Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 1: Veränderungen ------------------------ Die Musik dröhnte so laut, dass er kaum seine Gedanken hören konnte. Zu allem Überfluss hatte seine kleine Schwester ihr Zimmer abgeschlossen, weswegen er leider Gottes nicht zu ihr hinein stürmen und sie zwingen konnte, die Musik leiser zu machen. Also musste er sich Rihanna anhören, sehr laut und ausgesprochen ätzend. Pubertierende Mädchen waren wirklich das Schlimmste, was einem passieren konnte. Wenn er bedachte, dass seine andere Schwester sicherlich auch bald in so eine Phase kommen würde, dann hatte er deutlich den Wunsch, sich aus dem Fenster im dritten Stock zu stürzen. Seine Rihanna- hörende Schwester hieß Katharina. Die Kleinere, die noch nicht in den unheilvollen Zustand der Pubertät gerutscht war, hieß Nathalie. Natürlich mochte er sie eigentlich. Am meisten mochte er sie, wenn sie nicht nervten. Und das kam leider selten vor. Als älterer Bruder hatte man es wirklich nicht leicht. Er hegte schon länger den Wunsch auszuziehen, nur leider Gottes konnte er sich das nicht leisten. Sonst hätte er sicherlich schon alle sieben Sachen gepackt und wäre verschwunden. Er massierte entnervt seine Schläfen, schnappte sich schließlich seinen MP3- Player und setzte sich auf sein Fensterbrett. Er sollte dringend sein Zimmer aufräumen, seine Mutter würde ihm sicherlich bald aufs Dach steigen, wenn er nicht bald etwas Ordnung in das kreative Chaos brachte. Sein Zimmer war nicht sonderlich groß, daher fiel die Unordnung noch mehr auf. Seine Möbel waren wild durcheinander gewürfelt, der Schreibtisch war am ältesten und aus klapprigem Kieferholz. Darauf stand sein riesiger Monitor und die Tastatur konnte man kaum erkennen, da sie unter einem Berg Mappen und Heften begraben lag. Eigentlich hatte er Hausaufgaben machen wollen, aber die laute Musik seiner Schwester trug nicht gerade zur Steigerung seiner Konzentration bei. Sein Blick glitt über den ramponierten Kleiderschrank, an dem noch aus jüngeren Tagen Sticker von Star Wars und Pokemon klebten. Manchmal dachte er sich, dass ihm das eigentlich peinlich sein sollte, aber irgendwie wollte ihm das nie so recht gelingen. Eigentlich war ihm so gut wie gar nichts peinlich. Sein Bett war wie immer ungemacht, immerhin legte er sich abends ohnehin wieder hinein. Abgesehen davon diente es auch als Sitzgelegenheit, wenn er Besuch hatte, daher war es gleich doppelt unnötig, die Bettdecke zusammen zu legen. Die Wand über seinem Bett war gepflastert mit Postern von The Offspring, den Ärzten und Nirvana. Hier und da hatte er Bilder ausgedruckt, auf denen halbnackte Frauen zu sehen waren. Dabei legte er allerdings Wert auf Ästhetik, er mochte nur schwarzweiße Bilder. Alles Andere war ihm zu pornografisch. Das Regal direkt neben seinem Schreibtisch war voll gestopft mit Ordnern, DVDs, CDs und einer Sammlung von Actionfiguren (allesamt aus Star Wars). Er entdeckte eine alte Brotbox, die er letzte Woche mit in der Schule gehabt hatte. Die Erinnerung daran, dass noch ein halbes Käsebrot darin sein musste, ließ ihn kurz erschaudern. Sein Fußboden könnte mal wieder den Staubsauger gebrauchen, allerdings wäre es sinnlos, mit diesem Haushaltsgerät durch sein Chaos aus Papier, Klamotten, seiner Akustikgitarre und Notenheften zu pflügen. Am Ende würde er nur seine Unterlagen wegsaugen und das wollte er wirklich nicht. Die vier Kleiderhaken an seiner Tür waren überfüllt, irgendwo unter seinem Bett musste sein zweiter Schuh liegen – ein dunkelbrauner Chuck – den er morgen wieder brauchte… allerdings wollte er ungern wissen, was sonst noch so unter seinem Bett lag. Er hätte seine Schuhe eben nicht so energisch quer durch sein Zimmer pfeffern sollen, überlegte er, während er sich die Stöpsel seines MP3- Players in die Ohren schob. Endlich erstarb Rihannas Gesang und wurde von Farin Urlaub ersetzt, der ihm nun einen Vortrag über den ‚perfekten Augenblick’ hielt. Er schaute hinunter auf die Straße und beobachtete einen Lieferwagen, der einige Schwierigkeiten hatte, im engen Efeuweg zu manövrieren. Elias beobachtete amüsiert, wie der Lastwagenfahrer sich im Wenden in 90 Zügen versuchte und es schließlich schaffte, den LKW in die Einfahrt ihres Mehrfamilienhauses – Efeuweg 4 – zu komplimentieren. Ihre Nachbarn – eine schrecklich lärmige Familie mit zwei Kleinkindern – war vorletzte Woche ausgezogen und hatte eine leere Vierzimmerwohnung zurück gelassen. Soweit Elias informiert war, hatten sie ein drittes Kind erwartet und die Wohnung war ihnen angesichts des Zuwachses zu klein geworden. Wenn Elias bedachte, dass seine Eltern im Wohnzimmer auf einer Schlafcouch schliefen, damit ihre Kinder alle ein eigenes Zimmer hatten… Er lauschte dem verstummenden Lied, hörte kurzzeitig wieder Rihannas Gesang (»…hate that I love you boy…!«), ehe Kurt Cobain seine Ohren mit Come as you are bereicherte. Ein schwarzer, ziemlich teuer aussehender Audi bog in ihre Straße ein und hielt direkt neben dem Lieferwagen. Elias konnte nur vermuten, dass es sich hierbei um die Nachmieter handelte und beobachtete interessiert, wie eine Frau mittleren Alters ausstieg. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und wirkte alles in allem sehr geschäftsmäßig. Als sich die Beifahrertür öffnete, sagte sie etwas, ehe sie sich an die aussteigenden Möbelpacker wandte, um ihnen Instruktionen zu erteilen. Elias lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe, während eine milchige Septembersonne versuchte, durch ein Loch in den dichten, grauen Wolken zu dringen. Vermutlich wehte draußen eine kühle Brise. Seine Augen beobachteten den Beifahrersitz, von dem sich nun eine recht schlaksige Gestalt erhob. Einen Moment später stieg ein Junge aus, er musste wohl ungefähr in Elias’ Alter sein. Seine Haare waren schwarz, viel mehr konnte Elias aus dem dritten Stock nicht erkennen. Er schob seine Hände in die Taschen seiner verblichenen Jeans und sah an der efeubewachsenen Hauswand hinauf. Tatsächlich sah der Neuling nicht sonderlich aufrührerisch aus. Self Esteem von The Offspring dröhnte in seinen Ohren, während er zusah, wie der Junge auf das Haus zuging, so langsam, als wollte er den Moment des Eintretens möglichst lange hinauszögern. Vermutlich würde es von nun an ziemlich ruhig in der Nachbarswohnung werden, dachte Elias, als der Fremde das Haus schließlich betrat und aus Elias’ Sichtfeld verschwand. Kapitel 2: Eine erste Begegnung ------------------------------- Als sein Wecker am nächsten Morgen klingelte, traf er ihn mit einem gezielten Schlag, was das Piepen zum Verstummen brachte. Durch den Schleier aus Müdigkeit drangen die alltäglichen, morgendlichen Geräusche seiner Familie, die sich für die Schule und die Arbeit fertig machten. Er gab ein unterdrücktes Ächzen von sich. Es war eindeutig zu früh zum Aufstehen, wie jeden Morgen, an dem er zur ersten Stunde in die Schule musste. Er schloss die Augen und drehte sich auf den Bauch, während er den Geräuschen draußen auf dem Flur und in der Küche lauschte. »Katharina, draußen ist kein Hochsommer, zieh dir bitte etwas Anständiges an!« »Ma! Ich bin fünfzehn, ich weiß selber, was ich anziehen kann und was nicht!« Das Rauschen im Bad sagte ihm, dass sein Vater vermutlich gerade unter der Dusche stand. »Nathalie, hast du deine Schultasche schon gepackt?« »Ja… und ich will heute kein Käsebrot, ich möchte Mortadella drauf!« Elias gab den Versuch auf, noch einmal einzudösen und setzte sich schläfrig auf. Von draußen drang milchiges Herbstlicht in sein immer noch völlig chaotisches Zimmer. Er hievte sich aus dem Bett und zog die Jalousie nach oben, riss das Fenster auf und wurde von einem kühlen Herbstmorgen begrüßt. Zwischen den Wenigen Häusern im Efeuweg hing noch ein wenig morgendlicher Nebel und er sog etwas feuchte Frischluft in sich auf, um wacher zu werden. Dann wandte er sich seinem Zimmer zu und schlurfte durch das Chaos am Boden, um seine Schultasche zu packen. Als er die Hälfte seiner Bücher eingepackt hatte, fiel ihm auf, dass heute nicht Mittwoch, sondern Donnerstag war. Also packte er alles wieder aus, stopfte sein Englischbuch, seine hastig hingekritzelten Mathehausaufgaben und seine Biomappe in den blauen und ziemlich schmutzigen Eastpakrucksack unter dem Schreibtisch und prummelte seine Sportschuhe hinterher. Auf der Suche nach einem T-Shirt und einer Shorts für den Sportunterricht stieß er sich den Kopf an einer der beiden Schranktüren und fluchte unterdrückt. Der Morgen war eindeutig nicht seine Tageszeit. »Elias! Schatz, bist du wach?«, rief seine Mutter von draußen und klopfte energisch gegen die Tür. »Ja… JA!«, antwortete er, bevor sie die Tür noch aus den Angeln schlug. Eine Minute später hatte er alles zusammen gepackt, sich angezogen und seinen zweiten Chuck aus den Tiefen seiner Unter- Bett- Welt hervor geangelt. Sich müde durch die zerzausten Haare fahrend tapste er in die Küche und fand seinen Vater Zeitung lesend am Küchentisch vor, während seine Mutter ihm offenbar gerade zwei Schulbrote schmierte. Nathalie und Katharina waren bereits verschwunden. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es fünf vor halb acht war. Immer wieder musste er feststellen, was für ein Glückspilz er war, dass seine Schule direkt in der Nachbarschaft lag und er nicht erst mit dem Bus in die Stadt fahren musste, so wie seine beiden Schwestern. Sein Vater war ein bereits frühzeitig ergrauter, leicht untersetzter Mann mit Brille. Elias warf sich neben ihn auf einen der Küchenstühle und boxte ihm gegen den Oberarm. »Benimm dich, sonst gibt’s Hausarrest«, sagte sein Vater gespielt streng. Seine Mundwinkel zuckten. Elias brachte ein breites Grinsen zustande und zog ein Glas mit Erdbeermarmelade zu sich heran. Seine Mutter warf ihm zwei Toastbrote auf den Teller. »Ich frage mich, wie du überleben willst, wenn du eines Tages ausziehst, junger Mann«, tadelte sie ihn, während er sein Toast dick mit Marmelade belud. »Ich werde reich und schaff mir eine Haushälterin an«, mampfte er und kassierte prompt einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. »Also bin ich deine Haushälterin, ja?«, sagte seine Mutter und stemmte die Hände in die Hüften. Elias hob den Kopf und grinste sie an. »Nein, du bist die tollste Mama der Welt«, sagte er amüsiert. Sie lachte und zerstruwwelte ihm die Haare. Nachdem er seine Toasts gegessen hatte, verschwand er hastig im Bad und warf einen Blick in den Spiegel. Er hatte Marmelade im Mundwinkel. Seine blonden Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab, seine blaugrünen Augen sahen immer noch schläfrig aus. Er gähnte ausgiebig, dann griff er nach seiner Zahnbürste und begann, sich die Zähne zu putzen. Wie immer, wenn er sich die Zähne putzte, ging er im Bad auf und ab. Nicht, dass da viel Platz gewesen wäre. Ihr Bad war sehr klein, weiß gefliest und zu seinem Verdruss vollgestopft mit violetter Deko. Seine Mutter liebte Violett und lebte ihren Spleen in der ganzen Wohnung aus. Die Badematte war violett, ebenso wie die fünf Handtücher, die an Haken hinter der Tür hingen. Selbst die zwei Zahnputzbecher auf dem kleinen Regal über dem Waschbecken waren violett, genauso wie der Duschvorhang. Das kleine Fenster war aus Milchglas und direkt darüber hing – wie konnte es anders sein – ein violettes Raffrollo. Während er sorgfältig seine Zähne putzte, glitten seine Augen über diese violette Badezimmerhölle. Er war nur froh, dass sein Vater zumindest im Wohnzimmer gegen zu viel Violett protestiert hatte und so war ihnen ein violettes Sofa erspart geblieben. »Du kommst zu spät«, rief seine Mutter von draußen. Elias spuckte den Schaum ins Waschbecken. »Ist nur Englisch!«, gab er zurück. Seine Mutter öffnete die Tür und starrte ihn vorwurfsvoll an. »Wenn ich noch einen Anruf bekomme von wegen du kommst jeden Morgen zehn Minuten zu spät, dann wecke ich dich bald zusammen mit deinen Schwestern um halb sieben!« Elias grummelte ungnädig, sagte aber nichts und befreite stattdessen seine Zahnbürste und seinen Mund vom Schaum. Während er sich mit einem violetten Handtuch das Gesicht abtrocknete, huschte seine Mutter durch den Flur in sein Zimmer. »Drei, zwei, eins…«, murmelte er, während er sich hastig die Haare kämmte. »Elias! Nachher räumst du hier auf!« »Ja …« Pünktlich – also zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn – platzte er ins Klassenzimmer. Alle Köpfe drehten sich zu ihm um, zwei Jungs in der hinteren Reihe grinsten ihm breit zu. »Verschlafen«, sagte Elias an seinen Englischlehrer gewandt. Der starrte ihn kurzsichtig an, dann wandte er sich wieder der Klasse zu und setzte seinen Monolog fort. Elias quetschte sich durch die Bankreihen, bis hin nach ganz hinten, wo seine beiden besten Freunde saßen und ihm amüsiert entgegenblickten. »Du hast Nerven, Alter«, sagte Dominik grinsend und rutschte mit seinem Stuhl ein wenig nach vorne, damit Elias sich auf seinen Platz setzen konnte. Er kramte sein Englischbuch unter seinen Sportsachen hervor und schlug es auf einer wahllosen Seite auf, während Herr Kron weiter sprach, ohne sich im Mindesten stören zu lassen. »Wir schreiben nächste Woche nen Vokabeltest«, zischte ihm Markus von der anderen Seite ins Ohr und schob ihm seinen Kalender hin, damit Elias sehen konnte, welche Lektionen sie lernen sollten. Elias warf nur einen kurzen Blick darauf, dann schob er den Kalender zurück zu Markus. Herr Kron hielt kurz in seinem Vortrag inne, um sich seine schlabbrige Kordhose hochzuziehen. Elias blätterte lustlos in seinem Englischbuch herum und seufzte. Er könnte seine Zeit so viel besser nutzen. Er könnte Gitarre spielen, mit seinen Freunden Basketball spielen gehen… Dominik hatte das Kinn auf seine Handinnenfläche gestützt. Seine kinnlangen, dunkelbraunen Dreadlocks verdeckten die Hälfte seines herzförmigen Gesichts. Markus hatte den Kopf auf der Tischplatte abgelegt. Die roten Locken waren wie immer zerzaust, sein ganzes, sommersprossiges Gesicht strahlte Müdigkeit und Langeweile aus. »Lass Mathe schwänzen«, brummte Dominik und kritzelte geistesabwesend auf seinem Kollegblock herum. Elias schmunzelte. »Vergiss es, ich hab endlich mal Hausaufgaben gemacht, muss meine mündliche Note noch n bisschen aufpolieren«, gab er zischend zurück. »Die Beyer steht doch sowieso auf dich, du kriegst deine 12 Punkte auch ohne mündliche Beteiligung«, sagte Markus und schielte hoch in Elias’ Gesicht. Der hüstelte leise. »Aber schöner wären 14«, gab er scheinheilig zurück. Dafür kassierte er zwei Tritte. Der Englischunterricht zog sich hin wie ein zähes Kaugummi. Elias döste stumm vor sich hin und raffte sich lediglich dazu auf, am Ende der Stunde die Hausaufgaben zu notieren. Dann stopfte er sein Englischbuch zurück in seinen Rucksack und erhob sich zusammen mit Dominik und Markus. »Kommt ihr mit raus auf die Wiese?«, erkundigte sich Eva bei ihnen und grinste Elias zu, der zurückgrinste und seine beiden Freunde fragend ansah. »Ist zwar ziemlich windig, aber was soll’s«, sagte Dominik und warf Eva einen verstohlenen Blick zu. Elias wusste, dass sein Freund Eva ziemlich mochte. Vielleicht war mögen untertrieben. Eigentlich war er total verschossen in die zierliche Brünette mit Korkenzieherlocken und rahmenloser Brille. Aber Eva hatte nie das geringste Interesse an ihm gezeigt. Sie zeigte hauptsächlich Interesse an Elias. Zusammen mit drei von Evas Freundinnen machten sie sich auf den Weg durch die Korridore, die Pausenhalle und Markus wollte gerade die Tür aufstoßen, als Elias mit Jemandem zusammenstieß. »Sorry«, sagte er an den schwarzhaarigen Jungen gewand, dem ein paar Papiere aus der Hand gefallen waren. »Ich komm gleich nach«, sagte er zu Markus und kniete sich auf den Boden, um die Papiere aufzuheben. Erst jetzt fiel ihm auf, mit wem er zusammengestoßen war. Es war sein neuer Nachbar. Die schwarzen, glänzenden Haare fielen ihm wirr ins Gesicht, während er seine Unterlagen aufsammelte. Seine Augen waren beinahe schwarz, er hatte schmale Lippen, die ein wenig so wirkten, als würden sie selten lächeln. Außerdem war er ziemlich blass. »Du bist der neue Nachbar«, meinte er und der Junge blickte auf. »Ach ja?«, sagte er zerstreut und nahm die Unterlagen entgegen, die Elias ihm hinhielt, nachdem er sich aufgerichtet hatte. »Ja, ich wohne direkt neben dir«, erklärte Elias und hielt ihm die Hand hin. Sein neuer Nachbar ergriff sie ohne ihn anzusehen. »Ich bin Elias«, stellte er sich vor. Der Schwarzhaarige drückte die Unterlagen an sich und sah ihn an. »Kannst du mir zufällig sagen, wie ich zum Sekretariat komme?«, erkundigte er sich, ohne auf Elias’ Vorstellung einzugehen. Der war ein wenig verwirrt, nickte aber schließlich und schob sich durch die Menge in Richtung Verwaltungstrakt, wo er eine Glastür aufstieß und den Korridor entlang ging. »Welche Kurse hast du gewählt?«, fragte er. Er war bemüht, sich ein wenig mit dem Fremden zu unterhalten, aber der schien nicht sonderlich gesprächig zu sein. »Bisher noch keine… deswegen suche ich das Sekretariat«, murmelte er. Elias gab es vorerst auf, Konversation zu betreiben und wies auf eine weiße Tür, neben der ein kleines Plastikschild mit der Aufschrift ‚Sekretariat’ hing. »Tschüss«, sagte sein neuer Nachbar, klopfte an die Tür und trat ein, ohne Elias noch einmal anzusehen. Einen Moment lang starrte er die weiße Tür an. Na wunderbar. Sein neuer Nachbar entpuppte sich scheinbar als schweigsamer Eigenbrödler. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu seinen beiden Freunden samt Anhang, die draußen auf der Terrasse saßen und ein Tischtennismatch beobachteten, das ganz in der Nähe stattfand. »Wer war das?«, erkundigte sich Eva bei ihm. »Mein neuer Nachbar«, gab Elias zurück, setzte sich neben Markus und fuhr sich durch die blonden Haare, »aber ich glaube, er legt nicht allzu viel Wert auf neue Kontakte…« Kapitel 3: Familie Nickisch --------------------------- Daidai hat ein paar Sachen für die Uni gemacht und ich hab getippt. Das ist dabei rausgekommen ;) Viel Spaß damit ^-^ _____ »Elli, lass mir auch Nudeln übrig!«, plärrte seine kleinste Schwester und sah ihn schmollend an, nachdem er sich seine dritte Portion Nudelauflauf aufgetan hatte. Elias grinste unschuldig. Nudelauflauf war nun einmal sein Lieblingsgericht. Nathalie schnappte ihm den Schieber weg und tat sich die restlichen Nudeln mit Käse und Schinken auf. »Ich frag mich, wieso die Welt so ungerecht ist«, meinte Katharina und sah ihren Bruder mit hochgezogenen Augenbrauen an, »du isst und wirst nicht fett. Und ich muss ne Chipstüte nur ansehen und nehme zu.« »Red keinen Unsinn, Schatz. Du hast eine tolle Figur«, sagte ihre Mutter ungeduldig und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Katharina schnitt eine Grimasse, als wäre sie da anderer Meinung. Katharina war nun einmal in der Pubertät. Elias hatte festgestellt, dass alle Mädchen in der Pubertät fanden, dass sie zu dick waren. Eigentlich kannte er nur ein Mädchen, das mit seiner Figur zufrieden war und das war seine lesbische Cousine Luisa. Katharina war in seinen Augen sehr zierlich. Sie trug hauptsächlich Röhrenhosen und Trägertops. Ihre Haare waren braun, genauso wie die von Nathalie. Elias hatte als einziges die blonden Haare seiner Mutter geerbt. Auch hatten seine beiden Schwestern die Locken ihres Vaters abbekommen, ebenso die braunen Rehaugen mit den ellenlangen Wimpern. Sein Vater scherzte immer und behauptete, Elias sei nicht sein Sohn. Nathalie schob sich fünf Nudeln auf einmal in den Mund und saß nun dicken Backen neben ihm. Es sah nicht so aus, als könnte sie gut kauen. »Nimm den Mund nicht immer so voll«, brummte sein Vater amüsiert. Nathalie sagte nichts. Elias vermutete, dass sie nicht sprechen konnte. Während seine Mutter den Tisch abräumte, schaffte Nathalie es, ihre Nudeln herunter zu schlucken und sah ihn einen Moment lang schweigend von der Seite an. »Schaust du Pokémon mit mir an?«, fragte sie dann. Elias warf ihr einen belustigten Blick zu. »Und wer macht meine Hausaufgaben?«, entgegnete er scheinheilig. Nathalie blies die Wangen auf und sah ihn schmollend an. »Du machst die doch eh nie«, gab sie zurück. Wo sie Recht hatte… »War ja auch nur ein Spaß, ich komm dann ins Wohnzimmer«, willigte er schließlich ein. Wenn er spät aus der Schule kam – wie jeden Donnerstag nach dem Sportunterricht – dann wartete seine Familie mit dem Mittagessen auf ihn und Nathalie zwang ihre Mutter dazu, Pokémon aufzunehmen, damit sie es später mit Elias ansehen konnte. Und ihm machte es nichts, er schaute sich gern mit seiner kleinen Schwester Zeichentrickserien an. »Wenn ihr mit diesem Nonsens fertig seit«, warf Katharina geringschätzig ein und hielt ihrer Mutter den Teller hin, »dann kannst du mir bei meinen Physikhausaufgaben helfen.« Elias sah seine Schwester an. Sie verdrehte die Augen. »Bitte«, fügte sie hinzu. Er grinste sie an. »Geht doch.« Er ging duschen und sang – wie immer - laut vor sich hin. Anschließend ging er in sein Zimmer, packte seine Sportsachen aus und warf sie auf einen Haufen mit dreckiger Wäsche. Ein Blick auf diesen Berg sagte ihm, dass er seine Dreckwäsche vielleicht langsam wieder in den Wäschekorb bringen sollte. Er öffnete das Fenster und ließ die kühle Herbstluft herein. »Elias?«, kam es aus dem Flur. »Was denn?«, rief er und riss die Tür auf, vorsorglich darauf bedacht, dass seine Mutter das Chaos hinter ihm nicht sah, damit sie sich an ihren Befehl vom Morgen nicht mehr erinnerte. »Ich hab einen Kuchen gebacken und dachte, wir können nachher mal rüber zu den neuen Nachbarn gehen, um ‚Hallo’ zu sagen.« Elias sah seine Mutter an und war schon versucht, ihr von seiner Begegnung mit dem Nachbarsjungen zu erzählen, doch sie sah so begeistert von ihrer Idee aus, dass er es bleiben ließ. »Sicher«, meinte er also. Katharina schob sich an ihrer Mutter vorbei. »Ich muss aber sicher nicht mit, oder? Es reicht doch, wenn ihr beide geht«, nölte sie. Elias verdrehte die Augen. Pubertierende Mädchen waren anstrengend. »Es wird dir keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn du mal für eine halbe Stunde mit zu den neuen Nachbarn rüber kommst«, sagte seine Mutter säuerlich. Katharina stöhnte entnervt auf und stapfte in ihr Zimmer, wo sie die Tür hinter sich zuschlug. »Noch zwei Jahre, dann haben wir es hinter uns«, seufzte seine Mutter, wuschelte ihrem Sohn durch die Haare und entschwand in die Küche. Elias dachte über ihren neuen Nachbarn nach. Er hatte ihm nicht einmal seinen Namen verraten. Das war unhöflich. Er fragte sich, was er dem Neuling getan hatte. Wahrscheinlich nichts. Vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag gehabt? Aber er hätte ihm beim Händeschütteln wenigstens in die Augen sehen können. Elias grübelte noch ein wenig über das merkwürdige Verhalten des neuen Nachbarn nach, dann ging er ins Wohnzimmer, warf sich neben Nathalie, die schon sehnsüchtig auf ihn wartete, auf die Couch und schaltete den Videorekorder ein. Anderthalb Stunden später standen sie zu viert vor der Haustür ihrer neuen Nachbarn. Seine Mutter hielt ihren selbst gebackenen Schokoladenkuchen in der Hand, Katharina sah entnervt aus, Nathalie neugierig. Sein Vater hatte sich entschuldigt, weil er mit einem Freund zum Billardspielen verabredet war. Nathalie hatte gerade den Klingelknopf gedrückt und nun warteten sie darauf, dass Familie Nickisch öffnete. Elias hatte den Namen auf dem kleinen Klingelschild gelesen. Immerhin kannte er nun den Nachnamen des merkwürdigen Nachbarsjungen. Die Tür öffnete sich und die Frau, die Elias am vorigen Tag durch das Fenster gesehen hatte, stand vor ihnen. Wieder trug sie ein geschäftlich aussehendes, dunkelblaues Kostüm mit einer weißen Bluse darunter. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einem strengen Knoten gebunden und ihre fast schwarzen Augen waren denen ihres Sohnes sehr ähnlich. »Hallo«, sagte seine Mutter freundlich, »wir wohnen direkt nebenan und wollten kurz vorbeischauen, um Sie herzlich willkommen zu heißen.« Frau Nickisch lächelte nicht. Zumindest nicht wirklich. Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig gereizt. »Wie nett«, sagte sie und es klang, als hätte sie die Tür am liebsten wieder geschlossen, »aber ich fürchte, ich habe nicht lange Zeit.« Elias warf seiner Mutter einen Blick von der Seite zu. Sie sah einigermaßen geknickt aus. »Wir wollen natürlich nicht stören«, sagte sie eilig. Nathalie sah ziemlich eingeschüchtert aus. Elias konnte nicht behaupten, dass ihre neue Nachbarin ihm sonderlich sympathisch war. In diesem Moment huschte hinter ihnen ein Schatten an der Tür vorbei. »Hey«, rief Frau Nickisch in den Flur. Das blasse Gesicht vom Vormittag tauchte auf, die schwarzen Haare immer noch genauso glänzend und die beinahe schwarzen Augen prüfend auf die kleine Gruppe vor der Tür gerichtet. »Bring den Kuchen mal in die Küche«, sagte sie gereizt zu ihrem Sohn. Er schob sich an ihr vorbei und warf unserer Mutter einen merkwürdigen Blick zu, der beinahe etwas wehmütig wirkte. »Vielen Dank für die Mühe«, sagte er höflich und brachte beinahe ein Lächeln zustande. Elias sah deutlich, dass seiner Mutter bei dem Jungen das Herz aufging und sie ihn wegen seiner Mutter bemitleidete. »Gern geschehen mein Junge«, sagte sie freundlich und drückte ihm den Kuchen in die Hand. Der Fremde warf Elias einen kurzen Blick zu, dann schlüpfte er mit dem Kuchen an seiner Mutter vorbei zurück in die Wohnung und verschwand aus Elias’ Sichtfeld. »Nun ja, einen schönen Abend wünschen wir noch«, sagte seine Mutter. Frau Nickisch nickte und lächelte künstlich, im nächsten Moment war die Tür wieder geschlossen und Nathalie und Elias tauschten einen Blick. »Die war aber nicht nett«, sagte seine kleine Schwester. Elias hüstelte. »Der arme Junge«, brummte seine Mutter und sie wandte sich um, um zurück in ihre Wohnung zu gehen. Katharina schnaubte etwas von Zeitverschwendung. »Unfassbar«, sagte seine Mutter entrüstet und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, »sie hätte uns wenigstens kurz hereinbitten können. So was Unhöfliches ist mir noch nie untergekommen, der Junge traut sich sicher nie, Freunde mit nach Hause zu bringen.« Elias ging an den Kühlschrank und holte sich eine Milchschnitte heraus. »Ich hab ihn heute Morgen in der Schule getroffen. Ich hab ihm das Sekretariat gezeigt und er hat mir nicht mal seinen Namen verraten«, erzählte er nun doch und seine Mutter seufzte. »Irgendwie ist es mir jetzt schade um den Kuchen«, meinte sie und grummelte. »Elli! Ich hab eine Spinne im Zimmer! Mach die weg!«, schrie Nathalie aus ihrem Zimmer. Elias musste lachen, verließ die Küche und entfernte die Spinne im Zimmer seiner kleinen Schwester. »Du, Elli«, meinte sie und warf sich auf ihr Bett, nachdem Elias die Spinne aus dem Fenster geworfen hatte, »der Junge hat traurig ausgesehen.« Elias runzelte einen Moment lang die Stirn, nicht sicher, was Nathalie meinte. Bis ihm einfiel, dass sie wohl vom Nachbarsjungen redete. »Findest du? Ist mir nicht aufgefallen«, gab er zurück. Nathalie schüttelte den Kopf und sah ihn empört an. Unweigerlich musste er grinsen. »Du bist auch ein Junge«, belehrte sie ihn, »Jungs merken so was nicht. Hat Mama mir erzählt. Mädchen sind da sensibler.« Manchmal fand Elias seine kleine Schwester so niedlich, dass er das Bedürfnis hatte, sie zu knuddeln. »Na wenn du das sagst, wird es schon stimmen«, entgegnete er verschmitzt. Nathalie gähnte. »Spielst du mir was auf der Gitarre vor?«, bat sie dann. »Aber nicht so lange, ich muss wirklich noch Hausaufgaben machen«, sagte er lächelnd, verschwand in sein Zimmer und kam zu Nathalie zurück, die Akustikgitarre, die er sich vor drei Jahren selbst gekauft hatte, in der Hand. Ihre Augen waren schon ziemlich klein. »Zieh schon mal deinen Schlafanzug an«, meinte er. Sie murrte ungnädig, tat aber wie geheißen und schlüpfte in ihren hellblauen Schlafanzug, auf dem vorne ein großer Snoopy angebildet war. »Was willst du gern hören?«, erkundigte er sich. »Egal. Was Schönes«, gab sie zurück, rollte sich auf ihrem Bett ein wie eine Katze und sah ihn aus ihren großen braunen Rehaugen an. Elias dachte, – wie so oft, wenn er sie ansah – dass sie später sicher einmal vielen Jungs den Kopf verdrehen würde. So wie Katharina, die alle zwei Wochen einen neuen Interessenten an der Angel hatte. Elias dachte einen Moment lang nach und entschied sich dann für ‚Mach die Augen zu’ von den Ärzten. Nathalie seufzte zufrieden. »Sing«, meinte sie schließlich. Elias lachte und hörte kurz auf zu spielen. »Sind wir hier bei Arielle?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und grinste ihn an. »Bitte«, machte sie lang gezogen. Vielleicht war es eine seiner schlechtesten Eigenschaften. Aber er konnte einfach nicht ‚Nein’ sagen, wenn man ihn um etwas bat. »Na schön«, willigte er ein, begann von Neuem zu spielen und zwei Minuten später war Nathalie eingeschlafen. Elias kehrte zurück in sein Zimmer und warf einen Blick in seinen Kalender, um zu sehen, was für Hausaufgaben er aufhatte. Englisch und Mathe hatte er erst am Montag wieder… Für Bio hatte er noch bis zum nächsten Donnerstag Zeit. Gerade als er beschlossen hatte, dass er heute keine Lust mehr auf Hausaufgaben hatte, klingelte sein Handy. ‚Smash’ von The Offspring dröhnte ihm entgegen. Er warf einen Blick auf das Display. Markus, verkündete es. »Ja?« »Hey Alter«, sagte der Rotschopf am anderen Ende, »wir wollen uns noch für zwei, drei Stündchen zu Dominik in den Keller chillen. Nuri kommt auch mit.« Nuri war Markus’ feste Freundin. Er war seit zwei Jahren mit ihr zusammen und Elias und Dominik scherzten immer, dass die beiden spätestens in zwei Jahren verlobt sein würden. »Cool. Soll ich was mitbringen?«, erkundigte er sich, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Wange und wühlte sich durch sein Zimmer, um seine Schuhe zu finden, die schon wieder irgendwo begraben lagen. »Was zu essen wär echt geil«, gab Markus zu bedenken. Elias schnaubte. »Lass ne Pizza bestellen. Du zahlst«, gab er grinsend zurück. Markus lachte dröhnend, dann verstummte er mit einem Schlag. »Ok«, gab er zurück. Markus’ Eltern waren Ärzte. Markus wohnte bereits allein. Eigentlich war Markus stinkreich. »Alles klar, ich bin in zwanzig Minuten da«, sagte er und legte auf. Dann zog er sich seine Schuhe an, die er unter seinem Eastpack- Rucksack gefunden hatte und stolperte aus seinem Zimmer in Richtung Wohnzimmer, wo seine Mutter im Sessel saß und sich irgendeine Tierdokumentation ansah. »Ich geh noch zu Dominik. Bin dann irgendwann zu Hause«, sagte er. Sie wandte sich zu ihm um und betrachtete ihn. »Zieh dir eine Jacke an, es ist kalt draußen.« Er grinste, nickte und schnappte sich seine blaue Jacke vom Garderobenhaken im Flur. »Viel Spaß«, rief seine Mutter ihm nach. »Danke«, antwortete er noch, dann schlug die Tür hinter ihm zu. »…ist noch Pizza in der Gefriertruhe«, sagte Frau Nickisch, die Türklinke in der Hand und das Gesicht in Richtung Flur gerichtet, wo ihr Sohn stand und sie ansah. »Ich weiß«, sagte er leise, »viel Spaß.« »Werd ich haben. Bis morgen«, sagte Frau Nickisch, der Nachbarsjunge warf Elias einen Blick über die Schulter seiner Mutter hinweg zu und dann schloss Frau Nickisch die Tür, wandte sich um und nickte ihm kurz zu, ehe sie die Treppen hinunter hastete, diesmal in einem roten, knielangen Kleid und offenen Haaren. Elias blieb einen Augenblick lang stehen und starrte die Tür der Nickischs an. Nathalie hatte Recht. Irgendwie hatte er traurig ausgesehen. Kapitel 4: Wochenende --------------------- So! Eine Anekdote aus Elias' Leben... :D Ich habe ein paar neue Fotos von seinen Freunden hochgeladen, damit ihr sie euch bildlich vorstellen könnt ;) Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel, dass Anton in dem Kapitel nicht vorkommt, im nächsten Kapitel dann wieder O:) Viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße, ________________________ »Ich bin wirklich überzeugt davon, dass Sie alle ein helles Köpfchen haben. Aber wieso müssen Sie Freitagvormittag immer so unruhig sein?«, klagte Herr Warnebold und fuhr sich durch seine kärglichen, braun-grauen Haare, die ihm am Hinterkopf bereits ausfielen. Elias hatte beinahe ein wenig Mitleid mit ihm, aber er wusste, dass Herr Warnebold es ihnen nicht übel nahm. Immerhin hatten sie nach seiner Doppelstunde Physik Schulschluss. Freitag, vier Stunden. Ein Traum. Wer wäre da nicht unruhig? »Nun denn«, sagte sein Lieblingslehrer und schob sich die Brille auf dem Nasenrücken nach oben, »wenn Sie in der nächsten Viertelstunde die beiden Aufgaben auf Seite 84 erledigt haben, können Sie früher gehen.« Plötzlich war es sehr still im Raum. Alle zwölf Köpfe neigten sich tief über die Physikbücher. Elias mochte den Physikunterricht. Abgesehen davon, dass es sich um sein Lieblingsfach handelte, das von seinem Lieblingslehrer unterrichtet wurde, war es auch ein sehr kleiner Kurs von lediglich zwölf Teilnehmern. Allesamt Jungs. Herr Warnebold nannte sie oft scherzhaft ‚seine persönliche Fußballmannschaft’. Elias kritzelte die Aufgabenstellung oben auf ein leeres Blatt Papier. Davon gab es in seinem überfüllten Spiralblock nicht viele, da er immer zu faul war, um seine Notizen und Arbeitsblätter abzuheften. Deswegen war sein Block dreimal so dick, wie er es ursprünglich gewesen war, als er ihn jungfräulich im Schreibwarenladen um die Ecke gekauft hatte. Alle Arbeitsblätter des letzten Halbjahres steckten immer noch darin. Zum hundertsten Mal nahm er sich vor, seine Notizen heute auf jeden Fall abzuheften, dann begann er mit der Lösung der Aufgabe. Mirko, sein Banknachbar, krakelte so eifrig auf seinem Papier herum, dass er die Tinte seines Füllers verwischte, mit dem er schrieb. Elias hatte noch nie irgendein geschriebenes Wort von Mirko lesen können. Dabei saß er in Physik jetzt ein Jahr neben ihm. Während er die Aufgaben löste, war er in Gedanken schon mehr bei seiner Wochenendplanung. Zwanzig Minuten später war er mit Mirko und seinen anderen Kurskollegen auf dem Weg in die Pausenhalle. »Ne Viertelstunde eher Schluss«, begeisterte sich Mirko und boxte Elias aus Freude gegen den Oberarm, »und was liegt bei dir heute noch an?« Elias zuckte die Schultern und grinste. »Mal sehen, was geht. Ich entscheid das dann spontan«, gab er zurück und warf einen Blick auf den Vertretungsplan in der Pausenhalle, wo ausgeschrieben stand, wann nächste Woche Unterricht ausfiel. Mirko schaute ihm über die Schulter. »Es fällt nichts aus«, sagte er bedauernd. Elias ließ den Blick über die Spalte seines Jahrgangs schweifen. Mathe, Politik, Englisch, Erdkunde… auch bei ihm fiel nichts aus. »Bei mir auch nicht.« Aber was wollte man kurz nach Beginn des Schuljahres erwarten? Immerhin ging es langsam auf die Zielgerade zu und nächstes Jahr war er schon fertig mit der Schule. Irgendwie war das ein beängstigender Gedanke. »Soll ich dich zu Hause rumfahren, Alter?«, erkundigte sich Mirko bei ihm. Elias sah den Größeren an. »Nee, ich warte noch auf Dominik und Markus, die haben noch Unterricht und ich will noch abklären, was heute anliegt.« Mirko zuckte die Schultern, schlug ihm zum Abschied auf die Schulter und machte sich schlurfend auf den Weg zum Ausgang. Elias ließ sich auf eine der Bänke in der Pausenhalle nieder, hievte seinen Rucksack auf den Tisch vor ihm und ließ seinen Blick durch die große, schwarzgeflieste Halle schweifen. Hier und da saßen ein paar vereinzelte Schüler und machten Hausaufgaben, unterhielten sich oder lagen faul herum und hörten Musik. Ab und an ging ein Lehrer vorbei und verschwand im Verwaltungstrakt direkt neben der verglasten Eingangstür. Einen Moment lang ruhte sein Blick auf dem Kaffee- Automaten, der ganz in seiner Nähe stand. Dann kramte er in seinem Rucksack nach seinem Portemonnaie und fischte ein 50 Centstück daraus hervor, stand auf und schlenderte zum Automaten hinüber. Einen Moment später hielt er einen kleinen, braunen Plastikbecher in der Hand, in dem dunkelbraune, heiße Schokolade dampfte. Er ließ sich zurück neben seinen Rucksack sinken, stellte die Schokolade zum Abkühlen auf den Tisch und zog sein Erdkundebuch aus dem Rucksack, um sich die Seiten durchzulesen, die Herr Schillig ihnen in den ersten beiden Stunden als Hausaufgabe aufgetragen hatte. Er interessierte sich herzlich wenig für Erdkunde, aber seine einzige Alternative wäre der Politik- Leistungskurs gewesen. Stirnrunzelnd beugte er sich über das Buch und betrachtete die Seiten über Industrie- und Entwicklungsländer. Seufzend suchte er in seinem Etui nach einem Textmarker, fand keinen und nahm stattdessen den einzigen Fineliner, den er besaß. Und der war lila. Er sah großzügig darüber hinweg und unterstrich alles, was ihm an dem Text wichtig erschien. Ab und an genehmigte er sich einen Schluck von seiner heißen Schokolade und warf einen Blick auf die große Uhr, die ihm gegenüber an der Wand hing. Als es schließlich zur großen Pause klingelte, war der Kakao leer und die beiden Seiten lila. Er stopfte das Buch und den Stift in seinen Rucksack, schwang sich diesen über die Schulter und ging hinüber zum nächstbesten Mülleimer, um den leeren Plastikbecher darin zu versenken. Dann machte er sich auf den Weg zu der großen Wendeltreppe, die hinauf in den ersten Stock führte. Hier traf er sich für gewöhnlich mit Dominik und Markus, wenn sie alle in verschiedenen Kursen gesessen hatte. Leise summend lehnte er am Treppengeländer und beobachtete die Schülerschar, die sich aus allen Richtungen in die Pausenhalle ergoss und munter schwatzend die Gänge füllte. »Na du faule Sau«, wurde er in diesem Moment von Dominik begrüßt, der ihm von hinten einen Arm um die Schulter legte, »schon wieder früher Schluss, oder was?« Elias grinste breit. »Ich hab halt Glück mit meinem Stundenplan«, meinte er schelmisch. Dominik schnaubte gespielt verächtlich. »Das kannst du laut sagen, Mann. Zwei Stunden Politik… wenn der Typ nur mal anständige Themen mit uns machen würde. Zum Beispiel die, die auch in den Abi- Vorgaben stehen.« Elias schmunzelte amüsiert. »Zwei Stunden Politik neben Eva«, sagte er und Dominik warf ihm einen ungnädigen Blick zu, »tu nicht so, als würde dich das stören.« »Tut es nicht«, sagte Dominik missmutig und strich sich eine seiner Dreadlocks aus der Stirn, »wenn sie mich nur nicht ständig über dich ausfragen würde. Das ist deprimierend.« »Was ist deprimierend?«, wollte Markus wissen, der sich zu ihnen gesellte, die roten Locken wirr im Gesicht hängend. »Dass Eva auf Elias steht«, grummelte Dominik. Markus tätschelte dem Brünetten mitfühlend den Kopf. »Das wird sicher noch. Bald merkt sie, was Elli für ein Arschloch ist und wird sich unsterblich in dich verlieben«, versicherte er ihm schalkhaft. Dominik boxte ihm dafür gegen die Schulter. Elias hatte schon länger ein schlechtes Gewissen Dominik gegenüber, der einen richtigen Narren an Eva gefressen hatte. Er konnte nichts dafür, dass sie ihn scheinbar viel interessanter fand als Dominik. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Eva sich schon längst in Dominik verguckt. Aber leider Gottes konnte er noch so uninteressiert an Eva sein, sie schien sich davon nicht abschrecken zu lassen und wurde es auch nicht müde, auf jeder Party sein Anhängsel zu spielen. Manchmal war es ihm ganz schön lästig, aber ihr eine klare Abfuhr zu erteilen, erschien ihm irgendwie herzlos. Er war nicht sonderlich gut darin, Mädchen vor den Kopf zu stoßen. Allgemein konnte er eigentlich schlecht ‚Nein’ sagen. Das war eindeutig keine seiner besten Charaktereigenschaften. »Und was liegt heute Abend so an?«, erkundigte sich Elias gedankenverloren bei seinen besten Freunden und ließ den Blick durch die Pausenhalle schweifen, über die Schüler, die sich am Kiosk drängelten, um noch eines der letzten Zimtbrötchen zu ergattern, oder einen Muffin zu kaufen. »Wir haben die Auswahl zwischen Stadtpark, Rikes Feier und Happy Hour im Sausalitos«, zählte Markus auf. »Ich mag Rike nicht«, sagte Dominik und verzog das Gesicht, »aber ihre Parties sind cool.« Elias dachte an Eva und dass sie sicherlich auch da sein würde. Das steigerte seine Begeisterung für die Party nicht wirklich. »Eva kommt auch«, flötete Markus an Dominik gewandt, der ihm dafür in den Bauch boxte. Markus röchelte kläglich. »Also gehen wir zu Rike, ich werde mich bemühen möglichst scheiße auszusehen und du tröstest sie, während ich mit irgendeiner Anderen rummache, ok?«, sagte Elias. Dominik strahlte ihn an. »Das würdest du tun?« Elias nickte ergeben. »Ich find sicher eine, die mir gefällt.«, sagte er und streckte sich ein wenig, »Wann geht’s denn los?« Rike feierte oft Parties, wenn ihre Eltern auf Geschäftsreise waren und sie das riesige Haus für sich allein hatte. Elias hatte schon für sich entschieden, dass er, selbst wenn er ein eigenes Haus hätte, niemals solche Parties schmeißen würde. Jedes Mal ging irgendetwas zu Bruch, irgendjemand kotzte in den Flur oder ins Blumenbeet und das Chaos am nächsten Tag aufzuräumen wäre ganz sicher nichts für ihn. »Halb neun«, erwiderte Markus. »Alles klar. Ich komm vorher zu dir, hab keine Lust zu Fuß bis zu Rike zu gehen«, meinte Elias an Markus gewandt, der nickte und einen Blick auf die Uhr warf. »Ich mach mich mal auf zu Latein«, sagte er. Elias nickte, und schob sich seinen Rucksack etwas höher auf die Schultern. »Dann sehen wir uns nachher», sagte er zu Dominik, der ebenfalls nickte und die Hand hob, dann drehte sich Elias um und ging zurück durch die Pausenhalle, die nun voller Schüler war. Er warf noch einmal einen sehnsüchtigen Blick auf den Vertretungsplan, doch für Montag war immer noch kein Ausfall angeschlagen und so verließ er die Schule schließlich durch die große Glastür und machte sich auf den Weg ins Wochenende. Er verbrachte den Tag tatsächlich damit, seine kompletten Unterlagen in einen Ordner nach Fächern sortiert abzuheften und war am Ende sichtlich stolz auf sein Meisterwerk. Jetzt brauchte er zwar einen neuen Block, aber zur Not konnte er sich Montag ein paar Blätter von Markus oder Dominik schnorren. Schließlich stand seine kleine Schwester auf der Matte und bugsierte ihn ins Wohnzimmer, damit sie wie immer Pokémon zusammen anschauen konnten. Elias zerbrach sich schon den Kopf darüber, wie er heute Abend möglichst schlecht aussehen konnte. Mädchen hatten die Möglichkeit, sich nicht zu schminken und ihre Haare nicht zu machen. Er allerdings machte sich weder seine Haare, noch schminkte er sich. Also würde er wohl einfach aussehen wie immer und sich so schnell wie möglich ein Mädchen aussuchen, mit dem er am Abend ein wenig herumknutschen konnte, damit Eva und Dominik sich in trauter, tröstender Zweisamkeit in eine dunkle Ecke verziehen konnten. Als er abends mit Markus, Dominik und Nuri aus Markus’ Wagen stieg, trug er eine seiner ältesten Jeans und ein schlichtes, blaues Poloshirt. Dominik hatte seine Dreadlocks zurückgebunden und trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd zu einer schwarzen Hose. Nicht, dass Elias es irgendwie beurteilen konnte, aber er fand, dass der Andere gut aussah. Auch Markus steckte in Hemd und schwarzes Hose, Nuri trug einen kurzen Rock mit Strumpfhose darunter und hatte ihre Haare hochgesteckt. Elias befand wie so oft, dass ihr weiß besonders gut stand, da es bei ihrer dunklen Haut gut zur Geltung kam. »Wenn du heute Nacht wieder überm Klo hängst, halte ich dir deinen Kopf nicht«, informierte Nuri ihren Freund auf dem Weg ins Haus. Markus grummelte verschmitzt lächelnd. »Das war ne Ausnahme, ok? Normalerweise kann ich sehr gut alleine kotzen«, sagte er und Dominik und Elias mussten lachen. Dafür, dass Markus durchaus seriös sein konnte und später einmal Arzt werden wollte, trank er Alkohol wie ein Loch und musste sich meistens am Ende der Party übergeben. Es war wie immer auf Rikes Parties. Sehr voll, sehr laut und das Haus war vor allem überfüllt von Mädchen und Jungen, die auf der Suche nach irgendjemandem waren, den sie entweder für eine Nacht haben konnten, oder vielleicht auch länger. Kaum hatten sie das Haus betreten und sich ein Bier geholt, war Eva aufgetaucht. Elias hatte sich in der Speisekammer versteckt. Er kam sich ziemlich bescheuert vor, wie er zwischen Dosensuppen und Wasserkästen stand und darauf wartete, dass Eva wieder abdampfte. Immerhin konnte er sich kaum nach einem Mädchen umsehen, wenn ihm bereits eines am Arm hing. »…ist glaub ich grad aufs Klo gegangen«, hörte er Markus sagen. »Oh… alles klar, dann geh ich mal suchen«, antwortete Eva und verschwand offensichtlich, denn die Tür der Speisekammer wurde aufgerissen und Nuri grinste ihn an. »Eine hartnäckige Verehrerin hast du da«, meinte sie amüsiert. Elias grummelte und stieg über einen Kasten Orangensaft, schloss die Tür der Speisekammer hinter sich und nahm einen Schluck Bier. Dominik sah einigermaßen geknickt aus. »Mach dir nichts draus, der Abend ist noch jung«, tröstete Markus ihn und legte einen Arm um Nuri. »Hey Elli!«, rief eine Stimme. Er wandte sich um und sah sich einem Mädchen mit dunkelblonden Locken gegenüber, das ihn breit angrinste. Johanna. Johanna ging auf seine Schule, einen Jahrgang unter ihm. Und Johanna war seine Exfreundin. Er grinste sie an. »Wie geht’s dir?«, erkundigte sie sich und trat neben sie. Sie nahm ihm ohne Umschweife das Bier aus der Hand und genehmigte sich einen Schluck. Elias war über jede Exfreundin froh, mit der er sich auch noch nach Ende der Beziehung gut verstand und Johanna gehörte eindeutig zu den verträglichen Exfreundinnen. Wenn er nur an Marie dachte… oder an Jasmin… Er schauderte innerlich und schnappte sich sein Bier zurück. »Ganz gut. Ich werde zwar von Eva verfolgt, aber ansonsten ist alles bestens«, erklärte er. Sie lachte. »Ja, die hab ich grad gesehen. Hat Emanuel und Kira beim Knutschen gestört, nur um zu fragen, ob sie dich gesehen haben«, erzählte sie munter. Elias seufzte. »Sie ist ja nett und hübsch… aber irgendwie ist sie nichts für mich. Außerdem steht Dominik auf sie«, erklärte er mit einem Blick auf seinen Freund, der sich gerade angeregt mit Karsten – einem Jungen aus seinem Kunstkurs – unterhielt. »Und du wirst heute Abend eine Andere abschleppen, damit Eva dich in Ruhe lässt und Dominik sie trösten kann?«, erkundigte sie sich scheinheilig. Elias nickte ergeben. Johanna warf einen Blick in den Flur und grinste, ehe sie sich noch einen Schluck Bier von ihm genehmigte. »Groß genug ist die Auswahl ja. Ich würde mich ja anbieten, falls du keine Andere findest, aber ich bin hier mit Maik verabredet und ich glaube, er fände es nicht so toll, wenn ich mit meinem Ex rummache«, erzählte sie munter. Elias schmunzelte. »Ach übrigens«, fuhr sie fort und öffnete probehalber den Kühlschrank hinter sich, fand Bier darin und nahm sich endlich ein eigenes, »ich bin mit deinem neuen Nachbarn in einigen Kursen. Er ist wirklich ein Ass in Deutsch und in Musik soll er auch super sein. Ich hab mich mit Kiki und Danni unterhalten, sie finden ihn beide total süß. Aber die Idiotengang aus unserem Jahrgang ist nicht so begeistert von ihm. Er ist ihnen zu still und zu schlau«, erzählte Johanna und verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich sind sie irgendwie angefressen, weil er keine rosa Hemden und Nike- Turnschuhe trägt. Total affig.« Elias stellte sich vor, wie der neue Nachbarsjunge gut in Musik und Deutsch war, aber kein Wort mit den ‚coolen’ Jungs aus seinem Jahrgang wechselte, genauso wenig, wie er Elias seinen Namen verraten hatte. Gerade wollte Elias den Mund öffnen und Johanna nach dem Namen seines neuen Nachbarn fragen, da wedelte sie mit den Händen und grinste Jemandem zu. »Ich bin mal weg«, rief sie noch, dann verschwand sie im Flur und Elias sah, wie sie Maik mit einer Umarmung begrüßte und dann mit ihm in Richtung Wohnzimmer verschwand. Eine halbe Stunde saßen seine beiden Freunde, Nuri und ein Grüppchen von anderen Leuten im Wohnzimmer auf dem Boden und unterhielten sich, aßen Chips und Würstchen und tranken ihr Bier. »Hast du schon eine gefunden?«, fragte Dominik ihn aus dem Mundwinkel. Elias schüttelte den Kopf, ließ den Blick aber im Wohnzimmer schweifen. Schließlich blieb sein Blick an einem Mädchen hängen, das weiter hinten in der Ecke stand und sich mit einer Freundin unterhielt. Sie hatte schwarze Haare und einen ziemlich hübschen Schmollmund. »Vielleicht die da«, sagte er und ruckte mit dem Kopf nach hinten in die Ecke. Dominik fragte nicht, welches der beiden Mädchen Elias meinte. »Na wunderbar«, meinte er aufgeregt und ruckelte an Elias’ Schulter herum, »dann mach sie mal klar, Alter!« Elias musste über Dominiks Eifer schmunzeln, dann erhob er sich etwas schwerfällig, nahm noch einen Schluck Bier und ging hinüber zu den beiden. Sie hieß Christine, war ein Jahr älter als er und sie küsste ganz hervorragend. Jetzt war er auch Teil eines knutschenden Pärchens hier im Wohnzimmer. Er saß auf einem Sessel, Christine saß rittlings auf seinem Schoß und küsste ihn mit ihrem Schmollmund beduselig. Eine seiner Hände lag an ihrer Wange, die andere auf ihrer schmalen Taille. Er hatte keine Ahnung, ob Eva ihnen zusah, oder ob der Plan von Dominik funktionierte. Eigentlich war es ihm Moment ohnehin egal, er konnte nicht mehr wirklich denken. »Kommst du mit nach oben?«, murmelte er schließlich und Christine grinste spitzbübisch, nickte und stieg von ihm herunter, nahm ihn an der Hand und zog ihn in Richtung Flur. Auf dem Weg nach draußen sah er Eva bei Dominik sitzen und ein Glas mit was auch immer auf ex trinken. Er würde Dominik später fragen, ob alles gut geklappt hatte. »Ich glaube, es ist hoffnungslos«, sagte Dominik lallend, als sie wieder im Auto saßen. Nuri saß am Steuer, Markus hing mehr als dass er saß auf dem Beifahrersitz und Dominik hatte den Kopf an Elias’ Schulter gelehnt und seufzte unablässig, »ich glaube, sie hasst mich.