Finera - New Adventures von Kalliope ================================================================================ Kapitel 103: Wechselbad der Gefühle ----------------------------------- Vollkommen glücklich und zufrieden lag Faith im Wohnzimmer auf dem Boden und blätterte in ihrem neuen Buch über die Aufzucht von Pokémon. Ihre Eltern waren der Ansicht, dass Faith nach ihrer Teilnahme an der Finera-Liga sicherlich noch durch eine andere Region reisen wollte und irgendwann auch mit Pokémoneiern konfrontiert werden würde. Um die richtige Behandlung der Eier und die Aufzucht innerhalb des ersten halben Jahres drehte sich das Buch. Vor ihr lag ein kleiner Stapel mit den ausgepackten Geschenken und dem dazugehörigen Geschenkpapier, ihre Eltern hatten den Kamin angemacht und schauten Fernsehen. Als Faith das Buch zuklappte, schauten die beiden auf, widmeten sich jedoch bald wieder dem Spielfilm. „Ich räume meine Geschenke nach oben und lese dann noch ein wenig in meinem Zimmer.“ Faith umarmte ihre Eltern über das Sofa hinweg, stibitzte sich noch ein paar Kekse und ging dann mit ihrem ganzen Zeug nach oben in ihr Zimmer. Neben dem Buch über Pokémonaufzucht hatte sie noch zwei Romane bekommen, ein paar Oberteile, eine neue Jeans und Geld, das sie auf ihrer Reise sicherlich gut gebrauchen konnte. Die ganzen Sachen verstaute sie, dann streckte sie sich und setzte sich mit dem Buch an den Schreibtisch. Doch richtig konzentrieren konnte sie sich nicht mehr. Jedes Mal, wenn sie aus ihrem Zimmerfenster nach draußen schaute, sah sie den ganzen Schnee und musste an Niburg und das bevorstehende Treffen mit den anderen denken. In drei Tagen waren sie wieder alle beisammen. Der Lebkuchengeruch klebte an Faith wie ein Parfüm, als sie ihren Rucksack packte, in ihre Winterstiefel stieg und sich Schal und Wollmütze aufsetzte. Das ganze Haus war noch voller Weihnachtsdekoration und Lichterketten, es roch nach frischen Keksen, Gänsebraten und selbstgemachten Pralinen. Faiths Eltern hatten für ihre Tochter ein riesiges Lunchpaket voller Leckereien zusammengestellt, das ganz oben im Rucksack lag. „Wir werden dir bei der Finera-Liga zujubeln, Schatz.“ Ihre Mutter zog sie in eine lange Umarmung, bis die Küchenuhr klingelte und sie sich um den Kuchen im Backofen kümmern musste. „Melde dich, sobald du weißt, dass du es durch die Qualifikationsrunden geschafft hast, ja?“ „Ja“, bestätigte Faith etwas genervt, drückte auch ihren Vater kurz und zog dann den Wintermantel an. Noch einmal prüfte sie in Gedanken den Inhalt ihres Rucksacks, dann nickte sie zufrieden, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle, wo in wenigen Minuten der Expressbus nach Niburg abfahren würde. Die letzte halbe Stunde der Fahrt rutschte Faith unruhig auf ihrem Sitzplatz herum, nestelte nervös am Reißverschluss ihrer Jacke und sprang voller Vorfreude auf, als sie die Stadt näherkommen sah. Kaum hatten sich die Bustüren geöffnet, stand Faith auch schon auf der Straße und wünschte sich im nächsten Moment in die Wärme des Busses zurück. Hier in den Bergen fegte ein eiskalter Wind durch die Stadt, schob Schneewehen vor sich her und ließ alles hinter einer dicken, weißen Wand zurück. Dennoch trabte Faith unbeirrt in Richtung des Pokémoncenters. Ihre Miene erhellte sich, sobald das Neonschild in Sicht kam. Als die Glastüren zur Seite aufgingen, sprang Mira von einem Loungesessel auf und fiel Faith um den Hals, sodass diese beinahe nach hinten umgekippt wäre. „Faith, da bist du ja!“ Die Umarmte lachte, tätschelte Mira den Rücken und ließ sich in einem der bequemen Sessel nieder. „Oh je, es ist so eisig kalt dort draußen. Ich bin froh, dass ich endlich angekommen bin. Ihr seht alle gesund und munter aus.