nicht auf die Idee gekommen bin, die Bettdecke fortzuschleudern. „Morgen“, grüßt sie mich und ich deute auf den Stuhl an der Kommode, bedeute ihr, sich zu setzen. „Wie geht es Klara?“, hake ich umgehend nach, für nette Begrüßungen gibt es auch später noch Zeit. Julia verzieht ganz leicht das Gesicht und wirft einen unsicheren Blick in Richtung Tür, als hätte sie vor jemandem Angst. Hat sie vor jemandem Angst? „Sie packt ihre Koffer“, erklärt sie dann und streicht sich einige ihrer wilden Strähnen aus der traurig gerunzelten Stirn. Ich kann nichts sagen. Es fühlt sich so an, als würde mich jemand zwingen, eiskaltes Wasser zu schlucken. Ja, es ist Kälte, die sich in mir breit macht, gekoppelt mit einer doppelten Ladung negativer Nervosität. Umgehend setze ich mich im Bett auf, kralle meine Finger in die Decke. „Was?!“, ist alles, was ich herausbringen kann. „Sie will aber vorher noch mit euch reden!“, wirft Julia schnell ein. „Das ist... Ach, Scheiße!“, flucht sie und lässt sich vollends gegen die Lehne sinken, ein wenig so, als würde sie eine aufgesetzte Pose ablegen und in ihre natürlich Haltung zurückkehren. „Ich weiß nicht, was es ist. Wahrscheinlich haben ihr unsere Eltern tatsächlich irgendwelche Scheiße über Schwule in den Kopf gepackt. Mann!“ Julia klingt aufgebracht und resigniert zugleich. Sie lacht bitter. „Ich war mal mit so nem Kerl befreundet der bi war“, fährt sie fort. „Boah, du hättest echt mal sehen müssen, wie mein Vater abgegangen ist, als der das raus gefunden hat! Der hat so dermaßen rumgeschrien, dass mir jetzt noch die Ohren weh tun! Ich hab einen Monat Hausarrest bekommen, nur weil ich mit jemandem befreundet war, der anders war. Zieh dir das rein, Roman!“ Sie schüttelt wütend den Kopf, den Blick gen Boden gerichtet. „Ich weiß“, sage ich leise. „Jannik hat mir das erzählt.“ Wir schauen uns kurz an. „Wie kommt es denn, dass... Dass Klara so gar nicht dar mit klarkommt und du... Ich meine, ihr seid doch alle zusammen aufgewachsen... Und… Auf mich hat sie doch recht OK reagiert“, stammele ich und versuche meine eigenen Gedanken zu ordnen. Julia zuckt langgezogen mit den Schultern. „Keine Ahnung... Ich meine“, setzte sie an und sucht offenbar nach den richtigen Worten. Dann lacht sie erneut. „Keine Ahnung. Klara und ich sind zwar Geschwister, aber irgendwie total grundverschieden. Ich meine, wir kommen ja miteinander klar und sie ist ja auch mehr wie eine Freundin für mich, die ich halt seit meiner Geburt kenne, aber... Ich bin halt. Naja, meine Mama sagt immer, Klara ist der Engel und ich bin der Teufel. Ziemlich klischeehaft, oder?“ „Ja“, antworte ich grinsend. „Aber sowas gibt es nun mal. Vielleicht bin ich ja tatsächlich der Gegenpart zu Klara. Ich meine, man braucht sich ja nur mal unsere Freundeskreise anzuschauen. Danach würde niemals jemand darauf kommen, dass wir Schwestern sind“, erzählt sie und lacht kurz, immer wieder den Kopf schüttelnd. „Weißt du... Vielleicht lässt Klara sich einfach zu viel von unseren Eltern beeinflussen. Ich glaube auch ehrlich nicht daran, dass BWL ihr wahres Wunschfach ist. Ganz ehrlich. Und Schwule sind OK, solange sie nicht wirklich etwas mit ihnen zu tun hat.“ Ich seufze und fahre mit meinen Händen über mein leicht verschwitztes Gesicht. Ich versuche die nahende Konversation weit weg zu schieben. Es klappt nicht. „Scheiße...“, murmle ich schließlich. Julia bleibt still. „Scheiße!“, wiederhole ich etwas lauter. „Fuck, ich hätte mich einfach mehr zusammenreißen sollen!“ Julia runzelt die Stirn. „Was meinst du damit?“, fragt sie und erneut überfluten mich Schuldgefühl, als ich es ihr erläutere. „Vielleicht hätte ich tatsächlich meine Fresse halten und diese vier Wochen unter dieser Farce durchziehen sollen!