« »Quatsch, tut sie nicht«, entgegnete Elias energisch und ruckte leicht mit der Schulter, sodass Dominiks Kopf hin- und her kullerte. »Aber sie hat sich wegen dir abgeschossen und dann wollte sie plötzlich mit mir rummachen. Da konnte sie kaum noch sprechen… mit dir würde sie auch nüchtern rummachen«, erklärte Dominik leidend. Elias seufzte. »Immerhin hast du ihren Zustand nicht ausgenutzt, das findet sie sicher gut«, versicherte er seinem besten Freund. Der seufzte nur betrunken und schloss die Augen. »Hast du sie schon mal auf einen Kaffee eingeladen?«, fragte Nuri von vorne. Stille trat ein. »Nein«, sagte Dominik verwirrt und setzte sich aufrecht hin. Elias’ Schulter jubelte und er streckte sich ein wenig. Ihm schwirrte der Kopf noch vom Alkohol und Christines Küssen. Elias sah ihm Rückspiegel, wie Nuri die Augen verdrehte. »Und wieso genau jammerst du dann rum? Wie soll sie sich denn besser kennen lernen, wenn du immer nur bei Elias rumhängst und sie dich nie allein trifft? Außer im Politik- und Geschichtsunterricht…« Dominik schien darüber nachzudenken. Elias befand, dass Nuri ein Genie war, aber dass Dominik durchaus auch von selbst auf diesen Gedanken hätte kommen können. Er räusperte sich verhalten und sah aus dem Fenster. »Also meinst du, ich soll sie… auf ein Date einladen?«, erkundigte sich Dominik und er sprach das Wort ‚Date’ mit solcher Ehrfurcht aus, dass Markus vorne auf seinem Beifahrersitz einen Lachanfall bekam. »Bevor du uns allen weiterhin beide Ohren abkaust, ja«, sagte Nuri. »Stört es dich, wenn ich dir ein Ohr abkaue?«, fragte er sofort an Elias gewandt, der seufzend den Kopf schüttelte. Dominik wurde immer so sentimental, wenn er etwas getrunken hatte. »Kein bisschen«, versicherte er ihm. »Siehst du«, empörte sich Dominik und beugte sich vor, um Nuri von der Seite her anzusehen, »es stört ihn überhaupt nicht!« »Tu mir einen Gefallen und hauch deinen Bieratem hier nicht so hin«, sagte Nuri entnervt. Elias überlegte, dass er wohlmöglich auch genervt wäre, wenn er zwei betrunkene und einen angetrunkenen Kerl nach Hause fahren müsste… Sein Wochenende war – wie immer eigentlich – voll gestopft mit Unternehmungen. Er ging mit seiner Familie zu einem Handballturnier seiner kleinen Schwester, er hatte Basketballtraining und ging mit seinen Mitspielern danach auf Kneipentour, Sonntag bekam er eine SMS von Christine, der er seine Nummer gegeben hatte und ging mit ihr ins Kino. Es war sehr nett. Elias befand, dass er sich Christine viel eher als Freundin vorstellen konnte, als Eva. Sonntagabend, als er gerade aus dem Kino wiedergekommen war, klingelte sein Handy. She’s so lovely dröhnte ihm entgegen und ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht, als er nach seinem Handy griff. »Hey Alex«, sagte er. »Die wollen mich umbringen, ich weiß es genau! Verstehst du, die wollen mich für drei Tage ins Kloster schicken, das nennt sich Besinnungstage! Ich darf kein Handy mitnehmen, nichts, ich darf drei Tage lang nur beten und schweigen!«, drang die entrüstete Stimme seiner besten Freundin aus dem Handy. Wer brauchte schon ein ‚Hallo Elli’, wenn man auch so eine Begrüßung haben konnte. »Hast du was ausgefressen?«, erkundigte er sich. Alex schnaubte. »Ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge ausgefressen, aber meine Eltern wissen nichts davon. Also nehme ich an, dass sie denken, sie tun mir damit einen Gefallen«, grummelte sie ungehalten. Elias stellte sich vor, wie Alex drei Tage lang nicht sprechen durfte. Die Vorstellung misslang ihm. »Ok, und wann genau soll das sein? Ich dachte du kommst demnächst am Wochenende mal wieder nach Hause?«, erkundigte er sich. Er hatte Alex schon ewig nicht mehr gesehen. So war das, wenn die beste Freundin von den Eltern auf ein katholisches Mädcheninternat geschickt wurde. Man sah sie nur selten. »Ja, ich denke, übernächstes Wochenende kann ich nach Hause kommen. Ich hab die Schnauze so was von voll…« »Du sollst doch nicht fluchen«, frotzelte er amüsiert. Wenn sie jetzt bei ihm wäre, hätte sie ihm sicher einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. »Ich fluche so viel ich will. Gestern hab ich eine der Nonnen auf Polnisch beleidigt, die hat natürlich kein Wort verstanden. Wollte mir zwei Tage Arrest aufbrummen, weil ich die Mindestwortzahl in einem Englischaufsatz nicht erreicht habe. Ich bitte dich. Was soll man zum Vatikan auch groß schreiben? Als würde mich das interessieren… ich fass es echt nicht, dass ich noch ein Jahr in dieser Hölle stecken muss, kannst du dir vorstellen, dass ich mittlerweile tatsächlich das ‚Vater Unser’ auswendig kann? Ich hab mich dagegen gewehrt, aber irgendwie ist es jetzt in meinem Kopf drin und egal wie viel Mühe ich mir gebe, ich krieg es nicht mehr raus. Ist das nicht schrecklich?« Alex redete wie ein Wasserfall. Alex hasste katholische Religion. Alex sprach Deutsch und Polnisch und zweiteres benutzte sie gerne, um lauthals zu fluchen. Alles in allem war sie das tollste Mädchen, das er je kennen gelernt hatte. »Ja, muss die Hölle sein. Wie geht das noch mal? Vater unser im Himmel…?«, sagte er scheinheilig. »…geheiligt werde dein… Hey! Machst du dich über mich lustig? Du verstehst den Ernst meiner Lage nicht!«, beklagte sie sich empört. Elias lachte. »Willst du nicht wissen, mit wem ich heute im Kino war?«, erkundigte er sich. Sie schnaubte nur. »Mit der Ische, mit der du gestern oder Freitag auf irgendeiner Party rumgemacht hast. Ich sag es ja nur ungern, mein Lieber, aber du bist eine kleine Schla- « Im Hintergrund hörte man ein hysterisches Zischen. »Sorry«, sagte sie. Elias wusste, dass sie mit ihrer Zimmergenossin Tamara geredet hatte, die immer etwas paranoid reagierte, wenn Alex Schimpfwörter auf Deutsch benutzte. »Also, jedenfalls hast du einen ziemlich hohen Frauenverschleiß«, meinte sie. »Bist du etwa eifersüchtig?«, frotzelte er. Sie lachte laut. »Ja, schon ein bisschen. Wenn ich bedenke, dass ich meinen besten Freund mit hundertachtzig anderen Frauen teilen muss, finde ich das wirklich verständlich. Ich bin immer noch ungeküsst, ohne Freund und werde als alte Jungfer sterben, wenn ich hier nicht bald rauskomme… Tamara, schau nicht so entsetzt!« Elias lachte leise, zog sich die Schuhe aus und warf sich aufs Bett. Sein Blick glitt über die halbnackten Frauen an seiner Wand, über seine Bandposter und hinüber zu seinem Schrank, auf dem immer noch die Sticker aus Kindertagen klebten. »Du hast keinen Grund eifersüchtig zu sein. Du bist und bleibst die Einzige für mich«, sagte er grinsend. »Ach, halt den Mund, du oller Casanova. Wenn ich wieder zu Hause bin, kriegst du für jede Frau, die du hattest, zehn Schläge auf den Hinterkopf«, versprach sie ihm drohend. Elias befand, dass er besser das Thema wechseln sollte, wenn er nicht bald ein Schleudertrauma erleiden wollte. »Wir haben neue Nachbarn«, erklärte er und erzählte Alex von der ersten Begegnung mit dem neuen Nachbarsjungen und dem vergeblichen Versuch seiner Mutter, ihre neuen Nachbarn willkommen zu heißen. »Klingt irgendwie deprimierend. Vielleicht soll er auch bald auf ein katholisches Internat, da kann ich es verstehen, wenn er so frustriert ist. Ich hätte ihn an deiner Stelle erstmal ordentlich zugetextet, der kennt doch bei euch noch keinen und jetzt eiert er da ganz allein in der Schule rum und seine Mutter vö…- ich meinte, seine Mutter geht wahrscheinlich jeden Abend mit einem Anderen aus und so«, sagte sie. Elias stellte sich vor, wie sie Tamara einen aufmerksamen Seitenblick zuwarf. »Wie kommst du darauf, dass seine Mutter sich durch die Gegend vögelt?«, fragte er verwirrt. »Naja, sie trägt tagsüber ein Kostüm und abends ein rotes – und ich betone: ein rotes! – Kleid und trägt die Haare offen und sie geht allein aus. Wenn ich unbedingt vö…- ich meinte, wenn ich unbedingt einen Kerl aufreißen wollen würde, dann würde ich mich wahrscheinlich auch so anziehen…« Elias musste zugeben, dass das einleuchtend klang, aber er wollte ungern vorschnelle Schlüsse ziehen. »Also meinst du, ich soll noch mal versuchen, mit ihm zu reden?«, erkundigte er sich. »Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen, mein Lieber. Wenn er dir sagt, dass du dich verpi…- verziehen sollst, dann kannst du ihn ja in Ruhe lassen«, sagte Alex. Elias lehnte sich etwas weiter in die Kissen zurück und dachte darüber nach. »Na schön. Ich rufe dich dann an und sag dir, wie es gelaufen ist.« Kapitel 5: Anton ---------------- Für , die ich ganz schön vermisse. Ich hoffe, es gefällt, auch wenn es diesmal wieder etwas kürzer ist :) Liebe Grüße! ____________________ Montagmorgen war es besonders schlimm. Er schaffte es kaum, sich aus dem Bett zu quälen, da er noch bis spät in die Nacht mit Alex telefoniert hatte. Solange, bis Tamara schließlich damit gedroht hatte, einer bestimmten Nonne – Elias hatte den Namen vergessen – von Alex’ ständigem Gefluche zu erzählen. Da Alex, wie sie Elias flüsternd mitgeteilt hatte, keine Lust hatte, endgültig in ein Kloster gesteckt und zur gemeinnützigen Putzarbeit verdonnert zu werden, hatte sie lieber aufgelegt und ihn auf Mittwoch vertröstet. Jetzt war es fünf Minuten nach halb acht, seine Mutter hatte ihn schon viermal ermahnt, sich gefälligst zu beeilen, bevor sie dann selbst zur Arbeit aufgebrochen war und er stand immer noch im Bad und putzte sich die Zähne. Immerhin hatte er schon geduscht, aber er hatte noch nicht seine Sachen gepackt und trug lediglich eine Boxershorts und eine einzelne Socke, da er das passende Gegenstück dazu nicht in seinem Sockenfach gefunden hatte. Dunkel fragte er sich, ob er nun eigentlich seine Mathehausaufgaben erledigt hatte, oder nicht und rieb sich mit der freien Hand die Augen. Wie konnte ein einziger Mensch nur so müde sein? Als er schließlich endlich aus dem Haus war, fiel ihm ein, dass er seine Erdkundesachen vergessen hatte und er musste wieder zurück. Zwanzig nach acht riss er schließlich die Tür zum Klassenraum auf und starrte in das vorwurfsvolle Gesicht seiner Mathelehrerin Frau Beyer. »Entschuldigung«, sagte er matt und als sie ihn erkannte, hellte sich ihr Gesicht ein wenig auf. Sie nickte – offensichtlich bemüht streng – in Richtung seines Sitzplatzes, sagte aber ansonsten nichts, was vielen in der Klasse ein Murren entlockte. Elias mochte es eigentlich nicht, eine besondere Behandlung von Lehrern zu bekommen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen mochte Frau Beyer ihn und ließ ihm so gut wie alles durchgehen. Er setzte sich hastig auf seinen Platz und stellte fest, dass es egal war, ob er seine Hausaufgaben gemacht hatte oder nicht, da sie bereits fertig gelöst an der Tafel standen. Er packte seine Sachen aus und grüßte seinen Sitznachbarn Niklas mit einem matten Grinsen, ehe er sich Frau Beyer zuwandte. Auch wenn er gut in Mathe war, mochte er das Fach nicht sonderlich. Aber immerhin bekam er so gute Punkte für seinen Abiturdurchschnitt zusammen. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als Mathe zu nehmen, da es nur Mathe in Kombination mit seinem Wahl- Wunsch gegeben hatte. Und zwar dem Physikleistungskurs. Da er beschlossen hatte in Mathe 14 Punkte zu bekommen, beteiligte er sich in dieser Doppelstunde besonders rege, was Frau Beyer mit einem zufriedenen Kopfnicken und einem zweifelsfrei sehr positiven Eintrag in ihr Notizbuch quittierte. Jetzt konnte er die nächsten drei Wochen nichts sagen und würde vermutlich am Ende trotzdem seine eins bekommen. Das war zwar ungerecht, aber im Moment war er zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Die Pause verbrachte er damit, neben der Wendeltreppe auf dem Boden zu sitzen, sein Käsebrot zu essen und anschließend zu dösen. Markus und Dominik unterhielten sich über irgendeinen Film, den Elias nicht gesehen hatte und auch wenn Markus ihn ab und an mit dem Fuß anstupste, ließ sich Elias nicht davon stören. Als es klingelte, erhob er sich schwerfällig. »Was hast du letzte Nacht getrieben, von dem wir nichts wissen?«, erkundigte sich Markus grinsend. Elias buffte ihm den Ellbogen in die Seite. »Ich hab mit Alex telefoniert. Bis drei oder so«, gähnte er und fuhr sich durch die Haare, die ihm heute völlig wahllos vom Kopf abstanden. »Oh, was erzählt sie denn so? Wie geht’s ihr?«, erkundigte sich Dominik. Die beiden kannten und mochten Alex sehr, hatten aber, wenn Elias sie nicht mit zu ihren Treffen schleifte, nicht viel mit ihr zu tun. »Sie muss für ein paar Tage ins Kloster. Besinnungstage oder so. Kein Handy oder dergleichen. Und nur schweigen«, erklärte er, während sie gemeinsam einen überfüllten Gang entlang schlichen. Es war wirklich sehr eng und sehr laut. »Schrecklich. Dabei hält sie doch von Schweigen nicht so viel«, sagte Dominik grinsend und Elias lachte leise. »Da hast du Recht. So, wir sehen uns in Englisch!«, meinte er dann und verschwand in den Klassenraum, in dem er nun eine Doppelstunde Politik hatte. Politik war eins seiner schlechtesten Fächer, aber das hieß bei ihm nichts Tragisches, es bedeutete lediglich, dass er sich außerhalb der zweistelligen Punktzahlen bewegte. In diesem Fall waren es in Politik glatte acht Punkte. Er ließ das Gequatsche von Herrn Tau über sich ergehen, hob ab und an die Hand und notierte sich schließlich voller Unbehagen den Termin für ihren nächsten Test. Er hasste Tests. Meistens war er zum Lernen zu faul oder er hatte wichtigere Dinge zu tun. Zum Beispiel sich mit Freunden treffen oder Gitarre spielen. Er war dankbar für das Klingeln zur zweiten Pause und grübelte gerade darüber nach, was er sich vom Kiosk kaufen könnte – wahlweise einen Muffin oder ein Schokocorni – da fiel sein Blick durch eine Glastür hinaus auf den Schulhof, auf dem sich hier und da schon Grüppchen zum Zeitvertreib in der Pause getroffen hatten. Eine der Gruppen erregte seine Aufmerksamkeit. Nicht, weil sie aus drei sehr großen und einem eher kleineren Jungen bestanden, nicht, weil sie direkt neben den Müllcontainern standen, nicht einmal, weil der kleinere Junge sein neuer, namenloser Nachbar war. Sondern weil die drei ziemlich geleckt aussehenden Kerle offensichtlich sehr viel Spaß daran hatten, ein Etui, das sicher nicht ihnen gehörte, von einem zum anderen zu werfen. Während sie sich totlachten, stand sein Nachbar daneben und folgte dem Etui mit den Blicken, sagte aber nichts weiter dazu. Elias trat an die Glastür und drückte sie auf. Von weitem schon sah er hochgestellte Kragen, rosa Hemden, Markenjeans. Er erinnerte sich daran, was Johanna ihm auf Rikes Party erzählt hatte. Dass die meisten Jungs aus ihrem Jahrgang den Neuen nicht mochten, weil er ihnen zu klug und zu schweigsam war. Und zu beliebt bei den Mädchen. Elias stapfte auf die Gruppe zu und fragte sich, ob Jungs in diesem Alter nicht langsam aus dem Kindergartenniveau herausgewachsen sein sollten. Er konnte solche Sachen nicht leiden, er hasste es, wenn viele auf einen losgingen, Ungerechtigkeit ging ihm gegen den Strich und ob der neue Nachbarsjunge nun unhöflich gewesen war oder nicht, so etwas schaute er sich nicht an. »…kann ich es jetzt bitte wieder haben?«, hörte er die Stimme seines Nachbarn. Elias bemerkte, dass er offenbar gelangweilt klingen wollte, vermutlich fand er dieses Spielchen genauso bescheuert wie Elias, allerdings wusste Elias auch, dass er, wenn er dem Etui nachlaufen würde, den Größeren nur einen Gefallen tun würde. Und das musste ja wirklich nicht sein. Es war ein schwarzes Etui, schlicht und ausgesprochen normal. Genauso wie sein Nachbar, dessen schwarzes Haar in der milchigen Herbstsonne glänzte. Elias konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er mit dem Rücken zu ihm stand, aber er konnte sich in etwa vorstellen, wie jemand aussehen musste, der gerade neu auf die Schule gekommen war und dem jetzt so etwas passierte. Offensichtlich fanden die drei das Spiel nun langweilig, denn kurz bevor Elias sie erreicht hatte, öffnete einer von ihnen den Restmüllcontainer und sein Kumpel warf das Etui in hohem Bogen hinein. Die Mülltonne krachte zu, die Jungs lachten sich scheckig. »Na, willst du nicht im Müll rumwühlen?«, erkundigte sich einer der Typen. Elias hatte sie mittlerweile erreicht, ging schnurstracks auf den Container zu und öffnete ihn. Ohne zu zögern griff er zwischen Müllbeutel, Bananenschalen und Kaugummis und zog das schwarze Etui heraus, wandte sich um und hörte hinter sich den Deckel des Containers wieder zufallen. »Seid ihr jetzt fertig mit dem Kindergarten spielen?«, fragte er säuerlich und funkelte die drei Kerle wütend an. Sie starrten ihn ein wenig perplex an, dann schnaubten sie, wandten sich um und schlenderten von dannen. Elias senkte den Blick und sah das Etui an, seufzte und zupfte einen Bananenfaden und ein Kaugummi davon weg. »Das ist jetzt natürlich echt scheiße«, murmelte er und starrte auf das ziemlich dreckige Etui. Als er aufblickte, sah er, dass der Schwarzhaarige ihn ein wenig fassungslos anstarrte. Elias fragte sich, was wohl in ihm vorgehen mochte und er räusperte sich. Plötzlich war er ein wenig verlegen. »Also… hier, ich hab eine Brotdose, die kannst du erstmal nehmen, bis du das Etui gewaschen hast, dann kannst du die Brotdose einfach rüberbringen, oder so«, er kramte in seinem Rucksack herum und holte die Brotdose hervor, »das Brot, das da drin war, war in Folie eingepackt, also ist es nicht irgendwie schmierig oder so«, er wischte zwei Brotkrümel aus der Box und reichte sie seinem Nachbarn, »hier.« Der Kleinere starrte immer noch, dann griff er sehr langsam nach der Brotbox, den Blick darauf geheftet, als wäre er nicht sicher, ob er das Stück Plastik wirklich in der Hand hielt oder es sich nur einbildete. »Wäre auch mit Krümeln ok gewesen«, sagte er und klang einigermaßen verwirrt. Elias zog den Reißverschluss seines Rucksacks zu und schob sich den zweiten Träger zurück über die Schulter. »Haben die so was schon öfter gemacht?«, erkundigte er sich dann. Sein Nachbar schüttelte den Kopf. »Bisher haben sie nur blöde Sprüche gerissen. Aber es ist ja auch erst eine Woche rum, seit ich hier bin. Irgendwann wird es ihnen schon langweilig werden«, gab er zurück. Elias meinte, einen leichten Anflug von Zweifel in seiner Stimme zu erkennen. Er runzelte leicht die Stirn. »Macht dich das nicht sauer, wenn sie solche Sachen mit dir abziehen?« Eigentlich war diese Frage dumm. Sein Nachbar wirkte nicht so, als könnte er jemals sauer werden. Er beobachtete, wie der Kleinere die Stifte aus dem Etui nahm und sie vorsichtig in die Brotdose steckte, ehe er die Dose zuklappte und beides in seinem Rucksack verstaute. »Ich bin das gewöhnt«, sagte er nur. Elias fragte sich, wie viel Mist ein Mensch erlebt haben musste, um sich an so eine Behandlung zu gewöhnen. Er überlegte sich, was er sagen konnte, aber da drehte sich sein Nachbar schon um, wohl um zurück ins Gebäude zu gehen. Einen Moment lang schien er zu zögern, dann… »Ich heiße übrigens Anton«, sagte er. Elias wusste nicht, was er antworten sollte und so schwieg er, aber Anton schien ohnehin keine Antwort zu erwarten, da er im nächsten Moment in Richtung Glastür davon ging und dahinter verschwand. Elias seufzte, dann machte er auch sich auf den Weg zu Markus und Dominik, nur um anschließend noch Englisch und Erdkunde über sich ergehen zu lassen. Kapitel 6: Ein merkwürdiger Junge --------------------------------- Hey ihr Lieben :) Danke für all die lieben Kommentare und die Favoriteneinträge. Ich habe ein neues, kleines Shonen Ai- Projekt am Laufen und wer sich dafür interessiert, dem schicke ich gern eine ENS, sobald es hochgeladen ist. Viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße, _________________ Am Mittwochnachmittag rief Alex ihn erneut an und aus seiner Hosentasche dröhnte wie üblich She’s so lovely. Er musste grinsen, als er daran dachte, dass Alex ihm verkündet hatte, jedes Mädchen, mit dem er zusammen war, würde diesen Klingelton falsch verstehen. »Hey Alex«, begrüßte er sie und legte den Kugelschreiber beiseite, mit dem er gerade seine Geschichtshausaufgaben erledigte. »Ich sage dir, nächste Woche werde ich sterben. Ich hoffe dir ist bewusst, dass wir uns nie wieder sehen werden und du begrüßt mich einfach nur mit ‚Hallo Alex’«, beklagte sie sich bei ihm. Er lachte und erhob sich von seinem Schreibtischstuhl, stakste durch sein neuerliches Chaos – hatte er nicht letztens von seiner Mutter eine Aufräumorder bekommen? – hinüber zum Bett und ließ sich darauf fallen. Wenn man mit Alex telefonierte, sollte man es sich so bequem wie möglich machen. »Also, wie soll ich dich sonst begrüßen?«, fragte er grinsend und betrachtete seine Decke. »Wie wäre es mit ‚Alex, meine einzig wahre Freundin, die tollste Frau in meinem Leben, bitte geh nicht in dieses Kloster, ich kann nicht ohne dich leben’?«, gab sie zurück. Elias biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut zu lachen. »Aber du weißt doch, dass du die tollste Frau in meinem Leben bist«, erwiderte er. Alex schwieg einen Moment. Elias stellte sich bildlich vor, wie sie rot anlief und auf ihrer Unterlippe herumkaute. »Echt?« Er grinste seine weiße Decke an. »Echt. Vielleicht mit Ausnahme von Nathalie. Ihr seid beide die tollsten Frauen in meinem Leben«, erklärte er amüsiert. Alex kicherte. »Ich denke, mit ihr als Konkurrentin kann ich leben. Und jetzt erzähl mal, wie ist das Gespräch mit deinem namenlosen Nachbarsjungen gelaufen?« »Ähm«, sagte Elias und erinnerte sich an die Begegnung, die eigentlich ein Gespräch hatte werden sollen, dann aber irgendwie etwas ganz anderes geworden war… etwas Undefinierbares. Aber immerhin hatte er einen Erfolg zu verbuchen: Er hatte den Namen herausgefunden! »Er heißt Anton«, gab er zurück. Stille am anderen Ende. »Aha. Und sonst so? Hat er noch mehr gesagt als seinen Namen, oder hast du ihn so vollgetextet, dass er nicht zu Wort gekommen ist?«, erkundigte sie sich und Elias hörte deutlich, dass sie schmunzelte. »Das ist dein Part«, stichelte er und sie prustete entrüstet in den Hörer. »Was soll das denn heißen? Ich glaube, ich muss es mir noch überlegen, ob ich dir in zwei Wochen einen Termin in meinem überfüllten Kalender einräumen kann… Übrigens gehen wir Freitag in die Stadt, abends gibt’s ein Rockkonzert und ich muss unbedingt mal wieder raus aus diesem Höllenschuppen«, meinte sie. Elias runzelte die Stirn. »Lasst euch aber nicht erwischen. Wie war das? Ausgangssperre nach 22 Uhr?«, erkundigte er sich und musste im nächsten Moment schon wieder grinsen, weil Alex auf die Regeln pfiff und trotzdem regelmäßig mit einigen Mädchen nachts die Stadt unsicher machte. Sie telefonierten noch anderthalb Stunden, dann musste Elias auflegen. Er hatte ihr schließlich doch noch erzählt, was bei der zweiten Begegnung mit Anton passiert war und Alex hatte einen ziemlich langen Vortrag über Mobbing an Schulen und über verschiedene Karatetechniken gehalten, die ihr für solche ‚hirnlosen Vollpfosten’ (im Hintergrund hatte Tamara gezischt) passend erschienen. »Ich treff mich noch mit Chris«, hatte er entschuldigend gesagt, als sie sich beschwert hatte, weil er auflegen musste. »Chris? Kenn ich den schon?«, hatte sie verwirrt gefragt, woraufhin Elias sich geräuspert hatte. »Christine.« Wie immer hatte Alex sich beklagt, dass er zu viele Frauen abschleppte, dann hatte sie aber doch schmollend verlangt, dass er ihr alles darüber erzählen sollte. Eine Stunde später klingelte er bei Chris an der Wohnungstür. Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und dann war es nicht Chris, die öffnete, sondern ein Junge um die sechzehn, der ihn abschätzend musterte. »Chris«, brüllte er dann über die Schulter, »dein Stecher ist da!« Elias räusperte sich vernehmlich und der Junge wandte sich ihm zu. »Ich bin Daniel«, sagte er dann mit diesem Unterton, der sehr deutlich machte, dass Daniel sich eigentlich für zu cool hielt, um hier mit dem ‚Stecher’ seiner Schwester herum zu stehen. »Elias«, gab er zurück und sah über den Kopf des Kleineren hinweg zu Chris hin, die mit verschränkten Armen im Flur stand und ihren kleinen Bruder säuerlich musterte. »Musst du immer so den Dicken raushängen lassen, wenn ich Besuch kriege?«, blaffte sie ihn an. Daniel zuckte die Schultern. »Aber es stimmt doch. Er ist dein neuer Stecher«, gab er zurück, wich einem Schlag seiner Schwester aus und verschwand den Flur hinunter. Elias hörte eine Tür zufallen. »Entschuldige«, meinte Chris, grinste ihn an und umarmte ihn zur Begrüßung, ehe sie zur Seite trat, damit er hereinkommen konnte, »das macht die Pubertät.« Elias schmunzelte und zog sich die Schuhe aus, ehe er sich in dem kleinen Flur umsah. Es gab einen großen Berg Schuhe – allerdings war davon nur ein Paar offensichtlich passend für Chris – und eine Garderobe, an der mehrere Jacken hingen. Ein großer Bilderrahmen an der Wand zeigte Chris’ Familie irgendwo am Meer. Daniel hatte eine dieser HipHopper- Gesten aufgelegt, doch seine vermeintliche Coolness wurde dadurch ruiniert, dass seine große Schwester ihm Hasenohren am Hinterkopf machte. »Daniel hasst dieses Foto«, sagte Chris amüsiert, nachdem sie Elias Blick gefolgt war. Dann nahm sie ihm die Jacke ab und hängte sie wahllos an einen der Garderobenhaken. Elias folgte ihr den Flur hinunter bis hin zur letzten Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift ‚Hinknien, anklopfen und um Audienz bitten’ hing. »Muss ich mich auch hinknien?«, erkundigte sich Elias breit grinsend. Chris stieß die Tür auf und lachte leise. »Nicht, dass ich prinzipiell was dagegen hätte, aber es muss nicht sein«, erwiderte sie neckisch, winkte ihn in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Das Zimmer war recht klein, schlicht eingerichtet und ordentlich. Die Möbel waren fast alle weiß, bis auf das Metallbett, dessen Gestell schwarz und verschnörkelt war. An dem quadratischen Fenster hingen weiße Gardinen, der Teppich war hellgrau und über dem Bett hing ein einziges Panorama- Poster von einer Strandlandschaft mit Palmen. »Ich fürchte, du darfst mein Zimmer nie betreten«, meinte er und setzte sich langsam auf ihr Bett. Sie lachte. »Ich kann es mir gut vorstellen. Ist sicher so eine richtige Chaosbude, oder?«, entgegnete sie und ließ sich neben ihn aufs Bett fallen. Sie roch nach Vanille und irgendwie passte das zu ihrem Zimmer. »Ja, ich fürchte schon. Und die Möbel passen alle nicht zusammen, die Wände sind mit Postern tapeziert und ich habe Pokémon- Sticker an meinem Kleiderschrank«, erklärte er grinsend. Sie lachte, dann stupste sie ihm mit dem Finger auf die Brust, woraufhin er sich nach hinten fallen ließ und sie sich über ihn beugte. »Also wirst du mich nie zu dir einladen?«, murmelte sie lächelnd. Elias schmunzelte. »Vielleicht überleg ich’s mir noch mal«, gab er zurück. Dann küsste sie ihn und er schloss die Augen, legte seine Arme um sie und erwiderte den Kuss. Um neun war er wieder zu Hause, aufgrund von Hausaufgaben und dem festen Vorsatz, noch etwas von dem Hackbraten zu essen, den es heute zum Mittagessen gegeben hatte. »Na, wie war dein Date?«, fragte seine Mutter amüsiert, als Elias aus seinem Zimmer kam, um in die Küche zu gehen und nach dem Braten zu sehen. »Nett«, erwiderte er und streckte seiner Mutter die Zunge heraus. Gerade wollte er sich erkundigen, ob noch Bohnen da waren, da klopfte es leise an der Tür. Schwungvoll wandte er sich um, öffnete die Tür und blinzelte erstaunt. Anton stand dort, seine Brotbüchse in der Hand und er sah ein wenig verlegen aus. »Hallo«, meinte er, warf Elias’ Mutter einen kurzen Blick zu und hielt Elias dann die Brotbox hin. Er nahm sie und wollte sich gerade bedanken, als seine Mutter ihre mütterlichen Instinkte auspackte und sich an ihm vorbei schob. »Hallo mein Junge«, sagte sie freundlich, »hast du nicht Lust rein zu kommen und mit uns was zu essen? Wir haben noch Hackbraten von heute Mittag!« Anton schien vollkommen perplex von der spontanen Einladung, doch seine Mutter war wirklich hervorragend darin, Menschen zu überrumpeln und so bugsierte sie Anton schlichtweg an Elias vorbei in den Flur und in die Küche. Elias hatte das deutliche Gefühl, dass seine Mutter nicht viel von Frau Nickisch hielt nun der Meinung war, der arme Junge brauchte so etwas wie eine Ersatzmutter. Elias fand das zwar ziemlich voreilig, aber er seufzte ergeben und folgte den beiden in die Küche. Seine Mutter stand schon am Herd und wärmte Bohnen, Kartoffeln und den Hackbraten auf, während Anton ziemlich verloren am Küchentisch saß und sich umblickte. Elias setzte sich schwungvoll ihm gegenüber und räusperte sich. Vielleicht sollte er einfach drauflos reden… »Und, hast du deine Kurse mittlerweile gewählt?«, erkundigte er sich bei Anton und legte die Brotbüchse auf den Tisch, ehe er seine volle Aufmerksamkeit Anton zuwandte. Der nickte. Allerdings schien er einer von diesen Menschen zu sein, denen man alles aus der Nase ziehen musste. »Und, was für LKs hast du?« Anton räusperte sich, während Elias’ Mutter leise lächeln durch die Küche huschte, Teller aus den Schränken nahm, den Tisch deckte und zwischendurch die Bohnen umrührte. »Deutsch, Musik und Geschichte«, sagte er, dann zögerte er einen Moment und fügte hinzu: »Bio und Philosophie Grundkurs.« Diese Information ohne vorangegangen Frage hielt Elias für einen Fortschritt und so quatschte er munter weiter. »Ich hab Mathe, Physik und Erdkunde. Musikunterricht an Schulen find ich nicht so gut. Und mit Politik mündlich hab ich mich verwählt, glaub ich. Herr Tau mag mich, glaub ich, auch nicht besonders«, erklärte er vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. »Ich hab auch Herrn Tau in Politik«, sagte Anton. Seine Stimme war leise und ruhig und Elias hatte den Eindruck, dass man ihm bestimmt angenehm bei Erzählungen zuhören könnte. Wenn er sich denn zu mehreren Sätzen hinreißen lassen würde. »Ich mag ihn nicht wirklich. Er redet so viel und schweift ständig vom Thema ab…«, meinte Elias. »Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber ich hatte ihn erst zweimal. Er hat uns einen Vortrag über Kommunismus gehalten…« Elias winkte ab und war insgeheim begeistert, dass er gerade tatsächlich schaffte, sich mit dem stillen Nachbarn zu unterhalten, ohne dass dieser wegrennen konnte. »Ja, das macht er in jedem Kurs, glaub mir. Er steht total auf Kommunismus. Und hat er euch erzählt, das er es nicht gut findet, mehr zu verdienen als ein Müllmann?« Anton nickte und lehnte sich im Stuhl zurück, als Elias’ Mutter mit dem Kartoffeltopf zu ihnen heran trat und ihnen beiden einen viel zu großen Berg Kartoffeln auftat. Anton blinzelte verwirrt seinen Teller an. Im nächsten Moment häufte seine Mutter schon Bohnen und eine Scheibe Hackbraten samt Soße hinzu und Antons Augen wurden immer größer, aber er schien nichts sagen zu wollen und so griff Elias gut gelaunt nach seinem Besteck und begann zu essen. Seine Mutter verließ taktvollerweise die Küche und Elias hörte sie im Wohnzimmer den Fernseher einschalten. »Deine Mutter ist nett«, sagte Anton zögerlich und zerdrückte seine Kartoffeln behutsam mit der Gabel, ehe er anfing zu essen. Elias grinste. »Ja, das ist sie. Sie ist so eine richtige Bilderbuchmami. Manchmal erinnert sie mich an Molly Weasley aus Harry Potter«, erklärte er freiweg. Anton blinzelte und starrte ihn an, als könnte er es nicht fassen, dass Elias Harry Potter gelesen hatte. »Kennst du Harry Potter nicht?«, wollte Elias wissen und schob sich ein großes Stück Hackbraten in den Mund. Anton spießte ein paar Bohnen auf seine Gabel und räusperte sich. »Doch. Schon…«, gab er zurück und ein leichter Rotschimmer bildete sich auf seinen Wangen. »Ist dir das peinlich? Muss es nicht, ich hab alle Bücher gelesen, allein schon weil meine kleine Schwester mich dazu gezwungen hat, aber ich fand’s gar nicht so schlecht. Die Filme sind natürlich kompletter Humbug, aber die Bücher sind toll«, plapperte er weiter und erinnerte sich daran, dass Alex ihn gefragt hatte, ob er Anton so zugequatscht hatte, dass dieser nicht zu Wort gekommen war. »Ich mag die Filme auch nicht. Aber die Bücher hab ich alle im Schrank«, sagte Anton zögerlich zwischen zwei Bissen Kartoffeln. Die Themen Harry Potter und Schule trugen sie durchs ganze Abendessen, auch wenn Elias sehr viel mehr redete und Anton das meiste aus der Nase ziehen musste. Als sie schließlich aufgegessen hatten, sah Anton sich in der Küche um, bis er die Spülmaschine entdeckte. Dann stand er langsam auf, öffnete sie vorsichtig und stellte seinen und Elias’ Teller hinein. Elias war so perplex, dass er nicht einmal aufstehen und ihm helfen konnte. Als die Spülmaschine wieder zuging, kam seine Mutter in die Küche gewuselt. »Na, hat es geschmeckt?«, erkundigte sie sich strahlend. Anton nickte zaghaft. »Sehr lecker, vielen Dank«, gab er zurück. Elias sah, dass seine Mutter schon wieder diesen zärtlichen Ausdruck im Gesicht bekam. Sie war so durchschaubar, dass Elias es beinahe ein wenig peinlich fand. »Du kannst gern öfter zum Essen kommen, mein Junge«, sagte sie auch prompt. »Anton«, meinte er. »Du kannst gern öfter zum Essen kommen, Anton«, wiederholte seine Mutter schmunzelnd, dann machte sie sich daran, die Töpfe vom Herd in die Spüle zu räumen. Elias erhob sich. »Ich werd dann wieder rüber gehen«, sagte Anton und fuhr sich durch die schwarzen Haare. Elias brachte Anton zur Tür und hielt sie ihm auf. Der Kleinere ging an ihm vorbei, zog einen Wohnungsschlüssel aus seiner Hosentasche und drehte sich noch kurz zu ihm um. Einen Moment lang hatte Elias das Gefühl, dass er irgendetwas sagen wollte, doch dann schloss er die Tür auf, sagte »Tschüss« und war im nächsten Moment verschwunden. Elias ließ die Wohnungstür zufallen und ging in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und zog seine halbfertigen Geschichtshausaufgaben zu sich heran. Anton war ein ziemlich merkwürdiger Junge, fand er. Kapitel 7: Musik ---------------- Hallo ihr Lieben! Ich wollte nur schnell bescheid sagen, dass ich jetzt immer ungefähr 2 Wochen für jedes Kapitel einrechne, weil das Studium bald losgeht und ich dann nicht mehr so viel Zeit zum Schreiben haben werde! Danke für die lieben Kommentare und die Favoritennehmer. Die Liedzeilen am Ende sind für meine beiden Insider Aye und Arod, die hoffentlich wissen, wieso. Viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, __________________ Die nächsten anderthalb Wochen vergingen ohne irgendwelche bemerkenswerte Zwischenfälle. Dominik und Markus reagierten nicht wirklich überrascht, als Elias ihnen bei nächster Gelegenheit verkündete, dass er und Christine irgendwie zusammen waren. Dominik schien halb verzweifelt, halb erleichtert darüber zu sein und Elias konnte sich in etwa vorstellen, woran das lag. Einerseits war er nun liiert, was für Eva bedeutete, dass Elias komplett aus ihrer Reichweite verschwunden war. Andererseits hatte Elias schon wieder eine Freundin – seine achte, um genau zu sein – und Dominik wartete immer noch darauf, seine zweite zu bekommen. Irgendwann. Markus kratzte das alles herzlich wenig, er war mit Nuri seit zwei Jahren zusammen und es sah ganz so aus, als würde sie seine erste und letzte Freundin sein. Irgendwie fand Elias das bemerkenswert. Er war zwar schon verknallt gewesen… so in etwa einmal… aber so richtig verliebt, wie das bei Markus und Nuri war, das hatte es bei ihm noch nie gegeben. Das Wort ‚Liebe’ im Zusammenhang mit Mädchen fand er gruselig. Er konnte sich nicht vorstellen, einem Mädchen so komplett verfallen zu sein, wie das bei Markus und Nuri war. Wie sich schnell herausgestellt hatte, kam Christine mit seinen Freunden und auch mit Nuri wunderbar zurecht. Elias mochte sie sehr, sie war eines dieser unkomplizierten Mädchen, genau wie Nuri. Und nur deswegen hingen die beiden ständig mit ihnen herum. Mädchen im Allgemeinen waren ziemlich anstrengend. Wenn man von seinen guten Freundinnen einmal absah zumindest. Und die waren alle eher weniger mädchenhaft. Er hoffte immer noch inständig, dass Nathalie später ebenfalls so ein unkompliziertes Mädchen werden würde. Denn mit Katharina konnte er herzlich wenig anfangen. Mädchen waren nun mal seltsam. Er dachte über die Mädchen nach, mit denen er befreundet war. Alex natürlich. Nuri und Christine. Seine lesbische Cousine Louisa. Dominiks kleine Schwester Caroline, mit der er auch schon zusammen gewesen war. Und Merle, seine zweite Exfreundin, mit der er sich immer noch blendend verstand und die zurzeit mit einem Mädchen zusammen war. Mädchen waren manchmal sogar besser zum Reden als Jungs. Aber nur, wenn sie nicht allzu sehr… Mädchen waren. Getrübt worden war die Woche nur von mehreren Anrufen seiner letzten Exfreundin Jasmin, die immer noch in Elias vernarrt war und keine Ruhe gab. Als er ihr schließlich erklärt hatte, dass er eine Freundin hatte, war sie in Tränen ausgebrochen. Elias hasste weinende Mädchen. Er konnte nicht damit umgehen und er mochte es nicht, andere zu verletzen. Aber wie sich herausstellte, hatte sich Jasmin von seiner neuen Freundin nicht abschrecken lassen und hatte noch dreimal angerufen, bis Elias schließlich – der Verzweiflung nahe – Christine gebeten hatte, ans Telefon zu gehen. Das Gespräch war ihm deutlich im Gedächtnis geblieben. »Wer ist da?«, hatte Jasmin mehr oder minder hysterisch gekreischt. Elias sah noch sehr genau, wie Christine das Handy von ihrem Ohr fortgenommen und das Gesicht verzogen hatte. »Elias’ Freundin. Christine. Und wer bist du?« Daraufhin hatte eine ziemlich lange Stille gefolgt, in der Elias sich ununterbrochen Erdnüsse in den Mund geschoben hatte. Das war fast besser als Kino gewesen. »Jasmin… seine Exfreundin«, war dann die Antwort gekommen, etwas weniger kreischend aber ziemlich angefressen klingend. »Ah. Ja, er hat von dir erzählt. Ich möchte dich bitten, ihn nicht mehr anzurufen. Wir sind sehr glücklich miteinander, haben herausragend guten Sex und werden spätestens in zwei Jahren heiraten und fünf Kinder haben. Auf Nimmerwiedersehen.« Elias hatte sich an seinen Erdnüssen verschluckt. »Wir werden heiraten?«, hatte er lachend geröchelt. Christine hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Natürlich nicht. Aber du hast erzählt, dass sie immer von Heirat geredet hat und jetzt weiß sie, dass du dafür nicht mehr zu haben bist. Ich dachte, das wäre eine gute Idee«, hatte sie entgegnet und ihren hübschen Schmollmund zu einem Grinsen verzogen. Elias mochte sie wirklich. »Aha. Dann lass uns jetzt noch mal über den Teil mit dem herausragend guten Sex reden«, hatte er schelmisch erwidert und sie hatte ihn geboxt, gelacht und dann geküsst. Jasmin hatte danach nicht mehr angerufen. Außerdem hatte Elias bei Johanna angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie ein Auge auf Anton und diese drei Vollidioten haben sollte und wenn irgendetwas passierte, dann sollte sie ihn anrufen. Allerdings passierte die anderthalb Wochen lang nichts Außergewöhnliches, denn es traf sich, dass Anton sich in den großen Pausen nun immer am oberen Ende der Wendeltreppe aufhielt und sein Pausenbrot aß oder irgendetwas las und dort hatte Elias ihn im Blick. Seine Mutter hatte ihm auch eingeschärft, Anton gern wieder zum Essen einzuladen, doch immer, wenn Elias bei Anton an die Tür klopfte, öffnete niemand. Anton hatte sich in seine Gedanken geschlichen. Vielleicht, weil Elias ein Mensch mit übermäßig stark ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn war und Anton scheinbar sehr anfällig für Ungerechtigkeit war. Er wusste es nicht. Aber er hatte in den letzten anderthalb Wochen verstärkt auf den traurigen Blick des Jungen geachtet, der offenbar niemals lächelte. Ob es nur an seiner Mutter lag, die beinahe jeden Abend die Wohnung verließ und erst sehr spät zurückkam? Am Freitag, drei Wochen nachdem Anton neben ihnen eingezogen war, brütete Elias über seinen Physikhausaufgaben, die diesmal relativ knifflig waren. Ausnahmsweise hatte er heute einmal nichts vor. Markus war mit Nuri auf einer Familienfeier, Dominik traf sich mit einem alten Schulfreund und Christine musste auf ihre beiden kleinen Brüder aufpassen und Elias hatte wenig Lust, dabei zu sein, wenn Daniel sie über ihr Sexleben ausquetschte. Alex hatte ihn angerufen und erzählt, dass sie erst Samstag kommen konnte und sie hatte ihm vorher partout nichts von diesem Ausflug aufs Konzert erzählen wollen. Und das war ungewöhnlich für Alex. Deswegen war er schon ziemlich versessen darauf, sie am Samstag endlich wieder zu sehen und sich ausgiebig vom Konzert berichten zu lassen. Er strich eine falsche Mengenangabe durch und runzelte leicht die Stirn. Er war allein zu Hause. Nathalie war heute nach der Schule bei ihrer besten Freundin Anni und würde dort übernachten, wo genau Katharina über Nacht war, wusste er nicht und seine Eltern waren bei Bekannten, die 200 Kilometer von ihnen entfernt wohnten, daher blieben sie bis morgen und hatten ihre beiden jüngsten Kinder ausquartiert. Sprich: Elias hatte sturmfrei. Gerade war er dabei der Lösung auf die Schliche zu kommen und hastig auf seinem Kollegblock herum zu kritzeln, als er verwundert den Kopf hob. Er hörte Musik. Aber nicht irgendwelche Musik. Klaviermusik. Verwirrt richtete er sich ganz auf und stand schließlich von seinem Schreibtischstuhl auf. Die Musik war leise, als würde sie von den Nachbarn unter ihnen kommen, aber Elias wusste sehr genau, dass Herr und Frau Kramer – beide weit über 70 Jahre alt – kein Klavier spielen konnten. Er schlich durch die Wohnung wie ein Einbrecher in einem gut bewachten Museum und fragte sich, wieso er sich überhaupt die Mühe machte, auf Zehenspitzen zu laufen, da ohnehin niemand von den Nachbarn hören konnte, wie seine Füße sich auf dem Teppichboden bewegten. Vielleicht lag es daran, dass er bei schöner Musik immer ein wenig andächtig wurde. Als er das Wohnzimmer betrat – und das immer noch auf Zehenspitzen – wusste er, woher die Musik kam. Aus der Wohnung nebenan, die genau spiegelverkehrt zu ihrer Wohnung und somit grenzte Antons Wohnzimmer an das ihre. Oder welches Zimmer auch immer dort drüber das Zimmer von hier sein mochte. Elias kannte das Lied und es kostete ihn einige Sekunden, um in seinem Gedankensalat herauszufischen, wie es hieß. Es war die Mondscheinsonate und es klang so traurig, dass Elias auf der Stelle Anton mit diesem Lied assoziierte. Anton schaute immer so traurig. Dieses Lied war traurig. Alles in allem fand er, dass Anton unbedingt irgendwann einmal lächeln sollte. Und er war sich ziemlich sicher, dass er dieses Lächeln sehen musste, um sein Seelenheil zu bewahren. Er blieb so nah an der Wohnzimmerwand stehen, wie es ging, ohne dass er eine der Vasen seiner Mutter umriss oder gegen den Fernsehschrank rannte. Er versuchte sich Anton am Klavier vorzustellen und musste zugeben, dass das ziemlich gut zu dem Schwarzhaarigen passte. Leise summend wiegte er den Kopf hin und her und beschloss, dass Anton ziemlich gut Klavier spielte. Als sie Musik stoppte, seufzte er etwas enttäuscht. Dann kam ihm eine Idee und er hastete in sein Zimmer – diesmal nicht auf Zehenspitzen – und griff sich seine Gitarre, huschte zurück ins Wohnzimmer und warf sich auf die Couch. Er überlegte nur einen Moment lang, was er spielen konnte. Dann entschied er sich für ‚Killing me softly’. Das sollte selbstredend nicht symbolischer Natur sein. Aber es war ein schönes Lied und Elias fand, dass es zu Anton passte. Vielleicht konnte Anton es ja auf dem Klavier spielen. Eine Weile lang herrschte Stille in der angrenzenden Wohnung und Elias hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dass Anton wieder mit dem Klavierspiel anfing und er ging sogar soweit, das Lied zu singen. Und normalerweise sang er hauptsächlich für Nathalie und Alex… Er war schon kurz davor anzunehmen, dass Anton seine Einladung entweder nicht verstand, sie abblockte oder aber das Lied nicht kannte, als zögerliche Klavierklänge sich unter sein Gitarrenspiel und seinen Gesang mischten. Elias war es herzlich egal, ob sie beide zu laut waren und Herr Kramer vor Schreck vom Sofa fiel. Er hatte sonst nur seine Cousine zum Musik machen und Louisa spielte Schlagzeug. Das war nicht wirklich mit einem Klavier gleichzusetzen. »…he sang as if he knew me in all my dark despair…« Normalerweise spielte Elias am liebsten Lieder seiner Lieblingsbands oder aber selbstgeschriebene Stücke, aber im Moment fand er es einfach toll, mit Anton Musik durch die Wand zu machen. Es war einer dieser besonderen Momente, die man mit einem Menschen teilte und die man so schnell nicht vergaß. »…with his words killing me softly...« Anton spielte wirklich gut. Elias bedauerte es in diesem Moment zutiefst, dass er nicht auch Klavier spielen konnte, aber wenn es nach ihm ginge, dann könnte er jedes Instrument auf der spielen. Musik war eben toll. Sie spielten ‚Unchained Melody’ und Elias musste zwei oder dreimal während des Singens lachen, weil der Text so furchtbar schmalzig klang, dass es kaum auszuhalten war. Aber immerhin, das Lied hörte sich in der Gitarren- Klaviermischung ziemlich gut an. Sie spielten ‚Objects in the rearview mirror’ und Elias beschloss, dass er unbedingt öfter Musik mit Anton machen musste. Ob der Schwarzhaarige nun die Tür öffnete oder nicht. Elias kürte das Lied zu seinem persönlichen Klavier- Favoriten – gleich nach der Mondscheinsonate. »…I know I'll never learn why any boy should die so young...« Die Musik ließ seinen Körper begeistert kribbeln, als wäre er auf einer Bühne und hätte Lampenfieber. Es war ein gutes Gefühl. »…We were ready for adventures and we wanted them all, there was so much left to dream and so much time to make it real...« Als das Lied langsam ausklang, seufzte Elias zufrieden und legte die Gitarre beiseite. Einen Moment lang genoss er noch das Nachklingen der Klaviermusik in seinem Innern, dann erhob er sich und huschte zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus in die kühle Septemberluft. Der Wind blies bunte Herbstblätter durch die Luft. Der Efeu an der Hauswand war wie immer saftig grün und resistent gegen all die Kälte. Er wandte den Kopf nach rechts und sah hinüber auf den angrenzenden Balkon, der nur wenige Zentimeter von seinem Balkon entfernt war. Die Tür des Balkonzimmers bei Anton ging auf und sein schwarzer, glänzender Haarschopf erschien. Er sah Elias einen Moment lang schweigend an und trat dann ganz hinaus auf den Balkon. Elias grinste. »Du spielst gut«, sagte er und betrachtete die dunklen Augen seines Nachbarn, die ausnahmsweise nicht ganz so traurig funkelten wie sonst immer. Anton nickte kaum merklich. »Du spielst auch gut… und du singst… sehr gut«, gab er zögerlich zurück und Elias schmunzelte leicht verlegen, während er sich durch die blonden Haare fuhr. »Wir könnten das öfter machen«, sagte Elias und konnte ein Strahlen nicht verhindern. Anton blinzelte leicht verwirrt. Einen Augenblick lang war Elias sicher, dass er mit sich rang, als wolle er nein sagen und doch wieder nicht. Dann nickte Anton. »Ja… können wir«, sagte er, hob kurz die Hand und verschwand dann wieder in der Wohnung. Elias blieb noch ein wenig auf dem Balkon und sah hinunter in den Hinterhof des Mehrfamilienhauses. In der Nebenwohnung ertönte ‚Für Elise’ und Elias musste lachen, als er sich bei dem Gedanken an ‚Für Elias’ ertappte. Kapitel 8: Alex² ---------------- Entschuldigt die Verspätung! Aber ich hab durch den Umzug eine Menge Stress am Hals und hoffe, dass ihr mir verzeihen könnt. Das Kapitel ist für alle, die Alex mögen ;) Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen, _____________________ »Elli!« Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Arme auszubreiten und seine beste Freundin aufzufangen, die auf ihn zugestürmt kam, als gäbe es kein Morgen mehr. Alex machte einen Satz und warf sich ihm um den Hals, schlang die Arme um seinen Nacken und die Beine um seine Hüfte und eine braune Haarmähne raubte ihm die Sicht, als er sie festhielt. Er prustete ein paar Haare aus seinem Mund und lachte ächzend. »Du erwürgst mich«, informierte er Alex. Sie schnaubte gespielt verächtlich und hob den Kopf, ohne ihn loszulassen. »Entschuldige mal, du Weichei. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen und du sagst mir, dass ich dich fast erwürge? Ehrlich, ich find das nicht gut, Elli. Sag mir stattdessen, dass du mich unglaublich vermisst hast und dich wahnsinnig darüber freust, mich endlich wieder zu sehen!« Die Passanten in der Fußgängerzone warfen ihnen halb amüsierte und halb empörte Blicke zu, während sie neben einem Springbrunnen standen und Alex an ihm hing wie ein Kletteräffchen. Elias grinste sie an und pustete sich ein paar Haare aus dem Gesicht. »Alex, Schatz«, sagte er überschwänglich und verkniff sich ein Grinsen, während sie ihn streng musterte, »ich habe dich unglaublich vermisst. Es ist so schön, dich nach all dieser Zeit endlich wieder zu sehen!« Sie ließ ihre Beine baumeln und er setzte sie neben sich ab, woraufhin sie sich die Haare nach hinten strich und sich räusperte. »Geht doch«, meinte sie und grinste ihn spitzbübisch an. Dann hakte sie sich bei ihm unter und sie machten sich auf den Weg ins Alex. Alex hatte darauf bestanden, dort etwas trinken zu gehen. Immer, wenn sie in der Stadt war, dann war das ihr Ritual. Ausnahmsweise schien die Sonne und keine grauen Wolken hingen am Himmel, während sie sich durch die Menschenmengen schoben, die Samstagnachmittag hier einkauften und aßen und sich mit Freunden trafen. »Erzählst du mir jetzt endlich von dem Konzert?