“ Sie schaute der Reihe nach Mira, Evan und Itsuki ins Gesicht, dann legte sie die Stirn in Falten. Evan stand etwas abseits und hatte sich nur kurz zu Faith umgedreht, er schien per Bildtelefon mit jemandem zu telefonieren. Evan bemerkte ihren fragenden Blick und formte das Wort „Joel“ mit den Lippen, woraufhin Faith zu ihm kam, er sich von Joel verabschiedete und ihr den Platz überließ. „Faith?“ Im ersten Moment war Joel etwas überrascht, dann lächelte er sie glücklich an. „Du bist also auch schon in Niburg. Trixi und ich können den Expressbus erst später nehmen, wir sind dann heute Abend da.“ „Das freut mich.“ Faith spürte eine wohlige Wärme in ihrem Brustkorb aufkommen und auf einmal erschien ihr das Gespräch mit Joel so schwer wie eine Schulklausur. „Sind meine Karten an Trixi und dich rechtzeitig zu Heiligabend angekommen?“ „Alles bestens“, erwiderte Joel. „Ich habe dir auch eine geschrieben.“ „Ist angekommen, vielen Dank dafür.“ Ein peinliches Schweigen breitete sich aus und beide starrten auf den unteren Bildschirmrand vor sich. „Ihr kommt also heute Abend an, hm?“ „Genau. Wir sind zu einem späten Abendessen bei euch, dann können wir plaudern. Hast du dich auch gut erholt und auf die Liga vorbereitet?“ „Sicher.“ Faith war dankbar für den Themenwechsel. „Ich habe fast jeden Tag trainiert, Strategien geübt und bin ganz zuversichtlich, auch wenn mein Team typentechnisch nicht ganz ausgeglichen ist.“ Joel nickte am anderen Ende des Bildschirms nachdenklich. „Ich konnte vor einigen Tagen mein letztes Teammitglied fangen. Es ist ein Nidorino, das ich zu Nidoking entwickelt habe. Den Mondstein hatte ich hier Zuhause noch rumfliegen. Vor Weihnachten bin ich nochmal extra für den Arenakampf nach Niburg gereist und habe den Orden auf Anhieb gewonnen. Ich freue mich schon auf die Anmeldung zur Liga.“ „Nidoking ist cool“, bemerkte Faith nebenbei. „Ja, ich mich auch. Aber ich bin ja gerade erst angekommen und mir hängt trotz meines riesigen Lunchpakets der Magen in den Kniekehlen. Ich hatte nur Süßkram und Kekse mit, irgendwann wollte ich nichts Süßes mehr essen.“ „Dann halte ich dich nicht länger auf, wir reden heute Abend weiter. Es ist schön dich bald wiederzusehen, Faith.“ Sie zögerte einen Moment und hatte den Finger bereits auf der Taste zum Auflegen liegen, dann schenkte sie ihm ein süßes Lächeln. „Bis heute Abend.“ Schnell war der Knopf gedrückt und das Gespräch beendet. Heute Abend würde sie ihren liebsten Rivalen also wieder um sich haben. Er musste ihr unbedingt erzählen, wie er seinen Vater überreden konnte. „Ich bin hundemüde.“ Demonstrativ gähnte Evan, zwinkerte Faith zu und wünschte dem letzten Rest im Aufenthaltsraum vom Pokémoncenter noch eine gute Nacht. Faith schaute Evan hinterher, legte den Kopf ein wenig schief und blickte erst wieder zu Joel, als die Tür ins Schloss gefallen war. „Da waren es nur noch zwei“, witzelte Joel, musste aber auch schon etwas gähnen. Sie hatten nach dem gemeinsamen Abendessen die ganze Zeit im Aufenthaltsraum gesessen, geredet und Witze gemacht. Sie alle genossen das Beisammensein. „Ich bin ehrlich gesagt auch schon ziemlich müde“, gestand Faith. Gerade, als sie aufstand, huschte ein Schatten über Joels Gesicht. Sie zog etwas irritiert die Augenbrauen zusammen, als auch er aufstand und etwas unsicher eine flache Geschenkbox aus seiner Jackentasche zog. „Ich wollte es dir nicht vor den anderen schenken, sie würden das sonst nur falsch interpretieren. Oder richtig. Oder was weiß ich. Also, was ich sagen wollte… Hier, das ist für dich. Es ist mein Weihnachtsgeschenk für dich, auch wenn es jetzt etwas verspätet kommt. Ich wollte es dir persönlich übergeben.“ Mit großen Augen starrte Faith auf die Geschenkbox und nahm sie zögerlich an. Die Box war länglich, flach und mit rosa Papier eingepackt. In der Mitte klebte eine weiße Schleife. „Vielen Dank. Das ist so überraschend, ich habe gar nichts für dich…“ „Ach, das macht doch nichts.