“ Sie stockt ganz kurz, blinzelt und dann fährt sie mich an: „Äh, nein?! Ehrlich gesagt finde ich, dass es wirklich langsam Zeit war für Jannik uns wenigstens die Wahrheit zu sagen! Ich finde das auch nicht gerade geil, dass ich seit Jahren angelogen wurde! Roman, ihr seid drei verfickte Jahre zusammen!“ Sie merkt ihre Wortwahl und starrt mich leicht erschrocken kann. Und dann müssen wir beide lachen. Jannik betritt angezogen das Zimmer und starrt uns leicht fragend an. Als wir ihn bemerken, beruhigen wir uns und ich räuspere mich. Sofort überkommen mich wieder Julias erste Worte. Die Erkenntnis, dass Klara ihre Koffer packt und Jannik dies gleich erfahren wird. Ich starre meinen Freund an, der sich nun neben mich aufs Bett setzt. Es ist Julia, die spricht. „Ihr solltet eben schnell was frühstücken und dann... setzen wir uns am besten alle zusammen“, richtet sie ihre sanften Worte an ihren Bruder und erhebt sich, huscht aus dem Zimmer. Ich schlinge meine Arme um meinen Freund und drücke ihm einen ebenso zarten Kuss auf die Wange. Dann bleibe ich ganz still, mit meinem Kopf an seine Schulter gelehnt. Auch Janniks Arme wandern um meinen Körper und er zieht mich fest gegen sich. Ein kleines bisschen Geborgenheit legt sich um uns, eine kleine Illusion. Vermutlich die Ruhe vor dem Sturm. Obschon ein wenig Hoffnung auf dessen Ausbleiben verweilt. „Was hat Julia dir eben gesagt?“, murmelt er und ich erzittere ganz wenig. Soll ich es ihm sagen? Erfahren wird er es doch eh! Sollte Klara es ihm vielleicht selber vermitteln? „Ich glaube sie sagte, dass das Klara momentan noch etwas zu viel ist“, lenke ich nach einer Weile ein und entscheide mich somit also für die erste Variante. Es ist besser, als komplett zu schweigen. „Ich glaube sie will wohl erstmal weg.“ Regelrecht kann ich spüren, wie Jannik sich etwas verkrampft. Ich umarme ihn noch fester und wir sprechen die kommenden Minuten nicht, tanken schweigsam Kraft, die vor allem mein Freund benötigt. Eine seltsame Stimmung liegt in der Luft als wir letztendlich zu viert im Wohnzimmer sitzen. Während meine Augen auf Klara ruhen, die ihren Bruder sichtlich nervös und zugleich etwas niedergeschlagen mustert, frage ich mich, ob es wirklich eine so gute Idee ist, dass Julia und ich dieser Konversation beiwohnen. Allerdings tauchen da plötzlich diese gestrigen Bilder auf; Bilder von einer völlig aufgebrachten Klara, die mich anschreit, mit leicht geröteten Augen. Wahrscheinlich ist es besser, dass Janniks jüngste Schwester und ich als eine Art „Sittenwächter“ fungieren und im schlimmsten Fall dazwischen gehen können. Auch wenn es eigentlich eher als traurig bewertet werden kann, dass wir so weit planen müssen. Dass dieses Gespräch in seiner Art überhaupt stattfindet. Klara holt Luft, als würde sie sich auf eine lange Rede vorbereiten. Auch wenn man alles in einige knackige Sätze packen könnte. Oder in eine SMS schreiben könnte, twittern könnte, oder im StudiVZ mal eben schnell auf die Pinnwand kritzeln könnte. „Ich komme mit deiner Offenbarung einfach nicht klar“, sagt sie, umschreibt diesen Satz ungekonnt mit Synonymen, weiß anscheinend selber nicht, warum sie empfindet, wie sie empfindet, kann ihre eigenen Emotionen nicht nachvollziehen. „Ich... Ich komme einfach nicht damit klar, dass ihr...“, Klaras Blick schweift nun zwischen Jannik und mir. „Dass ihr, also... So richtig ein Paar seid mit... Ich hab mir dich immer mit so ner richtig tollen, selbstbewussten, hübschen Frau vorgestellt, Jannik“, spricht sie mit leicht brüchiger Stimme weiter und lächelt traurig. „Ich hab mein ganzes Leben gedacht, dass du- dass du normal bist.