«, wollte er wissen, doch sie schüttelte nur den Kopf und grinste. Problemlos manövrierte sie ihn durch die Lücken der Passanten und zog schließlich ihren Arm von ihm zurück, als sie am Alex ankamen. Es war ungewöhnlich für Alex, dass sie so wenig redete. Elias konnte nicht umhin sich ein wenig beunruhigt zu fühlen und er war sonst wirklich kein neugieriger Mensch. Doch dass Alex aus irgendetwas ein Geheimnis machte, war sehr verdächtig. Er malte sich schon die schrecklichsten Szenarien aus, als sie sich an einem kleinen Tisch in einer Nische niederließen und Alex sich zu ihm vorbeugte. Elias tat es ihr nach und sah sie gespannt an. Ihre blauen Augen leuchteten. »Ich hab auf dem Konzert jemanden kennen gelernt«, flüsterte sie ihm über die Getränkekarte hinweg zu. Er starrte sie an. »Einen Jungen?«, fragte er vollkommen stumpfsinnig. Der Kellner, der zu ihrem Tisch kam, sah Alex ziemlich perplex an, als sie in lautes Gelächter ausbrach und mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug. »Einen großen Zitronen- Eistee bitte«, sagte er zu dem Kellner, der sich – immer noch leicht irritiert – die Bestellung notierte und sich dann fragend an Alex wandte, die sich mittlerweile Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte und den Kellner anstrahlte, was ihn offensichtlich noch mehr verwirrte. »Eine große Kirschsaftschorle«, sagte sie, der junge Mann notierte auch das und dann verschwand er eilends hinter der Theke. »Also… einen Jungen, ja?«, fragte er noch einmal. Alex beugte sich wieder vor und ihr Strahlen beunruhigte ihn etwas. »Ähm… hallo? Erde an Alex?« Sie kicherte. »Ja, einen Jungen. Obwohl es Junge vielleicht nicht ganz trifft. Er ist 24«, erklärte sie ihm. Elias schwieg eine ganze Minute lang, während er diese Information verdaute. Dann runzelte er misstrauisch die Stirn. »Und, was macht er so? Wie sieht er aus? Was hört er für Musik? Worüber habt ihr geredet?«, fragte er und sah, dass Alex sich das Lachen verkneifen musste. Aber was sollte er machen. Alex war seine beste Freundin. Sie war ihm wichtig und er fühlte sich nicht nur für sie verantwortlich, sondern wollte sie auch beschützen. Und wer wusste schon, was 24- jährige Rocker mit seiner besten Freundin anstellen würde, wenn sie sich auf ihn einließ? »Erst musst du raten, wie er heißt«, meinte sie und als der Kellner kam, beugte sie sich nur ein Stück zur Seite, damit er ihr das große Glas mit Kirschsaftschorle hinstellen konnte. Elias nippte an seinem Eistee, nachdem er sich bei dem Kellner bedankt hatte. »Weiß nicht«, gab er zurück und konnte nichts dagegen tun, dass er ein wenig ungeduldig wurde, »Horst?« Alex kicherte leise und nahm einen Schluck von ihrer Schorle. Dann beugte sie sich noch ein Stück weiter vor und holte tief Luft. Elias blickte sie erwartungsvoll an. »Er heißt Alex«, flüsterte sie ehrfürchtig. Elias blinzelte verwirrt und er erkannte in Alex’ strahlend blauen Augen, dass dieser Umstand allein sie schon halb davon überzeugte, dass er – wer auch immer er genau sein mochte – der Richtige war. Was auch immer Mädchen als den ‚Richtigen’ bezeichnen mochten. Elias war nie ganz hindurch gestiegen, worauf genau Mädchen eigentlich warteten. »Wow…echt?«, war alles, was ihm dazu einfiel und Alex nickte eifrig. Und dann brach der Redeschwall aus ihr heraus, den sie schon seit ihrem Telefonat zurückgehalten hatte. »Wir kamen um neun da bei der Bühne an und ich sah genauso langweilig aus wie heute-«, sie deutete auf ihre hellblaue Bluse, den schlichten Haarreif und die blaue Jeans, »und Nickie und Luisa waren genauso hibbelig wie ich. Wir wollten unbedingt weit nach vorn, weil wir die Band schon von einer CD kannten und der eine Gitarrist ist eine ziemlich scharfe Nummer und dann standen wir da vorn und haben uns in der menge ziemlich eingequetscht gefühlt und dann kamen die Kerle auf die Bühne und der Gitarrist sieht echt umwerfend aus!« Alex nutzte diese Stelle in ihrem Sermon, um ausgiebig Luft zu holen. Elias musste schmunzeln. Diese Macke liebte er genauso an Alex wie alles andere. Dass sie immer reden musste wie ein Wasserfall. »Und die Musik war echt super und wir hatten eine Menge Spaß und ich hab nach dem Konzert auch eine CD gekauft. Aber egal. Jedenfalls standen wir da in der Menge und da waren so ein paar Besoffene, die meinten, dass unsere Klamotten irgendwie witzig sind. Und dann haben die sich erst über uns lustig gemacht und dann irgendwie beschlossen, dass wir wohl doch irgendwie gut aussehen – wer weiß schon, was in besoffenen Kerlen vor sich geht – und der eine ist mir echt auf die Pelle gerückt! Dabei wollt ich nur in Ruhe die Musik hören und rum springen und mitsingen und so. Aber nein, der musste sich an mich ranschmeißen und ich hab dem mindestens hundertmal gesagt, dass er seine Finger weglassen soll und dann hat er mir an den Arsch gefasst!« Alex’ Wangen waren gerötet bei der Erinnerung daran. Egal wie tough sie sich immer geben mochte, sie war immer noch ungeküsst und vollkommen unerfahren. Und das machte sie unsicher. Elias wusste, dass jeder Kontakt mit Männern irgendwie ein kleines Highlight für Alex war und wenn es ein betrunkener Vollidiot war, der ihr an den Hintern fasste. »Und dann hat sich der Typ vor mir umgedreht und dem Grapscher gesagt, dass er sich verziehen soll. Von wegen man betatscht keine Mädchen, wenn sie das nicht wollen und so. Und der Typ, der mich angefasst hat, der hätte fast eine Schlägerei angefangen, aber der Andere hatte noch vier Kumpels dabei und er war kein bisschen betrunken und da hat er den Schwanz eingezogen. Und ich hab ‚Danke’ gesagt und er hat mich angegrinst und er hat so ein tolles Grinsen gehabt und ich glaube ich bin rot geworden und… Als dann die Pause kam, hat er sich umgedreht und gefragt, ob alles ok bei mir ist und dann sind wir zusammen ein Bier am Rand trinken gegangen und haben uns unterhalten. Und wir haben uns voll vorquatscht, bis das Konzert zu Ende war und es hat ihn nicht mal abgeschreckt, dass ich auf ein katholisches Mädcheninternat gehe und dann hat er gefragt, ob wir uns vielleicht mal wieder sehen, weil er selten Mädchen trifft, mit denen er sich so gut unterhalten kann und dann hab ich ihm meine Handynummer gegeben und er hat mir noch in der Nacht eine SMS geschrieben und sich für das tolle Gespräch bedankt und ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen, weil ich so aufgeregt war…« Auf diesen Abschnitt folgte erneut ein Luftholen. »Und als er nach meinem Namen gefragt hat und ich meinte, dass ich Alex heiße, da hat er gelacht und meinte, dass er genauso heißt und dass das wohl Schicksal sein muss und… also… er studiert Geschichte und Musik auf Lehramt, auch wenn man ihm das gar nicht so ansieht. Er trägt nämlich Lederjacken und hat lange Haare und einen Pferdeschwanz und zerrissene Jeans und Springerstiefel und seine Augen sind ganz toll, er hat ganz helle, blaue Augen und die funkeln immer so, wenn er grinst und… du guckst so komisch, was ist denn?«, fragte sie unsicher und ihre Wangen waren mittlerweile feuerrot. Elias schmunzelte. »Du bist nur irgendwie süß, wenn du dich so in irgendwas reinredest«, informierte er sie und sie wurde prompt noch röter. Dann entschied sie sich offensichtlich, nicht weiter auf seine Bemerkung einzugehen, denn sie fuhr flüsternd fort. »Seit dem Konzert telefonieren wir fast jeden Tag und nächste Woche wollen wir uns in der Stadt treffen. Ich bin jetzt schon total aufgeregt.« Elias trank einen weiteren Schluck von seinem Eistee und musterte Alex halb amüsiert, halb besorgt. »Und er ist wirklich in Ordnung? Nicht, dass er dich hinter die nächste Ecke zerrt und dich begrabbelt!«, sagte er und Alex sah empört aus. »Er ist total lieb und nett! Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen, oder denkst du, ich mach zum Spaß Karate?« Elias musste lachen. Da hatte sie Recht. Alex konnte ihn ohne Probleme auf den Boden legen, das wusste er sehr genau. Wenn ihre Eltern wüssten, dass der Sport, den sie dreimal die Woche machte, nicht Ballett, sondern Karate war, dann würden sie wohlmöglich an einem Herzinfarkt sterben. Immerhin war Kampfsport nichts für Mädchen. Elias hörte sich noch eine halbe Stunde lang Schmacht über Alex an, dann hatten sie ihre Getränke ausgetrunken und zahlten. Alex beschloss, noch mit zu Elias zu kommen und den ganzen Weg entlang summte sie und strahlte und Elias hatte das dumpfe Gefühl, dass seine beste Freundin jetzt schon bis über beide Ohren verschossen war. Sein Zimmer war unordentlich wie eh und je, aber Alex störte sich nicht daran. Nachdem sie seine Eltern und seine Schwestern begrüßt hatte, gingen die beiden in Elias’ Zimmer. Alex stieg geübt über all die Notenblätter, seine Gitarre, die Schultasche und die Klamotten und ließ sich auf sein zerwühltes Bett fallen. Elias warf sich auf seinen Schreibtischstuhl und sah Alex an, die sich umblickte, als wollte sie prüfen, ob sich irgendetwas verändert hatte. »Elli…«, sagte sie dann leise und er blinzelte, weil ihr Ton plötzlich nicht mehr schmachtend war, sondern unsicher. »Was denn?« Sie räusperte sich und wirkte ziemlich verlegen, als sie ihn ansah und sich unruhig durch die Haare strich. »Was ist, wenn er versucht, mich zu küssen und ich mich ganz, ganz dumm anstelle? Und wenn aus uns vielleicht was wird… er hatte doch bestimmt schon hundert Mädchen und ich hab keine Ahnung von gar nichts und vielleicht schreckt ihn das ja ab…« Das war eines von Alex’ Lieblingsthemen. Ihre Unerfahrenheit mit Jungs. Elias hatte schon hundertmal versucht, sie deswegen zu beruhigen, aber es hatte nie wirklich geklappt. Einen Moment lang sah er sie schweigend an, dann seufzte er. »Wenn er wirklich so toll ist, wie du sagst, dann wird ihn das kein bisschen stören«, sagte er. Sie ließ die Schultern hängen und blickte ihn immer noch geknickt an. »Sollen wir es mal testen mit dem Küssen?«, fragte er freiweg. Alex bekam Augen so rund wie Teller. »Wie…? Du? Und ich? Küssen?«, erwiderte sie vollkommen perplex. Elias konnte nicht umhin zu lachen. »Ja, wieso nicht?«, erkundigte er sich. »Du hast eine Freundin?«, gab sie empört zurück. Elias grinste. »Das weiß ich wohl. Aber ich glaube, Chris sieht das nicht so eng. Ich ruf sie mal an…« »Elli, das ist total bescheuert«, sagte Alex und musste lachen, doch sie klang eindeutig nervös. Elias kramte nach seinem Handy und wählte Chris’ Handynummer. »Ja?«, meldete sich Chris am anderen Ende. Irgendwo im Hintergrund kreischten Kinder. »Hey, ich bin’s. Wer sind die Kinder im Hintergrund?«, erkundigte er sich grinsend. Chris schnaubte entnervt. »Meine beiden Cousinen. Zwillinge. Ich sag dir, ich werd noch zur Kindsmörderin! Emma! Nein! Stell das sofort wieder hin!« Eine Rangelei am anderen Ende folgte, ein kleines Mädchen protestierte lautstark, als Chris ihr was auch immer aus den kleinen Fingern entwand. »So, bin wieder da. Sie wollte eine Vase meiner Mutter auf den Kopf setzen… Ich fass es nicht. Habe ich erwähnt, dass Kinder nur auf der Welt sind, um mich zu stressen?« Elias lachte leise und beobachtete Alex, die ihn halb hoffnungsvoll, halb ängstlich anstarrte. »Ich hab Alex hier und sie datet so einen Typen und ich wollte dich eigentlich nur kurz fragen, ob es okay ist, wenn ich sie küsse. So zum Üben«, meinte er. Einen Moment lang schwieg Chris am anderen Ende, dann schepperte es laut und sie fluchte unterdrückt. »Leonie! Lass das!« Eine erneute Rangelei folgte. »Wieso rufst du deswegen extra an, das ist doch kein Ding. Sag ihr herzlichen Glückwunsch, sie hat einen tollen Lehrer«, erklärte Chris gelassen und Elias musste sich ein Lachen verkneifen. »Werd ich ihr ausrichten. Viel Spaß noch mit deinen Cousinen«, sagte er. »Vielen Dank auch!«, schnaubte sie und legte dann auf. Elias legte sein Handy beiseite, stand auf und ging hinüber zu Alex, ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder und sah sie schmunzelnd an. »Sie hat nichts dagegen und ich soll dir sagen, dass du einen guten Lehrer hast«, erklärte er und Alex boxte ihn daraufhin prompt in den Bauch. »Arroganter Arsch!«, motzte sie verlegen und verschränkte die Arme. Elias lachte und rieb sich den Bauch, dann zog er Alex’ Arme auseinander und rückte näher zu ihr. »Augen zu«, sagte er lächelnd und sie schluckte, schloss die Augen und Elias spürte deutlich, dass sie leicht zitterte, als er sich vorbeugte und seine Lippen auf ihre legte. Elias befand, dass Alex sich völlig umsonst Sorgen gemacht hatte. Dafür, dass es ihr erster Kuss war, stellte sie sich nicht schlecht an, auch wenn sie ziemlich unsicher war. Elias kam nicht umhin, sich darüber Gedanken zu machen, dass Chris und er eine merkwürdige Beziehung führten. Es war mehr so, als wären sie nur befreundet. Freunde, die zufällig auch miteinander schliefen. Er fragte sich, wie es wäre, wenn man wirklich verliebt war. Dann würde man seinen Partner sicher nicht wegen solchen Dingen anrufen und dann würde der Partner sicherlich auch nicht sagen, es sei okay. Als er und Alex sich voneinander lösten, sahen ihre Augen ganz glasig aus und sie war knallrot im Gesicht. »Und? War ich mies?«, fragte sie mit zittriger und besorgter Stimme. Elias gluckste leise und schüttelte den Kopf. »Nein, warst du nicht«, erwiderte er wahrheitsgemäß. Alex sah ihn einen Moment lang stumm an, dann strahlte sie. »Wie läuft’s eigentlich mit deinem Nachbar?« Da war er. Ein alex’scher Gedankensprung. »Was soll denn da laufen?«, fragte Elias verwirrt. Das klang, als wären sie ein angehendes Pärchen. »Na ja, ich dachte, du hast ihn so ein bisschen unter deine Fittiche genommen«, sagte Alex und betastete vorsichtig mit den Fingerspitzen ihre Lippen, als hätte sich ihr Mund irgendwie verändert, nun da er nicht mehr ungeküsst war. »Das ist wohl ein bisschen zu viel gesagt«, murmelte Elias, den ihre Darstellungsweise irgendwie verlegen machte. Dann erzählte er ihr von der Musikmacherei durch die Wand. Alex’ Augen leuchteten begeistert. »Wow! Das ist ja total romantisch!«, rief sie hingerissen und schüttelte ihn enthusiastisch durch. Elias starrte sie verwirrt an. »Romantisch? Wieso das? Was ist denn daran romantisch?« Alex kicherte und piekte ihn leicht in die Seite. »Also wenn du das nicht weißt, dann sag ich es dir auch nicht. Spiel mir ein bisschen was auf der Gitarre vor, ja?«, sagte sie, strahlte ihn an und lehnte sich gegen die Wand. Elias seufzte und tat wie ihm geheißen. Seit wann um alles in der Welt war Musik durch eine Wand romantisch? Kapitel 9: Entschluss: Begleitschutz ------------------------------------ Für Aye, weil ich will, dass sie lächelt. Für Lisa, weil sie mit ihrer Anweisenheit die Idee hervorgerufen hat. Für Arod, weil sie sich ständig für das Ausbleiben der Kommentare entschuldigt, obwohl sie das gar nicht muss. Für Tanja, weil sie jeden Tag nach dem Kapitel gefragt hat ;) Viel Spaß beim Lesen und danke für all die lieben Kommentare! Liebe Grüße, ___________________ Elias genoss die Zeit, in der Alex wieder in der Stadt war. Nachdem sie den ganzen Samstag miteinander verbracht hatten, trafen sie sich auch am Sonntag, spielten Gitarre und Querflöte, quatschten, veranstalteten Kissenschlachten und Alex setzte sich zu Nathalie und Elias ins Wohnzimmer und sah sich drei Folgen Pokémon mit seiner kleinen Schwester an, die Alex ohnehin schon immer vergöttert hatte. Am Abend setzten seine Eltern sich dazu und selbst Katharina kam für zehn Minuten aus ihrem Zimmer gekrochen, um sich kurz an den Unterhaltungen zu beteiligen. Nachdem Alex ihre schlanken Beine bewundert hatte, ging Katharina mit ziemlich guter Laune zurück in ihr Zimmer. Das war Alex’ besondere Gabe. Leuten das Gefühl zu geben, dass sie etwas Besonderes waren und sie aufzuheitern. Elias hatte Alex vorgeschlagen, sie an sein Bett zu ketten und nicht mehr gehen zu lassen. Alex war begeistert von der Idee, allerdings war sie sich sicher, dass ihre Eltern nicht viel davon halten würden, auch wenn sie in Elias einen erstrebenswerten, potentiellen, zukünftigen Ehemann für ihre Tochter sahen. »Schon seit wir uns im Kirchenchor kennen gelernt haben, sind sie der Meinung, du wärst genau der Richtige für mich«, hatte Alex erzählt und die Augen verdreht. Elias hatte sich geräuspert. »Aber da waren wir sieben. Da haben sich deine Eltern schon Gedanken über deine zukünftige Ehe gemacht?«, hatte er geantwortet. Er liebte Alex wirklich. Aber er wollte nicht mit ihr verheiratet sein. Zugegebenermaßen hatte er das Gefühl, sie jetzt schon wieder zu vermissen, kaum dass sie aus der Tür war. Aber so war das nun einmal, wenn die beste Freundin auf ein katholisches Mädcheninternat in einer anderen Stadt ging. Den Sonntagabend verbrachte er mit Hausaufgaben und Gitarrespielen. Ein wenig hoffte er, dass Anton auch Musik machte, weil Musik zusammen zu machen immer schöner war, als es allein zu tun. Aber drüben in der Wohnung der Nickischs herrschte Grabesstille. Auch am Montag sah Elias nichts von Anton und er konnte nicht umhin sich zu fragen, wo Anton eigentlich geblieben war. Mathe verging in einem Schleier von Lobhymnen seitens Frau Beyer, die seine Hausaufgaben enthusiastisch an die Tafel schrieb und der Klasse verkündete, dass sie sich alle an Elias ein Beispiel nehmen sollten, was Elias in Verlegenheit stürzte, weil ihn die Mathehausaufgaben nur zehn Minuten gekostet hatten. Die Pausen waren Anton- los, er saß nicht auf der Treppe und war auch nirgends auf dem Schulhof zu sehen. Elias überlegte, ob er Johanna anrufen und sie fragen sollte, wo Anton steckte, aber das erschien ihm dann doch zu gruselig. Immerhin war er kein Stalker. Allerdings ließ sich Anton auch die nächsten zwei Tage nicht blicken und Elias fragte sich allmählich, was denn mit ihm passiert war. War er krank? Beurlaubt? Oder übersah Elias ihn einfach? Er teilte seine Bedenken Dominik und Markus mit, die allerdings nur meinten, dass dies immerhin eine große Schule sei und Anton genauso gut am anderen Ende sitzen und seine Bücher lesen konnte. Elias hatte gar keine Lust, sich darüber Sorgen zu machen, wo genau sein neuer, unnahbarer Nachbar steckte, aber sein Verantwortungsbewusstsein stichelte ihn Tag und Nacht drüben bei den Nickischs an der Tür zu klingeln und sich davon zu überzeugen, dass der Schwarzhaarige noch lebte. Am Mittwochabend ertappte er sich dabei, wie er mit einem Ohr an der Wand lauschte. »Das ist doch lächerlich«, murmelte er und kletterte von seinem Bett, stapfte in die Küche und war fest entschlossen, sich mit einer Milchschnitte oder einer BiFi abzulenken, als er im Zimmer sein Handy klingeln hörte. An ‚Smash’ erkannte er, dass es Markus sein musste und so rannte er gleich wieder zurück, wühlte in seiner Schultasche nach seinem Handy und nahm schließlich etwas außer Atem ab. »Hey Alter«, ächzte er in den Hörer und warf sich aufs Bett, »was gibt’s?« Eine Stille am anderen Ende ließ ihn die Stirn runzeln. »Ähm…Markus? Bist du es?« »Ja«, krächzte es kläglich am anderen Ende und Elias setzte sich auf, die Stirn immer noch gerunzelt. »Was ist los?«, fragte Elias alarmiert und beugte sich vor, um seine Ellbogen auf die Knie abzustützen. »Ich bin schwanger«, sagte Markus am anderen Ende. Elias stutzte einen Moment lang, dann lachte er laut. »Man, ich dachte schon, es wäre wirklich was. Jag mir doch nicht so ’ne Angst ein!« Es folgte eine erneute Stille, in der Elias immer noch gluckste. Dann… »Ich meine… Nuri ist schwanger. Ich werde Vater…« Das Glucksen blieb ihm im Halse steckte und er spürte, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten. »Was? Im Ernst?« »Ja… sie war heute beim Arzt und der hat es ihr gesagt«, krächzte Markus. »Bist du bei Dominik?«, fragte Elias immer noch vollkommen perplex. Er wusste nicht, was er sonst dazu sagen sollte. »Hmhm…« »Ich komm vorbei und bring Bier mit!«, sagte Elias und legte auf. Dann schnappte er sich seine Jacke, schlüpfte hastig in seine Chucks, machte sich aber keine Mühe sie zuzubinden. Beim nächstbesten Kiosk kaufte er zwei Sixpacks Bier, dann hastete er in Richtung Dominiks Haus. Seine beiden besten Freunde saßen auf dem zerschlissenen, dunkelblauen Sofa direkt neben Dominiks Schreibtisch und sahen ihn an, während er das Bier vor ihnen auf den Boden stellte, sich aus seiner Jacke pellte und die Schuhe in eine Ecke katapultierte. Dann griff er in Dominiks uralte Kommode, in denen auch die Kondome seines Kumpels steckten, und zog einen Flaschenöffner mit Holzgriff hervor. Er war schon so oft in diesem Keller gewesen, seit er aufs Gymnasium ging war er mit Markus und Dominik befreundet und seitdem hielten sie ihre Treffen in diesem Keller ab. Es war abgedunkelt, der Teppich war irgendwann einmal hellgrau gewesen. Jetzt zierten ihn mehrere undefinierbare Flecken, die nicht mehr auszuwaschen waren. Das uralte Sofa knarzte immer, wenn sich jemand darauf niederließ und der Schreibtisch war unter einem Berg Papier, leeren Tellern und Computerspielen kaum noch zu erkennen. Irgendwo neben dem Sofa stand eine große Shisha, ein Regal war voll gestopft mit Ordnern, Politik- und Geschichtswälzern und mehreren Bilderrahmen, in denen man meistens sie drei bei vergangenen Abenteuern bewundern konnte. Markus sah noch blasser aus als sonst, Dominik tätschelte ihm die Schulter und Elias fragte sich, ob er das schon machte, seit Markus hier angekommen war. Er öffnete drei Flaschen, hielt seinen beiden Freunden jeweils eine hin und setzte dann an, um seine Flasche halb zu leeren. Dann erst setzte er sich im Schneidersitz auf den schmuddeligen Teppich und sah Markus an. »Seit wann weißt du’s?«, fragte er ehrfürchtig. Markus schluckte. »Nuri hat vorhin angerufen, da war ich schon hier. Wir wollten eigentlich nur Dominiks neues Computerspiel ausprobieren… Und dann hat sie von Moni aus angerufen und meinte, der Arzt hat es ihr vorhin gesagt…« Moni war Nuris beste Freundin. »Und jetzt?«, fragte Elias und nahm noch einen Schluck Bier. Markus trank seines auf Ex. »Lasst ihr es wegmachen?«, fragte Dominik. Markus stutzte, dann runzelte er die Stirn und sah Dominik ungläubig an, als sei er von allen guten Geistern verlassen. »Nein!«, sagte er entrüstet und es klang, als sei das selbstverständlich. »Wie…ihr… ihr behaltet es?«, hauchte Dominik. Markus nickte. »Sie würde es nicht verkraften, wenn wir es wegmachen und ich will es auch behalten. Abtreiben ist scheiße. Außerdem hab ich ’ne Wohnung und meine Eltern schwimmen in Geld. Das wird schon irgendwie hinhauen«, entgegnete Markus. Den Rest des Abends redeten sie über Babynamen und darüber, wie man ein Studium und ein Baby am besten unter einen Hut bekam. Nach vier Bier und einigen kräftigen Bekundungen, dass er sicher ein toller Vater werden würde, sah Markus nicht mehr ganz so blass aus und er und Elias gingen gemeinsam nach draußen. Vor der Tür trennten sie sich und Elias klopfte Markus zum Abschied ermutigend auf den Rücken. Elias ging leicht angeschwippst und ziemlich nachdenklich nach Hause. Er wollte später keine Kinder und heiraten wollte er auch nicht. Aber zu Markus passte das ganz gut, auch wenn das mit dem Kind vielleicht ein wenig früh kam. Im Treppenhaus angekommen blieb er einen Moment lang vor Antons Wohnungstür stehen, dann wandte er sich ab und schloss seine Wohnung auf, ließ die Tür leise ins Schloss fallen und verschwand in seinem Zimmer. Am nächsten Morgen sah alles schon ganz anders aus. Dominik begrüßte Markus mit den Worten »Hey Daddy!« und sie lachten alle drei darüber. Englisch war langweilig wie immer, allerdings war von Anton immer noch nichts zu sehen. Mathe und Bio ließ er über sich ergehen, erst beim Sportunterricht war er wieder mit Begeisterung dabei. Weniger begeistert war er am Ende der Doppelstunde, als Frau Ebers ihnen verkündete, dass sie Handball nun abgeschlossen hätten und nächste Woche mit Bodenturnen anfangen würden. Er hasste Turnen und er war auch überhaupt nicht gut darin. Ziemlich verschwitzt zog er sich in der Umkleide um, steckte sich die Stöpsel seines MP3- Players in die Ohren und machte sich auf den Weg nach Hause. Nach einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es bereits viertel nach drei war. Er wollte dringend duschen und außerdem hatte er ziemlich großen Hunger. Er schaffte drei Teller Gulasch, seine Haare waren noch nass vom Duschen, als er seinen Teller und sein Besteck in die Spülmaschine räumte und sich eine Packung Zitronen- Eistee aus dem Kühlschrank nahm. Auf dem Weg ins Zimmer hielt er inne und sah einen Moment die Haustür an. Dann stellte er kurz entschlossen den Eistee auf den Schuhschrank, öffnete die Wohnungstür und trat hinaus ins Treppenhaus, um einige Sekunden später bei den Nickischs zu klingeln. Es dauerte einige Zeit, dann wurde die Tür geöffnet. Elias blinzelte. Er starrte Anton an, der wiederum zurückstarrte, als hätte er jeden Menschen eher erwartet, als seinen Nachbarn. Sein linkes Auge war leicht geschwollen und von einem gelb-grünlichen Kranz umgeben, seine Unterlippe war dicker als gewöhnlich und Schorf hatte sich daran gebildet, was darauf schließen ließ, dass sie aufgeplatzt war. »Was machst du denn hier?« »Was ist mit dir passiert?« Sie hatten gleichzeitig gesprochen und auch wenn die Situation eigentlich nicht lustig war, musste Elias glucksen und er meinte, Antons Mundwinkel zucken zu sehen, doch gleich darauf verzog er das Gesicht, als würde es ihm Schmerzen bereiten zu lächeln. »Also… ich fang an«, sagte Elias etwas verlegen schmunzelnd und fuhr sich durch die immer noch feuchten Haare, »ich hab dich seit Tagen nicht in der Schule gesehen und du hast kein Klavier gespielt, deswegen dachte ich, ich schau mal vorbei…« Anton blinzelte erstaunt. »Du schaust vorbei, weil ich nicht in der Schule war und kein Klavier gespielt habe…«, wiederholte er langsam und bedächtig, als müsste er die Worte erneut hören, um sie ganz zu verstehen. Elias nickte und hüstelte leicht. »Aha«, machte Anton nur, dann zögerte einen Moment lang, warf einen Blick über die Schulter und trat einen Schritt zur Seite. »Möchtest du…«, begann er, aber dann brach er ab, räusperte sich verlegen und sah interessiert den Türrahmen an. Elias war sich sicher, dass er kurz überlegt hatte, ob er ihn herein bitten sollte. Er fand es irgendwie schade, dass Anton angebrochen hatte. »Also… was… ist mit dir passiert?«, erkundigte sich Elias erneut und fragte sich einen Moment lang, ob Frau Nickisch vielleicht… »Ach nichts«, sagte Anton leichthin. Elias runzelte die Stirn. »Ach nichts? Sieht aber nicht nach nichts aus«, meinte er und verschränkte die Arme. Anton zog die Brauen hoch, als wäre er versucht Elias zu sagen, dass es ihn nichts anginge. »Es ist nicht schlimm. Ich komm schon zurecht«, erwiderte er stur. Elias grummelte leise. Dann kam ihm ein Geistesblitz. »Das waren doch nicht diese halbstarken Vollidioten von neulich, oder?«, fragte er und Anton sah ihn schweigend an, doch seine rechte Augenbraue zuckte leicht. Elias nahm das als ‚Ja’. Schnaubend stemmte er die Arme in die Hüften. »Das ist ungeheuerlich! Du musst zur Vertrauenslehrerin gehen. Oder… wer ist deine Tutorin? Oder noch besser, geh gleich zur Schulleitung!« Antons Gesichtszüge entgleisten, während er Elias beobachtete. Er sah vollkommen fassungslos aus. »Warum regt dich das so auf?«, fragte er perplex. Elias spürte, wie seine Augen sich weiteten. »Warum mich das aufregt?«, wiederholte er fassungslos, »Das ist doch total asozial? Wieso machen die so was? Ich finde das ungeheuerlich, wahrscheinlich noch mit drei Kerlen auf einen losgehen, so was kann ich nicht ab!« Antons Mundwinkel zuckten erneut. Elias blinzelte erneut. »Was ist so lustig?«, fragte er verwirrt. Anton räusperte sich. »Ich hab nicht gelacht«, gab er beiläufig zurück. Elias grummelte erneut. »Deine Mundwinkel haben gezuckt. Ich hab’s genau gesehen…!« Anton musterte ihn eingehend, sagte aber zunächst nichts. Dann öffnete er den Mund und sprach bedächtig, als müsste er seine Worte sorgsam wählen. »Du hast eine ziemlich scharfe Beobachtungsgabe«, meinte er schließlich. Elias wollte gerade antworten, als Schritte auf der Treppe zu hören waren und im nächsten Moment kam Frau Nickisch die Treppe hinauf, in eines ihrer strengen Kostüme gekleidet und mit ausdrucksloser Miene. Sie nickte Elias nur zu, sah ihren Sohn kurz an und schob sich dann an ihm vorbei. »Ich hoffe, dieses blaue Auge ist bald weg. Pass das nächste Mal einfach besser auf, wenn du Treppen steigst!« Mit diesen Worten verschwand sie. Antons Miene hatte sich verfinstert und er schwieg, dann wandte er sich ab, ohne Elias noch einmal anzusehen. Elias fragte sich, wie Frau Nickisch diese billige Ausrede à la »Ich bin die Treppe runter gefallen« hatte schlucken können. »Bis dann«, murmelte sein Nachbar. Elias schob hastig den Fuß zwischen Tür und Rahmen und stemmte seine Hand gegen die Tür. Anton hob den Blick und sah ihn fragend an. »Wir gehen morgen zusammen zur Schule«, sagte er mit fester Stimme. Anton sah vollkommen fassungslos aus. »Und wir gehen zusammen nach Hause! Haben ja sowieso den gleichen Weg.« Anton öffnete den Mund, wohl um zu widersprechen, doch Elias winkte nur, zog seinen Fuß und seine Hand zurück und drehte sich um, ehe er in seiner Wohnung verschwand. Er nahm seinen Eistee vom Schuhschrank. Draußen hörte er, wie Anton leise die Wohnungstür schloss. Kapitel 10: Der lila Schirm --------------------------- Entschuldigt die lange Wartezeit! Aber der Studienanfang ist doch stressiger als gedacht. Eigentlich sollte das Kapitel noch weiter gehen, aber fünf Seiten waren genug und so kommt das nächste erst im folgenden Kapitel :) Das Kapitel ist für arod (Noch mal Herzlichen Glückwunsch zu 50%!), für Tanja (Gute Besserung, du Reibeisen ;)) und für alle, die das hier lesen und immer so lieb kommentieren! Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen, __________________________ Er konnte es kaum fassen, dass er das wirklich tat. Während seine Hand verschlafen nach dem Wecker tastete, stöhnte er unterdrückt auf und schlug die Bettdecke zurück, nur um sicherzugehen, dass er sich nicht erneut von der wohligen Wärme in den Schlaf lullen ließ. Unter großer Anstrengung schaffte er es, ein Auge zu öffnen und seinen Wecker anzuschielen, um den Knopf ausfindig zu machen, der das Mistding abstellte. Halb sieben. Er musste verrückt sein. Eine halbe Stunde Schlaf weniger, nur um mit dem Nachbarsjungen zur Schule zu gehen. Wie hatte er so etwas nur vorschlagen können? Mit einem kläglichen Ächzen hievte er sich aus dem Bett und riss das Fenster auf. Draußen war es noch dunkel. Er brauchte zehn Sekunden, um zu realisieren, dass es wie aus Eimern schüttete. »Wunderbar«, nuschelte er verschlafen und schlurfte durchs Zimmer, stolperte fast über seinen Eastpack- Rucksack und tapste durch den Flur in die Küche. Seine Eltern und seine beiden Schwestern saßen bereits am Küchentisch. Allgemeine Verwirrung machte sich auf den Gesichtern breit, als er sich auf den letzten freien Stuhl fallen ließ und sein Gesicht in den Händen verbarg. »Was machst du denn schon hier?«, wollte Katharina wissen. »Frühstücken«, murmelte er und griff mit der Hand blindlings nach hinten, fand das Toastbrot nicht und warf stattdessen eine Packung Waffeln hinunter. Seine Mutter warf ihm einen entrüsteten Blick zu, erhob sich und hob die Waffeln auf. »Ein Toast? Zwei?«, fragte sie. »Eins…« Das Leben war so grausam. Wieso konnte Schule nicht nachmittags beginnen, wenn man ausgeschlafen hatte? Er fühlte sich wie gerädert. Wieso hatte er sich noch einmal überlegt, unbedingt mit Anton zur Schule zu gehen? Ach ja… Dunkel stieg die Erinnerung an ein blaues Auge in ihm auf und er fühlte sich ein wenig wacher. Seine Mutter legte ihm das Toast auf den Teller und er griff blindlings nach einer der Marmeladen, drehte das Glas auf und belud das Toastbrot damit. »Wieso bist du schon wach?«, fragte Nathalie, die wie immer um diese Uhrzeit schon putzmunter war. »Weil ich den Wecker früher gestellt habe«, murmelte er mit dem Mund voller Toast. »Aber warum?«, wollte seine kleine Schwester wissen. Er blinzelte sie verschlafen an. »Ich geh heut mit unserem Nachbarn zusammen zur Schule«, erklärte er. Seine Mutter strahlte. »Das finde ich toll von dir, wirklich. Der arme Junge sieht so einsam aus, …« Seine Mutter verlor sich in weitschweifigen Spekulationen darüber, wieso Anton so traurig und seine Mutter immer so eisig aussah. Vielleicht lag das einfach an ihrem Job. Wenn man jeden Tag verwaiste Kinder um sich hatte, wurde man wohl empfänglich für Menschen wie Anton. Nachdem er sein Toast aufgegessen hatte, genehmigte er sich ein großes Glas Zitroneneistee und schlurfte ins Bad. Katharina rief ihm nach, er sollte nicht zu lange brauchen, denn sie wolle sich noch die Haare machen, doch er hörte nicht zu und schlug die Badezimmertür hinter sich zu. Bei einer lauwarmen Dusche erwachten langsam seine Lebensgeister und nachdem er nur mit einem Handtuch bekleidet in sein eisig kaltes Zimmer zurückkam, fing auch die letzte noch schlafende graue Gehirnzelle zu arbeiten an. Draußen regnete es immer noch in Strömen und Elias schlug sein Fenster zu, riss sich das Handtuch von den Hüften und begann sich seine Klamotten zusammen zu suchen. Als er schließlich mit gepacktem Rucksack im Flur stand und einen Blick auf die Uhr warf, konnte er es kaum fassen. Er würde pünktlich kommen. Das konnte doch nicht wahr sein! »Hier, nimm dir einen Schirm mit«, sagte seine Mutter, die durch den Flur gewuselt kam und ihm einen lila Regenschirm in die Hand drückte. Elias starrte sie an. »Mit dem Ding geh ich doch nicht raus!«, sagte er. Seine Mutter verdrehte die Augen. »Stell dich nicht so an, es gießt in Strömen! Du holst dir noch eine Erkältung!« Elias brummelte etwas Unverständliches und nahm den Lila Schirm entgegen. Diese Farbe würde ihn bis an sein Lebensende verfolgen. »Bis später!«, meinte er, winkte Nathalie zu, die durch den Flur trabte und öffnete die Tür. Und da stand er. In eine schwarze Jacke gehüllt, einen schwarzen Schal um den Hals geschlungen, in dem seine Kinnpartie verschwand. In all dem Schwarz sah er noch blasser aus als sonst. »Guten Morgen!«, sagte Elias und schaffte ein halbes Grinsen, während er die Wohnungstür hinter sich schloss. »Du siehst müde aus«, entgegnete Anton sachlich. Er hingegen sah putzmunter aus, wenn man einmal von den letzten, gelblichen Malen um sein Auge absah. »Ich bin müde! Es ist ja noch mitten in der Nacht«, sagte Elias und kratzte sich am Hinterkopf. Erneut beobachtete er, wie Antons Mundwinkel zuckten. »Bist also eher ein Langschläfer, ja?«, meinte er und machte sich den Weg die Treppe hinunter. Elias folgte ihm und benutzte den riesigen lila Schirm dabei wie einen Gehstock. »Ja, allerdings«, gab Elias zu und stöhnte entnervt, als Anton die Haustür aufdrückte und es wirklich regnete, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Elias hob den lila Schirm. Anton starrte ihn an. »Was ist das?«, fragte er und klang dabei ziemlich misstrauisch, als könnte er es nicht fassen, dass Elias einen lila Schirm mitgebracht hatte. »Ein Schirm. Meine Ma ist sehr besorgt um meine Gesundheit«, sagte Elias und grinste verlegen, dann spannte er den Schirm auf und hielt ihn über sich und Anton. Anton rührte sich nicht. »Was ist? Wollen wir nicht gehen?«, fragte Elias verwirrt. »Du hältst den Schirm zu weit zu mir«, erklärte Anton irritiert. Elias fing an zu lachen, was bei Anton einen ziemlich verwirrten Gesichtsaudruck hervorrief. »Ja, ich lass dich im Regen stehen, wo dieser pottenhässliche Schirm groß genug für zwei ist… Wofür hältst du mich eigentlich? Los, komm schon!« Und er griff Anton am Arm und zog ihn mit sich in Richtung Straße. Schweigend stapften sie durch Pfützen und nasses Laub, Anton hatte das Gesicht bis zur Nase in seinem Schal vergraben und die Hände in die Jackentaschen gesteckt. »Was hast du heute so?«, erkundigte sich Elias. Er hatte einen wunderbaren Freitag vor sich, mit nur vier Stunden… »Musik, Geschichte und Englisch«, antwortete Anton. Vielleicht hatte er auch doch noch zwei Freistunden… er hatte sich nämlich bereits vorgenommen, auch mit Anton zusammen nach Hause zu gehen. »Ich hab heute nur vier Stunden. Ich warte dann vorne am Vertretungsplan auf dich«, sagte er lächelnd. Elias bemerkte durchaus, dass Anton schon wieder irritiert aussah, als wäre er so viel Nettigkeit überhaupt nicht gewöhnt. Das war traurig und es passte zu Antons Gesichtsausdruck. »Du musst nicht warten«, murmelte Anton leise und Elias warf ihm einen Seitenblick zu. Er seufzte. »Ich möchte aber gerne. Du bist ganz schön störrisch, wenn man versucht, nett zu dir zu sein.« Antons fast schwarze Augen huschten hoch zu seinem Gesicht und einen Moment lang sahen sie sich an. »Vielleicht…«, war das Einzige, was als Antwort kam. Den Rest des kurzen Schulweges sagte Anton nichts mehr, er schien in Gedanken versunken und hob kurz die Hand, als sie am Haupteingang ankamen. Elias sah ihm einige Sekunden verdutzt nach, dann schloss er den Regenschirm und tropfte auf dem Weg durch die Eingangshalle alles voll. »Chicer Schirm!«, rief Mirko ihm grinsend als Morgengruß zu. Elias lachte und hielt seinen Mittelfinger in Mirkos Richtung. Er war pünktlich. Alles war noch voller Schüler und nicht wie sonst immer – wenn er zehn Minuten zu spät kam – vollkommen ausgestorben. Das war ungewohnt aber nicht unbedingt schlecht. Die Reaktion seiner Mitschüler war – wie er erwartet hatte – ziemlich amüsant, da sie ihn alle ungläubig anstarrten, als er pünktlich um kurz vor acht auf seinem Platz im Erdkunderaum saß. Aber er konnte sich nicht wirklich damit beschäftigen, dass er es geschafft hatte, pünktlich zu kommen. Seine Gedanken schweiften zu Anton, wegen dem er pünktlich gekommen war und wohl noch öfter pünktlich kommen würde, weil irgendwelche Vollidioten ihn verprügelt hatten. Und das nur, weil er gern Deutsch und Musik machte und still war und gute Noten hatte. Allein bei dem Gedanken daran wurde er sauer. Wie jeden Freitag verging die Zeit sehr schnell, vor allem da Herr Warnebold wie so oft am Freitag früher Schluss machte. Elias verbrachte die Pause mit Markus und Dominik. »Die haben ihn echt verkloppt? Wie scheiße ist das denn? War er schon beim Direktor?«, erkundigte sich Dominik fassungslos. Elias schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf. »Aber wenn die das noch mal versuchen, dann schleife ich ihn dahin. Solche Vollidioten. Und dann sagt man immer auf dem Gymnasium befände sich die Bildungselite…« Die Pause verging ziemlich schnell, während sie sich über unterbelichtete Schläger aufregten und Markus schließlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen erwähnte, dass er und Nuri sich schon Gedanken über Namen gemacht hatten. »Echt? Und? Was schwebt dir so vor?«, fragte Dominik ein wenig ehrfürchtig. Markus räusperte sich. Elias bemerkte, dass seine Augen einen begeisterten Glanz bekommen hatten. »Wir wollen gern einen Doppelnamen. Ein Teil deutsch, einer afrikanisch, wisst ihr? Sie will ihre Mutter mal nach einer Liste von afrikanischen Namen fragen, wenn die sich wieder einbekommen hat. Ist doch ein wenig… ähm… geschockt davon, dass ihre Tochter schwanger ist«, sagte er und lachte ein wenig nervös. »Das ist wohl normal. Wie war es eigentlich bei deinen Eltern?«, wollte Elias wissen. Markus’ Räuspern ließ ihn erahnen, dass er es ihnen noch nicht gesagt hatte, allerdings wurde seinem Freund die Antwort erspart, da es klingelte. Sie verabschiedeten sich voneinander und Elias ließ sich auf eine Bank in der Eingangshalle sinken, seufzte zufrieden, da er direkt über einer Heizung saß und lehnte den Kopf an die kalte Fensterscheibe hinter sich. Dunkel fragte er sich, ob er auch so früh aufstehen würde, wenn er erst zur dritten Stunde und Anton zur ersten hatte. Vielleicht sollte er Anton vorschlagen, Kampfsport anzufangen oder mit Pfefferspray herum zu laufen. Im nächsten Augenblick kam er sich vor wie eine überbesorgte Mutter. Wenn Anton wüsste, dass er sich solche Gedanken um ihn machte, dann würde er ihn garantiert mehr als merkwürdig finden. Vermutlich würde er nie wieder mit ihm reden. Auch wenn er das natürlich jetzt schon kaum tat. Er vertrieb sich die Zeit mit Gedanken an Markus’ Baby, Anton, Christine und Alex, Anton, sein Abi, Anton, Musik, Anton und mit zwei heißen Kakaos zwischendurch. Um kurz vor eins kam Eva durch die Halle gerannt, winkte ihm strahlend zu und verschwand im Verwaltungstrakt. Elias fragte sich dunkel, was genau sie eigentlich an ihm fand. Er teilte keine ihrer Interessen, wenn man einmal von Parties absah, er war nie übermäßig nett zu ihr – genau genommen war er zu fast jedem Menschen nett – und sie redeten so gut wie nie miteinander. Frauen waren manchmal wirklich seltsam. Als Eva zurück kehrte, kam sie – wie nicht anders erwartet – zu ihm hinüber. »Hey, was machst du denn hier?«, fragte sie strahlend, offenbar fest entschlossen die Party zu ignorieren, auf der er mit Christine geknutscht und sie deswegen geheult hatte. »Ich warte auf jemanden«, sagte er und zu seinem Bedauern ließ sich Eva neben ihm nieder. Er hatte eigentlich immer ein schlechtes Gewissen, wenn er mit ihr redete. Dominik wäre sicher deprimiert gewesen, wenn er gesehen hätte, wie Eva seinen besten Freund angestrahlt hatte. »Auf wen denn?«, wollte sie wissen und warf sich mit einer raschen Bewegung die Korkenzieherlocken in den Nacken. Elias fragte sich, ob das so eine Mädchen- Show war, die sie abzog, um ihn irgendwie zu beeindrucken. Er mochte gekünstelte Mädchen nicht. »Auf meinen neuen Nachbarn. Wir gehen jetzt immer zusammen nach Hause«, sagte er beiläufig. Er würde Eva sicherlich nicht erzählen, weswegen er wirklich mit Anton nach Hause ging. »Ach so. Und wie läuft’s sonst so bei dir?« Er hasste inhaltslose Fragen. Meistens hasste er auch Smalltalk. Und er hasste es vor allen Dingen, dass Eva einfach nicht begriff, dass er kein Interesse an ihr hatte und das würde sich auch nicht ändern, wenn sie weiterhin kokett an einer ihrer Locken herumspielte. »Ganz gut. Ich treff’ mich heute Abend mit meiner Freundin. Wir gehen ins Kino«, sagte er. Zwar verletzte er Mädchen nur ungern, aber wenn Eva eine indirekte Abfuhr nicht verstand, dann musste er ein wenig deutlicher werden. Wieso konnte sie sich nicht einfach unsterblich in Dominik verlieben? Evas Gesichtszüge entgleisten. Sie räusperte sich und hörte auf der Stelle auf, an ihrer Locke herum zu spielen. »Ach, du bist mal wieder vergeben«, scherzte sie und grinste gezwungen, »wer ist denn die Glückliche?« Elias fragte sich, ob sie allen Ernstes erwartete, dass er ihr Getue nicht durchschaute. »Christine. Du hast sie vielleicht auf Rikes Party gesehen. Die Schwarzhaarige mit dem Schmollmund.« Er wusste, dass Eva nicht nachdenken musste, bis sie wusste, wen er meinte. Immerhin hatte sie sich wegen genau diesem Mädchen auf der Party die Kante gegeben. Trotzdem tat sie so, als wüsste sie nicht, wen er meinte. »Sagt mir nichts«, meinte sie. Elias fragte sich, wieso Mädchen manchmal so bescheuert waren. Aber zum Glück klingelte es in diesem Augenblick und Eva schreckte auf. »Ich muss dann mal los, bis Montag!« Und sie hastete davon. Elias sah ihr nach und schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich, ging hinüber zum Vertretungsplan und warf einen kurzen Blick darauf. Doch bisher gab es keine Änderungen für Montag. Es dauerte nicht lange, da tauchte Anton auf. Er schien trotz Elias Ankündigung überrascht, ihn zu sehen und kam ein wenig unsicher auf ihn zugetrottet. »Es regnet immer noch«, war seine Begrüßung. Elias grinste. »Dafür haben wir ja diesen supergeilen Schirm«, meinte er nur und wandte sich zum Gehen. »Hast du hier echt zwei Stunden gewartet?«, wollte Anton wissen und sie gingen zusammen in Richtung Glastür. Elias spannte den Schirm auf, bevor sie hinaus in den Regen traten, der immer noch nicht nachgelassen hatte. Dicke Tropfen perlten von der Glastür ab, versetzten die Pfützen auf dem Boden in Aufruhr und trommelten auf den lila Schirm, den Elias nun wieder über sie beide hielt. »Ja, hab ich«, antwortete Elias schmunzelnd und beobachtete, wie seine Chucks sich schon nach wenigen Metern dunkel färbten. Er spürte die Nässe an seinen Socken und verzog das Gesicht. Zu Hause würde er erst einmal heiß duschen und sich dann den Rest Gulasch von gestern aufwärmen. Doch der Plan scheiterte. Nachdem sie den ganzen Heimweg schweigend zurückgelegt hatten, klappte Elias den Schirm vor der Haustür zu und schüttelte ihn ein wenig. Seine Chucks waren durchweicht, ebenso fast die Hälfte seines Hosenbeins. Anton kramte in seiner Jackentasche herum, während Elias seinen Schlüssel aus der Hosentasche zog. Er schloss die Tür auf, trat ins Treppenhaus und wartete darauf, dass Anton ihm folgte. Aber Anton kam nicht, also drehte sich Elias verwirrt um. Sein Nachbar durchforstete immer noch sämtliche Taschen seiner Kleidung. »Ich hab meinen Schlüssel nicht dabei«, sagte er leise. Elias blinzelte ein wenig verwirrt, dann schaltete sein Gehirn und er presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen. »Ja, dann sollte ich dich am besten hier draußen stehen lassen«, sagte er beiläufig. Anton hob die Brauen. »Komm schon rein, du kannst einfach mit zu mir kommen, du Nuss«, sagte Elias, wandte sich um und stapfte die Treppe in den dritten Stock hinauf, wobei eine Menge Wasser aus dem Schirm auf den gefliesten Boden tropfte. »Wieso nennst du mich Nuss?«, fragte Anton perplex, während er sich seine nassen, schwarzen Turnschuhe auszog und sich seines Schals und seiner Jacke entledigte. »Weil du eine Nuss bist«, gab Elias schlicht zurück. Wie konnte Anton denken, dass er ihn draußen stehen lassen würde, nur weil er seinen Schlüssel vergessen hatte? Hatte Elias nicht gerade zwei Stunden auf ihn gewartet und war er nicht heute Morgen extra früher aufgestanden? »Du bist ziemlich seltsam, weißt du?«, meinte Anton nachdenklich und stand ein wenig verloren im Flur herum. Elias musste lachen. »Ich nehme das als Kompliment«, antwortete er. Im nächsten Moment erinnerte er sich daran, dass sein Zimmer aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Anton war sicherlich ein sehr ordentlicher Mensch. Aber jetzt konnte er es auch nicht mehr ändern. Er zog seine Schuhe ausnahmsweise im Flur aus. »Tut mir Leid, mein Zimmer ist nicht sonderlich aufgeräumt. Brich dir nicht den Hals«, warnte er Anton vor, der ihm durch den Flur folgte. Elias stieß seine Zimmertür auf und trat ein. Anton blieb im Türrahmen stehen und betrachtete mit flüchtig huschenden Augen das Chaos, das sich ihm eröffnete. Langsam kam er ganz ins Zimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich. Seine Augen streiften die Star Wars Figuren, die Pokémon- Sticker am Kleiderschrank, das kreative Papierchaos auf dem Boden, das zerwühlte Bett und die Poster an den Wänden. Kurz blieben die fast schwarzen Iriden an einem der Frauenposter hängen, dann wandten sie sich ab und wanderten zu Elias zurück, der Anton ein wenig verlegen ansah. »Ziemlich voll und klein und unaufgeräumt«, meinte er entschuldigend. Antons Mundwinkel zuckten. »Es passt zu dir«, sagte sein Nachbar schlicht und Elias blinzelte erstaunt. »Wieso das denn?«, wollte er wissen und beobachtete Anton, der sich vorsichtig auf Elias’ ungemachtem Bett niederließ und sich erneut umsah. »Du lädst mich zu Spaziergängen im Regen unter einem lila Schirm ein. Das Zimmer passt perfekt«, antwortete Anton so sachlich, als hätte er gerade eine mathematische Gleichung erfolgreich gelöst. Elias verstand nur Bahnhof, aber irgendwie fand er die Erklärung nett. Er grinste Anton an, warf sich neben ihm aufs Bett und beschloss, dass es irgendwie cool war, mit seinem Nachbarn unter einem lila Schirm im Regen spazieren zu gehen. Kapitel 11: Das Mondschaf ------------------------- Für Tanja, die sehr penetrant alle halbe Stunde gefragt hat, wann das Kapitel ENDLICH fertig ist. Viel Spaß beim Lesen :) Liebe Grüße, _____________________ Anton war so etwas wie ein Eisberg. Wenn man ihn nur stetig mit einem Feuerzeug bearbeitete, dann schmolz er langsam aber sicher. Zugegebenermaßen hatte Elias das Gefühl, dass ein Waldbrand sehr viel effektiver wäre, als ein Feuerzeug, allerdings wusste er nicht ganz, womit er bei Anton einen Waldbrand entfachen könnte. Das Einzige, was ihm einfiel, war Musik. Und hier saßen sie nun, auf Elias’ zerwühltem Bett und Antons Augen glitten immer wieder aufmerksam über jeden Winken in dem kreativen Chaos. Immer wieder blieben die fast schwarzen Iriden an den Notenblättern hängen. »Komponierst du?«, erkundigte sich Anton und er schaffte es nicht ganz, einen interessierten Ton aus seiner Stimme zu verbannen. Elias grinste verlegen und fuhr sich durchs blonde Haar. »Ja, schon, aber ich bin mir nicht so sicher, ob die Sachen was taugen. Außer meiner besten Freundin kennt sie auch keiner«, gab er zu und Anton wiegte leicht den Kopf hin und her. Kurz öffnete er den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann schloss er ihn wieder. Elias wünschte sich, Gedanken lesen zu können. »Würdest du«, begann Anton schließlich in seiner bedächtigen Art, die immer klang, als würde er jedes Wort ganz genau abwägen, »mir etwas von deinen eigenen Sachen vorspielen?« Elias starrte ihn einige Sekunden lang sprachlos an. Er räusperte sich und wandte den Blick auf seine am Boden liegende Akustikgitarre. Sollte er…? Andererseits war Musik vielleicht der Waldbrand für Antons Eisberg. »Na ok. Aber ich will eine ehrliche Meinung, ja?