“ Er lächelte sie an und im Hintergrund prasselten die letzten Reste des Kaminfeuers. „Mach es auf.“ Gerade wollte sie die Verpackung an der Seite öffnen, als ihr Blick auf eine kreditkartengroße Karte fiel, die beim Herausziehen des Geschenks ebenfalls aus Joels Jackentasche befördert worden und auf seinen Sessel gefallen war. Sein Porträtfoto befand sich auf der linken Seite, daneben sein Name und darunter die Abbildung seiner sechs Teampokémon. Es war die Teilnehmerkarte für die Finera-Liga. Joel folgte ihrem Blick und bemerkte dabei nicht, dass sie zur Salzsäule erstarrt war. „Oh, die muss mir aus der Tasche gefallen sein. Ich habe sie mir heute Morgen im Pokémoncenter von Honey Island besorgt. Zum Glück kann man sich ja in jedem Pokémoncenter registrieren lassen.“ Sein selbstsicheres Lächeln verschwand, als er ihren undefinierbaren Blick sah. Wenn er sich nicht besser wüsste, würde er doch glatt sagen, dass sie geschockt aussah. Geschockt, gekränkt, verletzt und… wütend? „Faith?“ „Ich dachte, wir registrieren uns zusammen“, fuhr sie ihn spitz an. Ihre Finger krallten sich leicht in die Geschenkverpackung, sodass sie Knicke bekam. Es dämmerte ihm, doch statt Besänftigungsgedanken spukte nun ehrliche Besorgnis in seinem Kopf umher. „Du hast dich doch registriert? Faith, zeig mir deine Teilnehmerkarte.“ Sie trat einen Schritt von ihm zurück. Ihr Herz begann zu rasen und ihr Hals fühlte sich auf einmal ganz trocken an. Ihr Körper ahnte, was in seinem Kopf vor sich ging, doch ihr Verstand wollte es einfach nicht wahr haben. „Ich dachte, wir melden uns morgen zusammen an.“ „Der Anmeldeschluss war heute!“ Entsetzt riss Joel den Mund auf, schloss ihn aber im nächsten Moment wieder. „Wie kannst du das verpasst haben?“ Tränen stiegen ihr in die Augen. Panik mischt sich zusammen mit Angst und Wut in ihrem Herzen zu einer gefährlichen Mischung. Mit viel zu schriller Stimme antwortete sie ihm. „Wieso hast du mich heute Mittag am Telefon nicht daran erinnert? Du hast es doch gewusst!“ „Ich dachte, du würdest es auch wissen! Jeder Trainer weiß das doch.“ „Ich bin nun einmal davon ausgegangen, dass du und ich das zusammen machen, Joel! Ich dachte, dass es in dieser Hinsicht ein Wir gibt!“ Nun liefen ihr die Tränen die Wangen runter, sie schrie leise auf und schlug ihn mit dem Geschenk gegen die Brust. „Du hast das mit Absicht gemacht, nicht wahr? Du wusstest es und hast es mir gegenüber nicht einmal erwähnt! Freunde machen so etwas aber!“ „Ich kann doch nichts dafür, dass du dich nicht richtig informiert hast!“ „Weil ich mich auf dich verlassen habe!“ Nun schrie sie ihn direkt an und ließ sich nicht mehr von ihm anfassen. „Ich dachte, ich könnte dir vertrauen und anfangen mich auf dich zu verlassen, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben! Du bist so ein elender Heuchler, Joel! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Es ist vorbei, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, nie wieder!“ Weinend warf sie sein Geschenk unausgepackt in die Flammen des Kaminfeuers und stürmte aus dem Raum hinaus auf den Flur. Die Tränen nahmen ihr die Sicht und sie stolperte den Gang entlang, nahm eine Treppe nach oben, bis sie vor einer verschlossenen Tür stand und nicht mehr weiter konnte. Hier sank sie benommen auf den Boden und gab sich dem Schluchzen in ihrer Brust hin. Sie hatte geglaubt, dass Joel und sie enger zusammengewachsen waren und das zwischen ihnen anfing etwas Besonderes zu sein. Sie hatte geglaubt, dass sie gemeinsam ein Wir waren. Hass schnürte ihr die Brust zu. Hass auf ihn und Hass auf sich selbst. Ihr Traum von der Teilnahme an der Liga war an ihr vorbeigezogen. War nun alles umsonst gewesen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)