“ Ich schnaube, doch Julia wirft mir umgehend einen ermahnenden Blick zu und ich raffe, dass ich meine Klappe halten sollte. Entschuldigend sehe ich Klara an, sie schaut auf ihre Füße. „Ich werde echt versuchen damit klarzukommen“, sagt sie schließlich entschlossen, auch wenn ihr Ton noch immer ein wenig brüchig ist. Sie schaut Jannik nun direkt in die Augen und mein Freund hält meine Hand so doll fest, dass es beinahe weh tut. „Aber ich brauche Zeit. Und Abstand. OK... ihr Zwei?“ Ich muss mir selbst eingestehen, dass ich nicht nur überrascht über Klaras Worte bin, sondern auch noch sehr glücklich, dass sie uns das erste Mal so richtig als Pärchen angesprochen hat. „Ihr Zwei“ hat sie gesagt. Jannik und ich. Ja, wir zwei. Ich lächele sie an und werfe meinem Freund einen schnellen Blick zu. Er nickt bedächtig. „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst“, sagt er. „Ich hab mir für die restlichen Tage ein Zimmer in der Jugendherberge organisiert“, verkündet sie sanft. „OK?“ Erneut nickt Jannik und auch ich bewege einwilligend meinen Kopf. „Du kannst jederzeit wieder herkommen“, füge ich noch schnell hinzu und Klaras dunkle Augen ruhen wieder auf mir. Sie lächelt vorsichtig. „Hör zu...“, spricht sie weiter, ohne unseren Blickkontakt zu brechen. „Es... Das gestern tut mir leid, Roman“, sagt sie schließlich und ich kann sehen, dass ihr das ganze hier sehr unangenehm ist. „Ist schon OK“, sage ich also schnell. Und dann erhebt Klara sich auch schon und wir folgen ihrem Beispiel. Eine etwas unangenehme Stille tritt ein in der wir uns alle gegenseitig mustern. Verlegen räuspert sich Klara. „Ich meld mich“, sagt sie dann zu Julia und die beiden umarmen sich. Als Klara sich Jannik und mir zuwendet, weiß sie nicht, wie sie sich verhalten soll. Sie tritt auf uns zu, stoppt dann wieder und weiß nicht, was sie mit ihren Händen anstellen soll. Ihr Blick wandert wild zwischen und beiden, streift den Boden, trifft die Wand. „Äh, tschüß, Jannik. Tschüß, Roman“, stammelt sie und geht etwas verkrampft an uns vorbei. Innerlich seufze ich ein wenig, bin traurig, dass sie scheinbar so durcheinander ist, dass sie nicht einmal mehr weiß, ob es OK ist Körperkontakt irgendwelcher Art mit uns zu haben. Mit ihrem eigenen Bruder... Wir begleiten sie noch zur Tür. Ich bin es, der ihren Koffer nach unten trägt. Erneut verabschiedet sie sich von mir, winkt mir zu und steigt in das Taxi. Ich blicke ihr noch ein wenig hinterher und dann schleppe ich mich die Treppen erneut hinauf. Ich weiß nicht, was ich denken soll und belasse meinen Kopf in einer trägen Leere. Doch was ich will, dessen bin ich mir ganz sicher. Jannik ganz nah sein, ihn festhalten, Kraft und Mut geben. Als ich die Wohnung erneut betrete, sitzt er mit seiner verbliebenen Schwester immer noch im Wohnzimmer. Sie reden miteinander, schauen sich in die Augen und ich kann ganz deutlich erkennen, dass mein Freund aufgebracht und durcheinander ist. Ich entscheide mich dafür, die beiden alleine zu lassen und tapse zurück ins Schlafzimmer, schnappe mir meinen Laptop und surfe sinnlos durchs Web. Um etwas für mein Studium zu tun, fehlt mir schlicht und einfach die Motivation. Erst nach einer halben Stunde kommt Jannik zu mir. Bevor ich etwas sagen kann, klappt er mir den Bildschirm zu und stellt den mobilen Computer beiseite. Immer noch schweigend, drückt er mich mit meinem Rücken gegen die Matratze und legt sich auf mich, lässt sein komplettes Gewicht auf mir nieder. Sein Atem kitzelt meinen Hals ganz sachte und er schlingt seine Arme um mich, lässt sie zwischen meinen Rücken und Bettdecke wandern. Instinktiv lege ich auch meine Arme um seinen Rücken, streichele ihn, lasse meine Hände über seinen Nacken streifen, seine Wirbel. Ich küsse seinen Kopf ganz leicht; meine Lippen berühren sein dunkles Haar vorsichtig. „Alles OK?