«, meinte er und stand auf, griff nach seiner Gitarre und ließ sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Die Gitarre lag auf seinem Knie und er schlug kurz probehalber die Saiten an, während er sich überlegte, welches seiner eigenen Lieder er spielen könnte. Schließlich entschied er sich für ein eher langsames. Wieso auch immer: Wenn er an Anton dachte, musste er immer an traurige Lieder denken. Also spielte er. Und weil seine Lieder ohne Texte irgendwie nur halbe Lieder waren, sang er sogar. Immerhin hatte er Anton schon durch die Wand angesungen, was machte es da schon, wenn er jetzt auch hier sang. Er war trotzdem ein wenig hibbelig. Zugegebenermaßen interessierte es ihn brennend, was Anton zu seinem Lied sagte. Er wagte einen Blick hinüber zu seinem Nachbarn. Da saß er, die schwarzen Haare in der Stirn, die Knie angezogen und die Augen geschlossen, während er Elias’ zuhörte. Der Anblick hatte etwas ungewöhnlich Friedliches für dieses Gesicht, das sonst immer verschlossen, unnahbar und traurig wirkte. Elias musste ungewollt ein wenig lächeln und Anton schien die Veränderung in seiner Tonlage gehört zu haben, denn er öffnete die Augen, bemerkte, dass Elias ihn beobachtete und wurde leicht rot im Gesicht. Anton schloss seine Augen wieder, als wäre er sicher, dass Elias ihn dann nicht mehr sehen konnte. Elias schmunzelte leicht, während seine Finger über die Saiten glitten. Als sein Lied schließlich endete, verstummte er, zog seine Gitarre ein Stück an sich und sah Anton gespannt an, der seine dunklen Augen erneut öffnete und ihn ansah. »Schreibst du oft traurige Lieder?«, erkundigte sich Anton. Elias schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nicht so gut mit traurigen Sachen«, gab er zu. Anton nickte leicht. »Hab ich gemerkt. Du wirkst allgemein eher weniger traurig«, sagte er langsam. »Du dafür umso mehr«, platzte es aus Elias heraus, bevor er genau wusste, was er da sagte. Anton schwieg einen Moment lang. »Vielleicht ist das so, ja«, gab Anton zurück und wandte den Blick von Elias ab, um aus dem Fenster zu schauen. Draußen regnete es immer noch. Elias räusperte sich ein wenig verlegen. Dieser Ausbruch hatte nun wirklich nicht sein müssen. Jetzt, wo Anton den Regen draußen musterte, sah er gleich noch trauriger aus als ohnehin schon. »Hast du Hunger?«, erkundigte er sich schließlich und Anton drehte den Kopf wieder zu ihm um. Es sah so aus, als konnte er sich nicht ganz entscheiden, was er antworten wollte. Elias vermutete, dass er Hunger hatte, aber dass es ihm eventuell peinlich oder unangenehm war, das zu sagen. Also stand Elias auf, legte seine heilige Gitarre behutsam beiseite und winkte mit der Hand, um Anton zu bedeuten, dass er mitkommen sollte. »Ich schau mal, was wir noch da haben«, sagte er und Anton erhob sich zögerlich und folgte Elias in die Küche. »Ist außer dir niemand zu Hause?«, fragte Anton und sah sich in der Küche um. Elias lugte in die Töpfe, die auf dem Herd standen. »Mein Vater kommt erst um halb fünf, Nathalie geht freitags nach der Schule zum Fußball, wo Katharina steckt, weiß ich nicht und meine Ma kommt in ungefähr einer Stunde«, erklärte Elias und entdeckte einen winzigen Rest Gulasch und schätzungsweise zwanzig Nudeln von gestern. Er hätte nicht so viel essen sollen… Anton beobachtete ihn gespannt, während Elias zum Kühlschrank pilgerte, ihn öffnete, wieder schloss und zu einem der Küchenschränke hinüber ging, um dort ebenfalls hinein zu spähen. Doch es herrschte gähnende Leere in der Küche. Er seufzte resigniert. »Lass uns was bestellen«, meinte er schließlich, kramte hinter dem Radio nach einigen Flyern und warf sich neben Anton auf einen der Küchenstühle. »Du musst nicht extra wegen mir was bestellen«, sagte Anton abwehrend und sah peinlich berührt aus. »Keine Widerrede. Ich hab einen Mordshunger. Magst du Mexikanisch?«, erkundigte er sich. Anton blinzelte und nahm zögerlich den Flyer entgegen, den Elias ihm entgegenhielt. »Ich hab noch nie Mexikanisch gegessen«, sagte Anton verwirrt. Elias wühlte sich durch den Berg Flyer. »Pizza und Pasta, Chinesisch, Türkisch, Croque, Thailändisch…« Während er Anton aufzählte, was er hatte, warf er ihm ein Werbeprospekt nach dem anderen vor die Nase und Anton schien ein wenig überfordert zu sein. »Was ist dein Lieblingsessen?«, wollte Elias schließlich wissen. »Spagetti mit Lachs und Blattspinat«, sagte Anton perplex und starrte Elias an, als wäre er ein Mondschaf. Er musste lachen und klopfte Anton auf die Schulter, zog den Pizza und Pasta Flyer unter den anderen hervor und blätterte darin. »Hier gibt es was mit Fisch… und hier ist was mit Spinatsoße… beides zusammen gibt es leider nicht«, murmelte er, vertieft in die bunten Seiten und als er wieder aufsah, bemerkte er, dass Anton immer noch vollkommen irritiert aussah. »Was schaust du denn so?«, wollte Elias wissen. Anton war ein komischer Kauz. Elias hätte zu gerne gewusst, was unter den schwarzen, glänzenden Haaren vor sich ging, aber Antons Blick war undurchschaubar. »Du gibst dir bei allem immer so viel Mühe. Das ist… ungewöhnlich«, erklärte er. Elias blinzelte. »Hä? Mühe? Ich will doch nur was zu essen für dich finden, was du magst! Du bist vielleicht komisch drauf, hier, da sind die Spinatnudeln«, sagte Elias unbekümmert, wedelte mit dem Flyer unter Antons Nase herum und deutete auf Gericht Nr. 34a. Anton nahm es genauer unter die Lupe und nickte dann leicht. »Wunderbar!« Ja, Anton war wirklich ein merkwürdiger Mensch. Aber auf eine seltsam verquerte Weise fand Elias diese Merkwürdigkeit sympathisch und interessant. Anton war anders als alle Leute in seinem Alter, die er kannte. Er war wie ein kniffliges Rätsel, oder eine schwer zu entschlüsselnde Schrift. Während sie auf ihr Essen warteten – Anton auf seine Spinatnudeln und Elias auf eine große Pizza Rustica – blätterte Anton mit beinahe zärtlichen Fingern durch Elias’ selbst komponierte Lieder, las Songtexte und zupfte hin und wieder an einer der Gitarrensaiten. Elias beobachtete ihn dabei. Normalerweise war er jemand, der nur schlecht still sitzen konnte, aber Anton zu beobachten wurde nicht langweilig. Jede Gesichtsregung war interessant. Manchmal dachte Elias, dass Anton jeden Moment lächeln würde, doch dann war es wieder nur ein leichtes Zucken der Mundwinkel, so wie Elias es schon ab und an bei ihm beobachtet hatte. Das Essen kam, Elias zahlte unter Antons Protesten und sie setzten sich in die Küche und aßen ihr italienisches Essen – Elias aus einem Pappkarton und Anton aus einer Styroporschale – und Elias quetschte Anton über Harry Potter aus. »Hast du Lieblingscharaktere?«, erkundigte er sich mit vollem Mund bei Anton, der ziemlich elegant dabei aussah, wie er seine Nudeln mithilfe der Gabel auf seinen Löffel drehte. Elias kam sich beinahe vor wie ein Barbar, wie er seine Pizza hier mit den Fingern aß. »Schon…«, sagte Anton, nachdem er geschluckt hatte, »ich mag… Regulus. Und Molly Weasley.« Seine Wangen färbten sich leicht rötlich und Elias grinste. »Molly ist wie meine Ma«, meinte er und glaubte sich daran zu erinnern, dass er das schon einmal gesagt hatte. Er schob sich ein besonders großes Stück Pizza in den Mund und fragte sich dunkel, wieso Anton wohl Regulus mochte. Eine Weile lang aßen sie schweigend weiter, dann… »Und du?«, nuschelte Anton kaum hörbar. »Hm?«, mampfte Elias und sah auf. Anton starrte seine Nudeln an, als er seine Frage wiederholte. »Welche… hast du auch… Lieblingscharaktere?« Es schien, als würde es Anton alle Überwindung kosten, Elias ebenfalls etwas zu fragen. Allgemein schien ihm das Thema Harry Potter irgendwie peinlich zu sein. »Klar«, entgegnete Elias schmunzelnd und schnappte sich einen heruntergefallenen Pilz vom Boden der Pappschachtel. Der Pilz verschwand in seinem Mund, ehe er antwortete. »Ich find Hagrid cool. Und Luna. Aber eigentlich mag ich so viele Charaktere, ich finde auch Hermine klasse und die ganze Weasley Familie…« Anton sah ihn über den Teller Nudeln hinweg an. Elias fühlte sich langsam aber sicher tatsächlich wie ein Mondschaf. »Ist dir Harry Potter eigentlich irgendwie peinlich?«, wollte er schließlich wissen. Anton legte den Kopf schief und räusperte sich. »Na ja. Viele Leute in meinem Alter finden das… wie sagt man? Uncool…«, entgegnete er. Elias musste glucksen, weil Anton das Wort ‚uncool’ wunderbar sarkastisch betonte. »Mir ist es immer Wurst, was andere Leute von den Sachen halten, die ich toll finde. Meine Freunde mögen Pokémon auch nicht und ich schau mir jede Folge mit meiner kleinen Schwester an. Freunde akzeptieren es, die Meinung anderer ist doch vollkommen egal«, antwortete er. Anton begann erneut, Nudeln auf seinen Löffel zu drehen. »Vielleicht ist es egal, wenn man so ist wie du. Aber wenn man so ist wie ich, dann ist es nicht egal. Dann bekommt man für so eine Meinungsäußerung vielleicht schon mal ein blaues Auge«, murmelte Anton. Elias schluckte leicht und starrte auf seine Pizza hinunter. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Anton hatte natürlich Recht. Nicht jedem fiel es so leicht wie Elias, von anderen akzeptiert zu werden, oder nichts darauf zu geben, was andere Menschen dachten. Sie sprachen nicht mehr, bis sie aufgegessen hatten und Elias erhob sich, um Styropor und Pappe wegzuwerfen. Er hörte den Schlüssel im Schloss und seine Mutter erschien ihm Flur. »Hallo Schatz«, sagte sie ein wenig außer Atem vom Treppensteigen und wuschelte ihm durch die Haare. Sie schälte sich aus ihrem Mantel, zog ihre Schuhe aus und stellte ihre Handtasche auf die Kommode im Flur. »Hast du was gegessen?« Anton erschien ihm Flur und Elias sah, wie seine Mutter begeistert strahlte, angesichts der Tatsache, dass der unglückliche Nachbarsjunge nicht allein in seiner Wohnung hockte. »Hallo mein Junge«, sagte sie freundlich und reichte ihm herzlich die Hand. Elias hielt den Pizzakarton hoch. Seine Mutter lachte. »Ich hab mir schon gedacht, dass du zu faul zum Kochen bist.« Sie nahm Elias den Pappkarton und die Styroporschale ab und wuselte leise summend durch den Flur, schlüpfte in ihre Hausschuhe und öffnete die Tür, um den Müll nach unten zu bringen. »Ma, ich kann das doch selber!«, rief Elias ihr lachend nach. »Nein, nein. Kümmere du dich mal um deinen Besuch«, rief sie die Treppe hinauf und Elias schüttelte schmunzelnd den Kopf, ehe er sich wieder Anton zuwandte. Der starrte die offene Tür an, als hätte er einen Geist gesehen. »Meine Ma verwöhnt uns ein bisschen zu sehr«, sagte Elias schmunzelnd und fuhr sich einmal mehr durch die blonden Haare. Anton nickte leicht. »Freu dich drüber«, sagte er und schlenderte zurück zu Elias’ Zimmertür, öffnete sie vorsichtig, als wüsste er nicht, ob er eintreten durfte und sah sich nach Elias um, der ihm folgte. »Möchtest du eigentlich was trinken?«, erkundigte sich Elias, dem gerade eingefallen war, dass er Anton noch gar nichts angeboten hatte. Anton sah auf und blinzelte. »Apfelsaft?«, gab er fragend zurück, als wüsste er nicht, ob Elias wusste, was Apfelsaft war. Er musste unwillkürlich grinsen. »Ich schau mal, ob wir was da haben«, gab er zurück, eilte zurück in die Küche, gerade als seine Mutter wieder die Wohnung betrat und die Wohnungstür schloss. »Wo ist Kathi?«, fragte Elias mit dem Kopf in der Abstellkammer, wo er nach Apfelsaft suchte. Er fand ein Tetrapack, schlug die Tür der Speisekammer zu und kramte in einem der Küchenschränke nach einem Glas. »Bei ihrem Freund, soweit ist weiß«, sagte seine Mutter beiläufig. Elias ließ beinahe das Glas fallen. »Freund? Seit wann hat sie einen Freund?«, fragte er vollkommen perplex und starrte seine Mutter an. Einen Freund… wieso wusste er nichts davon? Beinahe schüttete er Apfelsaft auf den Fußboden, als er die goldgelbe Flüssigkeit in das Glas goss. »Seit zwei Wochen erst«, sagte seine Mutter und öffnete die Gefriertruhe, »zieh sie ja nicht damit auf!« Elias schmunzelte. »Ich werd’s versuchen«, sagte er und verschwand mit dem Glas Apfelsaft zurück in seinem Zimmer. Er reichte Anton das Glas, der es behutsam entgegennahm und sich einen Schluck genehmigte. »Danke«, sagte Anton und beobachtete Elias dabei, wie er eines der Zitroneneistee- Tetrapacks von seinem Schreibtisch nahm. Er sammelte diese Packungen hier. Vier Stück standen überall in seinem Zimmer verteilt, er war einfach zu faul, die leeren in die Küche zurück zu bringen. Eine Weile lang schwiegen sie und Elias bemerkte, dass Anton sich an seinem Zimmer offenbar gar nicht satt sehen konnte. »Ist Nirvana deine Lieblingsband?«, erkundigte sich Anton bei ihm und seine Augen hingen an Kurt Cobain. »Ja, auch. Ich steh auch auf Offspring und Farin Urlaub. Was hörst du so?«, erkundigte er sich. Musik war wohl wirklich Antons Lieblingsthema. Aber das machte Elias nichts aus, denn es gehörte eindeutig auch zu seinen Lieblingsthemen. »Meistens Klassik«, gestand Anton und er sah Elias prüfend an, als würde er darauf warten, dass er anfing zu lachen. Elias nickte anerkennend. »Kenn ich mich leider gar nicht mit aus, vielleicht kannst du mir ja beizeiten mal was zeigen«, sagte er. Anton starrte ihn schon wieder an. Elias dachte einen Moment daran, dass Anton ihn sicherlich bald Mondschaf nennen würde. »Du findest Klassik nicht peinlich?«, fragte Anton fast ein wenig argwöhnisch. Elias runzelte die Stirn. »Wieso? Es gibt viele tolle Stücke, ich kenn eben leider nur diese Standard- Dinger wie ‚Für Elise’«, antwortete er. Anton schien darüber nachzudenken und einmal mehr sah es fast so aus, als würde er jeden Moment lächeln. »Ansonsten höre ich gern Three Doors Down. Und Shinedown…« Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, CDs anzuhören und Lieder zu bewerten und Songtexte zuinterpretieren. Elias stellte fest, dass es wirklich einfach war, mit Anton zu reden, wenn man ihn nur erst einmal ein wenig angetaut hatte. Und wenn man ihn mit einem Thema lockte, das ihn interessierte. Antons Wangen glühten sogar ein wenig, während er mit Elias einen von gefühlten hundert Songtexten diskutierte. Um halb fünf fiel sein Blick auf den Wecker auf Elias’ Nachtschrank. Seine zufriedene Miene fiel in sich zusammen. »Ich werd mal wieder rüber gehen«, sagte er fast hastig und erhob sich. Er und Elias hatten auf dem Boden vor Elias’ Musikanlage gesessen. »Oh«, gab Elias zurück und spürte, dass er ein wenig enttäuscht war, »ok.« Er brachte Anton bis zur Haustür und fragte sich, ob sie das vielleicht bald mal wiederholen würden. Einen Moment lang sahen, sie sich an, dann… »Hast du nicht Lust morgen Nachmittag wieder rüber zu kommen?«, platzte es aus ihm heraus und Antons Augen weiteten sich leicht verwundert. Er räusperte sich. »Ja… wieso nicht…«, gab er zurück und schon wieder. Schon wieder sah er Elias an wie das Mondschaf, als wäre es auf eine schreckliche Art und Weise ungewöhnlich, dass ein Mensch gerne Zeit mit ihm verbringen wollte. Kapitel 12: Ein Lächeln ----------------------- Hallo! Diesmal hat das Kapitel ja lang auf sich warten lassen >< Ich hoffe, ihr verzeiht mir! Es gibt eine große Portion Alex und im Anschluss natürlich auch wieder Anton ;) Ich hoffe, dass es euch gefällt. Ganz ganz langsam geht es ja voran mit dem kleinen Eisblock ;) Danke an dieser Stelle an alle Kommentatoren und auch an alle Favoritennehmer :) Viel Spaß beim Lesen, __________________ »ER HAT MICH GEKÜSST!« Elias hielt den Hörer weit von seinem Ohr weg und blinzelte zunächst ein wenig verwirrt, bis ihm einfiel, wen seine beste Freundin wohl mit ‚Er’ meinte und was ihre Worte eigentlich genau bedeuteten. Sein Gehirn schaltete ein wenig langsamer als gewöhnlich, denn es war früh am Morgen und zu dieser Tageszeit war er nie sonderlich aufnahmefähig. Aber scheinbar war heute der Tag der Frühaufsteher, denn er hatte vor einer halben Stunde bereits eine Sms von Markus bekommen, dass er es seinen Eltern gebeichtet hätte und die sich von dem Schock langsam erholten und dass er und Nuri sich jetzt bald an die Liste der afrikanischen Namen machen wollten, um einen davon auszuwählen. Nach dieser Sms war Elias wieder eingeschlafen, aber kaum fünfundzwanzig Minuten später hatte ihn ein dröhnendes ‚She’s so lovely’ erneut aus dem Schlaf gerissen und Alex angekündigt, die offensichtlich vollkommen überdreht war. »Wirklich?«, nuschelte er verschlafen, blinzelte in Richtung Fenster und stellte fest, dass es immer noch nicht ganz hell draußen war. Schrecklich. »Ja, natürlich! Also… Oh Gott, ich hab die Nacht kaum geschlafen, ich bin immer noch total aufgekratzt, wir waren nämlich gestern essen und danach spazieren und…« »Stop!«, sagte er laut in Richtung Handy und rieb sich mit der freien Hand die Augen, »Lass mich doch erstmal wach werden…« Alex schnaubte ungeduldig und Elias konnte vor seinem geistigen – ziemlich verschlafenen Auge – sehen, wie sie mit den Fingerspitzen auf ihrem Schreibtisch herumtippte. Er setzte sich auf und gähnte herzhaft, dann schlurfte er hinüber und ließ die feuchte, verregnete Oktoberluft ins Zimmer. »Kommst du eigentlich zu Markus’ Geburtstag her?«, fragte er verpennt und fröstelte leicht am Fenster, da er nur ein ausgeleiertes T-Shirt und eine karierte Boxershorts trug. »Das ist doch völlig nebensächlich!«, zischelte sie und Elias’ langsam erwachendes Gehirn fragte sich, ob Tamara wohl noch schlief. Schließlich war es Samstag und viertel nach acht war eine sehr unchristliche Zeit, um zu telefonieren… »Ok, dann erzähl mir erst von… er hat dich geküsst?« Die Erkenntnis grub sich in seine Gehirnzellen und plötzlich war er sehr wach. Alex stöhnte entnervt. »Du hast eindeutig ein Problem, mein Bester. Du solltest vielleicht mal daran arbeiten, morgens etwas aufnahmefähiger zu sein! Ja, er hat mich geküsst und wenn Tamara das hört, dann muss ich mir wieder stundenlang anhören, dass ich im Schlund der Hölle schmoren muss, wenn ich irgendwelche unsittlichen Dinge mit ihm anstelle«, flüsterte sie hektisch. Elias stieg über seine Gitarre hinweg zurück zu seinem Bett, ließ sich darauf nieder und deckte seine Beine zu, während sich sein Zimmer mit morgendlicher Herbstluft füllte. Alex schien etwas verstimmt, weil er ihre Neuigkeiten nicht sofort hatte verarbeiten können, allerdings verzieh sie ihm solche Dinge meist relativ schnell, vor allem jetzt, da sie offensichtlich darauf brannte, ihm alles haarklein zu erzählen. »Wir waren Pizza essen in der Stadt und es war total toll und…« Ein ihm schon so liebenswert bekannter alex’scher Redeschwall folgte, in dem sie ihm jedes winzige Detail ihres mittlerweile dritten Dates erzählte und schließlich bei dem Teil angelangte, der Elias mit Abstand am meisten interessierte, immerhin ging es hier um den offiziellen ersten Kuss seiner besten Freundin. Der Kuss mit ihm konnte keinesfalls als offiziell gewertet werden, was sie ihm ebenfalls verkündete und er hörte deutlich, wie ihre Stimme vor Aufregung vibrierte. »Und dann hat er mich noch bis vorn ans Tor gebracht und natürlich war es schon dunkel und ich war sowieso schon die ganze Zeit total hibbelig und ich hatte schon überlegt, wie ich mich verabschieden soll, weil wir uns bisher immer umarmt hatten, aber irgendwie wollte ich ihn schon gern küssen, nur hab ich mich eben nicht getraut, dann hatte ich mich eigentlich für einen Kuss auf die Wange entschieden, aber als ich mich dann schon auf Zehenspitzen gestellt hab, von wegen Augen zu und durch, da hat er plötzlich gemeint, dass er jetzt einfach nicht anders kann und dann hatte er mich auch schon im Arm und hat mich geküsst und ich hatte das Gefühl, dass ich gleich umfalle und hach Elli, er kann so toll küssen – nichts gegen deine Kusskünste jetzt – aber der Kuss war noch viel besser als unserer und mir ist ganz anders geworden und ich bin fast explodiert vor lauter Herzklopfen und ich glaube, ich sah ein bisschen besoffen aus, als er den Kuss unterbrochen hat und er hat so lieb gelächelt und meinte dann, dass er schon die ganze Zeit wissen wollte, wie es wohl wäre, mich zu küssen und dann standen wir noch ewig lang da draußen und haben uns immer wieder geküsst und ich konnte gar nicht genug kriegen… ich glaube ich bin süchtig. Jedenfalls sehe ich ihn am Dienstag wieder und ich bin jetzt einfach total unsicher, ob das heißt, dass wir jetzt zusammen sind oder eben nicht, weil wenn wir zusammen sind, dann habe ich schon meinen ersten Freund, ohne es zu wissen und wenn nicht, dann weiß ich aber auch nicht, wie ich ihm sagen soll, dass ich gerne mit ihm zusammen wäre…« Elias’ Gehirn fühlte sich ein wenig schwurbelig an. »Frag ihn doch einfach?«, schlug er zweifelnd vor, obwohl er sich ziemlich sicher war, die Antwort schon zu kennen. »Bist du irre? Ich kann doch nicht einfach hingehen und fragen: ‚Hey, Alex, sag mal, sind wir eigentlich zusammen oder was?’. Das ist doch total bescheuert, am Ende hält er mich noch für minderbemittelt. Wenn wir schon zusammen sind, dann ist der sechzehnte Oktober unser Tag, so was muss man doch wissen… ach ich weiß auch nicht, was ich machen soll…« Elias bemühte sich die folgende Viertelstunde so gut es ging, Alex Mut zu machen und ihr zu versichern, dass sie eine tolle Frau war, die man als Junge einfach toll finden musste und dass Alex sicher mehr als dankbar und glücklich sein musste, weil sie sich für ihn entschieden hatte. Als sie das Thema schließlich über eine Stunde erläutert und durchgekaut hatten, schien Alex ein wenig ruhiger geworden zu sein. »Wie geht’s deinen Jungs?«, erkundigte sie sich. Elias gähnte. »Markus und Nuri bekommen ein Baby«, sagte er unbedacht. »WAS? UND DAS SAGST DU MIR JETZT ERST? Oh Gott, wie ist das denn… ok, ich weiß, wie es passiert ist, aber, Himmel Herrgott! Ein Kind in dem Alter? Wollen sie es behalten? Was sagen ihre Eltern dazu? Wie lange wissen sie es denn schon? Und überhaupt, oh Gott, Elli, EIN BABY!« Eine weitere viertel Stunde verging, in der Elias’ Magen deutlich zu knurren begann und nach Frühstück verlangte, doch Alex schien fest entschlossen zu sein, dieses Telefonat noch etwas länger fortzuführen. »Ich treff’ mich heute mit Anton, er war gestern nach der Schule mit bei mir und wir haben Musik durchgehört und über Songtexte geredet und so. Er ist eigentlich echt nett, es dauert nur irgendwie ziemlich lange, bis er auftaut«, erklärte er schließlich. Alex schwieg einen Moment. »Ihr versteht euch gut, was?«, fragte sie und Elias hörte sie lächeln. »Ja, eigentlich schon. Ich dränge mich ihm ab und zu ziemlich auf, aber bisher hat er noch nicht die Schnauze voll«, meinte er schmunzelnd. Alex kicherte. »Lern ich Anton irgendwann mal kennen?«, erkundigte sie sich. »Weiß nicht. Wenn wir uns anfreunden und du mal vorbei kommst, wieso nicht«, entgegnete er schulternzuckend und sein Magen ließ ein lautes Röhren hören. »Boah, Alex, ich muss erstmal was essen gehen. Schreib mir, wenn was mit deinem Kerl ist, ok?«¸sagte er kläglich und sie grummelte leise, willigte aber schließlich ein und kurze Zeit später legte sie auf. Wie schon am vorigen Morgen sah der Teil seiner Familie, der bereits anwesend war, ziemlich erstaunt aus, weil Elias sich schon zu ihnen gesellte. Katharina war nicht da und sein Vater schlief sicher immer noch. Elias hatte das Langschläferdasein von ihm geerbt. Als er schließlich um zehn aus der Dusche kam, fühlte er sich ein wenig merkwürdig, weil er den ganzen Tag noch vor sich hatte und nicht bereits das Mittagessen anstand, denn normalerweise stand er am Wochenende nicht vor halb eins auf. Ein wenig unschlüssig ging er in sein Zimmer, schloss hastig das Fenster, da es draußen mittlerweile wieder wie aus Eimern regnete. Er freute sich jetzt schon wieder auf den Sommer. Regen, Schnee und Kälte waren einfach nichts für ihn. Christine schrieb ihm um elf, ob er Lust hatte mit ihr in die Stadt zu gehen, weil sie noch dringend ein paar Besorgungen machen wollte, aber ihm war das Wetter eindeutig zu schlecht, um durch die Innenstadt zu latschen. Dann antwortete er auf Markus’ Sms bezüglich seiner Eltern und des Babynamens. Es fühlte sich immer noch merkwürdig an, dass einer seiner besten Freunde bald Vater werden würde und er fragte sich, wie es werden würde, wenn sie nicht mehr jedes Wochenende zu dritt oder zu viert weggehen konnten. Seufzend legte er sein Handy beiseite und streckte sich, dann beschloss er, dass er seine Hausaufgaben erledigen könnte. Dieser Plan wurde jedoch von seiner kleinen Schwester vereitelt, die offenbar der Meinung war, dass Elias sich nun, da er schon einmal früh an einem Samstag wach war, auch mit ihr beschäftigen könnte. Gerade wollte er Nathalie halbherzig erklären, dass er erst seine Hausaufgaben wollte, als es leise an der Haustür klopfte. »Wer kommt so früh her?«, fragte Nathalie und fegte durch den Flur in Richtung Tür. Elias fiel zu spät ein, dass das vielleicht Anton war – auch wenn er nicht wusste, ob Anton freiwillig so früh kommen würde – aber da hörte er schon Nathalie sprechen. »Hallo! Willst du zu Elli? Der ist ausnahmsweise schon wach! Aber er wollte gerade was mit mir spielen!« Er hastete durch den Flur, kam schlitternd vor der Haustür zum Stehen und sah in Antons ziemlich verdattertes Gesicht. »Hi!«, sagte er zu Anton und Anton hob leicht die Hand zum Gruß. Elias räusperte sich. »Ja… ich wusste nicht, dass du so früh kommst…« »Eigentlich… ja, ich dachte mir schon, dass das wahrscheinlich nicht so gut passt, ich hab nur drüben… also… meine Mutter hat Besuch und ich… ich geh wieder rüber, wenn es nicht so gut passt«, stammelte er verlegen vor sich hin. Das erste Mal klang er nicht so, als würde er seine Worte sorgfältig abwägen. Er klang nervös und peinlich berührt und ein wenig kläglich, so als wäre der Besuch seiner Mutter niemand, dem er über den Weg laufen würde. Elias grinste ihn aufmunternd an. »Magst du Memory?«, fragte er amüsiert, während Nathalie jubelte, dann zog sie Anton in die Wohnung und schlug die Tür zu. »Ja, wir spielen Memory! Zu dritt macht es mehr Spaß!« Und Nathalie rannte ihnen voran ins Wohnzimmer, um das Spiel aus dem Schrank zu holen. Anton sah vollkommen perplex aus und starrte Nathalie nach, als wäre sie ein Geist. »Ist das ok für dich?«, fragte Elias flüsternd und Anton wandte den Blick von der geöffneten Wohnzimmertür ab, in dem man Nathalie nun kramen hören konnte. »Ja… klar«, sagte Anton immer noch leicht geschockt. Elias musste grinsen, biss sich auf die Unterlippe und ging dann Anton voran ins Wohnzimmer, wo Nathalie schon fleißig die Karten mischte. Elias ließ sich auf dem Teppich vor dem Wohnzimmertisch nieder und half seiner Schwester dabei, die Karten feinsäuberlich in mehrere Reihen verdeckt hinzulegen. Anton sah sich um, wie er es schon in Elias’ Zimmer getan hatte und seine Augen hingen einen Moment an dem großen, drei Jahre alten Familienfoto, das auf dem Regal überm Fernseher stand. Dann wandte er sich dem Spiel zu, setzte sich neben Elias auf den Boden und beobachtete, wie Nathalie voller Begeisterung die Pappschachtel des Spiels in den Sessel warf und die beiden Jungen anstrahlte. »Ich will anfangen!«, sagte sie prompt und Elias schnaubte, grinste aber und nickte. Wie es sich schnell herausstellte, hatte Anton ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis. Elias schaffte es gerade so, ein Pärchen zu finden, während sich neben Anton die Karten stapelten. Seine Schwester, die Gott sei Dank eine gute Verliererin war, zeigte sich zunehmend begeistert davon, dass Anton so gut Memory spielen konnte und sie taute sichtlich auf. Nachdem Anton haushoch gewonnen hatte, plapperte sie schon von ihren Lieblingspokémon und davon, dass sie in zwei Wochen mit ihrer Mannschaft zu einem Handballturnier fuhr. Um zwölf kroch sein Vater aus dem Bett, nuschelte kurz ‚Gute Nacht’, als er am Wohnzimmer vorbei schlurfte und Nathalie kicherte leise, ehe sie die kniffligste aller Fragen stellte. »Magst du Pokémon?« Anton blinzelte ein wenig verwirrt und räusperte sich dann. Elias war sich sicher, dass Anton nie einer der Jungen gewesen war, die solche Sendungen toll gefunden hatten, aber es zeigte sich, dass Anton nicht nur ein gutes Gedächtnis, sondern auch ein sehr gutes diplomatisches Gespür hatte. »Ich kenne es leider nicht, aber vielleicht kannst du mir ja ein bisschen erklären, worum es so geht.« Da sie ihm zuerst nur von ihren Lieblingspokémon erzählt hatte, musste Anton sich jetzt die Haupstory anhören, Nathalie erklärte, was es für Orden gab und wer Ash’s Freunde waren und das alles brasselte sie so durcheinander vor sich her, dass Elias einigermaßen beeindruckt war, dass Antons Kopf nicht schon zu rauchen begonnen hatte. Es kam, was kommen musste und den Rest des Nachmittags verbrachten Anton und Elias damit, mit Nathalie wahllose Pokémon- Folgen anzusehen. Anton schien sich aber nicht daran zu stören. Er aß mit ihnen Mittag – um vier Uhr nachmittags, weil ihr Vater erst so spät gefrühstückt hatte – und machte seiner Mutter Komplimente für ihre Kochkünste. Sie erkundigte sich bei ihm über die Schule und seine Lieblingsfächer und lobte seine Pünktlichkeit. »Es ist schön hier bei dir«, murmelte Anton leise und kaum hörbar, als sie den Flur durchquerten, um sich in Elias’ Zimmer zu verziehen. Elias sah Anton von der Seite an und meinte, einen beinahe sehnsüchtigen Ausdruck auf dem blassen Gesicht zu erkennen. Er räusperte sich leicht verlegen. »Du kannst immer rüber kommen… wenn du… na ja, falls du drüben nicht sein willst«, sagte er und hoffte, Anton damit nicht auf den Schlips zu treten. Doch Elias war sich mittlerweile beinahe sicher, dass der Besuch von Antons Mutter jemand war, der schon seit gestern Nacht da war. Und er konnte sehr gut verstehen, dass Anton keine Lust auf die Affären seiner Mutter hatte. Anton nickte kaum merklich und als Elias seine Zimmertür hinter sich schloss, wandte Anton sich ihm zu, sah ihn einen Augenblick lang schweigend an und dann huschte ein kaum merkliches Lächeln über den schmalen Mund seines Nachbarn. Kapitel 13: Unter Freunden -------------------------- Für Lisa und arod und Aye und Nasti und Tanja. Meinen persönlichen, engsten, kleinen Fanclub. Viel Spaß beim Lesen! __________________________________ Elias war einen Moment lang irritiert, dann breitete sich auf seinem Gesicht ein Grinsen aus. Antons leichtes Lächeln machte ihm gute Laune. Es war das erste Lächeln, das er überhaupt von Anton sah und er bemühte sich, es im Gedächtnis zu behalten. Denn er war sich ziemlich sicher, dass er es wohlmöglich nicht so schnell noch einmal sehen würde. Als Elias ihn dermaßen anstrahlte, blinzelte Anton leicht verwirrt und das Lächeln verschwand in einem Ausdruck von Verwunderung. »Was ist los?«, wollte er wissen und legte den Kopf schief, wobei ihm einige der schwarz- glänzenden Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Elias räusperte sich, konnte sein Grinsen jedoch nicht abschalten. »Ach nichts. Du hast nur eben gelächelt«, meinte er und zuckte mit den Schultern, ehe er sich beschwingt auf sein Bett fallen ließ und Anton auffordernd ansah. Sein Nachbar starrte ihn einen Augenblick an, als hätte er wieder das altbekannte Mondschaf vor Augen, dann huschte ein leichter Schimmer von Rot über seine blassen Wangen und er setzte sich neben Elias aufs Bett. »Du lächelst fast den ganzen Tag«, informierte ihn Anton bedächtig. Elias lachte. »Ja, deswegen ist es bei mir auch nichts Besonderes. Bei dir schon«, versicherte er Anton. Das blasse Gesicht wandte sich ihm zu und Elias spürte, wie er unter dem prüfenden Blick dieser fast schwarzen Augen ein wenig verlegen wurde. »Ich finde es besonders«, meinte Anton langsam, »es ist… ein nettes Lächeln.« Elias stutzte und er hatte das Gefühl, dass er Anton einen Moment lang wie ein Auto anglotzte. Der blickte zurück. Die Situation war vollkommen bescheuert, aber Elias wusste nicht einmal, wieso es so merkwürdig war. Vielleicht deswegen, weil sie – beide Jungs – sich gerade gesagt hatten, dass sie das Lächeln des jeweils anderes besonders fanden? Machte man so was in seinem Alter? Für gewöhnlich nicht. Elias war irritiert und fuhr sich verlegen durch die Haare, dann schaute er rasch weg. Ich kramte nach einem Gesprächsthema und als er auf seine Gitarre schaute, fiel ihm etwas ein. »Weißt du eigentlich schon, was du nach der Schule machen willst?« Anton pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachtete nachdenklich seine Finger, die für einen Jungen ungewöhnlich schlank waren. Perfekt zum Klavierspielen, dachte Elias unwillkürlich. »Ich denke, erstmal werde ich meinen Zivildienst machen. Auf die Bundeswehr bin ich nicht besonders… erpicht. Und dann möchte ich eigentlich gern Studieren. Es gibt da einen Studiengang, mit dem man später in der Musiktherapie arbeiten kann. Das wäre schon toll«, sagte er, rutschte auf Elias’ Bett nach hinten und lehnte sich gegen die Wand. »Obwohl… irgendwas mit Schreiben auch nett wäre. Aber ich denke, Musik liegt mir noch mehr«, fügte er nachdenklich hinzu und wiegte leicht den Kopf hin und her. Elias seufzte resigniert. Anton blickte ihn fragend von der Seite an. »Ich bin neidisch«, erklärte Elias und lehnte sich ebenfalls an die Wand, streckte die Beine aus und betrachtete seine Socken. In der linken war ein Loch am kleinen Zeh. »Ich hab überhaupt keine Ahnung, was ich nach der Schule machen will. Bund ist auch nicht so mein Ding, und Zivi… Ich weiß nicht. Und irgendwas mit Musik wäre schon toll, aber als Berufswunsch ‚Sänger und Gitarrist in einer Band’ anzugeben ist wohl eher utopisch…« Dieses Mal war es nicht so deutlich, aber Elias sah erneut Antons Mundwinkel zucken. »Das ist halt ein Traum. Hat nicht jeder so etwas? Schriftsteller, Musiker, Maler, Sportler…?«, meinte er. Beinahe sofort kam Elias sich nicht mehr ganz so bescheuert vor. Antons vernünftige und bedächtige Art zu sprechen, brachte ihn auf seltsame Weise dazu, von sich selbst nicht mehr unbedingt als ein zielloses Stück Treibholz im Meer der Wirklichkeit zu denken. Anton hatte Recht. Träumen war erlaubt. Und er kannte tatsächlich niemanden, der nicht von irgendetwas träumte. »Träumst du auch von so was?«, erkundigte er sich. Anton zuckte leicht die Schulter. »Pianist wäre toll. Und wie gesagt… Schreiben auch. Aber das wird wohl eher nichts werden. Ich finde es allerdings auch nicht so schlecht, wenn das nur ein Hobby bleibt. Unter Zwang seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen ist vielleicht nicht unbedingt das Idealste«, sagte er. Elias rutschte auf seinem Bett herum, sodass er Anton direkt ansehen konnte. »Was schreibst du denn so?«, wollte er neugierig wissen. Er selbst war froh darüber, dass er mit seinen Deutschaufsätzen halbwegs über die Runden kam. Dieses Mal war es überdeutlich. Anton lief rot an. »Unterschiedliches…«, sagte er zögerlich. Elias war sich ziemlich sicher, dass das wieder eine dieser Sachen war, von denen Anton nicht unbedingt wollte, dass jeder sie wusste. Er erwartete er ja ohnehin, für alles ständig ausgelacht zu werden. Elias fand das traurig. »Komm schon, ich lache nicht«, meinte er, streckte die Hand aus und knuffte Anton leicht gegen den Oberarm. Der rieb sich die Stelle und sah Elias immer noch peinlich berührt an. »Kurzgeschichten… und manchmal auch… na ja… Gedichte.« Elias war beeindruckt. »Echt? So richtig, mit Reimen und solchen Sachen? So wie die Dinger, die man in Deutsch immer analysieren und auseinander rupfen muss?«, wollte er gespannt wissen und beugte sich leicht vor. Anton sah schon wieder dermaßen irritiert aus, dass man meinen konnte, Elias hätte ihm so eben erklärt, dass er sich vor zwei Jahren einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hätte. »Manchmal schreib ich auch in Reimen, ja«, sagte Anton. Sein Kopf glich nun einer roten Ampel. »Und darf ich fragen, worüber du so dichtest?«, erkundigte sich Elias. Er hatte wirklich noch nie einen Jungen wie Anton kennen gelernt. Es war spannend, Stück für Stück etwas aus ihm heraus zu kitzeln und mehr zu erfahren. Gleichwohl hatte Elias das Gefühl, dass er nur ganz leicht an der Oberfläche kratzte. Aber vielleicht würden er und Anton sich ja noch richtig anfreunden und dann würde Anton ihm eventuell auch etwas mehr von sich erzählen. »Frag lieber nicht«, murmelte Anton abweisend und wandte den Blick ab, hin zum Fenster, wo er den Schneeregen betrachtete, der eingesetzt hatte. Elias hätte sich gern für seine Neugier auf die Zunge gebissen, aber nun hatte er die winzig kleine Öffnung in Antons Oberfläche wieder mit Panzertape beklebt, das merkte er deutlich. Er notierte insgeheim in seinem Kopf, dass man Anton besser nicht nach den Themen seiner Gedichte fragte. Fast hatte ihm die Frage auf der Zunge gelegen, ob er vielleicht mal eins von diesen Gedicht lesen dürfte, aber die Antwort kannte er nach dieser Reaktion bereits. Anton blieb fast den ganzen Samstag. Auch wenn Elias es nicht mehr schaffte, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszulocken, so fand er doch, dass Antons Gesellschaft angenehm war. Zwischendurch musste er mehrere Telefonate führen. Eins mit Alex, die ihm hysterisch berichtete, dass Alex ihr gesagt hatte, dass er mit ihr zusammen sein wollte, eines mit Christine, die sich über ihre Cousins bei ihm beklagt, über ihren kleinen Bruder und darüber, dass ihr Wochenende entsetzlich langweilig war, zwei mit Markus, der ihn einmal versehentlich anstatt von Dominik anrief, weil er über den Namen seines Kindes philosophieren wollte und schließlich eines mit Dominik, der ihn fragte, welchen Namen er Markus empfohlen hatte und wann sie sich das nächste Mal zu einem lauschigen Besäufnis in seinem Keller treffen wollten. Anton störte sich nicht daran, dass Elias ständig von anderen Leuten in Beschlag genommen wurde. Er sah sich interessiert in Elias’ Zimmer um, musterte jedes noch so kleine Detail, als wollte er alles in diesem Raum interpretieren, oder er beobachtete Elias beim Telefonieren, was Elias wiederum in ständige Verlegenheit stürzte. Das wunderte ihn. Normalerweise war ihm schließlich nichts peinlich. Als Anton abends schließlich das Treppenhaus betrat, wirkte er beinahe ein wenig wehmütig. Elias grinste ihn an. »Bis Montag! Ich warte wieder auf dich«, meinte er. Antons Mundwinkel zuckten erneut. »Ich warte wohl eher auf dich«, entgegnete er und kramte seinen Schlüssel heraus. Elias schnaubte, musste aber trotzdem lachen. »Na ok. Du wartest auf mich. Aber ich schaff das schon pünktlich!« Sie winkten sich kurz von Haustür zu Haustür zu, dann verschwand Anton und auch Elias ließ die Tür ins Schloss fallen, ehe er zurück in sein Zimmer ging, um Dominik anzurufen und ihn zu fragen, ob er heute Abend noch Lust auf ein Bier und eine Tiefkühlpizza hatte. Der Montag verging in einem Schleier aus Müdigkeit. Er hatte sich Sonntag noch mit Christine getroffen und er war erst um halb eins nach Hause gekommen. Das kam davon, wenn man um halb zwölf noch Lust auf Sex bekam. In Politik döste er ein, Englisch verschlief er beinahe komplett, die Arme auf den Tisch gelegt und den Kopf auf die Arme gebettet. Die letzte Stunde Erdkunde machte ihn auch nicht sehr viel wacher und schließlich schlurfte er in Richtung Pausenhalle. Markus hatte die ganze Englischstunde damit verbracht, wie wild Namen auf einen Din A4 Zettel zu kritzeln und diesen dann abwechselnd Dominik und Elias hinzuhalten. Dominik hatte hinter jeden Namen einen Smily – wahlweise traurig, lächelnd oder mit horizontalem Mund, was ‚durchschnittlich’ bedeuten sollte – gemalt. Elias hatte nichts kommentiert. Er hatte immerhin geschlafen. »Du siehst aus wie ein Zombie«, erklärte Anton, als Elias auf ihn zugeschlurft kam. Er gab nur ein undeutliches Murmeln von sich. Dann machten sie sich auf den Weg hinaus in den nassen, grauen November, der sich in ein paar Tagen in den Dezember verwandeln würde. Markus und Dominik standen noch beim Vertretungsplan und unterhielten sich mit zwei Jungs aus ihrem Sportkurs. Elias gähnte herzhaft und Anton beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er schien sich zu amüsieren, doch Elias war zu müde, um sich darüber bei ihm zu beschweren. Seine Müdigkeit verringerte sich allerdings, als sie um eine Ecke bogen und er drei Jungen an einer Backsteinmauer lehnen sah. Er erkannte sie sofort, obwohl er normalerweise ein miserables Gesichtsgedächtnis hatte. Es waren die drei Kerle, die Antons Etui damals in den Restmüllcontainer geschmissen hatten. Einer von ihnen hatte seine Hose in die Nike- Turnschuhe gesteckt. Elias registrierte ein rosa Poloshirt und fein säuberlich gegelte Haare. Er runzelte die Stirn und fühlte sich plötzlich sehr viel wacher. Er kam sich vor wie in einem billigen Western Film. Nur ohne Hintergrundmusik und ohne Sand und Gott sei Dank ohne Revolver. »Na, wenn das nicht Anton ist«, meinte einer mit blonden Haaren und einer ziemlich großen Nase. »Und seinen Wachhund hat er auch dabei«, spöttelte der Kerl mit dem rosa Poloshirt. Anton nahm Elias am Arm und wollte ihn offenbar auf die andere Straßenseite ziehen, aber die Jungs schienen davon nicht sonderlich begeistert zu sein. Elias zog sein Handy aus der Hosentasche. »Das war nicht nett, uns als Kindergarten zu bezeichnen, letztes Mal«, sagte der mit den Nike- Turnschuhen. Elias antwortete nicht, sondern hielt sich unbeeindruckt das Handy ans Ohr. Anton musterte ihn angespannt. »Hey, ich bin grad am Richard- Strauß- Weg, und…«, sagte er noch, weiter kam er nicht. Sein Handy flog in hohem Bogen mitten auf die Straße, als einer der Jungs es ihm aus der Hand schlug. Elias atmete tief durch. Na wunderbar. Er war nie jemand gewesen, der es auf Schlägereien anlegte, aber diese drei hatten ohnehin noch etwas gut bei ihm und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, schlug er dem Nike- Turnschuhträger, der ihm sein Handy aus der Hand befördert hatte, in die Magenkuhle. Es war, als hätte er eine Bombe gezündet. Mit lauten Flüchen stürzten sich die beiden Freunde des Getroffenen auf ihn. Es war eine ziemlich dumme Idee gewesen, eine Schlägerei mit drei Kerlen auf einmal anzuzetteln. Aber jetzt war es zu spät. Mit einem schmerzerfüllten Keuchen quittierte er einen Faustschlag direkt ins Gesicht. Er taumelte rückwärts, schüttelte den Kopf und konnte gerade noch den Arm heben, um einen zweiten Schlag abzuwehren. Im nächsten Augenblick wurden ihm die Arme auf den Rücken gerissen und er biss sich heftig auf die Lippe, um nicht zu schreien. Der Nike- Turnschuhträger hatte sich offenbar wieder von dem Schlag in die Magenkuhle erholt, denn nun baute er sich gemeinsam mit seinem Kumpel vor Elias auf, der spürte, wie ihm warme Flüssigkeit über die Wange sickerte. »Hört auf damit!«, drang Antons Stimme von irgendwoher an sein Ohr. Die Jungs lachten. Elias kam sich vor wie ein Mädchen, aber was machte das schon. Mit einem kräftigen Tritt rammte er seinen Fuß zwischen die Beine des Einen. Er hatte es kommen sehen, aber das machte den zweiten Schlag ins Gesicht nicht angenehmer. Ihm wurde einen Moment schwarz vor Augen, aber durch das laute Rauschen seines Blutes in den Ohren hörte er deutlich das Wimmern und Jammern des Kerls, den er zwischen die Beine getreten hatte. Was er als nächstes spürte, war, dass er losgelassen wurde. Er taumelte rückwärts, verlor den Halt und wurde von hinten festgehalten. »Ich glaub es nicht«, hörte er Antons Murmeln in seinem Ohr. Er spuckte auf den Boden und sah undeutlich die dunkelrote Flüssigkeit auf dem nassen Asphalt. Er blinzelte, wischte sich über die Augen und achtete nicht darauf, dass er nun auch Blut an seiner Jacke kleben hatte. Mit Feuereifer hatten sich seine beste Freunde auf die beiden übrigen Kerle geworfen. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass noch jemand durch diese winzige Seitenstraße kam. Elias nahm verschwommen durch einen Schleier von Kopfschmerzen und Ohrensausen wahr, wie Anton immer wieder leise fluchte – etwas, das er bei seinem Nachbarn bisher noch nicht gehört hatte – und wie Markus den Kerl im rosa Poloshirt lauthals beschimpfte, während er auf ihn eindrosch. »Muss mich mal kurz setzen«, murmelte er undeutlich und ließ sich einfach auf den nassen Bordstein sinken. Anton kniete sich neben ihn und starrte ihn an. »Was sollte denn das? Wieso schlägst du dich für mich? Tut das doll weh?«, kam es in rascher Folge zwischen seinen schmalen Lippen hervorgepurzelt und Elias versuchte zu lächeln, aber es tat lediglich weh, als ließ er bleiben. »Was war denn los? Haben die euch aufgelauert? Worum ging es eigentlich?«, hörte er Markus’ schnaufende Stimme über ihm. »Alles ok, Alter?«, fragte Dominik und kniete sich vor ihn. »Hmhm«, nuschelte er und spuckte erneut eine Ladung Blut auf den Boden. Seine Zunge puckerte unangenehm. Vermutlich hatte er sich bei einem der Schläge ziemlich heftig darauf gebissen. Nach weiteren zehn Minuten am Straßenrand fühlte er sich immer noch ziemlich benommen, aber es ging ihm schon etwas besser. Anton hatte eine Packung Taschentücher aus seinem Rucksack gekramt. Elias bestand darauf, dass Markus und Dominik nach Hause gingen, nachdem er sich bei ihnen bedankt hatte. Schließlich hievte er sich selbst auf die Beine und wischte sich die Haare aus der Stirn. Ihm tat so ziemlich alles weh. »Ich glaub es nicht… dass sie sich für dich schlagen, ohne zu wissen, was eigentlich los ist«, murmelte Anton verstört und hielt Elias die restlichen Taschentücher hin. Elias lachte und keuchte schmerzerfüllt auf. »So macht man das unter Freunden«, stöhnte er und betastete vorsichtig seine Lippe. »Und du… schlägst dich einfach so für mich«, entrüstete sich Anton. So aufgewühlt hatte Elias ihn bisher noch nicht erlebt. Er zuckte die Schultern. »Ich sag doch… so macht man das unter Freunden!« Anton öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch offenbar fiel ihm nichts ein. Er sah Elias schweigend von der Seite an und reichte ihm stumm ein weiteres Taschentuch. Wie man das nun einmal so machte, unter Freunden, dachte Elias. Kapitel 14: Fröhliche Weihnachten --------------------------------- So! Hier ist das Weihnachtskapitel :) Ich lade es heute schon hoch, weil es auch teilweise am 23. Dezember spielt. Das ist mein kleines Weihnachtsgeschenk für arod, Aye, Nasti, Lisa und alle anderen, denen die Geschichte gefällt und die immer fleißig kommentieren! Ich wünsche euch fröhliche Weihnachten! Liebe Grüße, ___________________ »Manchmal bin ich froh, dass ich nur einen Jungen bekommen habe«, schimpfte seine Mutter und tupfte ihm energisch die Augenbraue mit Desinfektionsmittel ab, »Mädchen schlagen sich wenigstens nicht sinnlos!« Elias sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, nicht zusammen zu zucken, da das Desinfektionsmittel auf der offenen Wunde brannte und zwirbelte. »Weswegen hast du dich überhaupt geschlagen? Du siehst aus wie Rocky Balboa«, meckerte sie weiter. Elias schaffte ein halbes Grinsen, auch wenn seine Lippe dabei wehtat. »Das war kein Kompliment!«, fuhr seine Mutter sofort mit dem Geschimpfe fort. Elias wusste, dass sie ihm eigentlich nicht böse war, sondern dass sie sich lediglich Sorgen um ihn machte. Seine Mutter konnte nicht wirklich gut sauer auf ihre Kinder sein. »Da waren drei Typen, die Anton ständig mobben«, murmelte er an seiner angeschwollenen Lippe vorbei. Seine Mutter hielt einen Augenblick beim Tupfen inne und musterte ihn halb erstaunt, halb besorgt. »Der arme Junge«, sagte sie und all ihre Wut schien auf einmal verraucht. Sie kramte nach einer Kompresse und Tape und begann, fachmännisch daran herum zu schnippeln. »Sie haben ihm schon mal nach der Schule aufgelauert und ihm ein blaues Auge verpasst, nur weil er gut in Musik und Deutsch ist und keine Markenklamotten trägt… die hättest du doch auch verprügelt«, meinte Elias und konnte sich ein erneutes Schmunzeln nicht verkneifen, auch wenn er diesmal doch zusammen zuckte. Verflucht, wieso mussten Schlägereien so wehtun? Seine Mutter kicherte leise und patschte ihm die Kompresse mit Mullbinde über das Auge, dann begann sie konzentriert, alles mit dem weißen, dünnen Tape zu befestigen. »Ich hoffe, du spielst da nicht auf dieses eine Mal an, als ich deinem Vater eine geknallt habe?«, fragte sie gespielt streng. Elias verkniff sich ein Lachen. Als seine Mutter und sein Vater sich kennen gelernt hatten, hatte er ihr aus Versehen Kaffee über die Bluse geschüttet und sich vollkommen überstürzt daran gemacht, den Kaffee mit einem Taschentuch aufzuwischen… Elias konnte sich bildlich vorstellen, wie seine Mutter ordentlich zugelangt hatte. Die Geschichte erzählte sie immer wieder gern, wobei sie dabei nie müde wurde zu betonen, dass er es eigentlich gar nicht böse gemeint hatte. »Nie im Leben würd’ ich darauf anspielen«, sagte er scheinheilig und ließ es zu, dass sie auch seine Lippe abtupfte. »Das will ich hoffen… eine Dame verteilt keine Schläge«, meinte seine Mutter amüsiert. Elias schielte hinunter auf ihre Hand, die seine Lippe betupfte. »Dann ist Alex eindeutig keine Lady«, nuschelte er mit offenem Mund. Seine Mutter lachte leise. »Ja, Alexandra ist nicht gerade das, was man als ein typisches Mädchen bezeichnen würde. Hat sie Esther und Jan mittlerweile gebeichtet, dass sie nicht zum Ballett, sondern zum Karate geht?«, erkundigte sie sich, nahm den Tupfer weg und betrachtete ihr Werk. Dann klebte sie ein übergroßes Pflaster über den Rand seiner Unterlippe. Er schüttelte den Kopf, während er sich erhob und in den Spiegel schaute. Alles in allem sah er tatsächlich aus wie Rocky Balboa nach seinem Kampf gegen Drago. Und als Kompliment konnte man das wirklich nicht werten. »Ich glaube, das macht sie erst, nachdem sie ausgezogen ist. Würde ich vorher an ihrer Stelle auch nicht wagen. Am Ende stecken sie sie ins Kloster oder so was«, erklärte er und klang, als hätte er den Mund voll, da seine geschwollene Lippe ihn beim Sprechen behinderte. Seine Mutter packte ihren Erste Hilfe- Koffer zusammen und stellte ihn zurück in den Waschbecken- Unterschrank. »Was wünscht du dir eigentlich zu Weihnachten, Schatz?«, wollte sie wissen und erhob sich wieder. Elias zuckte mit den Schultern. »Irgendwas Cooles. Gitarrensaiten? Neue Notenhefte? Ein Tonstudio?«, sagte er. Seine Mutter schnaubte und winkte ihn aus dem Bad. »Du bist einfallslos wie immer. Dann muss ich mir wohl wieder selbst was ausdenken«, meinte sie und wuselte davon in die Küche. Elias schmunzelte leicht, hielt sich die Unterlippe und ging zurück in sein Zimmer. Weihnachten. Noch war das Wetter ganz und gar nicht weihnachtlich und auch wenn schon Anfang Dezember war, so hatte er bisher noch keinen Gedanken an Weihnachten verschwendet. Dabei musste er ebenfalls Geschenke kaufen… für Nathalie und Katharina, für Alex, für seine Eltern, Christine… seinen Freunden brauchte er nichts schenken, sie veranstalteten am Sechsundzwanzigsten ihre übliche Weihnachtsfeier und jeder brachte etwas mit. Am ersten Weihnachtsfeiertag gab es die große Familienfeier bei seinen Großeltern mütterlicherseits, wo alle noch so entfernten Verwandten sich blicken ließen, um sich die Mägen mit Truthahn und Apfelstrudel voll zu schlagen. Auch wenn Elias einige dieser Leute kaum je im Jahr zu Gesicht bekam, freute er sich immer auf die große Familienfeier. Es war meistens sehr lustig. Gutes Essen, fröhliche Gäste und eine Menge Glühwein. Wenn er an Alex dachte, die Familienfeiern hasste wie die Pest, dann konnte er sich wirklich glücklich mit seiner Familie schätzen. Bepflastert wie er war, ging er zurück in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und lächelte leicht, als er hörte, dass Anton in der Wohnung nebenan Klavier spielte. Der Dezember zog rasch vorüber. Die Vorabi- Klausuren brachten sogar Elias dazu, sich an den Schreibtisch zu setzen und zu lernen. Wenn er einmal nicht lernte, dann suchte er in der Stadt nach Weihnachtsgeschenken, traf sich mit Christine, seinen Freunden oder Anton, spielte seiner kleinen Schwester auf der Gitarre vor und half Katharina bei den Hausaufgaben. Alles in allem war sein Leben wie immer und er merkte nur am Rande, dass sich Anton in seinen Alltag hinein geschlichen hatte. Der morgendliche Gang zur Schule war Routine geworden und manchmal, wenn er eigentlich erst zur zweiten oder dritten, Anton aber zur ersten Stunde Schule hatte, schaffte es Elias sogar, alle seine Hausaufgaben pünktlich und sauber zu erledigen. Sein Kleingeld verschwand ziemlich exzessiv im Kakaoautomaten, weil er in jeder Freistunde einen oder zwei davon trank. Bei jedem Gang durch die Innenstadt warf er – wie immer – jedem Obdachlosen auf seinem Weg Geld in den Pappbecher, den Hut oder was auch immer vor ihnen lag. Das war einer seiner Ticks und seine Freunde nannten es regelmäßig Geldverschwendung. »Wenn sie genug Geld zusammen haben, gehen sie los und kaufen sich ne Packung Kippen«, pflegte Markus ihm zu predigen. »Der ist gar nicht so arm, erst gestern hab ich ihn mit einer Bratwurst und einem MP3- Player gesehen!«, versuchte Dominik ihn regelmäßig zu überzeugen. Aber Elias konnte nicht aus seiner Haut. Bald war er sicher selbst arm. Dank Kakao- Automat und Obdachlosen. Es war der dreiundzwanzigste Dezember und draußen war von Schnee keine Spur. Elias saß auf seinem Fensterbrett, vom Zimmer seiner Schwester dröhnte Rihanna zu ihm herüber und er bemühte sich, sich in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Aber ohne Schnee war das schwierig, auch wenn die ganze Wohnung nach Apfelstrudel roch und seine Mutter fleißig damit beschäftig war, den Weihnachtsbaum zu schmücken und ‚Ihr Kinderlein kommet’ zu schmettern. Sein Vater schlurfte durch die Wohnung und wirkte leicht fehl am Platze, da seine Frau ihn ständig ermahnte, ihr aus dem Weg zu gehen. Durch die lauten Klänge von ‚Russian Roulette’ dröhnte die Stimme seiner Mutter. »Stefan! Komm bitte mal her und halt mir die Lichterkette!« Elias musste schmunzeln, während er sich seinen Vater als persönlichen Haussklaven vorstellte. Als er den Blick aus dem Fenster richtete, stutzte er. Anton hatte gerade die Wohnung verlassen. Er war bepackt mit vielen prall gefüllten Plastiktüten und einem nicht minder vollen Rucksack. Elias sah ihm einen Moment lang nach, dann sprang er vom Fensterbrett und schlüpfte in seine Chucks, ohne sie zuzubinden. Mit einem Arm in der Jacke wandte er sich in Richtung Wohnzimmer um, wo er seinen Vater durch Rihanna hindurch fluchen hörte. »Bin mal eben weg!« Dann öffnete er die Tür, sprintete die Treppe hinunter und stolperte beinahe über seine offenen Schnürsenkel, als er nach draußen hechtete und Anton hinterher rannte. Nach wenigen Augenblicken hatte er Anton einholt und kam schlitternd neben ihm zum Halt. »Hey«, keuchte er angestrengt und Anton sah einigermaßen überrascht aus, als er Elias dabei zusah, wie er seine Hände auf die Knie stützte, um nach Luft zu schnappen. »Hab dich vom Fenster aus gesehen«, erklärte er immer noch stockend und streckte die Hände aus. Anton blinzelte. »Ich helf’ dir tragen. Wo willst du eigentlich mit dem Zeug hin?«, erkundigte er sich, richtete sich wieder auf und nahm Anton drei der Tüten ab. Anton musterte ihn einen Moment lang mit schief gelegtem Kopf und Elias war sich sicher, dass er die Narbe über seinem Auge musterte, die von der Schlägerei Anfang Dezember zurück geblieben war. Er grinste verlegen und warf einen Blick in die Tüten. Tiefkühl- Lasagne, Pizzen, Fischgerichte… Er hob die Augenbrauen und sah Anton fragend an. Der räusperte sich und wandte sich um, um seinen Weg fortzusetzen. »Ein paar Straßen weiter ist doch dieses Obdachlosenhaus«, meinte er und bewegte leicht seine Schultern vor und zurück, als würden sie ihm von all dem Geschleppe bereits wehtun. »Bringst du all das Zeug da hin?«, fragte Elias vollkommen perplex. Und er fühlte sich gut, wenn er einen Euro in einen Pappbecher warf… jetzt kam er sich richtig lächerlich vor. »Ja. Das ist all das Zeug, was meine Mutter immer für mich kauft und ich hasse Tiefkühlkost… Deswegen bringe ich das immer dahin, wenn die Truhe überläuft. Dann kann sie neue Sachen reinkaufen«, meinte Anton und er klang so sachlich, als wäre das ein vollkommen normaler Umstand. Elias hörte ihn selten über seine Mutter reden und wenn er es tat, dann sprach er über sie, als wäre sie eine entfernte Bekannte. Dafür leuchteten seine Augen immer richtig, wenn er mit Elias’ Mutter sprach. »Bist ja ein richtiger Samariter«, murmelte er beeindruckt und setzte den Weg mit Anton zusammen fort. Anton musterte kurz seine Füße. »Deine Schnürsenkel sind offen«, stellte er fest und sah Elias an. Der grinste und zuckte mit den Schultern. »Hab mich eben beeilt. Ich kann dich ja nicht unter dem Gewicht von Tiefkühl- Pizzen zusammen brechen lassen«, meinte er und kam sich fast ein bisschen heldenhaft vor. Anton kommentierte diese Auskunft mit einem Schweigen, während sie die Straßen entlang gingen und die Plastiktüten schleppten. Immer wieder kamen sie an weihnachtlich geschmückten Häusern und Gärten vorbei, aus einem Haus dröhnten laute Weihnachts- Punkcovers. Schließlich kam ein großes, etwas schäbiges Backsteinhaus in Sicht, dessen geflügelte Eingangstür mit roten Weihnachtssternen beklebt war. Anton schleifte seine Last die kurze Treppe zur Eingangstür hinauf, schob sich in den Eingangsbereich und Elias folgte ihm. »Da werden sie sich ja freuen. Immerhin ist Weihnachten«, meinte Elias schmunzelnd. Anton nickte kaum merklich. »Weihnachten… stimmt ja. Hatte ich ganz vergessen«, meinte er. Den ganzen Abend und den darauf folgenden Vormittag machte sich Elias darüber Gedanken, dass Anton wohlmöglich kein Weihnachten feierte. Was für eine schreckliche Vorstellung. Mittlerweile konnte er nicht mehr umhin, in Weihnachtsstimmung zu kommen, denn seine kleine Schwester tanzte mit einer Weihnachtsmütze durch die Wohnung, hörte laut Weihnachtslieder und in der ganzen Wohnung roch es nun nach selbst gebackenem Lebkuchen. Er war damit beschäftigt, all seine Weihnachtsgeschenke in eine Menge Geschenkpapier zu wickeln und sie dann mit Tonnen von Tesafilm zu bekleben. Er war eine Niete im Einpacken, aber immerhin konnte er behaupten, dass es von Herzen kam. Schließlich schrieb er mit Edding die Namen auf das jeweilige Päckchen und betrachtete sein Werk stolz. Der Abend kam schneller, als er gedacht hätte und er schmuggelte in letzter Sekunde seine Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Es war wie jedes Jahr. Sie aßen in der Küche und Nathalie quengelte ununterbrochen, dass sie endlich Bescherung wollte. Elias hatte ihr ihre Weihnachtsmütze geklaut und vertilgte gerade seine dritte Portion Fisch mit Kartoffeln und Remouladensoße. Nathalie starrte ihn vorwurfsvoll von der Seite an und stieß ihm immer wieder den Ellbogen in die Seite, bis er schließlich das Essen aufgab und sein Besteck auf den Teller legte. »Bescherung!«, rief Nathalie glücklich, sprang auf und rannte ihnen allen voran ins Wohnzimmer, wo leise ‚Stille Nacht’ lief und die Lichterkette des Tannenbaums den Raum in warmes, weihnachtliches Licht tauchte. Die Christbaumkugeln waren rot und einige kleine Holzfigürchen zierten den Tannenbaum. »welches ist mein Haufen?«, fragte Nathalie begeistert und stürzte sich auf ihren Berg Geschenke, nachdem ihre Mutter darauf gedeutet hatte. Eine Stunde später saßen sie in einem Meer von Geschenkpapier und ihr Vater stopfte alles an Papier in eine überdimensionale Plastiktüte. »Bringst du den Müll runter, Schatz?«, bat seine Mutter ihn und er nickte ergeben, erhob sich und schnappte sich die riesige Tüte. Auf dem Weg durch den Flur summte er leise ‚Alle Jahre wieder’. Als er die Wohnungstür geöffnet hatte, stolperte er beinahe über etwas, das auf der Türmatte stand. Er blinzelte verwirrt, stellte die Plastiktüte ab und hockte sich auf den Boden. Aus dem Wohnzimmer dröhnte das laute Lachen seines Vaters. Auf der Fußmatte stand ein kleiner Terrakotta- Topf. Darin befand sich eine dunkelgrüne Pflanze, die Elias mühelos als Efeu erkannte. Er hob den Topf auf und entdeckte eine kleine Weihnachtskarte, die mit einer Spitze in der Erde steckte. Den Efeu in der einen Hand, klappte er das Kärtchen gespannt auf. »Fröhliche Weihnachten. Anton« Kapitel 15: Neujahrsgedanken ---------------------------- So. Das hier ist ein kleines Fillerkapitel. Es ist sehr kurz und es passiert absolut nichts, außer ein wenig Gerede. Prinzipiell ist es aber für die Wendung der Geschichte wichtig, weil es jetzt - sozusagen - erst richtig los geht. Ich wünsche euch allen einen sanften und schmerzfreien Rutsch ins neue Jahr! Weil das Kapitel nur ein kleiner Filler ist, widme ich es diesmal niemandem ;) Ich wünsche trotzdem viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße, _______________________________ »Oh mein Gott, weißt du eigentlich, was das bedeutet?«, kreischte Alex in den Hörer und Elias hielt ihn sich vorsichtshalber einen halben Meter von seinem Ohr weg. »Nicht so richtig, nein. Außer, dass er meinen schwarzen Daumen vermutlich mitbekommen hat«, gab er zurück. Er fürchtete um seine Trommelfelle, denn wenn er weiterhin Musik machen wollte, brauchte er ein gesundes Gehör. »Ach Quatsch. Dass bei dir keine Pflanzen überleben… außer Kakteen und Efeu… das hat damit doch gar nichts zu tun, mein Lieber!«, belehrte Alex ihn und klang immer noch total begeistert. Elias warf einen Blick hinüber zu dem kleinen Terrakotta- Topf, der auf seiner Fensterbank stand. Die dunkelgrünen Blätter hingen über den Rand des Topfes hinunter und berührten fast das Holz des Fensterbrettes. Es war eine schlichte Pflanze ohne Schnörkel oder pompöse Blüten. Sie passte irgendwie zu Anton. »Efeu«, sagte Alex und klang, als würde sie eine dramatische Pause einlegen, »ist ein Symbol für Freundschaft.« Auf diese Offenbarung folgte eine Stille. Elias starrte den Blumentopf an und fragte sich, ob Anton das wusste. Aber schon im nächsten Moment war ihm klar, dass Anton es natürlich wusste. Denn Anton überlegte sehr genau, was er sagte und was er tat. Es wäre nicht sein Ding, einfach in einen Blumenladen zu rennen, wahllos einen Topf zu kaufen und ihn dann vor Elias’ Tür zu stellen. »Oh«, war alles, was ihm dazu einfiel. Anton hatte ihm zu Weihnachten – das er sehr wahrscheinlich nicht gefeiert hatte – eine Pflanze geschenkt, die Freundschaft bedeutete. Und er hatte vollkommen vergessen, Anton auch etwas zu kaufen, weil er seinen männlichen Freunden nie irgendetwas schenkte. Das war bei ihnen so Tradition. »Hach, das ist ja so niedlich«, schmachtete Alex am anderen Ende und Elias räusperte sich vernehmlich. »Könntest du das lassen? Immer von uns beiden zu reden, als wären wir dein neues Traumpaar«, grummelte er und Alex kicherte leise am anderen Ende. »Mein neues Traumpaar sind Alex und ich«, erklärte sie ihm ohne Umschweife, »aber ihr beiden seid wirklich ziemlich süß.« Elias verschluckte sich an seiner eigenen Spucke und hüstelte einige Momente lang. Ein verdruckstes Geräusch am anderen Ende ließ ihn wissen, dass Alex sich gerade das Lachen verkniff. »Alex«, sagte er mit nachdrücklichem Unterton, »ich bin im Moment mit meiner achten Freundin zusammen. Freundin«, und er betonte die letzte Silbe besonders stark, um Alex zu verdeutlichen, dass er einfach schlichtweg hetero war. Und überhaupt, wie kam sie auf solche Sachen? »Ja, aber in wie viele davon warst du so richtig verliebt, huh?«, stichelte sie prompt und Elias gab ein undefinierbares Geräusch von sich. »Und du weißt also, wie das ist, richtig verliebt zu sein, ja?«, erwiderte er matt. Alex schwieg einen Moment lang. Dann… »Abgesehen davon, dass ich in meinen ersten Freund Hals über Kopf verliebt bin«, Elias stellte sich vor, wie sie bei diesen Worten knallrot anlief, »war ich schon mal so richtig verliebt.« Elias runzelte die Stirn und blinzelte seinem Fenster entgegen. Entweder ihm war von der Sylvesterfeier noch leicht schwummrig, oder aber Alex hatte nie erwähnt, in wen sie verliebt gewesen war. Dabei erzählten sie sich doch sonst alles… »Ach ja? In wen?«, fragte er vollkommen perplex. Alex schnaubte. »In dich, du Vollidiot. Zweieinhalb Jahre lang«, verkündete sie ihm dann. Elias erstarrte. Gerade hatte er sich durch die vom Duschen nassen Haare streichen wollen. Jetzt hing seine Hand bewegungslos in der Luft über seinem Kopf. Zweifelsfrei sah er gerade wie ein wenig geistreicher Orang-Utan aus. »In… mich?«, erwiderte er so verdattert, wie man nur sein konnte, wenn die beste Freundin, die man seit der Grundschulzeit kannte, einem gerade ihre ehemalige Liebe gestand. »Ja, du Horst. In wen denn sonst? Ich hatte nie sonderlich viele Männerbekanntschaften, falls es dir entgangen sein sollte… also. Was ich damit eigentlich sagen wollte, war, dass ich durchaus weiß, wie es ist, richtig verliebt zu sein!« Elias interessierte sich in diesem Moment herzlich wenig dafür, was die eigentliche Aussage dieser Eröffnung hatte sein sollen. Alex war zweieinhalb Jahre in ihn verliebt gewesen, hatte es ihm nie gesagt und verkündete es ihm nun am Telefon. Einfach so. »Jedenfalls ist es doch nicht abwegig, dass sich jemand, der noch nie in ein Mädchen verliebt war, in einen Jungen verliebt. Die meisten Jungs neigen ja dazu, so was eklig zu finden«, fuhr Alex fachmännisch fort, als würde sie ihn gerade darüber aufklären, wo die Babys herkamen. Elias hatte mittlerweile keine Ahnung mehr, wie sie auf dieses absurde Thema gekommen waren. Alles, was in seinem Kopf Platz fand, waren die Tatsachen, dass Alex heimlich in ihn verliebt gewesen war und dass sie ihm gerade zu verklickern versuchte, dass er eventuell auf Männer stand. »Es geht doch gar nicht darum, dass das eklig ist«, sagte er immer noch vollkommen perplex, »es geht nur darum, dass ich mich nie für Jungs interessiert hab.« »Noch nicht«, meinte Alex scheinheilig. »Wie zum Teufel…« »Na ja, wie auch immer«, unterbrach sie ihn unnötig laut, »was ich dir noch erzählen wollte, es ist unglaublich romantisch unter einem Feuerwerk ins neue Jahr geküsst zu werden, das kannst du mir glauben. Alex’ Freunde sind alle sehr nett, ich dachte eigentlich, sie würden permanent Witze über das Internat oder mein Alter reißen, aber haben sie nicht gemacht. Ich habe mir fürs nächste Jahr vorgenommen, meinen Abschluss mit mindestens 2,0 zu machen, in eine eigene Wohnung zu ziehen und Sex zu haben. Es wird Zeit, dass ich mich vollends der Sünde hingebe und was gibt es Schlimmeres als Sex vor der Ehe mit Verhütung? Wenn der Papst oder meine Ma das wüssten, dann würden sie mich in Weihwasser baden und hoffen, dass es wieder zuwächst, oder so…« Es war viertel vor vier, als Alex und Elias ihr Telefonat beendeten. Er hatte bis halb drei geschlafen, weil er erst morgens um acht nach Hause gekommen war. Der Abend war sehr lustig gewesen, er hatte viel getrunken, Dominik und Christine hatten ihn und Caro beim Kickerspielen viermal hintereinander besiegt und sie hatten draußen vor dem Haus Feuerwerk gemacht. Es hatte die üblichen Trinkspiele gegeben. Flanky- Ball und Meier und als sie alle schon ziemlich betrunken gewesen waren, hatten sie Flaschendrehen gespielt und Markus und Nuri hatten sich wie ein altes Ehepaar auf ein Sofa gesetzt und ihnen belustigt zugesehen, während Christine, Dominik, Caro, Elias und noch einige andere Leute sich gegenseitig die beknacktesten Aufgaben gestellt hatten. Selbstverständlich hatte es auch die üblichen Knutschaufgaben gegeben und Dominik und Christine hatten dreimal miteinander knutschen müssen. Jetzt, wo er nicht mehr mit Alex telefonierte und sich daran erinnerte, fiel ihm wieder auf, dass es ihn überhaupt nicht störte. Er war gern mit Christine zusammen, er hatte gern Sex mit ihr und er fand es toll, dass sie so unkompliziert war. Aber er war eindeutig nicht verliebt in sie. Er hätte sich mit keiner Freundin an den Rand gesetzt und nicht mitgespielt, weil er nicht wollte, dass sie einen anderen küsste. Ihm machte das kein bisschen aus. Vielleicht sollte er all seine Beziehungskisten noch einmal überdenken. Das einzige Mädchen, in das er verknallt gewesen war, war seine zweite Freundin gewesen. Merle. Mit der hatte er dann auch seine längste Beziehung gehabt. Immerhin ein Jahr und zwei Monate. Sie war auch diejenige gewesen, mit der er das erste Mal geschlafen hatte. Aber so richtig bis über beide Ohren verliebt war er in sie nicht gewesen. Wenn er sich Alex und Alex ansah, oder Nuri und Markus. Nachdenklich erhob er sich von seinem Bett, schlurfte in die Küche und wühlte im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Und dann erzählte Alex ihm auch noch solche Dinge. Er und Jungs. Alex, die in ihn verliebt gewesen war. Es war eindeutig ein komischer, erster Januar. Kapitel 16: »Schnaps«-idee -------------------------- Elias hatte Anton seit dem Tag nicht mehr gesehen, als er ihm geholfen hatte, die Tiefkühlkost zum Obdachlosenhaus zu bringen. Er hatte weder die Gelegenheit gehabt, Anton fröhliche Weihnachten zu sagen, – die er vermutlich ohnehin nicht gehabt hatte – noch ihm ein frohes neues Jahr zu wünschen. Er dachte noch einige Tage über die Dinge nach, die Alex ihm gegenüber am Telefon erwähnt hatte, doch dann geschah etwas, was das Telefonat erst einmal aus seinen Gedanken vertrieb. Es war der letzte Tag vorm Ende der Ferien und Elias saß in seinem unaufgeräumten Zimmer und zupfte ein wenig an seiner Gitarre herum, ein Notenheft neben sich auf dem Bett und einen kleinen Bleistift hinter dem Ohr, als sich seine Zimmertür öffnete, ohne dass jemand geklopft hatte. Im Türrahmen stand Katharina. Sie war ungeschminkt, was merkwürdig war und sie trug einen ziemlich weiten, uralten Pullover, den sie das letzte Mal vielleicht mit zwölf getragen hatte, als Klamotten noch nicht ganz so wichtig gewesen waren. »Was gibt’s?«, erkundigte sich Elias, die Gitarre auf den Knien und die Augenbrauen erwartungsvoll gehoben. »Männer sind scheiße«, verkündete seine kleine Schwester im Brustton der Überzeugung. Dann brach sie in Tränen aus. Elias erstarrte auf seinem Bett. Er hatte Katharina seit Ewigkeiten nicht mehr weinen gesehen, geschweige denn hatte er je wissen wollen, was genau es in ihrem Leben so gab, das sie dazu bringen könnte. Er legte die Gitarre beiseite und wusste nicht, was er tun sollte. »Willst du… willst du reinkommen?«, fragte er matt und Katharina nickte schniefend, schloss die Tür hinter sich und warf sich dann neben ihm aufs Bett. Elias kam schon seit zwei Jahren nicht mehr sonderlich gut mit seiner kleinen Schwester aus, was daran lag, dass er mit der Pubertät zu dem Zeitpunkt fertig geworden war, als sie gerade damit begonnen hatte. Trotzdem machte es ihn schrecklich betroffen, sie weinen zu sehen, weil er sie in den letzten zwei Jahren nur als zickige Hormonschleuder erlebt hatte, die hauptsächlich aus schlechter Laune bestand. Jetzt lag sie auf seinem Bett und er brachte rasch seine Gitarre in Sicherheit, ehe er sich dazu durchringen konnte, seiner kleinen Schwester leicht den Rücken zu tätscheln. Elias war sich nicht ganz sicher, ob er es wissen wollte, aber es schien ihm angebracht, danach zu fragen. »Was…ist denn los?« Sie schluchzte noch lauter und ihr zierlicher Körper bebte vom Weinen. Elias sah sich hektisch nach Taschentüchern um, doch er fand nur eine alte Weihnachtsserviette auf seinem Nachtschrank, auf die seine Mutter Lebkuchen und Pfeffernüsse gelegt hatte. Er schüttelte die Serviette über dem Boden aus und einige Krümel rieselten auf seinen Parkett- Fußboden. Dann hielt er Katharina die rotgoldene Serviette hin und sie sah auf, griff danach und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. Fünf Minuten lang saßen sie auf seinem Bett und Katharina sagte kein Wort, putzte sich nur ab und an die Nase und schniefte leise. Sie hatte nichts auf seine Frage hin geantwortet. Elias warf ihr ab und an einen Blick von der Seite zu und fragte sich, was um Himmels Willen passiert sein mochte. Dann fiel ihm ein, dass Katharina ja seit ungefähr einem Monat einen Freund hatte. Gehabt hatte? Wenn er seiner Schwester ein Haar gekrümmt hatte, dann würde er sich bald noch einmal prügeln müssen. Seine Mutter wäre sicherlich begeistert. »Spielst du mir was vor?«, fragte sie leise und immer noch ohne ihn anzusehen. Elias blinzelte ein wenig überrascht. Kathi fragte ihn nie, ob er ihr etwas vorspielen konnte, das tat normalerweise nur Nathalie. Vor allem, da Katharina seine Musik überhaupt nicht mochte. Aber scheinbar schien ihr das gerade egal zu sein. »Was willst du hören?«, fragte er und beugte sich zum Boden hinunter, um seine Gitarre zu sich aufs Bett zu holen und sie sich behutsam übers Knie zu legen. »Irgendwas Schönes. Was für Liebeskummer«, meinte sie. Elias sah sich in der Vermutung bestätigt, dass die erste Beziehung seiner Schwester nicht von Erfolg gekrönt gewesen war. Er dachte einen Moment lang nach und fragte sich, ob Herzschmerz- Musik wirklich das Richtige war, aber dann räusperte er sich und ließ seine Finger über die Saiten huschen. »Der Morgen graut, ich bin schon wach Ich lieg im Bett und denke nach Mein Herz ist voll, doch jemand fehlt Ich hätt dir gern noch so viel erzählt« Kathi schniefte erneut und stumme Tränen rannen ihr über die Wangen. Elias heftete seinen Blick auf die Saiten seiner Gitarre. Es war komisch, seine kleine Schwester wegen Liebeskummer weinen zu sehen. Er mochte generell keine weinenden Mädchen, weil er nie wusste, was er zu ihnen sagen oder was er tun sollte. »Traurig sein hat keinen Sinn Die Sonne scheint auch weiterhin Das ist ja grad die Schweinerei Die Sonne scheint, als wäre nichts dabei« Er mochte das Lied und er mochte den Text. Es war kein allzu schmalziges Lied und Kathi hörte nach dem Refrain erst einmal auf zu weinen. Sie lehnte den Kopf an die Wand hinter ihr, schloss die Augen und hörte der Stimme und den Gitarrenklängen ihres Bruders zu, der das erste Mal für sie spielte und sang. »Es wird schon hell, ich fühl mich leer Alles ist anders als bisher Ich wünsche mir, dass es nicht so wär Alles ist anders als bisher Du stehst nie mehr vor meiner Tür Alles ist anders als bisher Die Sonne scheint – ich hasse sie dafür« Schließlich wandte sie ihm das Gesicht zu und beobachtete ihn aus den braunen Augen, die ganz rot und geschwollen aussahen. Auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Trotzdem fand Elias, dass sie hübsch war, so weit man das als großer Bruder über seine kleine Schwester sagen konnte. »Es ist nicht wie im Film Da stirbt der Held zum Schluss Damit man nicht zu lange ohne ihn auskommen muss Es ist nicht wie im Film Man kann nicht einfach geh'n Man kann auch nicht zurückspulen Um das Ende nicht zu seh'n« Er hatte noch nie in seinem Leben Liebeskummer gehabt. Wie auch, wenn er noch nie richtig verliebt gewesen war? Er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn man sich fühlte wie in all diesen traurigen Liedern, die von Liebe und dem Verlust derselben handelten. Er hatte nichts dagegen, keinen Liebeskummer zu haben. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. »Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt Und auch, wenn das jetzt kitschig klingt: Ich hab heut Nacht um dich geweint Ich wünsch dir, dass die Sonne für dich scheint« Als das Lied geendet hatte, schwieg er und ließ seine Finger auf den Saiten seiner geliebten, alten und teilweise schon ziemlich zerkratzten Gitarre ruhen. Die Textzeilen des Liedes hingen noch in der Luft und Kathi betrachtete ihn immer noch, als wäre er plötzlich spannender, als nur der große Bruder. »Du singst gut«, eröffnete sie ihm nach einer Weile und er musste grinsen. »Danke.« Sie schaffte ein schwaches Lächeln und wandte den Blick wieder nach vorn. Aus dem Augenwinkel sah Elias, wie ihre dunklen Augen über das Chaos in seinem Zimmer huschten. Sie war seit Ewigkeiten nicht mehr hier drin gewesen. »Es sieht scheiße aus hier drin«, meinte sie schlicht. Elias schnaubte amüsiert. »Na und? Du musst ja nicht hier drin wohnen«, erklärte er. »Gott sei Dank…« Er fragte sich, ob sie ihm noch sagen würde, wieso sie geweint hatte und vor allem, wieso sie überhaupt zu ihm gekommen war. Gerade, als er zu dem Entschluss gekommen war, dass er eigentlich gar nicht so genau wissen wollte, weswegen Kathi überhaupt geweint hatte, da fing sie an zu reden. »Geht’s bei Männern eigentlich immer nur ums Vögeln? Ich meine… denken die auch noch an andere Sachen? Denkst du auch immer nur ans Vögeln?« Da waren sie also beim Thema angelangt. Wunderbar. Er war nie ein besonders guter Seelentröster gewesen, aber er hatte sich immer alle Mühe gegeben. Er hatte schon seine Cousine nach ihrem Coming Out getröstet, als eine gute Freundin von ihr sich danach von ihr abgewandt hatte. Er hatte Alex getröstet, weil sie sich hässlich und langweilig fand und weil sie dachte, dass sie nie einen Kerl abbekommen würde und weil sie das Internat hasste. Er hatte Nathalie getröstet, wenn die Jungen aus ihrer Klasse sie geärgert hatten und er hatte einige seiner Exfreundinnen getröstet, manchmal sogar, wenn sie wegen ihm geweint hatten. »Nein, ich denke nicht immer ans Vögeln«, sagte er bedächtig und dachte einen Moment an Anton, der immer sehr genau nachdachte, bevor er etwas sagte. Elias tat das normalerweise nicht, aber in diesem Moment hielt er es für angebracht, nichts Unüberlegtes zu sagen. »Aber andere Kerle denken immer nur ans Vögeln!«, sagte Kathi heftig und starrte ihn wütend an, als wäre es seine Schuld. Allerdings fand Elias, dass es ein Fortschritt war, dass sie nicht mehr weinte, sondern sauer war. »Das stimmt. Aber ich kenn Gott sei Dank keinen davon näher«, erwiderte er vorsichtig. Sie schnaubte und dann fing sie doch wieder an zu weinen. »Ich aber«, schluchzte sie und zog die Knie an ihren Oberkörper, um den Kopf darauf zu legen. Elias verfluchte sich innerlich, weil er nicht besser im Trösten war. Dann streckte er eine Hand aus und strich Kathi sachte über den Rücken. »Erzähl schon«, murmelte er leise. Also erzählte sie. Von Nico, den sie auf einer Party kennen gelernt hatte und in den sie sich verknallt hatte, dem sie ihre Nummer gegeben und mit dem sie sich einige Male getroffen hatte, bevor sie vor etwas über einem Monat zusammen gekommen waren. Von Nadja aus ihrem Jahrgang, die mit jedem vögelte und davon, dass sie noch keinen Sex haben wollte und dass Nico das offenbar nicht sonderlich toll fand und dass er ihr allen Ernstes gesagt hatte, er würde sich von ihr trennen, wenn sie nicht mit ihm schlafen wollte. Und dass sie ihn dann mit Nadja gesehen hatte, auf einer anderen Party. Und dass es ihm nicht einmal Leid getan hatte. Es war wie in einem schlechten Film oder wie auf einer dieser Dr. Sommer Seiten, die man als Teenager früher gelesen hatte. »Soll ich ihm so richtig die Fresse polieren?«, fragte er hoffnungsvoll. Kathi gab ein ersticktes Geräusch von sich, halb Lachen, halb Schluchzen. Sie schnaubte noch einmal in die rot- goldene Serviette, nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte. »Nein, ist schon ok«, meinte sie schniefend und sah ihn aus ihren rot geweinten Augen an. »Ist Sex denn wirklich so toll?«, fragte sie und bekam einen hochroten Kopf. Elias räusperte sich vernehmlich und fragte sich, ob er diese Wendung des Gesprächs ertragen konnte. »Ähm… kommt drauf an. Wenn es dich beruhigt, mein erstes Mal war eine Katastrophe und ich war danach nicht sonderlich scharf drauf. Also… musst du es nicht unbedingt so eilig haben«, erklärte er ihr und fuhr sich peinlich berührt durch die Haare. Sie sah ihn einen Moment lang an, dann beugte sie sich vor, gab ihm einen Kuss auf die Wange und stand auf. »Du bist ’n toller Bruder, weißt du?«, fragte sie, dann rauschte sie aus seinem Zimmer und ließ Elias vollkommen verwirrt und verwundert zurück. Auch die nächsten Tage sah Kathi unglücklich aus und Elias bemühte sich ihr zwei Mal täglich zu sagen, dass Nico ein Arschloch war, das sie gar nicht verdient hatte. Sie lächelte dann immer und klopfte ihm auf die Schulter, als wollte sie einerseits Danke und andererseits sagen, dass es nun einmal nicht so einfach war. In diesen Momenten kam er sich ziemlich unwissend vor. Er sah Anton erst am ersten Schultag wieder, als sie sich morgens im Treppenhaus trafen. Nachdem er in den Ferien die ganzen Tage lang hatte ausschlafen können, fiel es ihm an diesem Donnerstag besonders schwer, seinen Hintern aus dem Bett zu bekommen. Er hatte Augenringe, die ihm rein metaphorisch gesehen bis zum Kinn gingen und wie so oft schon schlurfte er morgens halbtot neben Anton her. Es war noch dunkel, während sie durch den neu gefallenen Schnee stapften, der letzte Nacht eingesetzt hatte. »Wie waren deine Ferien?«, fragte Anton mit einem Seitenblick, als wollte er sicher gehen, dass Elias nicht jeden Moment im Gehen einschlief. »War nett«, murmelte Elias und schob seine Hände in die Hosentasche, »Weihnachten war viel los und Sylvester war auch witzig.« Er traute sich nicht zu fragen, wie es bei Anton gewesen war. Die kalte Luft, die ihm ins Gesicht peitschte, ließ seine Lebensgeister langsam aber sicher erwachen. Dann wanderten seine Gedanken zu seiner kleinen Schwester, die nun seit einer Woche ziemlich blass aussah. »Meine kleine Schwester hat Liebeskummer«, erklärte er Anton, »ich versuche, sie zu trösten, aber so richtig klappt es nicht, glaub ich. Ich hatte noch nie Liebeskummer.« Anton fuhr sich durch seine schwarzen, glänzenden Haare. »Wahrscheinlich stellst du dich gar nicht so schlecht an, wie du meinst«, gab er zurück. Elias drehte den Kopf und sah Antons Profil im Licht einer Straßenlaterne nachdenklich an. »Hattest du schon mal Liebeskummer?«, erkundigte er sich, wohl wissend, dass er mit diesen ziemlich privaten Themen bei Anton grundsätzlich auf Glatteis ging. Anton antwortete zunächst nicht und seine Miene verfinsterte sich etwas, als würden Erinnerungen sein Gehirn durchfluten, die er lieber im hintersten Winkel seines Gedächtnisses aufbewahrt hätte. Sie erreichten die Straße, in der sich ihre Schule befand und Elias stöhnte innerlich beim Anblick der erleuchteten Fenster. »Ja, hatte ich«, antwortete Anton schließlich, als Elias schon gar keine Antwort mehr erwartet hatte. Dunkel fragte er sich, ob es klug wäre, weiter nach zu fragen, doch Anton schien zu ahnen, dass Elias dieses Thema spannend fand, denn er hob die Hand, sobald sie den Eingang erreicht hatten und hastete in Richtung Klassenräume davon. »Bis später«, sagte Elias verwirrt und schaute seinem Nachbarn hinterher, ehe er schließlich ebenfalls die Eingangshalle durchquerte und an der Wendeltreppe von Markus und Dominik begrüßt wurde und sie gemeinsam zum Raum gingen, in dem sie Englisch hatten. »Es wird übrigens ziemlich wahrscheinlich ein Mädchen«, flüsterte Markus ihm zu, während Herr Kron sich vorne wie so oft die Kordhose zurecht zog, um mit seinem langweiligen Geschwafel zu beginnen. »Herzlichen Glückwunsch«, nuschelte Elias, »habt ihr euch schon für einen Namen entschieden?« Dominik beugte sich zu ihnen hinüber, um zuzuhören. Alles war spannender als der Englischunterricht. »Wir haben uns ein paar ausgesucht, die wir besonders schön finden«, erklärte Markus und seine Wangen färbten sich rot, während er mit der Begeisterung eines werdenden Vaters die Auswahl auf ein Blatt Papier kritzelte. Elias las: Nia- Sophie oder Nia- Marleen oder Lea- Lekysha »Sehr ausgefallen«, meinte er schmunzelnd. Markus schnaubte. »Es wird halt ein Cappuccino- Baby. Wir wollten gern einen deutschen und einen afrikanischen Namen nehmen. Also wird es ein Doppelname. Findest du die Namen scheiße?«, gab er zurück und bei der letzten Frage wurde seine Stimme ganz unsicher. »Quatsch. Die klingen alle klasse«, antwortete Elias und er meinte es auch so. Ausgefallen musste ja nicht schlecht sein. Donnerstag war der einzige Tag, an dem Elias nicht mit Anton nach Hause gehen konnte, weil er in der siebten und achten Stunde noch Sportunterricht hatte. Ihm fiel ein, dass damals alles an einem Donnerstag begonnen hatte. Er war mit Anton zusammen gestoßen und seitdem hatte sich doch einiges verändert. Ja, mittlerweile zählte er Anton zu seinen Freunden, auch wenn da sicherlich eine Menge war, die Anton ihm nicht erzählte und die er ihm wohlmöglich nie erzählen würde. Er hatte sich mit Markus und Dominik für den kommenden Freitag auf ein gemütliches Sit- In mit DVDs, Bier und Popcorn verabredet und fragte sich auf dem Nachhauseweg von der Schule, wegen wem Anton wohl Liebeskummer gehabt hatte. Aufgrund von vorväterlichen Pflichten hatte Markus ihr Sit- In am Freitag auf vier Uhr nachmittags vorverlegt und so kam es, dass Elias schon um halb neun ziemlich angetrunken, wunderbar gelaunt und voll gestopft mit Popcorn und Weintrauben war, die Dominik seinen Eltern aus der Küche geklaut hatte. Sie hatten sich Hangover und Ice Age 3 angeschaut und als Markus verkündete, er müsste gehen, beschloss auch Elias, dass er nach Hause wollte. Er war morgen mit Christine zum Spagetti- Kochen verabredet und es wäre sicherlich nicht schlecht, wenn er etwas früher ins Bett ging. Obwohl er noch ziemlich klar denken konnte, bemerkte er, dass er nicht mehr allzu gerade gehen konnte. Aber was machte das schon. Es war dunkel und matschig und kalt und kaum jemand war draußen unterwegs. Nach zwei Anläufen traf er das Schlüsselloch und als er das Treppenhaus betrat, hörte er von oben leise Klaviermusik. Ohne Alkohol hätte er es vielleicht für keine gute Idee gehalten, jetzt noch bei Anton zu klingeln, doch der Audi seiner Mutter stand nicht unten vorm Haus, was wohl hieß, dass sie wieder einmal ausgegangen war. Er spürte den Alkohol in jeder Gliedmaße, als er die Treppe hinaufstieg und schließlich drückte er auf den Klingelknopf mit der Aufschrift ‚Nickisch’. Die Klaviermusik hielt inne. Elias fragte sich, ob er Anton noch einmal auf das Thema Liebeskummer ansprechen sollte. Vielleicht würde Anton ihm doch erzählen, wegen wem er Liebeskummer gehabt hatte. Die Tür ging auf und Anton sah ihn verwundert blinzelnd an. Elias grinste verschwommen und hob die Hand. »Hey!« Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Anton den Gruß erwidern. Dann verharrte er jedoch und starrte Elias an, der sich mit einer Hand am Türrahmen festhielt, um nicht allzu sehr zu wanken. »Hast du was getrunken?«, fragte Anton ihn. Elias blinzelte etwas erstaunt, da er Antons Stimme noch nie dermaßen scharf und schneidend gehört hatte. »Ja, ich war bei einem Freund und-« Weiter kam er nicht. Es war, als hätte er die Büchse der Pandora geöffnet. Antons Augen blitzten wütend, als er mit der Faust gegen den Türrahmen schlug. »Spinnst du, hier aufzukreuzen? Wieso hast du dich so voll laufen lassen, das ist ja widerlich!« Elias hätte nie gedacht, dass Anton schreien könnte. Aber in diesem Augenblick hallte seine Stimme laut und zornerfüllt durchs Treppenhaus. Es sah aus, als wäre Anton vollkommen außer sich. Er schlug Elias’ Hand vom Türrahmen fort und schnaubte. »Sauf dich von mir aus zu Tode, aber lass mich bloß mit deinem Scheiß- Alkohol in Ruhe!« Mit diesen Worten schlug er die Tür so heftig vor Elias’ Nase zu, dass dieser zusammen fuhr. Er stand da wie angewurzelt und vom Donner gerührt. Plötzlich fühlte er sich sehr nüchtern und furchtbar elend. Er hatte irgendetwas falsch gemacht. Auch wenn er überhaupt keine Ahnung hatte, was genau es war. Kapitel 17: Song to say goodbye ------------------------------- Das Kapitel ist nach dem gleichnamigen Song von Placebo benannt, der einer meiner Charaktersongs für Anton ist ;) Das Kapitel ging mir ziemlich leicht von der Hand und es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Ich hoffe, dass es euch auch gefällt! Das Kapitel ist diesmal für :) Viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße, _________________________ Er hatte etwas falsch gemacht. Irgendetwas. Und er wusste nicht, was es gewesen war. Was konnte es sein, das Anton dermaßen aus der Fassung gebracht hatte? Die Uhrzeit? Nein. Er war immerhin wach gewesen, er hatte Klavier gespielt. Hatte Elias ihn beim Klavierspielen gestört? Nein. Das hatte Anton bisher nie gestört. »Sauf dich von mir aus zu Tode, aber lass mich bloß mit deinem Scheiß- Alkohol in Ruhe!« Alkohol. Scheiß- Alkohol. Seine Gedanken rasten ziellos umher, er hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Nicht einen Moment lang dachte er daran, dass Anton vielleicht überreagiert hatte. Wenn Anton schon dermaßen sauer wurde… wo er doch sonst immer genau darüber nachdachte, was er sagte, was er tat. Elias war angetrunken gewesen. Anton hatte das in Rage versetzt. Aber wieso? Er schlief schlecht in dieser Nacht und sagte Christine am nächsten Morgen ab. Er wunderte sich kaum darüber, dass sie ihm schrieb, dass sie stattdessen mit Dominik ins Kino gehen würde. Es war ihm egal. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Nicht einmal auf die Musik, die ihn normalerweise immer beruhigte, wenn er schlechte Laune hatte oder deprimiert war – was zugegebenermaßen selten genug vorkam. Er tigerte in seinem Zimmer auf und ab, hatte keinen Hunger – was noch seltener vorkam als schlechte Laune – und lauschte angestrengt, ob er irgendein Geräusch aus der anliegenden Wohnung erhaschen könnte. Aber er hörte nichts. Kein Klavier. Und auch sonst nichts. Er klingelte zweimal. Einmal am Vormittag und einmal am frühen Abend, doch weder Antons Mutter noch Anton selbst machten ihm auf. Am Sonntag telefonierte er mit Alex, die allerdings auch keinerlei Ahnung hatte, wieso Anton dermaßen ausgerastet war. »Vielleicht hatte er einfach einen schlechten Tag?«, meinte sie wenig überzeugt. Elias zermaterte sich das Gehirn. Anton sprach nicht mit ihm. Und er hasste Streit. Jeglicher Art. Trotzdem irritierte es ihn ein wenig, dass er sich so schlecht deswegen fühlte. Das Klavier schwieg auch am Sonntag und Elias hatte es zwar erwartet, doch das machte den Anblick des leeren Treppenhauses am Montag auch nicht besser. Anton war bereits vorgegangen. Er wusste es. Eigentlich sollte er langsam damit anfangen, die Unterlagen für sein Abitur zu sortieren. Notizen zu schreiben, zusammen zu fassen. Aber der Montag floss in einem brackigen Bach aus Nichtstun dahin und als es dunkel wurde, lag er in Boxershorts und T-Shirt auf dem Bett, das Gesicht zur Decke gewandt und sich die Schläfen massierend, weil er tatsächlich Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken bekommen hatte. Und dann hörte er es. Drüben in der anderen Wohnung erklang das Klavier. Elias kannte die Melodie von irgendwoher, konnte sie aber nicht zuordnen. Aber das war nun ohnehin egal. Er stand hastig auf, versäumte es aus lauter Eile, sich Socken oder eine Hose anzuziehen und huschte ins Wohnzimmer. Seine Eltern saßen mit Nathalie in der Küche und aßen Abendbrot. Er schob die Balkontür auf und eiskalte Luft, die nach Schnee und Winter roch, peitschte ihm unsanft ins Gesicht. Der Himmel war sternenlos und von stumpfen, dicken Wolken bedeckt, die nicht einmal das Mondlicht durchdringen konnte. Einen Moment lang zögerte er, schob die Tür wieder zu und huschte zurück in sein Zimmer. Seine Mutter würde ihn bei lebendigem Leib häuten. Fahrig kramte er nach einem Zettel und einem Stift. Er fand einen schwarzen Edding und malte große Druckbuchstaben darauf. »Es tut mir Leid!« Während er mitsamt dem Zettel zurück ins Wohnzimmer schlich, lauschte er aufmerksam der Musik. Er erkannte die Melodie nun, auch wenn das Lied als Klavierstück ungewohnt und etwas fremd klang. Es war ‚Song to say goodbye’ von Placebo. Er versuchte sich den Text ins Gedächtnis zu rufen, während er barfuß und ausgesprochen luftig bekleidet hinaus in die Nacht trat. Hinter sich schob er die Balkontür wieder zu. Seine Augen huschten hinüber zum anderen Balkon, der vielleicht einen Meter von dem ihren entfernt in der Luft hing. Im dritten Stock. Er zitterte heftig, als er sich den Zettel in den Bund seiner Boxershorts schob und beherzt einen Fuß auf die Balkonbrüstung setzte. Er hatte keine Höhenangst, aber trotzdem war ihm mulmig zumute. Er spürte die raue Oberfläche des Betons unter seinen nackten Füßen, als er – mit dem Gesicht zur Hauswand – einen halben Spagat hinlegte und seinen rechten Fuß auf die Brüstung von Antons Balkon setzte. Ein eisigkalter Wind blies ihm durch die Haare und ließ ihn frösteln. Er wurde normalerweise nie krank. Aber er hatte das dunkle Gefühl, dass er sein Immunsystem gerade unnötig herausforderte. Eine ganze Minute, so kam es ihm vor, stand er dort oben, breitbeinig, zwischen den Balkonen, mit hämmerndem Herzen, das Stück Papier an seinen Bauch gedrückt. You are one of god's mistakes. You crying, tragic waste of skin. I'm well aware of how it aches. And you still won't let me in. Der Text schoss ihm durch den Kopf, während er der Melodie im Nebenzimmer lauschte, das nun so nah war. Er konnte helles Licht durch die dunklen Vorhänge von Antons Zimmer schimmern sehen. Er musste nur seinen zweiten Fuß auf die Brüstung von Antons Balkon ziehen. Das war alles. Now I'm breaking down your door, To try and save your swollen face. Though I don't like you anymore You lying, trying waste of space. Er holte tief Luft, dann machte er einen kleinen Satz, zog seinen Fuß von der Brüstung seines Balkons und schwankte einen Moment lang, ehe er nach vorn kippte und mit dem leisen Klatschen nackter Füße auf dem Boden von Antons Balkon landete. Tiefe Atemzüge halfen ihm ein wenig dabei, sein schnell klopfendes Herz zu beruhigen. Er zog den Zettel aus dem Bund seiner Shorts und trat zitternd an die Scheibe, hob beide Hände und klopfte gegen das Glas. Die Musik drinnen verstummte auf der Stelle, während Elias nun heftig zitternd und bebend vor Kälte das Papier an die Scheibe drückte und hoffte, dass Anton die Vorhänge beiseite ziehen würde. Eine kleine, eiskalte Ewigkeit lang geschah nichts, dann glitten die Vorhänge zur Seite und Anton stand ihm gegenüber, das Gesicht verwundert und misstrauisch gleichzeitig, während seine dunklen Augen von Elias’ Gesicht zu dem Stück Papier und dann über die leichte Bekleidung seines Nachbarn huschten. Elias probierte es mit einem halben Grinsen, aber seine Muskeln schienen eingefroren zu sein. Und dann öffnete Anton die Tür und starrte ihn vorwurfsvoll an. »Hast du sie noch alle? Bist du schon wieder betrunken? Was machst du halbnackt da draußen?«, fragte er und Elias schlüpfte schnell an ihm vorbei in das warme Zimmer dahinter. Er hielt immer noch den Zettel in der Hand und erst einen Moment später wurde ihm bewusst, dass er gerade das erste Mal in Antons Zimmer war. Er stand mittendrin. Auf einem hellgrauen, ziemlich weichen Teppich. »Stocknüchtern«, entgegnete Elias mit vor Kälte bibbernden Zähnen und hob seine freie Hand, um zu schwören, dass er nichts getrunken hatte. Anton schnappte ihm das Stück Papier aus der Hand und starrte es an. Dann starrte er Elias an. »Du spinnst. Echt. Du hast sie nicht mehr alle. Wir haben minus sechs Grad da draußen!« Elias versuchte es erneut mit einem Grinsen. Anton grummelte etwas Unverständliches, dann legte er das Schild auf seinem Klavier ab und deutete auf ein zweischenkliges, dunkelblaues Sofa. Elias ging hinüber, ließ sich darauf nieder und rieb sich die Hände. Obwohl es hier drin angenehm warm war, fror er erbärmlich. Anton schien das zu bemerken, dann er ging zu seinem breiten Bett hinüber, schnappte sich die Bettdecke und warf sie über Elias, sodass sie auch seinen Kopf bedeckte. Elias musste lachen, zog sich die Decke vom Gesicht und wickelte sich so gut es ging darin ein. »Willst du einen Tee?«, fragte Anton ihn und seine fast schwarzen Augen bohrten sich in die von Elias. Der schaute zurück und war immer noch einfach nur dankbar dafür, dass Anton die Tür geöffnet hatte. Er nickte. »Schwarz, grün, Hagebutte, Kamille, Kräuter, Früchte-«, begann Anton aufzuzählen. Elias musste schon wieder lachen. »Irgendwas. Ich trink sonst nur Eistee. Irgendwas, das du auch magst«, meinte er. Anton musterte ihn ein wenig irritiert, dann zuckte er mit den Schultern und verschwand aus dem Zimmer. Leise schloss sich die Tür hinter ihm und Elias war allein in dem großen Raum, der drüben in seiner Wohnung das Wohnzimmer war. Er schaute sich um. Die ganze Fensterfront vor dem Balkon war mit dunklen Gardinen verhangen. Das gesamte Zimmer war grau, weiß und dunkelblau gehalten. Das Klavier war schwarz und stand dem Sofa schräg gegenüber in einer Ecke neben der Tür. Das Bett, das mindestens 1,40 m breit war, war mit dunkelblauer Bettwäsche und einem weißen Laken bezogen. Es gab nicht viele persönliche Dinge hier und alles war penibel aufgeräumt. Es gab ein sehr breites, weißes Regal mit haufenweise Büchern darin, ebenso wie Notenhefte und einige Klassik- CDs. Elias sah auch Shinedown und Three Doors Down. Der Schreibtisch war so groß, dass Elias sich gar nicht vorstellen konnte, wofür Anton all den Platz brauchte. Ein kleiner Laptop stand in der Mitte des weißen Tisches und wirkte merkwürdig verlassen auf der großen Arbeitsfläche. Ein Becher mit Stiften und eine Ablage für Papiere, mehr war nicht darauf zu sehen. Vor dem Sofa stand ein kleiner Glastisch, auf dem nichts lag. Ein Fernseher stand in einem TV- Regal dem Sofa gegenüber. Er konnte aufgrund der Größe des Zimmers die Titel der Filme nicht lesen. Kein einziges Poster zierte die Wände, keine Fotos. Das Zimmer sah aus wie aus einem Möbelkatalog. Seine Augen blieben am weißen Nachtschrank hängen, der neben dem Bett stand. Ein Wecker war darauf platziert worden. Und daneben stand ein Bilderrahmen. Elias konnte das Foto nicht sehen, das darin war, weil das Bild mit dem Rücken zu ihm stand. Gerade überlegte er, ob er aufstehen und es sich ansehen sollte, als Anton zurück ins Zimmer kam, eine Tasse mit dampfendem Tee in der Hand. »Schwarzer Tee mit Milch und Zucker«, kommentierte Anton, als er Elias die Tasse mit einer karamellfarbenen Flüssigkeit reichte, die aussah wie Milchkaffee. Die heiße Tasse zwischen seinen Fingern brachte ihn zum Aufseufzen und er legte seine Hände darum. »Danke«, entgegnete er und schaffte ein Lächeln, da seine Muskeln offenbar langsam wieder auftauten. Anton ging hinüber zu seinem Klavier, setzte sich auf den Klavierhocker und beobachtete Elias dabei, wie er vorsichtig in die Tasse hinein pustete, damit der Tee schnell abkühlte und er ihn trinken konnte, ohne sich die Zunge zu verbrennen. »Und danke, dass du mich rein gelassen hast«, fügte er hinzu. Anton schnaubte und wandte den Blick von ihm ab. »Du kletterst auf meinen Balkon, hast kaum was an… da kann ich dich nicht draußen stehen lassen. Wieso hast du das gemacht?«, wollte er wissen. Elias senkte den Blick in seine Tasse und starrte auf die milchige Flüssigkeit darin. »Du hast nicht aufgemacht, als ich geklingelt hab… ich wollte mich entschuldigen«, murmelte er leise und etwas verlegen. Wenn irgendjemand ihn bei seiner Kletteraktion beobachtet hatte, dann würde er nun sicher als perverser Stalker in irgendeine Akte aufgenommen werden. »Wofür?«, fragte Anton ruppig, wandte sich von ihm ab und drehte sich zu seinem Klavier um. Elias sah, wie sich die schlanken Finger auf die weißen Tasten legten, als wollte er wieder zu spielen beginnen. »Weiß ich nicht. Aber ich hab offensichtlich was falsch gemacht. Und deswegen wollte ich mich entschuldigen«, erklärte Elias ein wenig bedröppelt. Anton schwieg eine ganze Weile lang. Er hatte den Kopf gesenkt, als würde er seine Finger betrachten, die vollkommen ruhig und bewegungslos auf den kühlen Tasten des Klaviers lagen. »Du willst dich für etwas entschuldigen, von dem du gar nicht weißt, was es eigentlich ist?