“, frage ich ihn und merke erst als ich mich artikuliert habe, wie dämlich diese Frage ist und wie deplaziert sie wirkt. Jannik gluckst leicht und dann richtet er sich auf, dreht sich auf die Seite und zieht mich mit, sodass ich ihm direkt gegenüberliege und ins Gesicht blicken kann. „Na klar. Meine Schwester kommt voll nicht damit klar, dass ich schwul bin, weil meine Eltern ihr Gehirn jahrelang mit Bullshit gefüttert haben und ist deswegen in eine Jugendherberge geflüchtet. Natürlich ist alles OK“, sagt er sarkastisch und lacht bitter. Ich schlucke leicht. Es ist sehr befremdlich meinen Freund so zynisch reden zu hören. Leicht unangenehm. Er scheint meine Gedanken richtig interpretiert zu haben, denn er zieht mich an seine Brust und lässt seine Finger durch mein Haar wandern. „Es ist halt nicht leicht“, fügt er dann leiser hinzu und ich nicke leicht. „Ich weiß“, gebe ich ihm zu verstehen und küsse mich an seinem Kinn hinauf. Er lächelt ein bisschen. „Ich bin froh, dass Julia hier bleibt“, sage ich dann und nun ist er es, der nickt. „Ich auch. Und wie“, sagt er ehrlich. „Ich auch.“ Ich frage ihn nicht, worüber er mit seiner Schwester geredet hat. Natürlich interessiert es mich, sicherlich hatte es was mit Klara zu tun, aber es sollte mich dennoch nichts angehen. Manche Sachen sollten nur unter Geschwistern gesagt werden. Denke ich. Ich erwische Julia später alleine in der Küche. „Wie geht es Jannik?“, fragt sie etwas besorgt und ich zucke mit den Schultern. „Er schlägt sich tapfer. Aber ich glaube nicht, dass es ihm wirklich gut geht“, entgegne ich ihr. Sie schaut etwas nachdenklich und seufzt. „Ich hoffe echt, dass Klara ihre Klappe hält und es nicht Mama und Papa verrät...“, äußert sie dann, während sie sich mit ihrem Glas Mineralwasser an den Tisch setzt. „Meinst du denn, sie wäre fähig dazu?“, fragte ich nun auch besorgt. Julia denkt nach. „Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie es Thomas bereits erzählt hat, was man ihr auch nicht übel nehmen kann. Ich meine, es ist schließlich ihr Freund, über den wir hier sprechen.“ Ich nicke. Und ich kann das wirklich nachvollziehen. Schließlich erzähle ich Jannik auch alles. Ich habe auch das Bedürfnis alles mit ihm zu teilen, seien das nun negative oder positive Erfahrungen. Ich muss sie alle immer mit ihm teilen. Die kommenden Tage vergehen in einem schleppenden Tempo. Anders kann man es nicht beschreiben. Ich arbeite an meinen Hausarbeiten, lerne für die Prüfung. Und ich falle durch. Ist mir aber im Moment irgendwie scheißegal. Meine gesamte Konzentration ruht auf Jannik. Wir essen jeden Tag mit Julia zusammen, wir schauen uns gemeinsam Filme an, betreiben Smalltalk. Über Klara reden wir nicht. Nur ein Mal bemerkt Julia, dass Klara uns ihre Grüße schickt und dass es ihr ganz gut geht. Thomas ist sie besuchen gekommen und bleibt die restlichen Tage, bis zum Freitag, bei ihr. Ob sie wohl über uns reden? Bestimmt. Doch diesen Gedanken schüttele ich schnell wieder ab. Es ist Donnerstag, mein freier Tag. Ich räume die Wohnung auf, mache Wäsche, koche für heute Abend vor. Und plötzlich steht Jannik in der Küche. Er lächelt und tritt auf mich zu. Seine Hände legen sich um meine Hüften und er zieht mich in einen zärtlichen, intensiven Kuss. „Ich liebe dich…“, flüstere ich ihm zu, als wir uns voneinander lösen. (Damit das Essen zum Beispiel nicht anbrennt…) Jannik grinst und drückt mir einen schnellen Kuss auf die Stirn. „Ich dich auch“, wispert er dann und streicht mir frech über meinen Hintern. Wir verziehen uns ins Schlafzimmer, kuscheln eine ganze Weile und letztendlich bekomme ich als „Geschenk“ einen Blow-Job von dem wunderhübschen Mann, den ich meinen Freund nennen darf. „Morgen ist mein letzter Tag, ich kann es nicht fassen!“, ruft Julia aus, als wir alle drei am Tisch sitzen und den Nudelauflauf löffeln, der mir wirklich sehr gelungen ist. „Und, willst du jetzt auch BWL oder so’n Quatsch studieren?