«, wiederholte Anton, als wollte er sichergehen, dass er es auch richtig verstanden hatte. Elias nahm einen Schluck Tee und räusperte sich verlegen. »Ähm, ja… Ich wollte nicht, dass du noch sauer auf mich bist. Bist du noch sauer?«, erkundigte er sich vorsichtshalber. Anton wandte sich wieder zu ihm um und sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an. »Du hättest dir den Hals brechen können«, sagte er, ohne auf Elias’ Frage zu antworten. Elias nahm noch einen Schluck Tee. Es schmeckte nicht schlecht. »Aber du hast die Tür nicht aufgemacht«, erwiderte Elias und er wusste, dass er wie ein kleiner Junge klang. Anton starrte ihn an. »Na und? Du hättest dir den Hals brechen können!«, sagte er nun etwas heftiger. »Dann mach das nächste Mal die Tür auf!«, beharrte Elias. Anton schüttelte ganz leicht den Kopf, so als könnte er nicht ganz glauben, was er da sah und hörte. »Bist du noch sauer?«, fragte Elias noch einmal. Anton sah ihn an. Diese Augen waren so dunkel. Elias fragte sich einen bescheuerten Moment lang, ob diese Augen irgendwann einmal heller gewesen waren, als Anton sein Lächeln noch nicht verlernt hatte. »Weiß nicht…«, sagte Anton schließlich leise. Elias seufzte und nahm noch einen Schluck Tee. Er hatte noch nie vorher schwarzen Tee mit Milch und Zucker getrunken. Er wusste, dass ihn dieser Geschmack und auch der Geruch nun immer an Anton erinnern würden. »Wieso bist du sauer?«, wollte Elias wissen. Er ahnte, dass er wieder Glatteis betrat, genauso, wie er es schon bei seiner Liebeskummerfrage getan hatte. Antons Finger verhakten sich ineinander und er legte den Kopf in den Nacken, als wollte er seine Decke mustern, die einfach nur Raufaser- weiß war. »Ich mag keine Drogen. Keine Zigaretten. Keinen Alkohol«, sagte er zur Decke und Elias sah, wie sich die Hände in Antons Schoß ein wenig verkrampften. Er spürte deutlich, dass etwas auf ihn zurollte wie eine unaufhaltsame Lawine, die einen begrub und erstickte. Er fragte nicht weiter nach, trank nur seinen Tee und sah Anton abwartend an, beobachtete, wie er weiterhin die Decke musterte, als wäre sie besonders spannend. Oder so, als würde die weiße Decke ihm dabei helfen, das zu sagen, was er als nächstes sagte. »Mein Vater ist Alkoholiker.« Das Zimmer schien zur Seite zu kippen und Elias hatte das Gefühl, er müsste sich am Sofa festhalten, um nicht zu fallen. Seine Hände griffen die Teetasse etwas fester und er schluckte nervös. »Sauf dich von mir aus zu Tode, aber lass mich bloß mit deinem Scheiß- Alkohol in Ruhe!« Familie Nickisch, die – so wie Elias sie kannte – nur aus Anton und seiner Mutter bestand, war also eigentlich ein kompliziertes Gebilde aus drei Teilen. Elias versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, wenn der Vater ständig betrunken war. Er scheiterte kläglich. Seine Familie war so heil, wie es nur sein konnte. Er hatte eine liebevolle Mutter und einen humorvollen, verpeilten Vater. Eine Pokémon- verrückte Schwester und eine, die gerade in der Pubertät steckte. Alles war vollkommen normal. Sein Leben war vollkommen normal. Er hatte Freunde, er war beliebt, er sah nicht schlecht aus und hatte gute Noten. In seinem Leben war nie irgendetwas schief gelaufen. Und hier saß er in einem Katalog- Zimmer mit einem Jungen, dessen Mutter sich durch die Weltgeschichte vögelte und ihre Liebhaber mit nach Hause brachte und dessen Vater ein Alkoholiker war. Elias hatte keine Ahnung, was man zu so etwas sagen konnte. Er hatte Leute getröstet, wegen Nichtigkeiten wie Liebeskummer oder Streit mit den Eltern. Aber niemals hatte er jemanden gekannt, der so ein Leben hatte wie Anton. »Er hat meine Ma betrogen und als sie ihm die Scheidungspapiere auf den Tisch geknallt hat, hat er angefangen zu trinken. Entzugskliniken bringen nichts. Irgendwann säuft er sich zu Tode. Ist nur eine Frage der Zeit… deswegen mag ich keinen Alkohol.« Antons Stimme klang hart und ungnädig und so, als würde ihn an seinem Vater nichts mehr liegen. Elias’ Kehle war staubtrocken. Es war merkwürdig, Anton so sprechen zu hören, der normalerweise immer so bedächtig, ruhig und sachlich sprach. Er konnte förmlich die Mauern sehen, die sich hinter Antons Augen aufgebaut hatten. You are one of god's mistakes. You crying, tragic waste of skin. Elias trank den Tee aus und beugte sich vor, um die Tasse auf den Glastisch zu stellen. Endlich senkte sich Antons Kopf und er blickte Elias direkt in die Augen. »Es war also eigentlich gar nicht deine Schuld. Aber ich kann nichts dafür. Wenn jemand, den ich… wenn jemand in meiner Nähe Alkohol trinkt, dann setzt es bei mir einfach aus«, murmelte er leise und seine Wangen färbten sich rot. Elias’ Herz machte einen unerklärlichen Satz und er fuhr sich durch die Haare. Vor einigen Minuten war ihm noch eiskalt gewesen, jetzt war ihm plötzlich ziemlich heiß. »Ich hab keine Ahnung, was ich dazu sagen soll«, nuschelte er verlegen und unangenehm berührt. Anton legte den Kopf schief und musterte ihn. »Macht nichts. Das ist besser als alles, was man dazu sagen kann. Außerdem gibt es ohnehin nichts mehr an diesem Thema, worüber man noch reden kann.« Antons Stimme verlor sich und Elias schälte sich langsam aus der Bettdecke. I'm well aware of how it aches. And you still won't let me in. Anton hatte ihm ein Geheimnis erzählt. Aber Elias hatte das deutliche Gefühl, dass es nicht dieser Umstand allein war, der die dunklen Augen so traurig aussehen ließ. Doch er fragte nicht weiter nach. Anton drehte sich zu seinem Klavier um, legte erneut die Finger auf die Tasten und begann zu spielen. It’s a song to say goodbye… Kapitel 18: Wieso...? Weil...! ------------------------------ Hey! Weil erraten hat, was als nächstes passieren soll, habe ich das Kapitel in zwei Teile geteilt. Jetzt weiß sie nicht, was in diesem Kapitel passiert ;) Ich muss an der Stelle übrigens anmerken, dass ich bald Klausuren schreibe und deswegen erstmal nicht so schnell wieder zum Tippen komme (es sei denn, ich drücke mich unvernünftigerweise vorm Lernen... O:)). Ich wünsche euch aber viel Spaß beim Lesen und eine schöne Restwoche mitsamt tollem Wochenende! Liebe Grüße, ______________________ »Kommt nicht in Frage, du nimmst die Tür!« »Meine Ma killt mich, wenn ich in Boxershorts auftauche!« »Ist mir vollkommen egal, du kletterst nicht wieder über den Balkon!« Elias wusste im Nachhinein nicht mehr, wie lange diese Diskussion gedauert hatte. Irgendwie war es auch ein wenig lächerlich gewesen, wie Elias vor Anton in Shorts und T-Shirt gestanden hatte. Schließlich hatte er einen verzweifelten Plan entwickelt. »Kann ich mal telefonieren?« Und Anton hatte ihm mit skeptischer Miene das Telefon gereicht und Elias hatte die Nummer von drüben gewählt. »Neumann?« Er erinnerte sich, wie erleichtert er gewesen war, diese Stimme zu hören. »Hey Kathi, kannst du im Wohnzimmer die Balkontür zumachen und dann die Wohnungstür aufmachen? Ich bin bei Anton drüben«, hatte er gesagt. Stille am anderen Ende. Es war immerhin einmal im Leben ein Segen gewesen, dass seine Schwester fast immer das Telefon für sich pachtete. Fast hatte er erwartet, dass seine Schwester Fragen stellen würde, aber sie tat nichts dergleichen und hatte einfach nur ‚Ok’ gesagt und aufgelegt. Jetzt lag er in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Immer wieder huschten Antons Worte durch seinen Kopf, das Gesicht seines Nachbarn wollte nicht mehr aus seinen Gedanken verschwinden. Also war Antons Vater Alkoholiker. Elias versuchte es sich immer und immer wieder vorzustellen. Wie Antons Mutter es erfahren hatte, dass ihr Mann untreu gewesen war. Wie sie sich daraufhin von ihm scheiden ließ. Und wie Antons Vater daraufhin anfing zu trinken und schließlich irgendwann nicht mehr aufhören konnte. Hatte er es also bereut, dass er seine Frau betrogen hatte? Und obwohl Anton ihm nun dieses Geheimnis anvertraut hatte, war sich Elias sicher, dass da noch etwas war. Etwas anderes. Etwas, das Antons Augen schwarz und traurig gemacht hatte. Als er am nächsten Morgen von seinem Wecker geweckt wurde, fühlte er sich vollkommen gerädert. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er auf die doppelte Größe angeschwollen, sein Hals war trocken und tat beim Schlucken weh und er bekam kaum die Augen auf, die sich reichlich verklebt anfühlten. Stöhnend drehte er sich auf die andere Seite und schlug nach seinem Wecker. Mit einem Scheppern fiel er zu Boden, hörte jedoch nicht auf zu piepen. Elias vergrub den Kopf unter der Bettdecke. Er fühlte sich matschig und er wusste auch ganz genau, woran das lag. Sein Körper bestrafte ihn dafür, dass er gestern Abend ohne Schuhe, Hose und Jacke auf Antons Balkon geklettert war. Ächzend quälte er sich aus dem Bett und tastete im Dunkeln seines Zimmers nach dem immer noch piependen Wecker. »Du siehst aus, als ginge es dir richtig mies«, wurde er von Kathi begrüßt, die ihn forschend vom Küchentisch aus anstarrte, als er herein kam und sich neben ihr auf einen Stuhl fallen ließ. Seine Mutter warf ihm einen forschenden Blick zu. »Du hast ganz glasige Augen, Schatz«, sagte sie, beugte sich zu ihm hinunter und fühlte seine Stirn. »Ich sag ja, du ziehst dich für dieses Wetter einfach viel zu luftig an!« Elias beschloss benebelt, dass er ihr lieber nie sagen würde, wie luftig er gestern Abend angezogen war. »Ich zieh heut zwei Pullis an, versprochen«, krächzte er. Na wunderbar. Seine Stimme hatte sich offenbar fast gänzlich über Nacht verabschiedet. »Draußen schneit es auch wieder«, eröffnete seine Mutter ihm. Elias stöhnte. Er war eindeutig ein Sommerkind. Mit Schnee und Regen und Kälte konnte er nicht besonders viel anfangen. Er ging duschen, machte sich fertig, zog sich ungewöhnlich dick an und stopfte die Schulsachen, die er für den Dienstag brauchte, in seinen Rucksack. Er hatte Dienstag sieben Stunden. Allerdings war er sich noch nicht ganz sicher, ob er diese sieben Stunden überhaupt durchhalten würde. Sein Kopf fühlte sich tatsächlich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Draußen im Treppenhaus blickte ihm ein blasses Gesicht, umrahmt von schwarzen Haaren, entgegen. »Geht’s dir gut?«, fragte Anton und durch einen Schleier von Müdigkeit meinte Elias, einen Hauch von Besorgnis zu hören. »Kopfschmerzen«, war alles, was er dazu sagen konnte und hinter vorgehaltener Hand versteckte er ein abgrundtiefes Gähnen. Als sie die Haustür unten öffneten, empfing sie ein wahres Schneegestöber. Elias stand in der Tür, kurz davor einfach wieder umzudrehen und sich diesem Mistwetter zu entziehen. »Na toll«, nuschelte er, zog sich die Kapuze seiner Jacke ins Gesicht und stapfte hinaus in den zentimeterdicken Schnee. Anton folgte ihm und beobachtete ihn von der Seite. »Du hast heute sieben Stunden, oder?«, erkundigte sich Anton. Sie waren bisher jeden Dienstag gemeinsam nach Hause gegangen. Elias nickte. »Du ja auch«, murmelte er. Anton räusperte sich. »Nein. Ich hab nur sechs Stunden«, sagte er leise. Elias blinzelte verwirrt, hob den Kopf und sah Anton an. »Heißt das, du hast jeden Dienstag eine Stunde auf mich gewartet?«, fragte er vollkommen perplex. Auf Antons Wangen erschien ein rötlicher Schimmer. »Du wartest jeden Freitag zwei Stunden auf mich«, gab er zurück und klang ein wenig trotzig. »Na und? Ich komme auch jeden Montagnachmittag noch mal zur Schule zurück, weil ich nur sechs Stunden hab und du acht«, grummelte Elias. Antons Gesicht wurde noch röter. »Das hast du mir nicht gesagt!«, entrüstete er sich. Elias zuckte mit den Schultern und grinste Anton durch das Schneegestöber an. »Ich dachte mir schon, dass du dich darüber ärgern würdest«, gab er zurück. Sein Kopf pochte unangenehm, sein Hals kratzte. Anton murmelte noch etwas Unverständliches, schwieg dann aber und vergrub seinen Mund im Kragen seiner Jacke und in dem schwarzen Schal, den er sich wie jeden Morgen um den Hals gewickelt hatte. Wie jeden Morgen hob Anton am Eingang der Schule die Hand und verschwand ins Innere des Gebäudes. Elias nieste und folgte ihm langsamer, während sein Kopf sich angesichts des hellen Neonlichts in der Eingangshalle beklagte. Es war eindeutig nicht sein Tag. Er war einer der schlechtesten in Physik, was ihm bisher noch nie passiert war. Geschichte verbrachte er hustend, niesend und dösend auf dem Tisch, ohne sich die geringsten Notizen zum Thema Christenverfolgung im Römischen Reich zu machen. »Wo zur Hölle hast du dich eigentlich so erkältet?«, erkundigte sich Dominik in der Pause zwischen der sechsten und siebten Stunde. Elias schniefte und nahm ein Taschentuch von Markus entgegen. »Bin in Boxershorts aufm Balkon gewesen«, nuschelte er und putzte sich ausgiebig die Nase. Das erste, was er zu Hause tun würde, war eine Kopfschmerztablette zu schlucken. »Du willst uns nicht sagen, wieso du so einen Scheiß machst, oder?«, wollte Markus mit hochgezogenen Augenbrauen wissen. Elias schüttelte den Kopf und winkte ab. »Frag lieber nicht…«, entgegnete er und sah Dominik einen Moment lang an. Dann fiel ihm etwas ein. »Wie war’s eigentlich mit Chris im Kino?« Dominik, der gerade an einem Apfelsaft Tetrapack schlürfte, verschluckte sich heftig und begann zu husten. Elias hob die Augenbrauen und klopfte Dominik fürsorglich auf den Rücken. »Nett«, röchelte Dominik und lief knallrot an. Elias legte den Kopf schief und warf Markus einen Blick, der plötzlich ziemlich interessiert an seinen Turnschuhen zu sein. Elias hatte das eindeutige das Gefühl, dass Dominik ihm etwas mitteilen wollte. »Willst du mir irgendwas sagen?«, erkundigte er sich beiläufig. Dominiks Gesicht färbte sich noch dunkler und er begann zu stammeln. »Also, es ist… na ja, ich weiß nicht genau… was ich sagen will, ist…« Markus verdrehte die Augen und stibitzte Dominiks Apfelsaft, um selbst einen Schluck zu trinken. Er schien zu wissen, worum es ging. »Ich fürchte, ich habe… also, nicht, dass du denkst, ich hätte sie angebaggert! Das würde ich nie tun! Da ist auch nichts gelaufen, wir haben nur nach dem Kino noch stundenlang geredet und… ich glaube… ich bin total verschossen…« Elias blinzelte ein wenig verwundert und sah Dominik an, der händeringend vor ihm stand und mit hochrotem Kopf und schuldbewusster Miene Elias’ linkes Knie anstarrte, als fürchtete er, Elias würde ihm nun die Freundschaft kündigen. »Wow«, war alles, was ihm dazu einfiel. Allerdings war das wohl kaum eine angebrachte Antwort, also überlegte er rasch, was er sonst noch sagen konnte. »Na ja, sie ist ja auch echt klasse«, meinte er und räusperte sich, »und dann hat sich das mit Eva endlich erledigt, ja?« Dominiks braune Augen huschten zu Elias’ Gesicht und er nickte zögerlich. Elias musste grinsen. »Und? Wie sieht es bei ihr aus?« Er wusste, dass er in diesem Moment so redete, als seien er und Christine nur gut befreundet und irgendwie stimmte das ja auch. Dominik seufzte. »Keine Ahnung. Es war echt toll, ich hatte das Gefühl, dass wir total auf einer Wellenlänge sind. Aber ob sie mich so einem wie dir vorziehen würde… also…« Er verstummte und wurde noch etwas röter. Da waren sie wieder, Dominiks Minderwertigkeitskomplexe angesichts der Tatsache, dass Elias die Mädchen anzog wie ein Magnet und er selbst erst eine Freundin gehabt hatte. »Könntest du das mal lassen? Wieso sollte sie es nicht tun, ich bin nicht verliebt in sie und sie auch nicht in mich. Das ist mehr ein freundschaftliches Fickding, verstehst du? Wir verstehen uns gut, aber du tust grad so, als würde ich dir den Kopf abreißen. Du kannst doch nichts dafür. Außerdem solltest du damit aufhören, dich immer unter Wert zu verkaufen. Wenn es dich beruhigt, es ist nicht besonders erfüllend, immer nur mit Mädchen rum zu machen und mit einigen von denen zusammen zu sein, obwohl man nicht verliebt ist«, meinte er ziemlich grummelig und verschränkte die Arme vor der Brust. Markus schmunzelte kaum merklich, Dominik sah seinen besten Freund mit großen Kuhaugen an. »Aber… ihr seid ja immer noch zusammen, also… und wenn sie mich gar nicht mag…« Elias verdrehte die Augen. »Ich werd mal mit ihr drüber reden. Wenn sie mir sagt, dass sie auch was von dir will, dann machen wir einfach Schluss und du kannst mit ihr glücklich werden, ok?« Das klang merkwürdig. Aber er würde sich wirklich freuen, wenn Dominik und Christine zusammen kämen. Dominik schwärmte schon so lange unglücklich für Eva und Elias fand, dass er endlich einmal eine tolle Frau wie Christine verdient hatte. »Ich ruf sie nachher an und sag dir dann Bescheid«, versprach und er massierte sich die Schläfen. Sein Kopf platzte sicherlich gleich. »Lass Mathe doch sausen und geh nach Hause, wenn es dir so mies geht. Du kriegst eh ne Eins von der Beyer und kannst doch alles«, sagte Markus beim Klingeln und schüttelte den Kopf. Elias zögerte nur einen Moment. »Ok. Du hast gewonnen, zukünftiger Dr. Kauz. Wir sehen uns morgen!« Und mit diesen Worten hob er noch einmal die Hand zum Gruß, klopfte Dominik grinsend auf die Schulter und machte sich auf den Weg in die Eingangshalle. Dort war es beinahe ganz leer, aber hinten auf einer Eckbank saß ein schwarzhaariger Jemand und kritzelte auf einem Collegeblock herum. Elias nieste zweimal kräftig, während er auf Anton zuging, der ziemlich vertieft in etwas war. Als Elias direkt vor ihm stand und einen Blick auf den Block warf, las er nur eine unterstrichene Antwort namens ‚Spiegel’. Dann sah Anton auf und klappte den Block so hastig zu, dass er seine Finger dazwischen einklemmte. »Was machst du denn schon hier?«, fragte er mit rot gefärbten Wangen und sah Elias an, während er eifrig seinen Block in seinen Rucksack steckte. »Mir geht’s beschissen, ich schwänze Mathe«, erklärte er trocken und grinste verlegen, dann musste er erneut niesen und wandte sich hastig von Anton ab, um ihn nicht zu bespränkeln. »Hast du zufällig ein Taschentuch?«, schniefte er und sah Anton hoffnungsvoll an. Sein Nachbar nickte und kramte in seiner Tasche herum, hielt ihm eine Packung Tempo hin und beobachtete Elias dabei, wie er sich ausgiebig die Nase schnäuzte. »Das ist die Strafe für deine Balkon- Aktion«, erklärte Anton und klang ein wenig verstimmt. Elias grinste und sah Anton amüsiert an, während dieser sich seine Jacke anzog und den Schal umband. »Hat sich aber gelohnt«, meinte er. Anton sah ihn einen Moment lang irritiert an, dann wurde er schon wieder rot, wandte sich ab und stapfte an Elias vorbei in Richtung Ausgang. »Hey, warte mal«, rief Elias lachend und folgte Anton aus der Eingangshalle. Sie gingen schweigend nebeneinander her und Elias dachte an Dominik und Christine. »Einer meiner besten Kumpels hat sich in meine Freundin verknallt«, sagte er schließlich. Er wusste nicht genau wieso. Antons dunkle Augen flackerten zu ihm herüber und blickten ihn fast prüfend an. »Das scheint dir nicht viel auszumachen«, sagte er bedächtig und schob seine von der Kälte leicht geröteten Finger in die Hosentaschen. »Tut es auch nicht«, gab Elias ein wenig verlegen zurück, »wir sind nicht wirklich verliebt ineinander und Dominik – mein Kumpel – hatte bisher immer Pech mit den Frauen. Ich freu mich richtig drüber… ich hoffe sogar, dass sie auch in ihn verschossen ist.« Anton schwieg auf diese seltsame Offenbarung hin eine ganze Weile lang. »Wieso bist du mit all den Mädchen zusammen, wenn du nicht in sie verliebt bist?«, erkundiget er sich dann leise, so als wäre er sich nicht sicher, ob er das fragen durfte. Elias grinste, immer noch verlegen. »Weiß ich nicht. Es ergibt sich meistens irgendwie. Eigentlich bin ich auch lieber Single, denke ich«, meinte er nachdenklich. Antons Mundwinkel zuckten. »Meine beste Freundin meint, es könnte sein, dass ich vielleicht auf Männer stehe«, platzte es plötzlich aus ihm heraus und Antons Kopf flog so schnell zu ihm herum, dass Elias ein Knacken hörte. Anton starrte ihn an, die unergründlichen, fast schwarzen Augen flackernd auf ihn gerichtet. »Und was meinst du dazu?«, fragte er. Elias zuckte die Schultern. »Ich hatte bisher immer nur was mit Frauen. Hab mir nie Gedanken darum gemacht, dass ich vielleicht nicht ganz hetero bin. Wenn es sich irgendwann ergibt, soll es mir auch recht ein. Klingt vielleicht blöd… aber eigentlich möchte ich mich bloß mal verlieben, um zu wissen, wie das ist. Egal ob in ein Mädchen, oder in einen Jungen…« »Verliebt sein muss aber nicht unbedingt schön sein«, erklärte Anton ihm in einem sachlichen Tonfall, als würde er aus einem Lehrbuch vorlesen. Elias beobachtete ihn von der Seite. Die dunklen Augen funkelten. »Wenn ich zu persönliche Fragen stelle, verkriechst du dich wieder in dein Schneckenhaus, oder?«, gab Elias offen zurück und Anton sah ihn erstaunt blinzelnd an. Dann lächelte er kaum merklich und hob den Blick gen Himmel. »Und selbst wenn. Du gibst doch sowieso nicht auf. Wieso auch immer«, murmelte er leise, als würde er mit den schweren, grauen Wolken sprechen, die den Himmel bedeckten. »Wo du Recht hast, hast du Recht«, meinte Elias grinsend und betrachtete fasziniert das leichte Lächeln auf Antons Lippen. »Wieso eigentlich?«, wollte Anton wissen, wandte die Augen vom Himmel und blickte stattdessen zu Elias hinüber, der nach seinem Hausschlüssel kramte, als sie Efeuweg Nr. 4 erreichten. »Wieso was? Wieso ich dir immer wieder auf den Sack gehe und dich nicht in Ruhe lasse?«, gab Elias grinsend zurück. Anton wurde rot. »Du gehst mir nicht… du nervst nicht…«, nuschelte er leise. Elias lachte leise, klopfte Anton auf die Schulter und aus seinem Lachen wurde ein Husten. Dann schloss er dir Tür auf und sie traten beide ein. »Das freut mich aber. Hast du Lust bei uns drüben zu essen? Es gibt Spagetti mit Spinatkäsesoße«, meinte Elias plötzlich irgendwie besonders gut gelaunt und zog seine Schuhe vor der Haustür aus. Anton nickte zögerlich. Dann… »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte er unsicher. Elias grinste breit. »Du bist ein Trottel«, sagte er, knuffte Anton in die Seite und schob ihn in die Wohnung, »ich mag dich halt. Was sonst?« Anton wurde erneut rot, sagte aber nichts. Allerdings breitete sich auf seinem blassen Gesicht ein weiteres, leises Lächeln aus, das Elias zufrieden seufzen ließ. Kapitel 19: Gute Besserung -------------------------- Für Tanja, die olle Nölnudel, weil sie jeden Tag zwanzig Mal fragt, wann endlich das nächste Kapitel kommt. Viel Spaß beim Lesen! _______________________________ Wenn Dominik wüsste, wie selbstlos er war, dann würde er ihm sicherlich einen Orden verleihen. Elias hatte den Nachmittag über seine Stimme eingebüßt. Jetzt konnte er nur noch krächzen. Trotzdem hatte er – nachdem Anton wieder nach drüben gegangen war – bei Christine angerufen. »Hallo, ich bins.« »Wer ist ich? Ich kenne kein Reibeisen«, hatte sie trocken erwidert. Wenn er nicht so heiser gewesen wäre, dann hätte man sein Lachen sicherlich gehört. »Mach dich nur lustig! Ich muss dieses Telefonat schnell beenden, bevor ich nur noch Zeichensprache benutzen kann«, krächzte er. »Na dann komm am besten schnell auf den Punkt«, sagte sie und er hörte das Grinsen in ihrer Stimme. Wenn sie es punktgenau wollte, konnte sie es haben… »Bist du in Dominik verschossen?« Dröhnende Stille machte sich am anderen Ende breit. Elias fragte sich, ob Christine vielleicht auch plötzlich heiser geworden war, aber schließlich antwortete sie doch. »Wie kommst du darauf?« Elias musste grinsen. Sie klang eindeutig nervös. Wenn das kein gutes Zeichen war, dann wusste er auch nicht weiter. »Er hat mir nur erzählt, dass ihr im Kino wart und euch gut verstanden habt«, meinte er beiläufig. Erneutes Schweigen. Elias nutzte die Zeit, um ausgiebig zu husten. »Na ja… also…« Das war das erste Mal, dass er Christine Stottern hörte. Und immerhin kannte er sie seit September. »Es macht mir nichts aus, du weißt ja genauso gut wie ich, dass wir nicht verliebt ineinander sind«, meinte er und bemühte sich dabei so lässig zu klingen, wie es nur ging. Dumpf fragte er sich, wieso alle um ihn herum so verliebt waren. Nur er nicht. Alex war es, Dominik war es seit neustem, Markus war es seit über zwei Jahren… jetzt fing auch noch Christine an. Es war doch zum Verrücktwerden. Wieso klappte es bei allen, nur bei ihm nicht? »Er ist… ziemlich toll«, gestand sie schließlich leise. Elias lächelte. »Klar ist er das. Er ist ja auch mein bester Kumpel«, gab er zurück und beim letzten Teil brach seine Stimme und verflüchtigte sich in ein tonloses Hüsteln. »Ich nehme an, dass deine Stimme gerade aufgegeben hat… also sage ich dir jetzt noch was und dann lege ich auf, ok? Einmal husten reicht…« Er hustete. »Ich war echt gern mit dir zusammen. Es war toll und ich bin sicher, dass ich es vermissen werde. Aber ich bin froh, dass du es so locker siehst und dass keiner von uns in den anderen verliebt ist und dass wir das auch wissen. Ich möchte Danke für die schöne Zeit sagen und dafür, dass du jetzt keinen Aufstand machst, oder so. Und ich freu mich darauf, weiter mit dir befreundet zu sein, auch wenn der Sex dann wegfällt.« Bei den letzten Worten grinste sie wieder und er musste erneut husten. »Du bist toll… und ich bin sicher, dass du auch noch in die Situation kommst, in der es dich einfach umhaut… Ich hab dich lieb!« Und dann legte sie auf. Elias seufzte leise und nahm das Handy vom Ohr. Es war verrückt. Er war nicht verliebt, trotzdem fühlte er sich nun schrecklich wehmütig. Nicht unbedingt, weil es ihn und Christine als Paar nicht mehr gab, sondern weil sie das ausgesprochen hatte, was ihn nun schon seit längerer Zeit beschäftigte. Wann würde es ihn endlich umhauen? Mit dieser Frage beschäftigte er sich, während er bäuchlings im Bett lag und sich über seine Physikhausaufgaben beugte. Eigentlich war er nicht sonderlich erpicht auf Hausaufgaben. Ihm war nach Schlafen. Aber er war heute in der Doppelstunde so miserabel gewesen, dass er das Gefühl hatte, den Stoff wenigstens ein bisschen nachholen zu müssen. Gerade, als er über einer der kniffligeren Formeln brütete, piepte sein Handy. Er öffnete die Kurzmitteilung und schmunzelte. »Danke, Alter!« Christine war offensichtlich schnell damit gewesen, die Sache zwischen sich und Dominik zu regeln. »Kein Ding. Ich wünsch euch alles Gute!« Dann wandte er sich wieder der Formel zu, doch es schien ihm heute nicht vergönnt zu sein, sich auf seine Hausaufgaben zu konzentrieren. Es klopfte an der Tür und weil er nicht ‚Herein’ sagen konnte, öffnete sich die Tür und seine Mutter kam herein. In den Händen hielt sie eine Tasse mit dampfendem Inhalt. »Ich hab dir für morgen einen Termin bei Dr. Breuer gemacht. Um halb elf sollst du da sein. Dann kann er dich für den Rest der Woche krank schreiben. Das Elend kann ja keiner mit ansehen«, meinte sie und wuselte durch das Chaos auf seinem Boden hinüber zu seinem Nachtschrank, wo sie den heißen Tee abstellte und ihm anschließend die Stirn fühlte. »Fieber hast du noch nicht. Du bist doch sonst nie krank, woher kommt das denn plötzlich?« Elias sagte lieber nichts dazu. Er konnte ja ohnehin nicht mehr sprechen. Also deutete er auf seinen Hals, um seiner Mutter zu bedeuten, dass er nicht antworten konnte. »Na ja, eigentlich ist es bei dem Wetter auch kein Wunder. Dein Vater jammert mir schon seit Tagen die Ohren über sein Halskratzen voll. Ich bin froh, dass mein Sohn nicht so wehleidig ist, wie manch anderer Mann«, sagte sie, verdrehte die Augen und wuselte durch sein Chaos zurück zur Tür, hinter der sie verschwand. Elias schob am Abend eine Nachricht unter Antons Tür durch, dass er morgen nicht mit ihm zur Schule gehen konnte, weil er einen Arzttermin hatte. Um halb zehn am nächsten Morgen fühlte sich sein Kopf noch schlimmer an, als am Tag zuvor und seine Nase war vollkommen verstopft. Er konnte vor lauter Halsschmerzen kaum ein Toast herunterbringen und schließlich schleppte er sich um viertel nach zehn zum Arzt, der ein paar Straßen weiter im Keller eines hübschen Einfamilienhauses seine Praxis hatte. »Erhöhte Temperatur… und vermutlich eine ordentliche Stirnhöhlenvereiterung. Immerhin ist der Husten nicht festgesetzt. Ich schreib dir ein paar Sachen auf…« Elias latschte zur Apotheke und schleppte drei verschiedene Medikamente und Nasentropfen nach Hause, dann warf er sich wieder aufs Bett und schlief fast auf der Stelle ein. »Du hast Fieber«, stellte seine Mutter fest, als er am frühen Abend wieder aus dem Bett kroch. »Kann sein«, krächzte er. Einen Bruchteil seiner Stimme hatte er durch den Schlaf offenbar wieder erlangt. »Wir wollten heute Abend eigentlich zu Maike und Tom rüber gehen, aber wenn du so krank bist, können wir auch zu Hause bleiben«, meinte sie besorgt. Elias griff nach seinen neu erworbenen Nasentropfen. »Quatsch. Geht ruhig und grüßt schön«, sagte er, kippte den Kopf in den Nacken und träufelte sich einige von den eklig schmeckenden Tropfen in beide Nasenlöcher. Maike und Tom waren seine Tante und sein Onkel. Er hätte nichts dagegen, Louisa und Fabian – lesbische Cousine und absolut heterosexuellen Cousin – mal wieder zu sehen, aber so würde er sie lediglich vollhusten und am Ende anstecken. »Ok. Ich hab noch Käsemakkaroni im Kühlschrank, wenn du Hunger hast«, meinte seine Mutter immer noch besorgt, während er sich einen Löffel Hustensaft genehmigte. »Kann nicht richtig schlucken«, informierte er seine Mutter, stellte den Hustensaft zurück neben das kleine Radio hinten auf der Arbeitsfläche und schlurfte aus der Küche zurück in sein Zimmer. Mittlerweile war es dunkel. Ein Blick auf seinen Wecker sagte ihm, dass es kurz nach sechs war. Er legte sich wieder aufs Bett und überlegte, ob er sich einen Film anschauen sollte. Seine Kopfschmerzen protestierten lautstark dagegen. Er fand es schrecklich, einfach nur herum zu liegen und nichts zu tun. Grummelnd und hustend angelte er sich eine Packung Taschentücher vom Nachtschrank und hörte, wie sich seine Familie draußen im Flur aufbruchbereit machte. »Tschüss Elli!«, tönte Nathalie. Er konnte nicht laut rufen, aber das schien seine kleine Schwester nicht zu stören. »Wir sind irgendwann gegen halb zehn wieder da! Mach keine Dummheiten!«, rief seine Mutter und dann fiel die Wohnungstür ins Schloss und Elias war allein in der Wohnung. Er hasste es krank zu sein und er war immer sehr froh darüber gewesen, dass er fast nie krank wurde. Das letzte Mal, dass er sich so dreckig gefühlt hatte, war vor mehr als fünf Jahren gewesen. Und das nur, weil er es nicht mehr für nötig gehalten hatte, sich eine Hose und eine Jacke anzuziehen, bevor er hinüber zu Antons Balkon kletterte. Elias starrte an seine dunkle Decke, sein Kopf puckerte unangenehm und er schnaubte sich zum gefühlt hundertsten Mal die Nase. Jetzt, da er nichts anderes tun konnte, als herum zu liegen, machte er sich über eine Tatsache Gedanken, die ihm im Hinterkopf herum spukte, seit er Antons Wohnung verlassen hatte. Es gab in der Wohnung der Nickischs keinen Spiegel. Bevor er gegangen war, hatte er die Toilette benutzt. Das Bad sah genauso katalogfertig aus wie Antons Zimmer, aber weder über dem Waschbecken, noch irgendwo sonst an der Wand hatte ein Spiegel gehangen. Auch nicht im Flur oder in Antons Zimmer. Nicht einmal ein kleiner Spiegel, wie seine Mutter einen hatte, den sie drehen konnte, um ihr Gesicht ums Dreifache zu vergrößern. Warum sollte jemand keine Spiegel in der Wohnung haben? Die einzige Erklärung, die Elias dazu einfiel, war, dass jemand sich selbst nicht sehen wollte. Und weder Frau Nickisch noch Anton waren so mitternachtshässlich, dass sie sich selbst verabscheuen würden, wenn sie sich ansahen. Wenn er bedachte, dass er in jeden Spiegel starrte, an dem er vorbei ging, nur um zu sehen, ob seine Haare noch halbwegs in Ordnung aussahen… Er zermaterte sich das Hirn über diesen merkwürdigen Umstand, der fast noch merkwürdiger war als alles, was er bisher über Anton wusste. Und gerade, als er sich darüber ärgerte, dass sein Kopf von all dem Nachdenken noch mehr puckerte, da hörte er ein leises Klopfen an der Wohnungstür. Ächzend quälte er sich aus dem Bett, schlurfte zur Tür und fragte sich, was wer auch immer darüber denken würde, wenn Elias in einem uralten Pyjama und ungekämmten Haaren die Tür öffnete. Er starrte in Antons blasses Gesicht, das wie immer von schwarzen, glänzenden Haaren umrahmt wurde. Elias blinzelte ein wenig verwirrt und sein Blick huschte hinunter zu Antons Händen, die einen kleinen Topf hielten. Als Elias den Topf fragend musterte, wurde Antons Kopf hochrot und Elias hob erstaunt die Brauen, als sein Nachbar – ganz ungewohnt und anders als sonst – anfing zu stammeln. »Du bist krank und ich wollte… geht’s dir besser? Ich hab Suppe gekocht, nur… also, wenn du Hunger hast…« Er verstummte und starrte auf den Topf in seinen Händen. Elias stellte für sich fest, dass Anton in letzter Zeit ziemlich oft rot wurde. Er war nicht mehr der gleichgültige Junge vom Anfang. Vielleicht kam dieser schüchterne Kern erst mit der Zeit, wenn man sich ein wenig an ihn heran getastet hatte. Elias trat zur Seite, um Anton einzulassen. Als er die Tür schloss, nieste er erneut und seufzte leise. »Du hast gekocht?«, erkundigte er sich dann heiser und Anton nickte ohne ihn anzusehen. Es sah aus, als würde er sich an dem Suppentopf festklammern. »Extra für mich?« Antons dunkle Augen flackerten zu ihm hinauf und er öffnete den Mund, doch ihm fiel scheinbar nichts ein, was er sagen konnte und so klappte er ihn wieder zu und nickte nur, immer noch mit hochrotem Kopf. Elias musste lächeln, schob Anton in die Küche und schaltete das Licht an. »Ich hab einen Mordshunger, aber ich kann nichts Richtiges Essen, weil mein Hals so wehtut«, erklärte er und hustete schwächlich. Anton hielt ihm den Topf hin und Elias nahm ihn umsichtig, stellte ihn auf den Herd und hob den Deckel. Es war eine Nudelsuppe. Obenauf schwamm ein wenig Petersilie. »Ich glaub’s echt nicht«, nuschelte er und schüttelte leicht den Kopf, dann musste er lachen und drehte den Herd an. »Du bist echt… mir fällt kein passendes Wort ein«, sagte er grinsend und setzte sich Anton gegenüber an den Küchentisch. Anton fuhr sich durch die schwarzen Haare. »Ich hatte nichts zu tun. Und außerdem bist du indirekt wegen mir krank, also dachte ich…« Er brach ab und sah ziemlich unsicher zu Elias hinüber. Der grinste immer noch und so schlecht es ihm den ganzen Tag über gegangen war, so gut war seine Laune nun. »Ich fass es echt nicht, dass du kochen kannst. Ich lass manchmal sogar Tiefkühlpizzen im Ofen verbrutzeln«, sagte er amüsiert. Anton zuckte mit den Schultern. »Wenn man immer allein zu Hause ist und Tiefkühlkost nicht mag, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als kochen zu lernen«, meinte er leise, nun wieder mit seiner üblichen, bedächtigen Sprechweise. Elias erinnerte sich an die Sache mit den Spiegeln, aber er wagte es nicht, jetzt danach zu fragen. Stattdessen sah er erstaunt zu, wie Anton aufstand und in den Topf spähte. »Hast du eine Kelle? Wenn du alles anbrennen lässt, dann hab ich wohl besser ein Auge auf die Suppe«, sagte er und seine Mundwinkel zuckten leicht. Elias fand dieses Mundwinkelzucken mittlerweile genauso aufmunternd wie ein ganzes Lächeln. Es hatte sich zunehmend gehäuft, seit sie sich kennen gelernt hatten. Und das war vor vier Monaten gewesen. Es war ihm gar nicht so lange vorgekommen. »Ach ja, und du hast doch gesagt, dass ich dir mal ein paar… Klassiksachen zeigen sollte. Ich hab dir ne CD gebrannt, falls du was anhören möchtest«, erklärte Anton, während er mit der Kelle, die Elias ihm gerade gereicht hatte, umsichtig in der Suppe herumrührte. »Oh, klasse! Ich bin ganz gespannt«, gab er zurück. Anton warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu, dann starrte er wieder in die Suppe. Es dauerte nicht lange, bis die Suppe warm war. Elias kramte zwei Suppenteller aus den Schränken hervor und legte zwei Löffel auf den Tisch, dann schöpfte er Suppe in ihre beiden Teller. »Wie lange bist du krank geschrieben?«, erkundigte sich Anton, während er bedächtig in seiner Suppe rührte, etwas davon auf den Löffel nahm und vorsichtig pustete. »Bis nächste Woche Dienstag«, sagte Elias grinsend und probierte einen Löffel Suppe. »Man… ich bin neidisch«, sagte er. Die Suppe schmeckte ausgezeichnet und auch wenn sein Hals immer noch wehtat, fiel es ihm sehr viel leichter, die Suppe zu schlucken, als eine BiFi oder Käsemakkaroni. »Worauf?«, erwiderte Anton irritiert. Elias lachte leise, dann verwandelte sich sein Lachen in einen kleinen Hustenanfall. »Na darauf, dass du so gut kochen kannst. Schmeckt echt klasse«, versicherte er Anton, der sich darüber zu freuen schien. Sie aßen ihre Suppe – Elias genehmigte sich noch einen zweiten Teller – und dann huschte Anton hinüber in seine Wohnung, um die CD zu holen. Er zeigte Elias seine Lieblingsstücke und einige Sachen, die er gerade auf dem Klavier übte. Elias stellte fest, dass Klassikmusik seine Kopfschmerzen nicht schlimmer machten. Das fand er ausgesprochen beruhigend. »Ach ja… was ich dich noch fragen wollte«, meinte er dann und wusste haargenau, dass er schon wieder Glatteis betrat, »meinst du, ich darf irgendwann mal eins von deinen Gedichten lesen?« Anton sah ihn an einen Moment lang schweigend an. Während er scheinbar nachdachte, hörte Elias nur das Stück von Mozart, das Anton ihm gerade gezeigt hatte. »Ich schau mal, ob ich was Geeignetes habe», sagte er dann leise und senkte den Kopf ein wenig. Elias jedoch strahlte. Das war besser als nichts, fand er. »Das wäre toll. Ich bin ganz gespannt, ob du genauso gut dichtest, wie du kochst!« Anton lächelte kaum merklich, auch wenn es ein wenig traurig aussah, als wäre der Gedanke an seine Gedichte ein sehr bedrückender. Kapitel 20: Spiegel ------------------- So! Hier melde ich mich mit einem neuen Kapitel. Ich hatte keine Lust schon morgens mit dem Lernen anzufangen und hab erstmal das Kapitel fertig gemacht. Jetzt geh ich duschen, abspülen und einkaufen und fange dann wieder mit dem Lernen an. Info: ENS- Benachritigungen bekommen ab jetzt nur noch die Leute, die zum letzten Kapitel einen Kommentar hinterlassen haben! Es sind mittlerweile zu viele Favoritennehmen geworden :) Viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, _________________________ Zwei Tage später ging es ihm besser. Sein Hals und sein Kopf taten ihm kaum noch weh, auch wenn er immer noch hustete wie ein Nebelhorn und sich alle zwei Minuten die Nase putzen musste. Seine Mutter hatte den Rest von Antons Nudelsuppe probiert und war in Begeisterungsstürme ausgebrochen, weil Anton in seinem Alter so gut kochen konnte. Elias dachte in seiner freien Zeit und während zahlloser Husten- und Niesanfälle über Anton nach. Er hatte das Gefühl, dass sein Nachbar immer geheimnisvoller wurde, je mehr sich Elias an ihn herantastete. Kaum hatte er eine Antwort gefunden, tat sich ein neues Rätsel auf. Es war ein bisschen wie in einem guten, komplizierten Krimi. Dunkel fragte er sich, ob Antons Krimi irgendwo ein Happy End haben würde, oder nicht. Insgeheim ertappte sich Elias dabei, dass er dafür sorgen wollte, dass Anton irgendwann ein Happy End hatte. Nach all dem Mist, den sein Nachbar durchgemacht haben musste, war ein wenig Glück doch sicher drin. Er besorgte sich von verschiedenen Mitschülern die Hausaufgaben, die er die Woche über erhalten hatte und erledigte sie alle halbwegs gewissenhaft. Er fing sogar damit an, für seine Abiturprüfungen Texte zusammen zu fassen. Währenddessen hörte er Antons Klassik- CD, die ihn nicht vom Lernen ablenkte und trotzdem die unangenehme Stille vertrieb, die das Lernen oftmals begleitete. Dominik rief ihn gefühlte fünfmal am Tag an, um ihm zu danken und von Christine zu schmachten. Markus schrieb ihm einige SMS, in denen er kurze Episoden aus seinen Kinderzimmerplanungen und Namens- Entscheidungsproblemen berichtete. Alex schmachtete von Alex. Alle um ihn herum schienen verfrühten Frühlingsgefühlen zum Opfer gefallen zu sein, nur er selbst blieb wie so oft verschont davon. Anton schaute noch ein paar Mal vorbei und erkundigte sich, wie es ihm ging. Elias freute sich darüber, vor allem, da Anton langsam ein wenig gesprächiger wurde und auch von sich aus Dinge erzählte, aus der Schule, dem Unterricht, seinen Fortschritten beim Klavierspielen. Freilich war er darauf bedacht, niemals über sonderlich persönliche Dinge zu sprechen. Aber Elias hatte Geduld und er hatte sich vorgenommen, Antons Vertrauen zu gewinnen und irgendwann zu erfahren, wieso diese schwarzen Augen manchmal traurig aus dem Fenster starrten, als erwarteten sie im verhangenen Januarhimmel vergangene Zeiten und Gesichter zu sehen. »Du wirst es nicht glauben, Alter«, sagte Dominik, als er ihn am Samstag anrief, um sich die Langeweile zu vertreiben, »aber gestern hat Eva mich gefragt, ob wir nicht mal Kaffee trinken wollen!« Elias blinzelte verwirrt und verlieh seiner Verwunderung mit einem ausgiebigen Husten Ausdruck. »Ich meine… über ein halbes Jahr hechele ich ihr hinterher und jetzt bin ich in ein anderes Mädchen verschossen und mit ihr zusammen und ihr fällt ein, dass sie mal mit mir Kaffee trinken will? Vor zwei Wochen hätte ich noch laut ‚Hipp- Hipp Hurra’ gerufen.« Elias grinste und stellte sich diese Szene bildlich vor. »Ja, das hättest du. Aber ehrlich… sie hätte nicht besonders gut zu dir gepasst«, meinte Elias und drehte sich auf den Rücken. Auf dem Nachtschrank stand ein Tee, den seine Mutter ihm gebracht hatte, während er sich mit seinen Politikunterlagen herumschlug. »Ich versteh die Frauen nicht, ehrlich…«, nuschelte Dominik und seufzte abgrundtief. »Du bist doch jetzt wohl nicht zwiegespalten, welche der beiden du willst, oder?«, fragte Elias hoffend. »Spinnst du? Ich bin so glücklich, ich könnte platzen!« Elias musste lächeln. Wenn er ein Mädchen wäre, würde er es sich jetzt erlauben zu denken, dass Dominik niedlich war. »Das ist schön. Hast du schon ihren Bruder kennen gelernt?«, fragte Elias grinsend. Dominik gluckste. »Ja. Er sagte, er fände meine Dreads cool«, entgegnete Dominik und klang deutlich amüsiert. »Mich fand er nicht ganz so cool, fürchte ich. Aber das ist sicher ein gutes Zeichen«, versicherte er seinem besten Freund. »Sie will mich nächstes Wochenende ihren Eltern vorstellen… ich bin ein wenig panisch«, beichtete Dominik und lachte nervös. »Sie werden dich sicher mindestens genauso cool finden wie ihr Bruder«, sagte Elias schmunzelnd. Dominik schien davon nicht sonderlich überzeugt und Elias bemühte sich mehrere Minuten lang, Dominik zu beruhigen. »Mochten sie dich denn?«, wollte er schließlich wissen. Elias hustete. »Sie hat mich ihnen gar nicht vorgestellt. Es war nichts Ernstes, deswegen war es wohl nicht nötig. Scheint bei dir was anderes zu sein«, meinte Elias. Die Stille am anderen Ende verriet ihm, dass Dominik jetzt wohlmöglich noch aufgeregter war als vorher. »Musstest du das jetzt unbedingt sagen?«, klagte Dominik und seine Stimme zitterte – wohl halb vor Panik und halb vor Freude. Elias grinste. »Tut mir Leid. Ich werd dich jetzt deiner Aufregung überlassen und noch ein bisschen arbeiten. Wenn man krank ist, kann man ja kaum was anderes machen…« »Ich beneide dich jedenfalls nicht. Ich setz mich jetzt an meine PS3. Hau rein, Alter!« »Du auch, bis dann!« Elias streckte sich, dann stand er auf und steckte sein Handy ans Ladekabel. Leise summend schaltete er seine Stereoanlage ein, in der immer noch die CD von Anton lag und drehte den Lautstärkeregler hoch. Während er die Melodie mitsummte und nach seinen Erdkundeunterlagen kramte, fragte er sich zum ungefähr hundertsten Mal, wieso es in Antons Wohnung keine Spiegel gab. Konnte jemand sich selbst so verabscheuen, dass er einen Blick in den Spiegel nicht ertrug? Elias hatte keine Ahnung. Er war zu eitel, um sich ein Leben ohne Spiegel vorstellen zu können. Nachdenklich warf er seine Erdkundemappe aufs Bett und wollte sich gerade Block und Stift greifen, als die Zimmertür aufging. »Seit wann hörst du Klassik? Das ist ja noch schlimmer als Nirvana«, beklagte sich Katharinas Stimme bei ihm. Er wandte sich um und sah seine kleine Schwester mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. »Das ist die einzige Musik, die ich beim Lernen hören kann, ohne dass es mich ablenkt«, erklärte Elias grinsend und richtete sich auf, Block und Stift in der Hand. Er dachte, Katharina würde ihm nun sagen, er sollte seine Musik leiser machen. Aber das tat sie nicht. »Was ist das da für’n Lied?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und ruckte mit dem Kopf in Richtung Stereoanlage. »Ähm…«, machte Elias und sah sich nach der Hülle um. Es war ein reines Klavierstück und Anton hatte ihm gesagt, wie es hieß. Elias wusste, dass Anton es selbst auch manchmal spielte, er kannte die Melodie. »Irgendwas mit Erik Satie… Gym…Gyn… Keine Ahnung, wie es genau heißt«, meinte er und fuhr sich durch die Haare. Dann warf er sich neben seine Erdkundemappe aufs Bett. »Willst du da im Türrahmen Wurzeln schlagen, oder reinkommen?«, erkundigte er sich schmunzelnd. Katharina sah aus, als wüsste sie nicht recht, was sie wollte. Dann schloss sie jedoch die Tür hinter sich und kam zu ihm hinüber. »Wie läuft’s mit Chris?«, fragte sie. »Haben Schluss gemacht«, erklärte er freiweg. Katharina blinzelte und sah ihn verwundert an. Elias zuckte mit den Schultern. »Du weißt schon, wir waren nicht verliebt, oder so. Es war kein Drama«, versicherte er ihr. Sie betrachtete ihn nachdenklich und zum ersten Mal fand Elias, dass sie älter aussah, als sie eigentlich war. Sie war so etwas wie eine gut aussehende, weibliche, zierliche Ausgabe ihres Vaters. Viele Mädchen in ihrer Klasse beneideten sie sicher um ihre Figur und das hübsche Gesicht. Sie war immer schon beliebt bei den Jungs gewesen. Irgendwann mit acht war ein Kinderfoto von ihr in einem Fotoatelier- Schaufenster ausgestellt gewesen. »Du wirst auch nie erwachsen, wie?«, fragte sie dann und klang ziemlich hochnäsig. Elias musste lachen. »Will ich auch gar nicht. Und erwachsener als du bin ich allemal«, gab er amüsiert zurück. Sie schien darüber nachzudenken. »Ich meine nur… dass du rumflatterst wie ein Schmetterling, ohne dich mal zu verlieben. Ich hab dich nur einmal verknallt erlebt. Und da war ich erst elf. Wie hieß sie noch mal? Ich komm immer durcheinander bei deinen ganzen Frauen«, meinte sie. Elias schnaubte grinsend. »Merle«, half er ihr auf die Sprünge. »Ja, genau. Die, die Mama so nett fand. Mit den hellblonden Haaren«, meinte sie nachdenklich. Elias nickte. »Ja. Die ist aber zur Zeit mit einem Mädchen zusammen«, informierte er seine Schwester. Sie runzelte die Stirn. »Du warst wohl ein einschneidendes Erlebnis, wie?« »Werd nicht frech!« Sie rauften ein wenig auf Elias’ Bett herum, wobei er seine Erdkundemappe ordentlich verknickte. »Geht’s dir eigentlich besser?«, fragte Elias schnaufend. Katharina saß auf seinem Bauch und hatte gerade den Sieg für sich beansprucht. Er hatte so etwas nicht mehr mit ihr gemacht, seit er dreizehn und sie neun gewesen war. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Geht so… er vögelt sich durch den halben Jahrgang, nur um mir zu demonstrieren, dass andere Mädchen sich die Finger danach lecken, mit ihm in die Kiste zu steigen. Mittlerweile frage ich mich, was ich für ihn überhaupt übrig hatte…« Elias schwieg auf diese Verkündung hin. Vielleicht wurde Kathi doch schneller erwachsen, als er. »Kennst du Sven van Thom?«, fragte sie unvermittelt. »Ja, schon. Aber nicht viel… welches Lied meinst du?«, erkundigte er sich und sie stieg endlich von seinem Bauch und angelte seine Gitarre zu sich aufs Bett. »Trauriges Mädchen«, erklärte sie und drückte ihm die Gitarre in die Hand. Elias dachte kurz nach. »Ja, ich denke schon. Singt da nicht auch ne Frau mit?«, wollte er wissen. Kathi nickte und lehnte sich neben ihn an die Wand, wie das letzte Mal, als sie hier bei ihm gewesen war. Elias griff sich die Fernbedienung seiner Stereoanlage und drückte so fest er konnte auf den Pause- Knopf, der leider Gottes – wie der Rest der Fernbedienung – ziemlich im Eimer war. Dann stoppte die klassische Musik. Elias dachte an das Lied, nach dem seine Schwester ihn gerade gefragt hatte. »Ich kann aber nicht den ganzen Text. Und der Refrain ist zu hoch für mich«, erklärte er schmunzelnd. Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Den singt ja auch eine Frau. Mach schon. Ich sing den Refrain«, erklärte sie ungeduldig. Elias schlug die Saiten an und brauchte einige Anläufe, um die Melodie halbwegs fehlerfrei hinzubekommen. Dann fing er an zu spielen. »Hey trauriges Mädchen, wenn du willst, lehn dich an mich. Ich berühre dein Herz und heile damit jeden Stich Denn deine Stimme singt in einem so betrübten Ton. Hey trauriges Mädchen sag, wie lange weinst du schon?« Im nächsten Moment wurde ihm schlagartig bewusst, dass seine Schwester singen konnte. Er hatte sich seit Jahren nicht mit ihr beschäftigt und das Desinteresse aneinander hatte durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Aber jetzt, da sie den Refrain neben ihm sang, fiel ihm auf, dass er nicht der einzige musikalische Mensch in der Familie war – natürlich nicht, denn das war das einzige, was er von seinem Vater geerbt hatte. Und Katharina, die genau wie Nathalie eine Kleinausgabe ihres Vaters war, hatte wohl ebenfalls sein Talent geerbt. »Schon einen Tag und eine Nacht, hat er mich um den Schlaf gebracht. Ich weiß nicht aus, ich weiß nicht ein, ich werd immer traurig sein.« Er hatte die Strophen durcheinander gewürfelt, aber Katharina schien sich nicht daran zu stören. Sie sang den Refrain, er die Strophen. Als das Lied zu Ende war, starrte Elias sie an. Sie hob die ordentlich gezupften Augenbrauen. »Was denn? Überrascht?« Er musste lachen. »Ja, schon. Du hast Rihanna immer so laut gedreht, dass ich dich nie mitsingen höre«, erklärte er. Sie lächelte und betrachtete ihre Beine, die in einer knallroten Strumpfhose und einem kurzen Rock steckten. »Es gibt da diesen einen Kerl«, fing sie an und Elias ermahnte sich, dass er nun seinen Schalter auf ‚verständnisvoller großer Bruder’ umlegen musste, »Marcel.« Elias wartete. Er war sich nicht sicher, was als nächstes kam und wie schon bei Kathis letzter Beichte war er sich nicht sicher, ob er es hören wollte. »Kein Geschmack, weißt du? Er trägt gruselige Strickpullis und eine Brille. Und seine Haare macht er auch nie irgendwie. Ganz zu schweigen von diesen uralten Turnschuhen… Und der läuft mir ständig überall hin nach. Letztens hat er mir in Mathe geholfen. Wenn er sich nicht so panne anziehen und nicht immer nur über Star Trek reden würde, wäre er vielleicht ganz niedlich.« Das war wieder typisch seine Schwester. Jetzt konnte er beruhigt aufatmen. »Aber dann denke ich mir wieder… wohin hat’s mich denn gebracht, dass ich mich mit einem beliebten Schönling eingelassen hab, nur weil er mir Honig ums Maul geschmiert hat? Ich hab Marcel gefragt, ob er nicht mal Lust auf Billard oder so hat. Kennst du diese Filme, wo der Junge dem Mädchen erklärt, wie man Billard spielt? Also ich kann Billard spielen. Er aber nicht. Also muss ich ihm zeigen, wie das geht. Wir treffen uns heute Abend um sieben«, fuhr sie fort und wackelte mit den Zehenspitzen. Das beruhigte Aufatmen stockte. Seine Schwester hatte einen offiziellen Nerd zum Billardspielen eingeladen. Die Welt stand Kopf! »Die letzte Strophe aus dem Lied geht übrigens so: Trauriges Mädchen, auch wenn er dein Herz brach Trauriges Mädchen, wein ihm nicht länger nach und gib mir doch den Platz auf seinem Thron, dass ich dich liebe weißt du doch schon.« Sie erhob sich von seinem Bett, streckte sich und stieg umsichtig über sein übliches Chaos hinweg zur Tür. »Drück mir die Daumen, dass er heute Abend keinen Strickpulli trägt. Sonst muss ich ihn erst mit zum Einkaufen schleifen!« Und mit diesen Worten verschwand seine kleine Schwester aus Elias’ Zimmer. Plötzlich kam er sich reichlich kindisch vor, wenn er sich mit ihr verglich. Gerade wollte er nach seiner Erdkundemappe greifen und sie so gut es ging glätten – vielleicht indem er sich kurz darauf setzte? – als seine Mutter durch den Flur rief: »Elias! Du hast Besuch!« Er sprang so hastig vom Bett auf, dass er beinahe über seinen Rucksack stolperte. Als er in den Flur kam, sah er Anton in der Tür stehen. Seine Mutter strahlte, dann verschwand sie in der Küche. »Ich will gar nicht lang bleiben«, erklärte Anton und hielt Elias ein zusammen gefaltetes Stück Papier hin, »ich wollte dir das hier nur geben. Weil du doch mal ein Gedicht lesen wolltest.« Elias starrte das Stück Papier an und konnte es kaum glauben. Ein Gedicht von Anton. »Aber es gibt zwei Bedingungen«, murmelte Anton, »du fragst nicht, worum es geht, wenn du es nicht verstehst. Und wenn du es doch verstehst, dann fragst du auch nicht… ok?« Elias blinzelte ein wenig verwundert, aber dann nickte er. Er war im Gedichte interpretieren nie gut gewesen. Vermutlich würde er es ohnehin nicht verstehen. Behutsam griff er nach dem Stück Papier. »Danke«, sagte Elias und das meinte er auch. Dieses Gedicht musste ein wahnsinniger Vertrauensbeweis sein. Und Elias wusste ihn zu schätzen. »Na dann… ich komm vielleicht morgen noch mal vorbei?«, meinte Anton unsicher. Elias grinste. »Klar. Ich freu mich«, gab er zurück. Anton blinzelte, dann errötete er – wie so oft in der letzten Zeit – und wandte sich hastig um. »Dann bis morgen.« Und er verschwand hastig hinter seiner Wohnungstür. Elias starrte die geschlossene Wohnungstür einen Moment lang an, dann schloss er auch die Tür hinter sich und huschte in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett setzte und langsam den Zettel auseinander faltete. Es war das Gedicht, das Anton in der Schule begonnen hatte, als er auf ihn gewartet hatte. Oben auf dem Blatt stand ‚Spiegel’. Elias war merkwürdigerweise ein wenig aufgeregt, als er zu lesen begann. Glatt und glänzend, eisig kalt Mein Spiegelbild zerschlag ich bald Einsam, traurig, feurig heiß Ist die Schuld, von der ich weiß. Die Geschichte dort im Spiegel, die ich in mir selbst verriegel’ folgt mir bis in tiefste Nacht, wo dein Schatten fröhlich lacht. Spiegelwelt voll schöner Sachen, die mich täglich traurig machen, schau mir nicht mehr ins Gesicht du bist fort, ich seh’ dich nicht. Deine Worte noch im Ohr Hol sie immer wieder vor ‚Hass mich und vergiss mich bald’ deine Stimm’, die widerhallt. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat dich ins Nichts verbannt? Schließ die Augen, kleines Kind, weine nicht, lausch nur dem Wind. Er erzählt von damals dir, als dein Spiegelbild noch hier. Spieglein, Spieglein an der Wand, hab ich jemals dich gekannt? Er nahm dir die Lust am Leben, abgewendet, aufgegeben. Spiegelbilder blind und leer, sehen werd ich nimmermehr. Fort von mir, der Spiegel springt, schließ die Augen, flieh’ geschwind. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat dich ins Nichts verbannt? Elias ließ den Zettel sinken. Er war sich sicher, dass hier die Lösung zu den fehlenden Spiegeln lag. Aber wie er es schon vorher geahnt hatte, verstand er ein kein einziges Wort. Kapitel 21: Der Papierflieger ----------------------------- Für einfach weil ;) Für , weil sie sich nicht entscheiden kann, ob ich tippen oder lernen soll. Für , weil sie schon wieder ständig gefragt hat und weil der Tag mit ihr und Mama heute so cool war. Für , weil sie (immer noch) mein Stern ist. Für , weil sie ist, wie sie ist. Für alle, die mir regelmäßige ihr Feedback dalassen: Im Sinne des Kapitels bedanke ich mich ganz herzlich dafür, ich weiß das wirklich zu schätzen! Viel Spaß beim Lesen! _______________ Elias hielt sein Versprechen und fragte Anton nicht nach dem Gedicht. Er gab es Anton zurück, als dieser ihn am nächsten Tag wieder besuchen kam. Anton sah aus, als würde er erwarten, dass Elias doch Fragen stellte. Aber nach einiger Zeit schienen sich seine Bedenken zu zerstreuen. Elias beklagte sich bei Anton darüber, dass er Politik als mündliches Prüfungsfach fürs Abi vermutlich verhauen würde. »Soll ich dir beim Lernen helfen?«, erkundigte sich Anton nüchtern. Elias blinzelte. Antons Gesichtsausdruck war abwartend und es sah nicht so aus, als würde er spaßen. »Bist du gut in Politik?«, fragte Elias interessiert. Anton zuckte mit den Schultern. »Ich bin in jedem Fach gut. Außer in Sport und Kunst«, entgegnete er und brachte ein halbes Lächeln zustande. Wenn Anton so etwas sagte, dann klang es kein bisschen arrogant. Wenn Elias davon sprach, dass er in Mathe gute Noten bekam, ohne etwas dafür zu tun, dann hörte er sich grundsätzlich ein wenig überheblich an, ob er nun wollte oder nicht. »Oh… ja. Hab ich vergessen«, erwiderte Elias immer noch ein wenig verwirrt. Antons Mundwinkel zuckten und er angelte Elias’ Politikmappe vom Bett, die er dort vorhin in der Absicht hingelegt hatte, noch ein wenig zu lernen. Dann hatte er es sich kurzfristig anders überlegt. Politik bereitete ihm schlechte Laune. Anton blätterte behutsam durch die Mappe, ließ die Augen über Elias’ katastrophale Handschrift gleiten und runzelte ab und an die Stirn, wenn er ein oder mehrere Wörter nicht lesen konnte. »Ich weiß, es sind Hieroglyphen«, meinte Elias verlegen grinsend und fuhr sich durch die Haare. »Es gibt schlimmere Handschriften«, versicherte Anton ihm. Elias war eigentlich immer der Meinung gewesen, dass seine Handschrift die Krönung aller Sauklauen war. »Alex, meine beste Freundin, sagt immer, es ist schlimmer als das Schlimmste, was sie je gesehen hat«, meinte Elias grinsend und sah zu, wie Anton einen Text über Terrorismus überflog. »Übertreibt sie gern ein bisschen?«, wollte Anton wissen, klappte die Mappe zu und sah Elias mit leicht schief gelegtem Kopf an. Ein paar seiner schwarzen Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und er pustete sie sachte fort. »Ja, allerdings. Aber sie ist das tollste Mädchen, das ich kenne«, sagte Elias breit schmunzelnd. Anton lehnte sich mit dem Rücken gegen Elias’ Bett. »Erzähl mir was von ihr«, bat er leise. Elias blinzelte ein wenig erstaunt, dann lehnte er sich neben Antons an sein Bett, sodass sich ihre Schultern kaum merklich berührten. »Wir haben uns als Kinder im Kirchenchor kennen gelernt. Ihre Eltern sind der Meinung, dass ich der perfekte Schwiegersohn für sie bin. Aber sie hat sich kürzlich in einen langhaarigen, Springerstiefel- tragenden Rocker verliebt. Letztens hat sie mir gebeichtet, dass sie über zwei Jahre lang in mich verliebt war…« Er hielt kurz inne und betrachtete seine Knie. Anton schwieg und so fuhr Elias fort. »Sie geht seit ein paar Jahren auf ein katholisches Mädcheninternat. Sie spielt Querflöte und verschweigt ihren Eltern seit Ewigkeiten, dass sie Karate macht. Die glauben, dass sie Ballettunterricht nimmt. Früher, als wir noch kleiner waren, hat sie immer die Jungs verprügelt, die mich geärgert haben, weil ich früher mal gelispelt hab. Sie flucht ständig, am liebsten auf Polnisch, weil ihre Nonnen- Lehrerinnen das dann nicht verstehen…« Als Elias den Kopf drehte, um Anton anzusehen, sah er, dass sein Nachbar lächelte. Elias konnte sich nicht ganz entscheiden, ob es ein fröhliches oder ein wehmütiges Lächeln war. »Sie klingt nett«, murmelte er leise. Elias lachte leise. »Sie ist nett. Wenn du sie mal kennen lernst, mach dich auf was gefasst. Sie redet schlimmer als ein Wasserfall«, erklärte er amüsiert. Anton wandte sein Gesicht Elias zu und sah ihn direkt an, immer noch lächelnd. Elias ertappte sich dabei, wie er einen Moment lang den Atem anhielt. Anton hatte ihn noch nie direkt angelächelt. Nicht so. Und nicht so aus der Nähe. Er räusperte sich und wandte den Kopf ab, leicht verwirrt davon, wie sehr ihn diese Tatsache… beeindruckte? »Wenn sie mal wieder ein Wochenende hier ist, dann stelle ich sie dir vor«, sagte Elias. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. »Sag mal… hast du eigentlich ein Handy?«, fragte er und starrte Anton an. Anton blinzelte verwirrt, dann nickte er. »Aber ich benutze es eigentlich nie«, sagte er langsam. Elias fuhr mit der Hand in seine Hosentasche und kramte sein Handy hervor. »Gib mir mal deine Nummer. Kann ja nicht angehen, dass ich die nicht hab«, meinte er schmunzelnd. Anton sah schon wieder irritiert aus, doch dann diktierte er Elias bereitwillig seine Handynummer. Der Januar floss schnell dahin und die Abiturprüfungen krochen drängend näher. Elias sah sich jeden Tag in der Schule damit konfrontiert, denn alle ihre Lehrer sprachen von nichts anderem mehr, predigten dunkle Vorahnungen über das Zentralabi und häuften ihnen mehr Arbeit als jemals zuvor auf. Katharina traf sich noch zweimal mit Marcel, dann tauchte sie eines Donnerstagabends bei Elias im Zimmer auf und verkündete, dass sie ihn komplett neu eingekleidet hatte. Alex schmachtete von Alex, Dominik von Christine, Markus und Nuri redeten nur noch von Babyschuhen und Kinderbetten und davon, wie schön sie den Namen für ihr Kind fanden, auf den sie sich nun endlich geeinigt hatten. Es sollte eine kleine Lea- Lekysha werden. Langsam aber sicher konnte man deutlich Nuris Bauch erkennen und Elias und Dominik betrachteten sie jedes Mal voller Ehrfurcht, wenn sie sich zu viert trafen. Nuri fand das alles sehr amüsant. Auch wenn Elias ziemlich damit beschäftigt war, sich auf sein Abitur vorzubereiten, so konnte er doch nicht umhin zu bemerken, dass Anton aus irgendwelchen Gründen schweigsamer und nachdenklicher wurde. Elias wusste nicht, woran das lag. Aber er fragte auch nicht nach, da er das dumpfe Gefühl hatte, dass diese Sache genauso heikel war wie die mit den Spiegeln. Trotzdem half er ihm bei den Politikvorbereitungen und Elias stellte fest, dass Anton ziemlich gut darin war, Dinge zu erklären. Als Elias ihm das als Kompliment unterbreitete, wurde Anton wieder einmal knallrot und begann zu stottern. Daraufhin ertappte sich Elias bei einem strahlenden Lächeln. Er fragte sich, ob er langsam aber sicher durchdrehte. »Also das mit den Spiegeln versteh ich nicht. Ich würde ohne Spiegel sterben, auch wenn es manchmal ganz nützlich wäre, keinen zu haben, vor allem morgens nach dem Aufstehen. Aber vielleicht erzählt er es dir ja noch irgendwann, hab ich erwähnt, dass ich Anfang März ein Wochenende bei dir sein werde? Ich weiß, das ist kurz vorm Abi, aber vielleicht kannst du ja mal einen Tag für mich freischaufeln«, sagte Alex, als Elias am dritten Februar – einem Mittwoch – mit ihr telefonierte. »Für dich kann ich immer einen Tag freischaufeln«, sagte Elias schmunzelnd. Er kaute an einer Bifi und lag bäuchlings auf seinem Bett, die Erdkundemappe vor sich. »Hättest du übrigens Lust, Anton mal kennen zu lernen? Ich dachte, ich stell euch einander mal vor«, mampfte er. »Oh, ja! Unbedingt, ich will zu gern wissen, wer dich da so beeindruckt hat, dass du ganze Wochenenden mit ihm verbringst«, sagte Alex und Elias hörte sie grinsen. Zu seiner Verwirrung spürte er, wie sein Gesicht heiß wurde. »Klingt irgendwie komisch, wenn du es so sagst«, nuschelte er und biss noch einmal von seiner Bifi ab. Alex hatte für diese Bemerkung nur ein Kichern übrig. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, Anton und Alex einander vorzustellen. »Du interpretierst in meine Worte viel zu viel hinein«, belehrte Alex ihn gut gelaunt und gerade als sich Elias das letzte Stück Bifi in den Mund schob, stellte sie eine Frage, die ihn dazu brachte, sich zu verschlucken. »Sag mal, kann man eigentlich viel verkehrt machen, wenn man einem Kerl einen runterholt?« Er hustete ausgiebig und drehte sich auf den Rücken. Alex schwieg und wartete darauf, dass Elias seine Atmung wieder unter Kontrolle bekam. »Bitte? Woher soll ich das wissen?«, fragte er stumpf und ein wenig fuchsig, weil er automatisch daran denken musste, dass Alex ihm erklärt hatte, er sei vielleicht nicht ganz so heterosexuell, wie er dachte. »Erde an Elias? Du bist ein Mann. Manchmal liegen die abends sicher im Bett und machen es sich selber, oder? Woran hast du denn wieder gedacht, ich hab dir doch eben gesagt, du sollst nicht immer irgendwelche Sachen in das rein interpretieren, was ich dir sage. Dachtest du etwa, dass ich denke, dass du schon mal einem Kerl einen runtergeholt hast? Das verbitte ich mir und das will ich nicht hoffen, denn dann hättest du es mir natürlich augenblicklich erzählt und sei es vier Uhr nachts!« Elias fragte sich, seit wann Alex so auf seine angebliche Homo- oder Bisexualität fixiert war. Oder ob er es vielleicht selbst war, der darauf fixiert war… »Ähm… also so viel verkehrt machen kannst du eigentlich nicht«, sagte er zögerlich und verscheuchte die Gedanken daran, wie es wohl wäre, einem anderen Kerl… »Bist du dir sicher? Ich will echt nicht dastehen wie der letzte Depp, wenn ich mich in zwanzig Jahren das erste Mal traue, meine Hand überhaupt in die Richtung der unteren Körperhälfte meines Freundes zu schieben…«, sagte Alex selbstironisch und seufzte tief. »Du wirst schon merken, was gut ist. Wenn er laut aufschreit und wimmert, dann weißt du, dass du besser aufhören solltest«, meinte er beiläufig. Alex schnaubte ungeduldig. »Sehr witzig! Schön, dass du dir darüber keine Gedanken machen musst, Mr. Lover Lover!« Sie klang deutlich angefressen. »Tut mir Leid. Nur hab ich ehrlich gesagt noch nie eine Gebrauchsanweisung fürs männliche Geschlechtsteil gegeben«, lenkte er ein. Alex schwieg einen Moment. »Kannst du das gar nicht verstehen? Nicht mal ein bisschen? Dass ich Angst hab, was falsch zu machen und dass ich ihm nicht gefalle und dass ihm das, was ich mache, nicht gefällt? Macht man sich solche Gedanken nur, wenn man verliebt ist?« »Ich hab mir nie Gedanken darum gemacht«, gab Elias zu und augenblicklich kamen die Gedanken zurück, dass er noch nie verliebt gewesen war und dass er wohl wirklich einiges verpasst hatte. Seufzend fuhr er sich durch die Haare. »Weißt du… ich denke, wenn du ihm einfach erklärst, dass du unsicher bist, dann wird er dir schon dabei helfen raus zu finden, was er gut findet. Du bist toll und er wäre ein Vollidiot, wenn er es dir übel nehmen würde, dass du noch nie was mit einem Mann hattest, ok?« »Du bist ein blöder Schleimer«, brummelte Alex und Elias lächelte, weil er wusste, dass sie rot angelaufen war. »Bei dir brauch ich nicht zu schleimen. Und jetzt mach ich mich ans Erdkundelernen. Mich hat der Abi- Ehrgeiz gepackt«, sagte er schmunzelnd. »Na fein. Ich werd dir berichten, wenn ich meinen Freund zeugungsunfähig gemacht habe«, erwiderte Alex. »Alles klar. Ich warte gespannt!« »Arschloch…« Er beschäftigte sich ganze zweieinhalb Stunden mit Erdkunde. Danach schwirrte ihm der Kopf vor Informationen über Schwellenländer und Statistiken. Gerade fragte er sich, ob er noch ein Kotelett ergattern könnte, als sein Handy piepte. Er fischte es mit zwei Fingern aus seiner Hosentasche und öffnete die Kurzmitteilung, die er erhalten hatte. Blinzelnd betrachtete er sein Handy, das ihm verkündete, dass die SMS von Anton war. »Du hast Post auf dem Balkon.« Mehr stand da nicht. Elias runzelte die Stirn, legte das Handy beiseite und verließ sein Zimmer, um durchs Wohnzimmer zu gehen und auf den Balkon hinaus zu treten. Suchend blickte er sich um, bis er auf dem grauen Betonboden ihres Balkons einen weißen, sorgfältig gefalteten Papierflieger fand. Daran war ein Bindfaden befestigt, mit dem Anton wohl sicher gegangen war, dass seine Post nicht auf Abwege geriet. Elias hob den Papierflieger auf und entdeckte auf einem der Flügel in gestochen scharfer Handschrift seinen Namen. Den Blick immer noch den Papierflieger gerichtet, ging er zurück durchs Wohnzimmer, den Flur und in sein Zimmer. Das Kotelett hatte er vollkommen vergessen. Gespannt warf er sich mitsamt seiner Post aufs Bett und zerdrückte dabei seine arme Erdkundemappe, die schon bei der Rauferei mit Kathi einiges hatte aushalten müssen. Er zog sie unter sich hervor und schob sie ungeduldig beiseite. Dann faltete er seinen Brief behutsam auseinander. »Danke, dass du mir das Sekretariat an meinem ersten Tag gezeigt hast. Danke, dass du mit deiner Familie rüber gekommen bist, um uns den Kuchen zu bringen. Danke, dass du mein Etui aus der Mülltonne gefischt und mir deine Brotbox geliehen hast. Danke, dass du Harry Potter nicht peinlich findest. Danke, dass du mit mir Musik durch die Wand gemacht hast und Danke, dass du gesagt hast, dass wir das öfter machen könnten. Danke, dass du rüber gekommen bist, als ich länger nicht in der Schule war und dass du dich so entrüstet hast, weil die drei Vollidioten aus meinem Jahrgang mir ein blaues Auge verpasst haben. Danke, dass du jeden Morgen mit mir zur Schule gehst und dafür früher aufstehst. Danke, dass du jeden Mittag mit mir nach Hause gehst und sogar wartest, wenn du eigentlich eher Schluss hättest als ich. Danke, dass du meine Mundwinkel zucken siehst, wenn ich mir ein Lächeln verkneife. Danke, dass du den lila Schirm über uns beide gehalten hast. Danke, dass du mich nach der Schule mit zu dir genommen hast, als ich meinen Schlüssel vergessen hatte. Danke, dass du mir eins von deinen eigenen Liedern vorgespielt- und gesungen hast. Danke für das Essen, was du für mich mitbestellt hast. Danke, dass du Klassik nicht blöd findest und dir sogar Sachen angehört hast. Danke, dass du mich immer wieder zu dir rüber einlädst. Danke, dass ich mit dir und deiner kleinen Schwester Memory spielen und Pokémon schauen durfte. Danke für das Angebot, dass ich immer rüber kommen kann, wenn ich bei mir nicht sein will. Danke, dass du dich so über mein erstes (und auch alle danach folgenden) Lächeln gefreut hast. Danke, dass du mir von deinem Traum mit der Band erzählt hast. Danke, dass du die Sache mit dem Schreiben nicht panne findest. Danke, dass du dich für mich geschlagen hast. Danke, dass du danach gesagt hast, dass man das unter Freunden so macht. Danke, dass du mir beim Tütentragen geholfen hast. Danke, dass du mir kein ‚fröhliche Weihnachten’ gewünscht hast. Danke, dass du nie nachbohrst, wenn du merkst, dass du einen wunden Punkt getroffen hast. Danke, dass du dich von meinem Wutausbruch nicht hast abschrecken lassen. Danke, dass du zu mir rüber geklettert bist und nichts zu der Sache mit meinem Vater gesagt hast. Danke, dass du extra Bescheid gesagt hast, dass du krank bist, damit ich morgens nicht umsonst warte. Danke, dass du mir gesagt hast, dass du mich magst. Danke, dass du gesagt hast, dass meine Suppe geschmeckt hat. Danke, dass du dich für meine Gedichte interessierst, dir eins durchgelesen und wirklich keine Fragen gestellt hast. Danke für alles, was du bisher für mich getan hast. Bisher habe ich noch kein einziges Mal ‚Danke’ gesagt. Ich wollte das unbedingt nachholen. Danke dafür, dass du so bist, wie du bist. Anton« Elias starrte auf die säuberliche Auflistung. Sein Herz schlug irgendwo in der Gegend seines Adamsapfels und er schluckte, als könnte er sein Herzklopfen damit irgendwie beruhigen. Was sollte er dazu sagen? Sollte er eine SMS schreiben? Einen Brief zurück? Sollte er gar nichts sagen? Er starrte auf den Zettel und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Dann griff er nach seinem Handy und tippte zwei Worte, die er wirklich so meinte. »Gern geschehen.« Kapitel 22: 16. Februar ----------------------- Das Kapitel eilt unserer Zeit jetzt ein wenig voraus. Ich habs nach dem Lernen getippt, während Steven Nintendo DS gespielt hat ;) Das ist für alle, die schon ganz wild spekuliert haben, was es mit den Spiegeln auf sich hat. Die ausführliche Erklärung folgt dann im nächsten Kapitel :) Viel Spaß beim Lesen und drückt mir die Daumen für Donnerstag >_<' Liebe Grüße, ___________________________ Seine Abiturprüfungen rückten langsam aber sicher näher. Der Februar brachte eine Menge Regen, zwischenzeitlich auch ungemütlichen Schneeregen. Kathi hatte sich noch zwei Mal mit Marcel verabredet, allerdings beichtete sie ihm, dass sie ihren Freundinnen noch nichts davon erzählt hatte. Elias kommentierte diese Beichte nicht. Er mochte Kathis Freundinnen nicht besonders. Alex schien es nicht über sich zu bringen, ihrem Freund zu gestehen, dass sie eine Mordsangst vor allem hatte, was übers Küssen hinaus ging und Dominik lief durch die Gegend wie ein dümmlich grinsender Drogenjunkie. Elias machte am Abend des zehnten Januar eine bahnbrechende Entdeckung. Und die nannte sich Antons Geburtsdatum. Es war mehr ein Zufall, dass er davon erfuhr, er selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, Anton zu fragen. Aber seine Mutter mit ihrem Sternzeichentrick hatte Anton bei einem seiner Besuche gefragt, welches Sternzeichen er denn eigentlich war. »Wassermann«, hatte Anton verwirrt geantwortet. »Tatsächlich? Wie schön«, hatte seine Mutter gesagt und Elias hatte keine Ahnung gehabt, was daran schön war, »und wann hast du Geburtstag?« »Am sechzehnten Februar«, war Antons Antwort gewesen und Elias’ Mutter hatte so strahlend gelächelt, dass Elias sich sicher gewesen war, dass sie einen Kuchen für Anton backen würde, wenn der Sechzehnte gekommen war. »Sie wird dir sicher einen Kuchen backen«, warnte Elias Anton, als sie an der Wohnungstür standen. Anton hatte ihm erneut beim Politiklernen geholfen, auch wenn er mit den Gedanken hauptsächlich weit weg von Politik gewesen zu sein schien. Wie schon seit mehreren Tagen sprach er weniger und spielte mehr Klavier. Elias hatte beschlossen, Anton nicht darauf anzusprechen. Stattdessen zerbrach er sich den Kopf darüber, was er seinem Nachbarn zum Geburtstag schenken könnte. Immerhin hatte Anton ihm etwas zu Weihnachten geschenkt. Allerdings geschah einen Tag vor Antons Geburtstag etwas, das diese Grübeleien über ein mögliches Geschenk völlig überflüssig machten. Anton tauchte Montagmorgen nicht auf. Elias wartete über eine Viertelstunde, doch Anton ließ sich nicht blicken. Elias sah ihn auch später nicht in der Schule, seine Gedanken kreisten automatisch um die drei Halbstarken, die Anton schon öfter aufgelauert hatten, doch wenn Anton gar nicht zur Schule gegangen war, dann hatte sich diese Erklärungsmöglichkeit erledigt. Er hörte kaum zu, während Markus in liebevollen Einzelheiten erklärte, wie der Himmel von Lea- Lekyshas zukünftigem Kinderbettchen aussah und noch weniger hörte er zu, als Dominik anfing mit nicht minder liebevoller Stimme davon zu erzählen, wie sehr sich Christine über einen Strauß Rosen gefreut hatte, den er ihr gestern geschenkt hatte. Wo war Anton? Und wieso hatte er Sonntagabend nicht Bescheid gesagt, wenn er krank war? War er vielleicht zu krank, um aufzustehen? Aber dann hätte er eine SMS schreiben können. War ihm am Sonntag irgendetwas passiert? Malte er nur den Teufel an die Wand und Anton hatte einfach nur das erste Mal in seinem Leben verschlafen? Die Frage ließ ihn nicht los, bis er nachmittags nach Hause kam. Er hatte nicht einmal große Lust auf das Mittagessen. Nudelauflauf. Und davon aß er normalerweise drei Teller. Schließlich schickte er Anton eine SMS, aber es kam keine Antwort. Auch am Abend nicht, als Elias schon längst im Bett lag und sich den Kopf darüber zerbrach, was passiert war. Anton würde nicht einfach nicht kommen, ohne ihm Bescheid zu sagen, das passte einfach nicht zu ihm. Um null Uhr schrieb Elias eine ‚Herzlichen Glückwunsch’ SMS. Doch auch darauf bekam er keine Antwort und so schlief er schließlich eine Stunde später ein. Auch am Dienstag tauchte Anton nicht auf. Elias war seit halb fünf Uhr wach, hatte als erstes auf sein Handy geschaut, ob Anton irgendwann in der Nacht eine Antwort geschickt hatte. Aber nichts dergleichen fand sich auf seinem Display. Um halb sieben war er fertig geduscht und stand im Treppenhaus vor Antons Wohnungstür. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum, sein Herz schlug aufgeregt und viel zu schnell gegen seinen Brustkorb, als er schließlich den Finger auf den Klingelknopf drückte. Eine Weile lang geschah gar nichts, dann öffnete sich die Tür. Aber es war nicht Anton, sondern seine Mutter. Sie war ungeschminkt und sah aus, als hätte sie sehr schlecht geschlafen. Ihre Augen waren von dunklen Schatten umrandet, ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten gebunden und sie trug einen flauschigen, dunkelblauen Bademantel. Elias dachte völlig zusammenhangslos daran, dass Dunkelblau Antons Lieblingsfarbe war. »Wo ist er?«, fragte er ungewollt forsch. Antons Mutter schien ihre forsche Art auf dem Weg zur Tür verloren zu haben. Sie sah einfach nur müde und unglücklich aus. »Er ist nicht hier«, sagte sie leise. Keine Frage, was ihn das anging. Kein Ärger, weil Elias so früh klingelte. Unweigerlich stieg Wut in ihm auf. »Was soll das heißen, er ist nicht hier? Wo ist er dann?«, bohrte er nach. Frau Nickisch sah ihn aus ihren dunklen Augen an, die Antons so ähnlich waren. Generell sah Anton seiner Mutter sehr ähnlich. »Heute ist der sechzehnte Februar«, sagte sie und ihre Stimme klang unglaublich gezwungen, als würde Frau Nickisch sich darum bemühen, sie nicht zittern zu lassen. »Ich weiß welches Datum wir haben. Er hat heute Geburtstag. Aber er war gestern schon nicht in der Schule, ich mach mir Sorgen, ok? Ist er krank?« Frau Nickisch öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Elias sah zu, wie sie sich scheinbar nervös durch die nassen Haare fuhr. Ihre Augen huschten unruhig über Elias’ Gesicht, als würde sie etwas Bestimmtes suchen. »Nein, er ist nicht krank«, murmelte sie kaum hörbar. Elias wusste nicht, was in ihn gefahren war, aber sein Geduldsfaden riss in diesem Augenblick. »Machen Sie sich eigentlich überhaupt Gedanken um ihren Sohn?«, schnauzte er sie an und sie zuckte zurück, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. »Ich will wissen, wo er ist!« Sie wandte den Blick ab und schien mit sich zu ringen, dann verschwand sie von der Tür und Elias blieb brodelnd im Treppenhaus zurück. Dann erschien sie erneut mit einem Zettel und einem Stift in der Hand. Mit einer gestochen scharfen Handschrift, die Elias an Anton erinnerte, schrieb sie eine Adresse auf den Zettel und darunter zwei Zahlen. »Das ist nicht hier in der Stadt…«, meinte Elias verwirrt, als er den Zettel mit der Postleidzahl betrachtete. »Nein, ist es nicht…«, sagte sie und schob den Stift in eine ihrer Bademanteltaschen. Dann holte sie tief Luft. »Hol meinen Anton zurück«, flüsterte sie, wandte sich ab und im nächsten Augenblick hatte sie die Tür geschlossen und Elias stand da wie vom Donner gerührt, mit einer ihm unbekannten Adresse in der Hand und einem schrecklich flauen Gefühl im Magen. Was als nächstes folgte, war eine ziemlich unangenehme Unterhaltung. »Wie, du willst nicht in die Schule gehen?«, fragte seine Mutter, »Bist du krank?« »Nein, bin ich nicht. Ich muss was… erledigen«, nuschelte er und ballte seine Faust um das kleine Stück Papier. Seine Mutter hob die Augenbrauen. »Das kann sicher bis nach der Schule warten«, erwiderte sie unnachgiebig. »Nein, kann es nicht!«, sagte Elias und seine Mutter runzelte die Stirn angesichts seines Tonfalls. »Du kannst nicht einfach wegen irgendeiner Kleinigkeit die Schule schwänzen«, beharrte seine Mutter. Elias biss die Zähne fest zusammen, dann platzte es aus ihm heraus: »Anton ist weg, ok? Seine Ma hat mir eine Adresse gegeben und ich will ihn einfach nur… zurückholen. Und das kann nicht warten, er ist schon seit gestern weg!« Seine Mutter starrte ihn an, er starrte fest entschlossen zurück. »Ich ruf im Sekretariat an«, sagte seine Mutter schließlich in nüchternem Ton und wandte sich ab, um ins Wohnzimmer zum Telefontischchen zu wuseln. Elias blickte ihr erstaunt nach, dann hastete er in sein Zimmer, um ein paar Sachen in seinen alten Eastpack- Rucksack zu packen. Was machte Anton in einer Stadt, die 120 Kilometer von seinem Wohnort entfernt lag? Wieso hatte er ihm nicht Bescheid gesagt? Wieso sah Antons Mutter aus wie eine lebende Leiche und wo war ihre forsche Art hin verschwunden? Wieso holte sie ihren Sohn nicht selbst zurück? Er verließ das Haus um halb acht in Richtung Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte und ließ sich die genaue Verbindung ausdrucken. Mit den Stöpseln seines MP3- Players in den Ohren saß er in einem Fensterplatz und starrte hinaus in die Landschaft, die langsam aber sicher hügelliger wurde. Es wurde nur allmählich hell, doch der Himmel war heute nicht bewölkt. Er war eisblau und hier und da hingen einige Nebelschwaden zwischen den Bergen. Wo genau fuhr er eigentlich hin? Wieso brach er Hals über Kopf auf, wenn Anton Urlaub von der Schule nahm? Wieso war er krank vor Sorge? Anton war alt genug, um selbst zu wissen, was er tat. Aber Elias wurde den Gedanken nicht los, dass Anton die letzten Wochen so still gewesen war, weil etwas mit seinem Geburtstag nicht stimmte. Was auch immer es sein mochte. Vielleicht würde er es herausfinden. Am wichtigsten war ihm ohnehin, dass er Anton wirklich fand. Er versuchte gar nicht erst, die Adresse auf einer Stadtkarte zu finden, er setzte sich kurzerhand in ein Taxi, als er an einem kleinen Bahnhof auf Gleis fünf ankam. Der Taxifahrer schien schlecht geschlafen zu haben. Elias nannte ihm die Adresse und bemühte sich, den durchdringenden Geruch nach Zigarrenqualm zu ignorieren. »Was willst du denn in aller Herrgottsfrühe beim Friedhof?«, brummte der Fahrer und lenkte sein Taxi hinaus auf eine mäßig befahrene Straße. Elias’ Herz blieb stehen. Na wunderbar. Ein Friedhof. »Ich suche da jemanden«, gab er knapp zur Auskunft und wandte den Blick aus dem Fenster. War das hier die Stadt, in der Anton gewohnt hatte, bevor er neben ihm eingezogen war? Elias war sich beinahe sicher. Aber was tat er auf einem Friedhof. Blöde Frage, sagte er sich im nächsten Augenblick, er besucht natürlich ein Grab. Aber was für ein Grab? Die Fahrt dauerte zehn Minuten. Elias zahlte dem nach Zigarre riechenden Fahrer acht Euro und sechzig Cent, dann stieg er aus und fand sich vor einem gusseisernen Tor wieder, neben dem sich eine kleine Gärtnerei befand. Es war sehr still hier. Mittlerweile war die Sonne vollkommen aufgegangen, es war frisch, aber sonnig. Die Luft war klar und eine leichte Brise ließ die Bäume rascheln, die hinter dem eisernen Tor standen wie stumme Wächter. Elias kramte den Zettel hervor und betrat den Friedhof. 34, 5. Das stand unter der Adresse. Aber was sollte er damit anfangen? Der Friedhof war zwar nicht sonderlich groß, aber es würde trotzdem ewig dauern, bis er ihn komplett durchstreift hatte. Nervös sah er sich um, bis er eine Art Schuppen entdeckte, aus dem ein gedämpftes Klappern kam. Zögerlich ging er darauf zu und steckte den Kopf hinein. Ein älterer Mann lud mit angestrengtem Ächzen Säcke mit Erde auf eine dreckige Schubkarre. »Entschuldigung«, sagte Elias unsicher und trat ganz in den Schuppen, »ich suche ein Grab, können Sie mir weiterhelfen?« Der Alte richtete sich auf und sah ihn über eine rote Nase und einen buschigen Schnurrbart hinweg prüfend an. In seinem Mundwinkel steckte ein Zahnstocher, auf dem er herum kaute. »Die meisten, die herkommen, suchen ein Grab«, sagte er brummig und hievte einen weiteren Sack Erde auf die Schubkarre. Elias verdrehte die Augen. »Das habe ich mir gedacht. Wenn ich ihnen die Zahlen 34 und 5 sage, bezeichnet das die Stelle für ein Grab?« Er sah zu, wie noch ein Sack Erde auf die Schubkarre gehievt wurde, dann schob der Alte seine Ladung an Elias vorbei ins Freie. »Ja, das ist die Stelle für’n Grab«, sagte er und kaute ununterbrochen auf dem Zahnstocher herum. Elias seufzte. »Sehen Sie«, meinte er und fuhr sich durch die Haare, »ich suche hier nicht nur Grab, sondern auch jemanden, der bei dem Grab sein muss, verstehen Sie? Können Sie mir einfach sagen, wo ich langgehen muss? Oder wofür die Zahlen 34 und 5 stehen?« Der Fremde balancierte die Schubkarre vor sich her, Elias folgte ihm ungeduldig. »Suchst du Anton?«, fragte er und Elias’ Herz stockte unwillkürlich. »Ja… woher wissen Sie…?« »Der kommt immer zu der Zeit her, seit vier Jahren jetzt«, erklärte der Alte und schob seine Schubkarre unbeirrt weiter. Elias folgte ihm. Nachdem sein Herz den Schock überwunden hatte, raste es nun doppelt so schnell wie vorher. »Der ist schon gestern hier gewesen. Und heute ist er auch hier. Seit ich morgens das Tor aufgeschlossen hab«, erklärte der Alte mit seiner knarzenden Stimme. Mit jedem seiner Worte wackelten sein Schnurrbart und der Zahnstocher. »Reihe 34, das fünfte Grab. Das sind die Zahlen. Ich kümmer’ mich um das Grab. Ist mein Job.« Elias antwortete nicht. An einer der Gräberreihen blieb der Alte stehen und deutete weiter nach vorne. »Noch vier Reihen weiter. Ich muss hier ein Grab bepflanzen«, sagte er, dann trottete er mit seiner Ladung davon und ließ Elias allein zurück. Elias atmete tief durch, dann schritt er den von Büschen und Gräbern gesäumten Weg entlang, auf den die morgendliche Sonne schien. Als er die Reihe erreicht hatte, sah er Anton sofort. Er saß kurz vorm Ende der Reihe im Schneidersitz auf den Betonplatten, die einen Weg zwischen mehreren Gräbern hindurch markierten. Er starrte auf einen weißen Marmorgrabstein direkt vor ihm und schien tief in Gedanken versunken. Elias ging langsam auf ihn zu, sein Herz klopfte heftig irgendwo in der Gegend seines Adamsapfels. Was sollte er sagen? Ob Anton sauer werden würde, weil Elias ihm bis hierher gefolgt war? Anton sah nicht auf, als Elias neben ihn trat. Sein Gesicht war ausdruckslos, nur die fast schwarzen Augen funkelten unergründlich und zeigten eine Mischung aus Emotionen, die Elias nicht deuten konnte. »Hey«, sagte er zögerlich. Anton antwortete nicht. Elias schluckte schwer, dann nahm er seinen Rucksack ab und ließ sich neben Anton auf den kalten Betonboden sinken. Er betrachtete Anton von der Seite, doch der schien nicht erpicht darauf, Elias anzusehen. Und so wanderte Elias’ Blick von Antons Gesicht zu dem weißen Grabstein. Das Grab war mit dunkelgrünem Efeu bedeckt. Keine Blumen lagen oder standen darauf. Nur oben, direkt neben dem Grabstein, stand ein Busch, der keine Blüten führte. »Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegen senden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!« Elias kannte das Gedicht nicht, das oben rechts in der Ecke des Grabsteins stand. Und so glitten seine Augen tiefer und seine Welt kippte aus den Angeln. »Lukas Nickisch, geboren am 16.02.1991, gestorben am 16.02.2006« Kapitel 23: Das verlorene Spiegelbild ------------------------------------- Ich muss euch noch mal mit einem kurzen Kapitel ärgern. Wer die komplette Geschichte über Antons Vergangenheit hier bereits erwartet hat, den muss ich leider enttäuschen. Es ist nur ein kleines Stück der Geschichte ;) Aber wir haben ja noch ein paar Kapitel vor uns. Das nächste wird wieder länger, versprochen! Morgen schreib ich meine Klausur und dann hab ich in den Ferien hoffentlich ne Menge Zeit zum Tippen. Das Kapitel ist für meine Lisa Viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße, __________________________________________ Spiegelwelt voll schöner Sachen, die mich täglich traurig machen, schau mir nicht mehr ins Gesicht du bist fort, ich seh’ dich nicht. Er hatte sich noch nie in seinem Leben schlecht dafür gefühlt, dass es ihm immer gut gegangen war. Aber jetzt, als er dieses große Puzzlestück vor sich sah, kam er sich schrecklich vor. Wieso musste es zwei Menschen so unterschiedlich ergehen? Ihm war nie etwas passiert, außer einer Fünf in Französisch und dem Tod seiner Großmutter, als er vier Jahre alt gewesen war. Und hier saß Anton, dessen Eltern sich getrennt hatten, weil sein Vater fremdgegangen war, der daraufhin angefangen hatte zu trinken und jetzt hatte er auch noch einen vor genau vier Jahren – an ihrer beider Geburtstag – verstorbenen Zwillingsbruder. Wie viel Pech konnte ein einziger Mensch eigentlich haben? Und wie viel Unglück konnte ein Mensch ertragen? Die Spiegel, das Gedicht, Antons traurige Augen. Alles ergab einen Sinn. Er versuchte sich das ganze Gedicht ins Gedächtnis zu rufen. Er nahm dir die Lust am Leben, abgewendet, aufgegeben. Spiegelbilder blind und leer, sehen werd ich nimmermehr. Elias wusste nicht, ob er das wirklich verstand. Wer war ‚er’? Meinte Anton sich selbst damit? Elias wollte ihn nicht fragen. Anton saß immer noch neben ihm, starrte den Grabstein an und sagte kein einziges Wort. Elias schluckte und las immer wieder das kleine Gedicht auf dem Grabstein. »Das ist Hermann Hesse«, sagte Anton leise, »Ma hat mir früher immer Gedichte vorgelesen. Ich mag Gedichte… Lukas hatte nie sonderlich viel dafür übrig.« Die Sonne schien unerhört freundlich auf sie beide und das mit Efeu überwucherte Grab. Der helle Grabstein glitzerte sogar ein wenig im Licht. Elias wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte das Gefühl, er könnte nie wieder etwas zu Anton sagen. »Er war mehr der Sportler, ist viel mit seinem Skateboard durch die Gegend gezogen, hat mit Klassenkameraden Fußball gespielt… oder mit Pa. Er war immer mehr der Sohn, den Pa sich gewünscht hat. Ich war Mas Liebling. Sie hat mir vorgelesen, wir haben zusammen Klavier gespielt und Beethoven angehört…« Antons Stimme war leise und brüchig, als hätte er diese Geschichte noch nie in seinem Leben erzählt und als müsste er erst die richtigen Worte finden, um all das zu beschreiben, was in seinen Erinnerungen verankert und versteckt war. »Trotzdem haben wir viel zusammen gemacht. Wir waren immer zusammen. Er und ich. Wie man sich das so vorstellt, bei eineiigen Zwillingen. Immerzu haben Leute uns verglichen, wir haben immer versucht uns gegenseitig zu übertrumpfen. Auch wenn das dumm war, immerhin hatte jeder ein Gebiet, auf dem er gut war. Es war manchmal anstrengend, immer miteinander verglichen zu werden. Nur unsere Eltern haben das nie gemacht, die kannten uns. Und… unsere Freunde haben das auch nicht. Wahrscheinlich waren sie genau deswegen unsere Freunde…« Anton verstummte und seine Augen glitten über den Efeu, der das Grab überwucherte. »Ich hab das Gedicht ausgesucht. Und den Efeu… Ich hoffe du findest es nicht komisch, dass ich dir Efeu geschenkt hab. Es ist meine Lieblingspflanze«, murmelte Anton und zog seine Knie an den Körper, ehe er sein Kinn darauf ablegte. »Nein, ich… das macht gar nichts…«, erwiderte Elias heiser. Sein Herz schien sich konstant zusammen gezogen haben. Wieso hatte ihm nie jemand beigebracht, was man in solchen Augenblicken sagen sollte? »Ich hab deine Ma angemotzt«, platzte es schließlich aus ihm heraus. Anton blinzelte, sah ihn aber nicht an. »Wieso?«, fragte Anton unvermindert leise. Ein kühler Wind strich über sie hinweg und ließ den Efeu sacht rascheln. »Weil sie… sie wollte mir am Anfang nicht sagen, wo du steckst und ich dachte… dass es eigentlich ihre Aufgabe wäre, hier bei dir zu sein und dich wieder zurück zu holen«, murmelte er. Er spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg. Anton schwieg eine Weile lang. »Ich wäre vermutlich nicht mit ihr gegangen, das weiß sie sicher… aber sie war ohnehin nie hier, seit damals. Sie war nie hier. Ich weiß, dass sie immer, wenn sie mich anschaut, auch ihn sieht. Ich mach ihr keinen Vorwurf. Ich seh’ ihn ja selber in mir, jedes Mal wenn ich in den Spiegel schau. Manchmal ruft Pa bei Ma auf dem Handy an… wenn er richtig betrunken ist. Und dann fragt er nach ihm. Ma erzählt mir das nie, aber ich weiß, dass er’s immer noch macht. Sie versucht ihn von mir fern zu halten. Aber sie wechselt ihre Handynummer nicht, ich glaube, sie hängt irgendwie immer noch an dem, was früher mal war. Obwohl sie jedes Mal wütend wird, wenn er betrunken anruft. Sie kann mich kaum anschauen und trotzdem tut sie alles, was sie kann, um mich zu beschützen. Ich weiß, dass Leute immer denken, sie würde mich schlecht behandeln, aber das stimmt überhaupt nicht. Sie gibt sich die Schuld. Und er hat ihr die Schuld auch gegeben…« Elias fragte nicht, wer ‚er’ war. Ob er Lukas oder seinen Vater meinte. Der Kloß in seinem Hals, den er seit der Ankunft am Friedhof verspürt hatte, schien anzuschwellen. Sollte er Anton auffordern die ganze Geschichte zu erzählen? Denn Elias wusste, dass da noch Puzzlestücke fehlten. Er spürte es irgendwie. Die Geschichte hatte Lücken. Aber sollte Anton ihm diese Dinge nicht besser freiwillig erzählen? »Mein Geburtstag ist immer auch sein Todestag. Ich werd sicher nie wieder feiern…«, murmelte Anton kaum hörbar und legte die Stirn auf seine Knie, sodass Elias sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Er war sich nicht sicher, ob er es ertragen könnte, wenn Anton jetzt weinen würde. Er rutschte unruhig auf dem Beton hin und her, dann rückte er unbeholfen etwas näher zu Anton und zögerte mehrere rasche Herzschläge lang, dann legte er ihm behutsam einen Arm um die Schultern. Anton rührte sich nicht, sagte nichts und ließ auch nicht erkennen, dass ihm diese Geste irgendwie unangenehm war. Elias wusste nicht, wie lange sie so dort vor Lukas’ Grab saßen, aber irgendwann hob Anton den Kopf und sah ihn von der Seite an. Etwas an diesem Blick ließ Elias seinen Arm hastig zurück ziehen. Sein Herz hämmerte schon wieder in Halshöhe. »Es ist bald Schulschluss«, sagte Anton und rappelte sich auf. Elias stand ebenfalls auf und sah Anton verwirrt an. »Ähm…«, begann er, aber Anton klopfte sich sachte die Hose ab und beantwortete die ungestellte Frage. »Es gibt noch… andere… die jedes Jahr hierher kommen. Nach der Schule. Wenn es so weit ist, will ich nicht mehr da sein«, meinte er unverbindlich, wandte sich ab und ging in Richtung Ausgang des Friedhofs davon. Elias warf noch einen Blick auf das Grab, dann folgte er Anton. Anton sprach nicht mehr viel. Er ließ sich von Elias überreden, in der Innenstadt etwas zu essen. Elias sah sich insgeheim um und befand, dass die Stadt eigentlich recht hübsch war. Ob er und seine Mutter damals sofort weggezogen waren, nachdem es passiert war? »Du schwänzt die Schule wegen mir«, sagte Anton leise, als sie sich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof machten. Elias räusperte sich verlegen. Er fühlte sich merkwürdig. Schwer und irgendwie schuldig, was natürlich bescheuert war, denn Anton würde ihm sicherlich nie vorhalten, dass er immer glücklich gewesen war. »Ja, ich hab mir Sorgen gemacht«, erwiderte Elias frei heraus und Anton warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Schließlich räusperte er sich. »Tut mir Leid, dass ich nicht Bescheid gesagt hab. Ich bin schon gestern hergekommen und hab am Bahnhof übernachtet«, gestand er. Elias hob die Brauen, fragte aber nicht weiter nach. »Ich hab dir zwei SMS geschrieben…«, sagte er dann ein wenig verlegen. Anton sah überrascht auf. »Oh… ich hab mein Handy gar nicht dabei…«, antwortete er entschuldigend. Elias nickte nur und warf einen Blick auf die Anzeigetafel am kleinen Bahnhof, die die Rückfahrt in zehn Minuten ankündigte. Sie standen dicht beieinander, beide mit Rucksack, im blassen Licht der Wintersonne und warteten schweigend auf den Zug. Elias konnte sich nicht recht entscheiden, ob er das Schweigen unangenehm finden sollte, aber der Zug kam schon im nächsten Augenblick und sie stiegen ein, ließen sich auf einen Viererplatz fallen und Anton sah aus dem Fenster. Elias räusperte sich nervös. »Erzählst du es mir… irgendwann?«, fragte er leise. Anton wandte den Blick vom Fenster ab und musterte Elias, bis der Zug sich schließlich in Bewegung setzte. »Willst du es denn wirklich hören?«, erwiderte Anton noch leiser. Elias atmete einmal tief durch. Dann nickte er. »Ja, will ich. Wenn du es erzählen möchtest«, gab er aufrichtig zurück und sah Anton fest in die Augen. Anton legte den Kopf schief und sah ihn noch einen Moment lang durchdringend an, dann wandte er sich wieder dem Fenster zu und betrachtete die vorbei fliegende Landschaft. »Wenn du nichts dagegen hast, ein bisschen zu warten…« Kapitel 24: Lukas ----------------- »Sag mir noch mal, wo der Unterschied zwischen Bundesrat und Bundestag ist«, klagte Elias und legte sich den Unterarm über die Augen. Er lag auf Antons Teppichboden und raufte sich seit mehr als einer Stunde die Haare angesichts der Tatsache, dass Anton ihn unerbittlich in Politik abfragte. Anton hatte ihm – halb zu Elias’ Freude und halb zu seinem Entsetzen – ein Glossar zu wichtige politischen Begriffen geschrieben und ihn gezwungen es auswendig zu lernen. »Ich dachte, du kannst alles?«, gab Anton zurück und raschelte anklagend mit dem Stapel Papier in seiner Hand. Elias zog den Arm von seinen Augen und sah Anton über Kopf mit einem möglichst kläglichen Gesichtsaudruck an. »Das sind fünfzehn Seiten, ist dir das eigentlich klar?«, fragte er, ohne auf Antons Bemerkung einzugehen. »Ich weiß, dass das fünfzehn Seiten sind, ich hab sie schließlich selbst geschrieben. Also komm schon, so schwer ist das nicht«, ermunterte Anton ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Anton saß auf seinem Klavierhocker und hielt fünfzehn Seiten Computer- geschriebene Seiten in der Hand, Elias lag direkt vor ihm auf dem Boden, mit dem Kopf in Richtung Klavier und rang seinem Gehirn Politik aus allen Windungen. Zu seiner Überraschung hatte Anton ihn eingeladen. Zu sich herüber. Drei Tage nach dem Friedhofserlebnis. Noch mehr hatte es ihn überrascht, als Anton ihm erklärt hatte, dass seine Mutter geäußert hatte, Anton sollte ‚den Nachbarsjungen’ doch öfter mal herüber bitten. Bisher hatten weder Anton noch Elias ein weiteres Wort über Lukas verloren. Elias hatte beschlossen, Anton so viel Zeit zu lassen, wie er brauchte. »Ok… ist der Bundestag das Ding, das vom Volk gewählt wird und sich um die Gesetzesscheiße kümmert?«, riet Elias ins Blaue hinein. Anton schmunzelte. Elias wusste nicht genau wieso, aber trotz des Todestages seines Zwillings schien er nach ihrem gemeinsamen Friedhofsbesuch irgendwie wie ausgewechselt. Er war nicht mehr so still, lächelte öfter, er schmunzelte sogar ab und an verschmitzt. Elias freute sich immer noch über jedes Lächeln und er war sehr erleichtert, dass es Anton offensichtlich wieder besser ging. »Also so würde ich es in der mündlichen Prüfung nicht formulieren«, rügte Anton ihn, immer noch leicht schmunzelnd. »Sei nicht so streng«, beklagte sich Elias, »ich hab Recht, ja? Oder? Los, gib es zu, ich hab Recht!« »Ja, ok. Du hast Recht. Und der Bundesrat?« »Da sitzen die verschiedenen Bundesländer und bequatschen ihre politischen Anliegen«, sagte Elias grinsend. Anton schüttelte den Kopf und legte die Papiere beiseite. »An deiner Ausdrucksweise feilen wir später noch«, drohte er ihm und streckte sich ein wenig. »Verschone mich«, sagte Elias lachend und setzte sich auf. Sein Magen knurrte ziemlich laut. Antons Mundwinkel zuckten. »Hast du Hunger? Ich kann uns was kochen«, schlug er vor. Elias seufzte sehnsüchtig. »Das wäre klasse. Ich hab heute Morgen nur ein mickriges Marmeladentoast gegessen«, erwiderte er und erhob sich, um Anton aus seinem Zimmer in die Küche zu folgen. Er war das erste Mal hier drin und sah sich interessiert um. Es war fast lustig zu sehen, wie zwei gleich geschnittene Wohnungen von der Einrichtung so vollkommen verschieden aussehen konnten. Die Küche drüben war ein Mischmasch aus den verschiedensten Möbelstücken, die Stühle passten nicht zueinander, überall stand irgendetwas herum, ob es nun Gewürze oder kleine Keramikfigürchen waren. Diese Küche hier sah wie der Rest der Wohnung aus wie frisch aus einem Katalog bestellt. Elias setzte sich beinahe ehrfürchtig auf einen der Stühle und beobachtete, wie Anton aus verschiedenen Schubladen und Schränken Töpfe, Teller und Besteck hervor kramte. »Worauf hast du Lust? Ich war gestern einkaufen. Bandnudeln mit Champignons, Zwiebeln und Kräutersoße, Lasagne, Putenschnitzel mit-« »Halt, halt!