“, frage ich sie frech und sie denkt nach. „Ich glaube nicht“, bringt sie dann lachend hervor. „Na, Gott sei Dank!“, sage ich grinsend. „Vielleicht will ich auch überhaupt nicht studieren. Naja, ich hab noch ein Jahr Zeit“, denkt sie weiter laut nach. „Eben. Du hast Zeit“, sagt Jannik. „Mein Gott, Roman. Du hast dich mal echt wieder selbst übertroffen“, sagt er dann und streichelt sich sein kleines Bäuchlein. Naja, seinen straffen Bauch wohl eher. „Danke, Schatz“, sage ich. Mittlerweile finde ich es ganz normal, Jannik so vor Julia zu nennen und ich darf behaupten, dass sie sich extrem schnell daran gewöhnt hat. Ich muss daran denken, wie sie mich gestern unter vier Augen gefragt hat, ob der Sex zwischen zwei Männern eigentlich extrem weh tut. „Was grinst du so?“, fragt sie nun und ich werde rot. „Ach, ich hab nur an etwas Witziges gedacht“, entgegne ich und schaue ihr in die Augen. Sie scheint es sofort zu kapieren und ändert das Thema. Wir reden über irgendeine dämliche Soap, die alle Bürofrauen bei Siemens irgendwie toll finden. Belangloses Zeug. Aber die Stimmung an diesem Abend ist schön. So schön, dass ich gar nicht überrascht bin, dass Jannik mich in dieser Nacht gleich mehrmals vernascht. Er ist wieder zärtlich, vorsichtig, und geht hundertprozentig auf mich ein, liebkost jeden Zentimeter meines Körpers. Mir ist ganz schwindelig, als wir endlich in den Schlaf abdriften. Ich bin froh, dass ich morgen keinen Termin an der Uni habe. Selbstständiges Arbeiten ist angesagt. Und das kann ich auch von zu Hause aus erledigen. Ich bin der erste, der aufwacht von uns beiden. Vorsichtig schlüpfe ich aus dem Bett und streife mir eine Boxershorts über. Als ich bemerke, dass es die einzige, völlig Pinke ist, muss ich kichern. Ich hoffe die Wäsche ist schon trocken. So ein Wäschetrockner wäre mal eine Idee… Vielleicht sollte ich Jannik das mal vorschlagen. Ich begebe mich in die Küche und entscheide, dass es heute Frühstück am Bett für meinen Freund geben wird. Zufrieden stelle ich die Zutaten zusammen und wärme schon mal den Ofen vor, um die tollen Vollkornbrötchen aufzubacken. Ich bin ein wenig skeptisch, als es direkt an der Haustür klingelt. Aber dann fällt mir ein, dass Raphael am Wochenende noch mal vorbeikommen wollte, um uns ein paar DVDs auszuleihen und Julia einige MP3s auf seiner Festplatte zu bringen. Die beiden sind irgendwie ineinander vernarrt. Schon witzig. In der Hoffnung, dass Jannik nicht wachgeworden ist, hechte ich zur Tür und reiße sie auf. Vor mir steht ein etwas älteres Pärchen, dass mich etwas verwirrt begutachtet. Na toll, denke ich mir. Schon wieder irgendwelche Leute, die irgendwie ins Treppenhaus gelangt sind und nun an der falschen Tür stehen. Oh Gott, ich hoffe doch, dass es nicht die Zeugen Jehovas sind! Die Frau sieht irgendwie danach aus. Sie hat viel zu viel Rouge aufgetragen und ich kann das Haarspray, welches sie benutzt hat, förmlich riechen. Sie trägt dunkelgraue Sachen, einen viel zu langen Sommermantel und eine glänzende, schwarze Handtasche, die einfach zu riesig ist und überhaupt nicht zu ihr passt. Ihr Begleiter ist zwei Köpfe größer als sie und sieht irgendwie jünger aus, obschon genauso spießig. Er trägt einen furchtbaren, schwarzen Anzug und eine dunkelgrüne Krawatte. Der muss sich doch zu Tode schwitzen! Ich starre ihn an und frage frech: „Kann ich den Herrschaften irgendwie weiterhelfen?“ Irgendwie finde ich das witzig in dieser dämlichen pinken Boxershorts vor den vermeintlichen Jehovas zu stehen. Die dunklen Augen des Mannes begutachten mich mit einer Portion Verwirrung, Empörung und Skepsis. Ich grinse die beiden an und lasse meinen Blick zwischen ihnen wandern. Und dann läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich kenne dieses Paar von Fotos. DAS SIND JANNIKS ELTERN! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)