«, sagte Elias lachend und grinste zu Anton herüber, der halb mit dem Kopf im Kühlschrank steckte, »Nicht so viel Aufwand für mich. Mach einfach das, worauf du selber Lust hast, ich ess’ sowieso alles!« Anton zog den Kopf aus dem Kühlschrank und legte den Kopf schief. Sein Blick sah aus, als wollte er in Elias’ Gehirn eine Antwort auf die Essensfrage finden. »Dann Bandnudeln«, sagte er schließlich und begann im Kühlschrank herum zu wühlen. Nachdem er der Reihe nach Sahne, Gewürze, Pilze, Zwiebeln und Nudeln nebeneinander auf der Arbeitsfläche aufgestellt hatte, machte er sich daran, die Pilze klein zu schneiden. »Ma war übrigens drei Tage in Folge nicht mehr abends aus«, sagte er unvermittelt. Elias blinzelte verwundert und schluckte. Immer, wenn es um Antons Familie ging, spannte er sich automatisch an, in der Erwartung, dass gleich irgendeine erschütternde Erklärung folgte. »Ich glaube, dass du sie… angemotzt hat, das hat sie irgendwie ein bisschen wachgerüttelt«, fügte er leiser hinzu. Elias spürte, wie er rot anlief. Er hätte eigentlich nicht so unhöflich sein sollen, aber es schien, als hätte es etwas genutzt. »Und sie hat keine neuen Tiefkühlsachen gekauft«, fügte er hinzu und griff nach einer Zwiebel. Elias stand auf, trat neben Anton und beobachtete ihn dabei, wie er mit geübter Hand die Zwiebel schälte. »Kann ich dir was helfen?«, erkundigte er sich. Anton sah ihn von der Seite an und lächelte. »Du hilfst mir schon genug. Setz dich hin«, meinte er. Elias’ Herz machte einen Salto. Er schluckte, lachte verlegen und ging wieder zurück zu seinem Platz. »Ich würde wahrscheinlich sowieso alles verhackstückeln«, scherzte er, um von seiner Verlegenheit abzulenken. Langsam wusste er, wie Anton sich fühlte, wenn Elias ihm spontan etwas Nettes sagte oder ihm ein Kompliment machte. Sie schwiegen eine Weile lang und Elias beobachtete Anton dabei, wie er Zwiebeln und Pilze in eine Pfanne warf und beides mit Butter zu braten begann. »Du hast gar nicht mehr nachgefragt«, fuhr Anton nach einer Weile fort und nahm sich einen Topf, um Sahne hinein zu schütten. Elias wusste sofort, was er meinte. »Wieso sollte ich auch. Ich will, dass du’s irgendwann von allein erzählst«, erklärte er aufrichtig. Anton griff nach einem der Gewürze. »Ich hab dir damals gesagt, dass ich keine Drogen mag«, sagte Anton und rührte in dem Soßentopf. »Ja…«, erwiderte Elias zögerlich. »Das liegt aber nicht unbedingt an meinem Vater. Lukas ist an einer Überdosis gestorben. Und ich gebe Pa die Schuld dafür. Immer noch.« Elias hatte schon wieder das Gefühl, dass die Welt aus den Angeln kippte, wie schon auf dem Friedhof, als er Lukas’ Namen auf dem Grabstein gelesen hatte. »Nachdem Pa wegen der Scheidung ausgezogen ist, ist Lukas mit ihm mitgegangen. Er wollte ihn nicht allein lassen und hat immer versucht, Ma dazu zu überreden, es sich noch mal zu überlegen. Im Nachhinein hat er ihr die Schuld dafür gegeben, dass Pa angefangen hat zu trinken. Lukas hat sich echt bemüht, ihn davon wegzubekommen. Aber er hat’s nicht geschafft. Pa war irgendwann nur noch besoffen. Wenn Lukas ihm die Pullen wegnehmen wollte, hat er ihn manchmal auch verprügelt. Aber Lukas wollte nichts gegen ihn hören, er hat immer nur auf Ma rumgehackt. Und ich hab Ma beschützt. Unsere Beziehung ist dadurch total kaputt gegangen. Und Lukas hat’s nicht ausgehalten, wie Pa sich immer mehr zugrunde gerichtet hat. Er hat seinen Job verloren, hing nur noch vorm Fernseher… Und Lu ist in die falschen Kreise geraten. Er war anfällig dafür, weil es ihm so dreckig ging. Am Anfang hat er nur ununterbrochen irgendwas geraucht. Dann kamen irgendwann die harten Sachen. Er war ein Wrack. Seine Stimmung schwankte von supergut bis unterirdisch, er sah immer schlechter aus…« Die Zwiebeln und die Pilze brutzelten leise in der Pfanne, Anton rührte in der Soße und warf die Bandnudeln ins mittlerweile kochende Wasser. »Es ist ein bisschen wie in einem schlechten Drama«, fuhr Anton leise fort und Elias fühlte sich taub und bewegungsunfähig. »Ich hab immer versucht, ihn davon wegzubekommen. Am Ende kam er immer öfter vorbei, anfangs in seinen gute- Laune- Phasen, dann irgendwann nur noch, wenn er übermüdet war und seine Hände gezittert haben wie verrückt. Manchmal lag er bei mir auf dem Bett und hat plötzlich angefangen um sich zu schlagen, weil er irgendwelche Halluzinationen hatte. Aber er wollte nicht aufhören und wahrscheinlich konnte er auch irgendwann nicht mehr. Und dann, einmal, da kam er zu mir und wollte Geld. Er wollte sich Geld von mir leihen. Und als ich ihm gesagt hab, dass ich ihm kein Geld für Drogen gebe, ist er völlig ausgerastet. Das war der Zeitpunkt, an dem ich wusste, dass ich ihn nicht retten kann. Ich hatte meine eigenen Aussetzer. Irgendwann bin ich aufgewacht, im Bad, auf dem Boden. Ma stand neben mir und hat geweint und ich hab mich umgeschaut und alles war total zertrümmert. Ich hab die Spiegel kaputt gemacht, alles runtergefegt. Und ich konnte mich nicht mal dran erinnern…« Elias versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie Anton ausrastete und Spiegel zertrümmerte. Seine Gedanken rasten angesichts dieser Geschichte. »Ma hat in der Zeit nur noch geweint. Immer, wenn sie mich angeschaut hat, fing sie an zu weinen. Das war die Hölle. Und dann hat Pa an unserem Geburtstag angerufen und gesagt, dass Lu nicht mehr aufsteht. Ich war allein zu Haus und bin hingefahren. Man sieht solche Sachen so oft im Fernsehen, aber wenn man dann wirklich einen Toten irgendwo liegen sieht, ist es was anderes. Pa war total besoffen, er meinte, ich soll ihn aufwecken, er hat überhaupt nicht verstanden, was da eigentlich los war. Ich saß ewiglang neben Lukas und Pa hat mich von hinten angeschrieen, dass ich ihn wieder aufwecken soll. Und dann bin ich irgendwann ausgetickt. Ich hab ihn angeschrieen, dass er Lukas umgebracht hat, ich hab ihn geschlagen. Er war so voll, er konnte kaum noch stehen. Wenn er nicht so voll gewesen wäre, dann hätte er vielleicht verstanden, dass Lukas am Sterben ist, dann hätte er vielleicht einen Krankenwagen rufen können. Ich hab erst den Notarzt gerufen, als Pa sich nicht mehr gerührt hat… Ich hab mir in diesem Moment echt gewünscht, dass er tot ist und nicht Lukas. Wir haben nie raus gefunden, ob es Selbstmord oder ein Versehen war. Ma und ich waren beiden in Therapie danach. Wir sind sofort weggezogen, nachdem die Beerdigung war. Ich hab den Kontakt zu allen Leuten abgebrochen, die ich kannte. Immer, wenn Fenja und Ben… das waren damals unsere beiden besten Freunde… mich angeschaut haben, dann hatte ich das Gefühl, sie suchen Lukas in mir, aber wir waren immer so komplett verschieden und ich konnte ihn nicht ersetzen…« Anton goss die Nudeln ab und verteilte sie auf zwei Teller. Elias starrte ihn an und beobachtete, wie er Zwiebeln und Pilze in die Soße tat und umrührte, ehe er den Soßentopf und die beiden Teller mit Nudeln auf den Tisch stellte. »Ich dachte… ich muss länger… auf die Geschichte warten«, murmelte Elias kaum merklich. Anton stand neben dem Tisch und seine Augen flackerten unsicher zu Elias hin. »Dachte ich auch… aber irgendwie… ich weiß auch nicht«, flüsterte Anton und senkte den Kopf. Elias meinte zu sehen, dass die schwarzen Augen in Tränen schwammen. Also tat er das, was Alex nach am besten war, wenn jemand Trost brauchte. Er stand auf und zog Anton in seine Arme. Anton war ein paar Zentimeter kleiner als er, er war zierlicher und seine Haare rochen nach einem fruchtigen Shampoo. Elias schloss die Augen und Anton stand einen Moment ganz still da, dann hob er langsam die Arme und erwiderte die Umarmung. Seine Hände krallten sich in Elias’ Pullover und er vergrub sein Gesicht an seiner Schulter. Elias spürte, wie sein Herz beschleunigte und er Antons Duft in sich aufsog. Zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, dass Alex vielleicht Recht hatte. Er hatte noch nie einen Jungen auf diese Art und Weise umarmt. Er drückte Anton etwas fester an sich und in ihm keimte das dringende Gefühl, Anton nicht mehr loszulassen. Er lehnte seinen Kopf gegen Antons und seine Finger strichen behutsam über den weichen Stoff von Antons schwarzem Pullover. Wie lange sie dort standen, wusste er nicht. Irgendwann lösten sie sich voneinander und Antons Augen funkelten ihn merkwürdig von unten herauf an. Seine Wangen waren gerötet und Elias spürte, wie sein Gehirn ihm einen Impuls vermittelte, der deutlich verlangte: Küss ihn! Er schluckte und ließ sich leicht benommen auf den Küchenstuhl sinken. Anton setzte sich ebenfalls und griff fahrig nach der Kelle im Soßentopf. Elias konnte es nicht fassen. Er kannte jetzt das ganze Puzzle und alles, was ihm dazu einfiel, war, dass er Anton gern küssen würde? Drehte er nun vollkommen durch? Nachdem Anton ihnen beiden Soße aufgetan hatte, drehte Elias völlig verwirrt einige Nudeln auf den Löffel. »In dem Gedicht«, murmelte er leise, »da stand was davon, dass er dir gesagt hat, dass du ihn hassen sollst…?« Anton stocherte ein wenig in seinem Essen herum, dann nickte er. »Er hatte einen Schuhkarton. Voll mit Papierkram, eine Menge Songtexte von irgendwelchen Bands, Briefe, wirre Notizen, das meiste davon hat er wohl im Drogenrausch aufgeschrieben. Mein Name stand auf der Kiste. Ich hab sie immer noch. Und von seiner Lieblingsband gab es ein Lied, das ihm wohl immer wieder durch den Kopf gegangen ist. Er hat ein paar der Liedzeilen gefühlte hundert Mal aufgeschrieben… ich kann dir das Lied vorspielen, wenn du willst«, antwortete Anton mit noch immer hochroten Wangen. »Nur wenn du wirklich willst«, entgegnete Elias hastig. Anton lächelte kaum merklich. »Du bist der Erste, dem ich das alles erzähle… wenn schon, denn schon…« Sie aßen schweigend, nur einmal versicherte Elias Anton, dass es wirklich gut schmeckte. Dann sortierte Anton das Geschirr in die Spülmaschine und schrieb einen kurzen Zettel für seine Mutter, dass er ihr etwas zu essen aufgehoben hatte. Schließlich folgte Elias Anton wieder zurück in sein Zimmer und Anton kramte in seinem CD- Regal, bis er fand, was er suchte. Dann legte er die CD in seine Stereoanlage und blieb im Schneidersitz davor sitzen. Elias kam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Anton spulte das Lied ein wenig vor, dann beobachtete er Elias dabei, wie er dem Text lauschte. »Hate me today. Hate me tomorrow. Hate me for all the things i didn't do for you. Hate me in ways, yeah ways hard to swallow. Hate me so you can finaly see what's good for you« Anton schloss die Augen und seufzte. Elias unterdrückte den Impuls, nach seiner Hand zu greifen. »In a sick way I want to thank you for holding my head up late at night While I was busy waging wars on myself, you were trying to stop the fight You never doubted my warped opinions on things like suicidal hate. You made me compliment myself when it was way too hard to take So I'll drive so fucking far away that I'll never cross your mind And do whatever it takes in your heart to leave me behind« »Ich glaube, er hat das alles auf unsere Familie übertragen… Manchmal hör ich mir das Lied stundenlang an…«, murmelte Anton seinen Knien entgegen. Schließlich sah er auf und sein Blick war irgendwie nervös. »Manchmal… erinnerst du mich an ihn«, gestand Anton sehr leise. Elias brachte ein Lächeln zustande, auch wenn er nicht wusste, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Kapitel 25: Beste Freundin -------------------------- Für Lisa, weil ich es nicht mag, wenn sie traurig ist. Und außerdem, weil sie die beste beste Freundin ist, die man haben kann :) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, ________________________ Wie sich herausstellte, war Marcel wirklich sehr nett. Aber Kathis Freundinnen fanden das nicht ausreichend. Kathi erzählte ihm, dass sie ständig darüber lachen würden, dass sie sich mit ihm traf. »Das kann doch nicht das Wahre sein«, beschwerte Kathi sich bei ihm, »deine Freunde würden das doch auch nicht machen, oder?« Elias schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, würden sie nicht. Wenn sie wirklich deine Freunde sind, dann sollten sie sich für dich freuen«, erklärte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Kathi seufzte leise. Sie spielte scheinbar gedankenverloren mit einer ihrer lockigen Haarsträhnen und blickte ins Leere. »Hast du nicht mal Lust, mit mir und den anderen in Dominiks Keller ein bisschen zu feiern?«, fragte Elias beiläufig. Die Idee war ihm spontan gekommen. Kathi blinzelte verwirrt und wandte ihm den Blick zu. »Mit meinem großen Bruder und zwei glücklichen Pärchen?«, gab sie mit einem halben Lächeln zurück, ganz so, als wüsste sie nicht recht, was sie davon halten sollte. Elias grinste. »Du kannst deinen Marcel mitbringen, wenn du willst. Die anderen haben sicher nichts dagegen. Caro ist auch manchmal mit ihrem Freund dabei, die ist so alt wie du. Es ist witzig! Wir trinken ein bisschen was, spielen Twister oder Playstation oder quatschen über irgendeinen Mist«, meinte er. Vielleicht verstand Kathi sich mit Caro gut, die ganz sicherlich kein Problem damit hätte, dass Kathis Freund nicht aussah wie Zac Efron. »Stört das deine Freunde nicht?«, gab sie zurück und nun war ihre Unsicherheit sehr deutlich. Elias grinste breit. »Quatsch. Die haben nie was gegen Neuankömmlinge. Am Freitag treffen wir uns wieder, also nimm dir nichts vor!« Er verbrachte den Tag abwechselnd mit Erdkundelernen und Pokémon- Schauen. Nathalie hatte ihn in Beschlag genommen und wollte kein Wort davon hören, dass ihrem Bruder bald wichtige Prüfungen bevorstanden. Zwischenzeitlich wurde er – wieder einmal – von Markus und Dominik angerufen, die sich bei ihm beklagten, weil sie keine Lust aufs Lernen hatten und die jeweils unterschiedliche Anekdoten – Markus von Lea- Lekysha und Dominik von Christine – erzählten. Elias erzählte ihnen nichts. Zumindest nichts, was in Richtung Anton ging und davon handelte, dass er kürzlich das deutliche Gefühl gehabt hatte, einen Jungen küssen zu wollen. Er wusste nicht recht, ob er es überhaupt jemandem sagen wollte, bis er nicht selbst wusste, was eigentlich los war. Natürlich machte es ihm wenig aus, dass er eventuell auf Männer stand. Oder auf Männer und Frauen. Das war ihm herzlich egal. Aber es hatte so lange gedauert, sich mit Anton anzufreunden, sein Vertrauen zu gewinnen. Anton hatte gesagt, dass Elias ihn manchmal an seinen toten Zwilling erinnerte. Das bedeutete sicherlich, dass Anton brüderliche Gefühle für ihn hegte und sonst nichts. Und ohnehin wusste Elias überhaupt nicht, wie Anton zum Thema Mädchen oder Jungs stand. Darüber hatten sie nie geredet. Das einzige, was Elias über das Thema Liebe in Zusammenhang mit Anton wusste, war, dass Anton schon einmal Liebeskummer gehabt hatte. Aber danach wollte er eigentlich nicht fragen. Ihm war es wirklich lieber, wenn Anton ihm all diese Dinge von allein erzählte, so wie er es schon mit der Geschichte seiner Familie gemacht hatte. Seine Mutter war jedes Mal ganz begeistert, wenn er sich mit Anton traf. Elias hatte auch endlich heraus gefunden, was denn an Antons Sternzeichen so wunderbar sein wollte. »Wassermann und Zwilling passen gut zusammen, wusstest du das nicht?«, hatte sie ihm am gestrigen Tag verkündet. Elias hatte es sich verkniffen, nachzufragen, was genau seine Mutter mit ‚zusammenpassen’ gemeint sein sollte. Er war sich nicht sicher, ob er das wirklich wissen wollte. Im März stand bereits seine erste Abiturprüfung an und Elias vergrub sich mehr denn je in seinen Unterlagen, auch Dominik und Markus hatten ihre Proteste aufgegeben und damit begonnen, richtig zu pauken. Vor allem Markus’ Laune wurde immer gereizter, da er einen wirklich exzellenten Durchschnitt brauchte, um zu seinem gewünschten Medizinstudium zugelassen zu werden. In manchen Fächern halfen sie sich gegenseitig. Elias half Dominik beim Englischlernen, Dominik und Elias fragten Markus Lateinvokabeln ab und erklärten ihm die Dinge in Mathe, die er nicht verstanden hatte. Elias wusste, dass Alex sich wohlmöglich ein wenig vernachlässig fühlte, aber sie sagte nichts, weil sie genau wie er daran arbeitete, ihr Abitur so gut wie möglich zu bestehen. Manchmal rief sie ihn an, um sich Hilfe zu holen, da sie – genau wie Elias – Schwierigkeiten mit ihrem mündlichen Prüfungsfach hatte. Alex würde ihre mündliche Prüfung in Biologie machen, da sie für Naturwissenschaften mehr Talent hatte als für Sprachen. »Ich hätte auch Englisch nehmen können, aber das wäre mein Tod gewesen, ich schreibe Englisch lieber, als zu reden. Und das will bei mir schon was heißen. Und in Bio hab ich nur neun Punkte, ich möchte in der Mündlichen aber elf haben!« Bio übers Telefon zu lernen war zwar nicht gerade leicht, aber es ging. Manchmal saß er mit Dominik und Markus in Dominiks Keller und brütete schweigend über den Politikunterlagen, die Anton ihm zusammen gestellt hatte. Wenn Alex dann anrief, gab er sie an Markus weiter, der immerhin Bio- Leistungskurs hatte und ihr sicherlich besser helfen konnte. Das Gute daran war, dass die Erklärungen für Alex auch gleichzeitig Stoffwiederholung für Markus waren. Anton fragte Elias immer mal wieder in Politik ab. Manchmal, wenn sie beieinander saßen und einfach nur Musik hörten, dann stellte er plötzlich irgendeine beliebige Frage und daran, dass Elias mittlerweile wie aus der Pistole geschossen antworten konnte, merkte er, dass Antons ‚Unterricht’ ihm wirklich geholfen hatte. Außerdem hatte sich gezeigt, dass sein Plan, was Kathi und Caro betraf, aufgegangen war. Die beiden hatten sich sehr gut verstanden und sich erst kürzlich auf eine heiße Schokolade in der Stadt verabredet. Marcel war zugegebenermaßen ein wenig merkwürdig, aber das störte Elias herzlich wenig, wenn er sah, wie Marcel seine Schwester mit leuchtenden Augen betrachtete. Auch wenn er merkwürdig war, war er nett. Und Elias und seine Freunde waren schließlich auch nicht unbedingt das, was man als normal bezeichnen würde. In der Schule wurden sie täglich daran erinnert, dass bald ihre wichtigsten Klausuren anstanden. Die Lehrer waren gestresst, um auch ja noch den letzten Rest des Zentralabiturstoffs durchgepaukt zu bekommen, viele Schüler stellten immer wieder Fragen zum Prüfungsablauf. Eva war tatsächlich ausgesprochen interessiert an Dominik, Elias merkte es genau wie seine beiden Freunde überdeutlich. Sie setzte sich in der Pause zu ihm, warf ihre Haare in den Nacken, wie sie es früher bei Elias getan hatte und lud ihn immer öfter zu einem Treffen ein, die Dominik immer wieder ablehnte. Es schien ihr nicht zu gefallen, dass er ihr nicht mehr nachlief. Elias fragte sich, ob es in allen Frauen solch einen Abgrund gab. »Ich wollte dich noch was fragen«, erklärte Alex ihm zwei Tage, bevor sie wieder in die Stadt kommen und sie sich sehen würden. »Schieß los«, murmelte er und kaute nervös auf einem Kugelschreiber herum, während der einige Matheübungsaufgaben durchging. »Würdest du… würdest du mit mir zu meinem Abschlussball kommen?« Elias nahm den Kugelschreiber aus dem Mund und blickte auf. »Zu deinem Abiball? Aber willst du da nicht mit Alex hingehen?«, fragte er verblüfft. Er hatte die Tatsache, dass es nach dem Abi noch einen Ball gab, völlig verdrängt. »Na ja… Erstmal kann er nicht tanzen, dann hat er an dem Wochenende sowieso keine Zeit, weil sein Vater Geburtstag hat und er nicht in der Stadt ist und außerdem… selbst wenn er Zeit hätte… ich hab Mama und Papa immer noch nichts von ihm erzählt. Und an dem Abend habe ich keine Lust auf Stress, verstehst du?« Elias verstand durchaus. Er schmunzelte. »Wann ist dein Abiball noch mal?«, wollte er wissen und kramte auf seinem Nachtschrank nach seinem Kalender. »Am 27. Juni«, gab sie zurück. Elias blätterte ein wenig in dem zerfledderten Kalender herum, fand das richtige Datum und notierte es sich. »Ok, dann komme ich. Aber ich warne dich, ich werde keine Krawatte tragen!«, sagte er. Aex lachte. »Das ist echt lieb von dir. Mir wäre es auch egal, wenn du in Jeans kommst. Scheiß auf die Krawatte«, meinte sie und Elias hörte, dass sie sich ziemlich über seine Zusage freute. Er hatte früher schon mit Alex getanzt, als sie noch hier in der Stadt gewohnt hatte. Sie hatten gemeinsam mehrere Tanzkurse gemacht und sogar Lateinamerikanisch angefangen, aber dann hatten ihre Eltern sie auf dem Internat angemeldet und sie hatten den Kurs leider nicht zu Ende machen können. Elias war eine Niete im ‚normalen’ Tanzen, weshalb er auch nie in Diskotheken ging, aber Standardtanzen mit Alex machte ihm Spaß. Und er war auch nicht allzu schlecht darin. Als Alex zwei Tage später bei ihm auf der Matte stand, strahlten ihre blauen Augen und sie warf sich auf ihn, um ihn ausgiebig zu umarmen. Seine Familie war nicht zu Hause und Alex hatte bereits nach zwei Stunden wieder das Gefühl gehabt, Urlaub von ihren Eltern zu brauchen. »Und dann haben sie sich wieder so angeschaut, als ich gesagt hab, dass ich mich mit dir treffe«, erklärte sie und verdrehte die Augen, während sie sich ihre ausgelatschten Turnschuhe auszog und ihren Rucksack in eine Ecke stellte. »Haben sie die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?«, fragte Elias grinsend. Alex schüttelte resigniert den Kopf. »Sie warten vermutlich nur darauf, dass ich unsere Verlobung bekannt gebe… ich glaube, wenn ich ihnen irgendwann das mit Alex erzähle, dann drehen sie total durch. Vielleicht sollte ich das für mich behalten, bis ich ausgezogen bin. Tamara guckt mich manchmal an, als wäre ich der Teufel. Wetten, sie ist nur neidisch, weil sie keinen Freund hat? Und insgeheim fragt sie sich garantiert die ganze Zeit, ob ich’s schon mit ihm gemacht hab, oder nicht. Hab ich übrigens nicht«, erklärte sie auf Elias’ gehobene Augenbraue hin. »Ehrlich gesagt sind wir weit entfernt davon. Eigentlich finde ich es ja lieb, dass er mir so viel Zeit lässt, aber andererseits frage ich mich auch, ob er mich vielleicht irgendwie nicht anziehend genug findet«, sagte sie und tippte sich gegen das Kinn. Dann schaute sie an sich herunter und Elias folgte ihrem Blick. Sie trug ein stinknormales, grauen Sweatshirt und eine Jeans. Alex war weder übermäßig dünn, noch breit gebaut. Elias hatte schon oftmals Fragen über sich ergehen lassen müssen, ob er ihre Figur gut fand. »Wie auch immer, gehen wir Anton besuchen?«, fragte sie plötzlich aus heiterem Himmel und strahlte ihn begeistert und mit neugierig funkelnden Augen an. Elias war ein wenig überrumpelt. Er wusste nicht, ob Anton zu Hause war. »Öhm… wir können ja mal klingeln gehen«, sagte er und fragte sich insgeheim, ob der eher schweigsame Anton nicht vollkommen überfordert mit einer Plappertasche wie Alex sein würde. Sie traten hinaus ins Treppenhaus und gingen auf Socken das kurze Stück hinüber zu Antons Wohnung, wo Elias auf den Klingelknopf drückte. »Ich bin total gespannt«, zischelte sie Elias ins Ohr und er buffte sie leicht in die Seite, als auch schon die Tür geöffnet wurde und Antons schwarzer Haarschopf erschien. »Hi«, sagte Elias grinsend und wollte gerade die Hand heben, um auf Alex zu deuten und sie vorzustellen, da streckte Alex schon begeistert ihre Hand aus und strahlte Anton entgegen. Elias konnte deutlich die Verwirrung auf dem Gesicht seines Nachbarn sehen. »Hallo, ich bin Alex, Elias’ beste Freundin! Freut mich, dich endlich mal kennen zu lernen!« Anton ergriff ziemlich perplex ihre Hand und sah sie einen Moment lang sprachlos an. »Anton«, sagte er dann und öffnete die Tür etwas weiter, damit sie eintreten konnten. Elias zuckte grinsend hinter Alex’ Rücken mit den Schultern und folgte den beiden ins Antons Zimmer. Alex sah sich staunend um. »Sieht hier irgendwie größer aus, als in eurem Wohnzimmer«, meinte sie und betrachtete interessiert das Regal mit Antons CD- Sammlung. Anton sah Alex dabei zu, wie sie sich in seinem Zimmer umsah. Ab und an huschten seine Augen zu Elias hinüber, der sich auf den Teppichboden gesetzt hatte und nun dabei zusah, wie Alex alles ganz genau inspizierte. »Elli hat schon erzählt, wie gut du Klavier spielst. Ich wollte früher auch immer Klavierspielen, aber wir hatten leider keinen Platz für ein eigenes Klavier. Deswegen bin ich dann auf Querflöte umgestiegen. Aber den Unterricht hab ich aufgegeben, meine Lehrerin war schrecklich, ich hab mir das meiste selber beigebracht, nimmst du Unterricht?« Anton starrte Alex an, die wie so oft ohne Luft zu holen geredet hatte und ihn nun gespannt anblickte, in der Erwartung, er möge ihre Frage beantworten. »Nein, auch nicht mehr«, sagte er schließlich. Elias streckte sich und grinste immer noch. »Ich hab meine Flöte mitgebracht. Soll ich sie rüberholen? Wir können zusammen was spielen«, schlug Alex begeistert vor und strahlte wie eine Tausendwattbirne. Elias kannte niemandem, der diesem Atomgrinsen widerstehen konnte. Selbst Anton konnte es nicht. »Gerne«, sagte er und lächelte sogar. Alex klatschte begeistert in die Hände, dann hielt sie Elias die geöffnete Hand hin und er ließ seinen Schlüssel hinein fallen. Als Alex draußen war, sah Anton Elias an. »Sie ist…«, begann er und suchte offensichtlich nach einem Ausdruck, der alles beinhaltete, was Alex war. »Umwerfend? Wunderbar? Gesprächig?«, schlug Elias amüsiert vor. Anton schmunzelte. »Sie ist ein bisschen wie meine… ehemals… beste Freundin«, sagte er und sein Schmunzeln erstarb. Einen Moment lang schien er zu zögern, dann ging er hinüber zum Nachtschrank und griff nach dem Foto. »Ich hab dir noch kein Foto von ihr gezeigt«, meinte er und klang beinahe entschuldigend. Er hielt Elias den Bilderrahmen hin, den Elias schon einige Male auf dem Nachtschrank gesehen, aber sich nie getraut hatte, ihn anzusehen. Er griff nach dem Rahmen und blickte darauf hinunter. Vier junge Leute grinsten ihm breit und strahlend entgegen. Anton und Lukas waren nicht voneinander zu unterscheiden, aber Elias meinte zu wissen, dass Anton derjenige mit dem knallblauen T-Shirt war. Es war ungewohnt, ihn so strahlen zu sehen und er war viel jünger. Vielleicht 13 oder 14? Neben ihm stand ein sehr viel größerer Junge mit raspelkurzen, hellbraunen Haaren und einem breiten Grinsen, auf Antons anderer Seite stand ein Mädchen. Sie hatte feuerrote Locken, – noch röter als Markus’ Haare, was Elias schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatte – war dünn und sah vom Gesicht her ein wenig aus wie Pippi Langstrumpf. Neben ihr stand Lukas – wenn es denn Lukas war. Elias betrachtete das rote Poloshirt, die schwarzen, glänzenden Haare und die schalkhaften Züge des Gesichts, die bei Anton fehlten. Elias unterdrückte ein Schaudern bei dem Gedanken, dass dieser Junge kurze Zeit später an einer Überdosis gestorben war und damit das Lächeln aus dem Gesicht seines Zwillings gewischt hatte. »Sie sieht aus wie Pippi Langstrumpf«, entfuhr es ihm. Anton lächelte und nahm das Foto in die Hand. »Ja, ein bisschen. Wenn man ihr das sagt, schlägt sie einen«, murmelte er und seine Augen richteten sich, obwohl sie immer noch auf dem Foto lagen, in die Ferne. Fast konnte man in der nostalgischen Atmosphäre des Zimmers Fenjas Lachen hören. »Da bin ich!«, sagte Alex’ Stimme an der Tür. Elias wandte sich um. Sie trug ihre eigene Querflöte und seine Gitarre. Diese drückte sie ihm schwungvoll in die Arme und ließ sich neben ihm auf dem Fußboden nieder. »Ihr könnt euch auch aufs Sofa setzen«, sagte Anton ein wenig verwirrt und stellte das Foto zurück auf den Nachtschrank. Alex grinste. »Elli und ich sitzen gern auf dem Boden. Blöde Angewohnheit. Was spielen wir? Gibt’s überhaupt was, was wir alle können?« Diese Frage beschäftigte sie die nächste Viertelstunde. Sie grübelten nach, was dazu führte, dass sie sich gegenseitig ihre Lieblingslieder nannten und schließlich darauf kamen, dass die einzige Musik, die sie alle drei kannten und spielen konnten, Filmmusik war. Und zwar größtenteils von Disney. »Ok, wie wäre es mit irgendwas aus Tarzan?«, fragte Alex. Elias verzog das Gesicht. »Den mag ich nicht«, widersprach er. Alex brummte. »Aber die Musik ist von Phil Collins und Phil Collins ist toll. Es ist doch egal, ob du den Film magst«, beklagte sie sich und boxte ihm gegen den Oberarm. Ihm fiel wieder einmal auf, wie hart seine beste Freundin zuschlagen konnte. »Wie ist es mit Aladdin? ‚A whole new world’?«, schlug Anton vor. Alex strahlte. »Ein Liebeslied!«, quietschte sie begeistert, warf Elias einen überschwänglichen Blick zu und hob ihre Flöte an den Mund. Anton schmunzelte kaum merklich, als er sich auf seinen Klavierhocker setzte und seine Finger auf die Tasten legte. »Schlagt mich nicht, wenn ich was verpatze, ich spiel das alles aus dem Gedächtnis«, sagte Elias, legte sich seine Gitarre übers Knie und sah Alex an. Sie zuckte mit den Schultern, holte Luft und zauberte die ersten Töne von ‚A whole new world’ aus ihrer Querflöte. Anton war der Erste, der einsetzte. Elias lauschte noch einen Moment, dann strichen seine Finger über die Saiten. Alex sah ihn über ihre Flöte hinweg auffordernd an. Elias brummte leise. Dann sang er, bevor Alex ihn noch einmal boxte. »In deiner Welt, so neu so völlig unbekannt, mit dir auf Wolken geh’n und plötzlich seh’n, dass deine Welt auch meine Welt sein kann…« Dass er dieses Lied überhaupt singen konnte, wunderte ihn. Aber da seine kleine Schwester ihn oft genug gezwungen hatte, alle Disneyfilme anzuschauen, konnte er tatsächlich die meisten Liedtexte auswendig. Elias hätte nicht gedacht, dass seine Gitarre und Alex’ Querflöte zusammen mit einem dritten Instrument spielen würde. Aber es klang toll, wie sie zu dritt spielten. Es folgten ‚Colors of the wind’ und ‚Reflection’, beide sehr brüsk von Alex vorgeschlagen, weil sie sie sicher und auswendig spielen konnte. Bei beiden Liedern musste Elias die hohen Passagen auslassen, weil er so hoch nicht singen konnte. Alex verkniff sich dann jedes Mal ein Lachen. »Kannst du ‚Für Elise’ spielen?«, fragte Alex, als sie mit ihren Disneyliedern fertig waren. »Ja, kann er«, antwortete Elias automatisch. Anton sah ihn mit einer gehobenen Augenbraue an. »Hey, ich hör dich immer spielen, ok«, sagte Elias ein wenig verlegend grinsend. »Spielst du’s mal?«, bat Alex mit funkelnden Augen. Anton schien Alex’ Leuchtaugen nicht widerstehen zu können und so wandte er sich erneut zu seinem Klavier um und begann zu spielen. »Für Elise klingt fast wie Für Elias«, flüsterte Alex ihm ins Ohr. Er spürte, wie er rot anlief und knurrte leise. Sie grinste nur breit und wiegte sich dann leicht im Takt der Musik. Danach aßen sie Pistazien und Muffins – selbstgebacken von Anton, aus purer Langeweile vom gestrigen Abend – und zitierten sich Liedzeilen, die die anderen dann erraten mussten. Als Alex ihren dritten Muffin verspeiste, wandte sie sich an Anton. »Hast du nicht Lust auch zu meinem Abiball zu kommen? Dann ist Elli nicht so allein. Du könntest auch ein Mädchen mitbringen«, sagte sie freiweg. Anton starrte sie an. Elias konnte förmlich sehen, wie hinter Antons Stirn die Zahnrädchen ratterten. Dunkel fragte er sich, ob Anton überhaupt Mädchen kannte, die er einladen würde? Dann fiel ihm ein, dass er Anton letztens hatte küssen wollen und daraufhin eröffnete sich ihm die Frage, ob er es überhaupt gut finden würde, wenn Anton mit einem Mädchen… ausging. Anton öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Alex kicherte, dann stand sie auf. »Die Toilette ist ja da, wo Ellis Klo auch ist, oder?«, fragte sie und Anton nickte, immer noch vollkommen überrumpelt. Als Alex das Zimmer verlassen hatte, sah Anton ihn perplex an. »Zu ihrem Abiball? Ich?«, fragte er vollkommen verdattert. »Sie mag dich offenbar. Du könntest…«, er räusperte sich und hoffte, dass er Anton mit seiner Direktheit nicht wieder verschreckte, »du könntest Fenja anrufen. Du vermisst sie doch, oder? Ich hab gesehen, wie du das Foto angeschaut hast.« Antons Blick wurde nachdenklich und er betrachtete gedankenverloren den halbaufgegessenen Muffin in seiner Hand. Dann blickte er wieder zu Elias auf. »Ich weiß nicht, ob ich mich das traue«, murmelte er leise. Elias wusste, dass das untertrieben war. Antons Blick verriet ihm, dass er eine Heidenangst davor hatte, sich mit seinen besten Freunden in Verbindung zu setzen, einfach weil er es nicht ertragen könnte, wenn sie ihn ansahen und an Lukas dachten. »Es lohnt sich sicher«, sagte Elias lächelnd, gerade als Alex wieder ins Zimmer geschneit kam, »beste Freundinnen sind nämlich was Tolles.« Alex grinste breit und griff nach dem letzten Muffin. »Ich weiß, ich weiß. Jeder sollte eine Alex haben«, scherzte sie und entlockte Anton ein Lächeln. Kapitel 26: Fenja ----------------- Hier bin ich wieder mit einem neuen Kapitel. Ich muss sagen, ich mag es ziemlich und hoffentlic gefällts euch auch ;) Frauenpower für alle :D Liebe Grüße, _________________________ »Ich kann das nicht.« »Komm schon, ich bin hier und unterstütze dich seelisch!« »Aber was soll ich denn sagen?« Sie saßen auf Antons Sofa, vor ihnen auf dem Couchtisch lag ein schnurloses Telefon, dass Elias einmal benutzt hatte, um drüben in seiner Wohnung anzurufen und Kathi dazu zu bringen, ihm die Tür zu öffnen. »Wie wäre es mit der Wahrheit. Etwas in der Art wie ‚Hey, hier ist Anton, tut mir Leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet hab.’?« Anton starrte ihn an. »Ich habe mich nicht einfach ‚lange nicht gemeldet’. Ich habe mich fast vier Jahre lang nicht gemeldet! Sie kennt mich wahrscheinlich gar nicht mehr«, sagte er kläglich und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Elias seufzte und betrachtete das Telefon. »Vielleicht hat sie gar nicht mehr die alte Telefonnummer«, fuhr Anton fort und ließ den Kopf hängen. Vielleicht, dachte Elias, verlangte er zu schnell zu viel von Anton. Wahrscheinlich würde ihm all das auch nicht leicht fallen. Trotzdem hielt er es für wichtig, dass Anton den Kontakt zu seinen besten Freunden wieder aufnahm. Und wenn sie wirklich so eng miteinander gewesen waren, dann bestand sicher kein Zweifel, dass sie wieder zueinander finden würden. Er beschloss, erst einmal das Thema zu wechseln und knuffte Anton leicht in die Seite, der daraufhin zusammenzuckte und sich die Rippen rieb. »Alex bleibt noch bis Montagabend. Sie hat gefragt, ob wir sie morgen mit zur Schule nehmen, weil sie keine Lust hat, den ganzen Tag bei ihren Eltern zu hocken«, erklärte er. Anton nickte. Elias wusste, dass er mit den Gedanken weit weg war. Der Montagmorgen kam grau, kühl und unerbittlich. Elias stöhnte auf, als er nach dem Wecker tastete. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und setzte sich auf. »Guten Morgen!«, flötete Alex’ Stimme irgendwo neben ihm. Sie lag auf einer Matratze unten auf dem Boden, direkt neben seinem Bett. Nach einigem hin und her hatte sie ihre Eltern dazu überreden können, bei ihm zu übernachten. Allerdings hatten sie ihr das Versprechen abgerungen, im Wohnzimmer zu schlafen. Alex hatte dieses Versprechen galant gebrochen. »Hmpf«, war Elias’ einzige Antwort dazu und er schob die Bettdecke beiseite. Im nächsten Moment riss Alex sein Fenster auf und stakste in Jogginghose und T-Shirt über seinen Boden hin zur Tür. »Wach werden, Schlafmütze! Ich geh schon mal ins Bad!«, sagte sie beschwingt und huschte davon, um unter die Dusche zu springen. Elias rieb sich die Augen und stolperte beinahe über Alex’ Matratze, als er aufstand, um sich etwas anzuziehen. Montagmorgen zu duschen erschien ihm meistens wie eine Folter. Er schlurfte in die Küche und wurde wie immer von seiner bereits munteren Familie begrüßt. »Ist Alexandra im Bad?«, fragte seine Mutter und legte ihm ein gerade fertig gewordenes Toast auf den Teller. Elias nickte verschlafen und griff nach einem der Marmeladengläser. »Ich will auch mal mit zu dir in die Schule«, beklagte sich Nathalie und wischte sich mit der Hand einige Nutellaspuren aus dem Gesicht. Elias schaffte ein mattes Grinsen. »Glaub mir, es ist genauso langweilig wie an anderen Schulen«, versicherte er ihr und bekam dafür von seiner Mutter einen tadelnden Blick zugeworfen. Kurz nachdem er sein Toast aufgegessen hatte, kam Alex in die Küche gerauscht. Sie sah aus wie das strahlende Leben, hatte einen Turban um den Kopf geschlungen und ließ sich auf den letzten freien Stuhl fallen, den Kathi gerade freigemacht hatte, um sich schminken zu gehen. »Guten Morgen«, sagte sie an Elias’ Mutter gewandt und nahm dankend ein Toast von ihr entgegen. »Wie viele Stunden haben wir heute?«, erkundigte sich Alex bei Elias. Er blinzelte müde und gähnte herzhaft. »Eigentlich nur sechs. Aber wir warten noch auf Anton, der hat bis zur achten Stunde Sport«, erklärte er. Alex schmunzelte, butterte sich ihr Toast und belud es mit Pflaumenmus. Elias war zu müde, um sie nach dem Grund des Schmunzelns zu fragen. Der Schulweg war diesmal um einiges mehr mit Gesprächen angereichert als normalerweise. Elias schwieg wie normalerweise, aber Anton und Alex, die beides keine Morgenmuffel waren, unterhielten sich über dieses und jenes und Alex sparte nicht an peinlichen Kindheitsgeschichten über Elias, die Anton ziemlich amüsant zu finden schien, denn er schmunzelte fast während des ganzen Weges. »Was haben wir jetzt?«, erkundigte sich Alex, als sie sich beim Eingang von Anton getrennt hatten und die Eingangshalle durchquerten. »Doppelstunde Mathe«, entgegnete Elias unmotiviert. Alex grinste. »Klasse!«, sagte sie begeistert. Neben Musik war Mathe Alex’ Lieblingsfach. Sie war das einzige Mädchen, das er kannte, das bei dem Wort Mathematik nicht in Schreikrämpfe oder Wutanfälle ausbrach. Frau Beyer hatte nichts gegen Besuch im Unterricht einzuwenden – vor allem vermutlich, weil es Elias’ Besuch war und sie ohnehin einen Narren an ihm gefressen hatte – und so quetschte sich Alex zwischen ihn und Markus, der Alex gut gelaunt begrüßte und ihr erst einmal genaustens darlegte, wie Lea- Lekyshas mittlerweile eingerichtetes Kinderzimmer aussah und was sie noch kaufen mussten. Alex war sehr interessiert und schaffte es trotzdem, dem Unterricht zu folgen und sich sogar dreimal zu melden, was Frau Beyer ziemlich beeindruckte. Denn hier im Mathe- LK gab es sonst nur noch drei Mädchen. »Jetzt kannst du mir auch mal diese Eva zeigen, die dich immer so penetrant angebaggert hat«, sagte Alex, als es zur großen Pause klingelte und er, Markus und Alex zu ihrem üblichen Treffpunkt an der Wendeltreppe gingen. »Du hast Glück, da ist sie schon«, murmelte Elias ihr ins Ohr, als sie sich der Treppe näherten, wo Dominik bereits stand und ziemlich elend aussah. Neben ihm lehnte Eva am Geländer und lachte, wobei sie ihre Locken in den Nacken schüttelte. »Hey Alex!«, rief Dominik sehr viel überschwänglicher, als er es normalerweise getan hätte, auch wenn er sich sicher freute, sie zu sehen. Elias und Markus begrüßten Eva eher wenig begeistert und sie schien verstanden zu haben, dass sie nun erst einmal Sendepause hatte. Sie winkte Dominik noch zu, dann wuselte sie in die Eingangshalle davon. Alex sah ihr nach. »Manchmal finde ich es ja so peinlich ein Mädchen zu sein«, seufzte sie resigniert und schüttelte verständnislos den Kopf. Als sie Anton oben an der Wendeltreppe entdeckte, wo er wie immer sein Pausenbrot aß, war sie schnurstracks auf und davon und bugsierte den verwirrt aussehenden Jungen hinunter zu Markus, Dominik und Elias. »Du musst doch da oben nicht allein stehen«, sagte sie und klopfte ihm auf die Schulter, »das ist Anton«, fügte sie hinzu und deutete auf ihn, ehe sie mit der Hand in Richtung Dominik und Markus wedelte, »und das sind Dominik und Markus. Die beiden kennen mindestens genauso viele peinliche Geschichten über Elli wie ich.« Anton räusperte sich verlegen, ehe er ein ‚Hallo’ hervorbrachte und Elias einen unsicheren Blick zuwarf. Er grinste ihm aufmunternd zu. Langsam aber sicher wurde er wacher und so beschloss er, sich ein Brötchen am Schulkiosk zu kaufen. Sicherlich konnte er Alex und Anton einen Moment lang allein lassen. Als Elias zurück kam, waren die vier gerade damit beschäftigt, weitere peinliche Episoden aus seinem Leben aufzurollen und sein lautstarkes Protestieren half nichts, bis es schließlich klingelte und er Alex in Richtung Politik schleifte. Sie überlebten vier weitere, langweilige Schulstunden – Politik und Englisch jeweils im Doppelpack – und setzten sich nach der letzten Stunde zu zweit in die Pausenhalle, um sich einen heißen Kakao zu genehmigen und sich ein wenig zu unterhalten. »Meinst du, er würde mitkommen zu meinem Abiball?«, erkundigte sie sich nachdenklich und fuhr mit dem kleinen Finger den Plastikrand des Bechers nach. Elias zuckte mit den Schultern. »Er traut sich nicht, bei seiner besten Freundin anzurufen. Ich hab gestern noch mal versucht, ihn zu überreden. Aber er hat echt ne Heidenangst davor…«, erklärte Elias. Alex kannte sie Zusammenhänge nicht, denn Elias hatte ihr kein Wort von Antons Vergangenheit erzählt. Sie verstand das und hatte in keinster Weise nachgebohrt. Elias hatte ihr lediglich erklärt, dass Anton seit mehreren Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen beiden besten Freunden hatte. Und das wusste Anton auch. Elias hatte es ihm mit einem schlechten Gewissen gebeichtet, aber Anton hatte es ihm nicht übel genommen. »Ich will mich da ja echt nicht einmischen«, meinte Alex, lehnte den Kopf an die kühle Scheibe hinter ihr und betrachtete den Inhalt ihres Plastikbechers, »aber beste Freundinnen sind selten nachtragend, wenn es um ihren wirklich, wirklich besten Freund geht. Scheint ne verbreitete Krankheit zu sein. Ach übrigens, was ich dich fragen wollte, stehst du eigentlich irgendwie auf ihn?« Elias spuckte seinen Kakao direkt vor seine Füße, ehe er heftig zu husten begann und Alex ihm unbeeindruckt auf den Rücken klopfte. Sein Kopf fühlte sich sehr heiß an, so als wäre der Kakao, den er bisher getrunken hatte, nicht durch seine Speiseröhre, sondern direkt in sein Gehirn gewandert. Wieso musste Alex immer diese wahnwitzigen Gedankensprünge machen? Bisher hatte ihn das selten gestört, er war geübt darin gewesen, mit ihren Gedanken mitzuhalten, aber in diesem Augenblick war sein Denkvermögen wie gelähmt. Was sollte er antworten? ‚Na ja, letztens wollte ich ihn küssen’? Er röchelte kläglich und hob den Kopf, um seine beste Freundin anzusehen, die von seinem gerade so abgewendeten Ersticken nicht sonderlich beeindruckt aussah. »Das bedeutet dann wohl ‚Ja’. Na ja, ich hab es mir schon gedacht und er schaut dich immer so an… ich hab ja gesagt, dass du vielleicht auf Männer stehst, ist doch nichts dabei, ihr wärt sicherlich ein niedlichen Pärchen. Du bist ziemlich rot im Gesicht, Elli, ist dir das klar?« Er starrte sie einen Moment lang sprachlos an, dann schaltete sich sein Sprachzentrum wieder ein. »Ich stehe nicht auf ihn, wir sind nur gut befreundet, ok? Und ich will die Freundschaft nicht ruinieren, indem ich auf irgendwelche dummen Gedanken komme…«, murmelte er und fuhr sich durch die Haare. Alex hob die Brauen. »Außerdem hat er nie erwähnt, dass er nicht hetero ist. Wir reden über so was nicht, ok?« Alex’ Augenbrauen wanderten noch ein Stück nach oben. »Ok, letztens wollte ich ihn küssen, es war ein komisches Gefühl, aber ich will das abstellen. Er hat schon genug Stress in seinem Leben, da braucht er nicht noch einen knutschwütigen Nachbarn!« Alex seufzte resigniert und nahm noch einen Schluck Kakao. Elias wandte den Blick von ihr ab und starrte in die braune Pfütze, die er auf dem dunklen Steinboden verursacht hatte. Er hatte Alex keinen Ton gesagt und es war, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Manchmal war es ja dermaßen anstrengend, eine beste Freundin zu haben, die einen zu lange kannte. Alex war so gnädig und erwähnte das Thema den Rest der beiden Freistunden nicht mehr. Kurz bevor es klingelte, machten sich die beiden auf den Weg zur Turnhalle, wo Anton immer auf Elias wartete, wenn er sich fertig umgezogen hatte. Auch heute stand er dort, sein Gesicht war knallrot und seine Haare wirkten leicht verschwitzt. »Was habt ihr gemacht?«, fragte Elias erstaunt. »Zirkeltraining«, keuchte Anton und fächelte sich etwas von der kühlen Märzluft zu. Sie schlenderten in Richtung Hauptstraße davon. »Die drei Kerle waren heute irgendwie besonders schlecht drauf… du weißt schon, die von damals… bei jeder Gelegenheit haben sie versucht, mir ein Bein zu stellen, oder mich mit irgendwas zu bewerfen«, erklärte Anton und er klang diesmal eher gereizt als abweisend. Elias schnaubte. Er wollte sich gerade darüber entrüsten, dass diese Vollidioten scheinbar nie erwachsen werden wollten, als sie in die kleine Straße bogen, in der Elias sich schon einmal mit ihnen geschlagen hatte. Und wirklich. Da standen sie schon wieder, sahen schlecht gelaunt aus und schauten ihnen entgegen, als täten sie nichts lieber, als ihnen die versaute Aktion von letztem Mal heimzuzahlen. Alex hob die Brauen. »Wusstet ihr«, sagte sie bedächtig und zog ihre Hände aus den Taschen ihrer Jeans, »dass jeder, der professionell Kampfsport treibt, sich in ein Register eintragen muss? Falls mal was passiert und man irgendwas anwendet, dann wird das geprüft.« Anton starrte sie von der Seite an. »Unser Freund ist wieder da und diesmal hat er keine Kumpanen dabei«, sagte der eine von ihnen. Elias hatte sich ihre Gesichter kaum gemerkt. Diesmal war er gewillt, einfach umzudrehen und zur Hauptstraße zurückzukehren, seine Mutter würde ihn garantiert umbringen, wenn er wieder so zerhackstückt nach Hause kam. »Wolltest du dich nicht immer schon mal mit deiner besten Freundin prügeln?«, flüsterte Alex und ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Beunruhigt hörte Elias ihre Fingerknöchel knacken. Anton öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es war schon zu spät. Einer der Drei hatte seine Hand nach Elias’ Kragen ausgestreckt und im nächsten Moment schrie er schmerzhaft auf. Elias sah kaum, was passierte, er sah ein, zwei, drei Tritte, hörte den dumpfen Aufschlag von zwei Körpern und ein weiteres schmerzerfülltes Stöhnen. Und dann war es vorbei. Anton und Elias standen da und glotzten. Elias wusste, dass Alex seit Ewigkeiten zum Kampfsporttraining ging. Aber er hatte sie noch nie dabei beobachtet, wie sie in der Realität jemanden zu Boden warf. »Du warst zu langsam«, informierte sie ihn und rieb sich die Hände an ihrer Jeans ab, als hätte sie sich an den drei Kerlen richtig schmutzig gemacht, »aber egal. Große Klappe und nichts dahinter. Beinahe hätte ich dem hässlichsten die Schulter ausgekugelt. Man muss wirklich vorsichtig sein…« Und mit diesen Worten stieg sie über einen der Kerle hinweg, der es scheinbar nicht wagte, wieder aufzustehen und Anton und Elias folgten ihr, warfen sich einen völlig entgeisterten Blick zu und sagten nichts. »Ist es eigentlich entwürdigend, wenn sich die beste Freundin besser prügeln kann, als man selbst?«, flüsterte er Anton zu. Der schüttelte immer noch ziemlich perplex den Kopf. »Nein. Fenja kann auch härter zuschlagen als ich«, wisperte er als Antwort. Elias nickte beruhigt. Als sie schließlich oben im Treppenhaus standen, wandte sich Alex an Anton und schob Elias in seine Richtung. »Ich warte auf dich. Ihr könnt bei Fenja anrufen…« Anton starrte sie entsetzt an. Elias blinzelte. Alex schaffte ein unglaublich warmes Lächeln, als sie Anton eine Hand auf die Schulter legte. »Sie vermisst ihren besten Freund ganz sicher genauso sehr, wie er sie auch«, sagte sie leise, dann schnappte sie den Schlüssel aus Elias’ Hand und war im nächsten Moment in seiner Wohnung verschwunden. Die Tür ging zu. Anton starrte ihr nach und seufzte leise. Elias fragte sich, wie oft solche weisen Momente bei Alex im Jahr auftraten? Dreimal? Viermal? Anton hatte gerade einen dieser Augenblicke ergattert. Elias folgte seinem Nachbarn in die Wohnung, die er nun schon mehrere Male besucht hatte und er sah, dass Antons Hände leicht zitterten, als er sich aufs Sofa fallen ließ und nach dem Telefon griff. Elias setzte sich neben ihn, räusperte sich und überlegte einen Moment lang, Antons Hand zu nehmen. Das erschien ihm dann jedoch zu sehr in Richtung ‚Küssen’ und allem, was dazu gehörte, zu gehen und so legte er stattdessen behutsam einen Arm um seine Schultern. Antons Gesicht war noch blasser als sonst, als er die Nummer wählte und schließlich schwer schluckte, ehe er auf den Knopf mit dem grünen Hörer drückte und ihn sich ans Ohr hielt. Elias schwieg dazu, dass Anton immer noch Fenjas Handynummer auswendig kannte. Nach all dieser Zeit. Er flehte stumm, dass sie rangehen würde und dass das immer noch ihre Nummer war. Anton zitterte leicht und Elias drückte ihn ein wenig fester. »Ja?«, meldete sich eine Mädchenstimme am anderen Ende. Elias saß so nah bei Anton, dass er alles klar und deutlich verstehen konnte. Antons Miene war eine Mischung aus Entsetzung und Erleichterung. Einen Moment lang schwieg er mit halb geöffnetem Mund. »Hallo?«, fragte die Stimme irritiert. »H…hey… hier ist… Anton«, krächzte Anton zittrig und am anderen Ende herrschte einen Wimpernschlag lang Stille. Anton schloss die Augen, als würde er sich für das Schlimmste wappnen. »Ich hoffe, dir ist bewusst, dass ich gerade am Heulen bin, dass das allein deine Schuld ist und dass ich dir am liebsten einen Kinnhaken verpassen würde…«, schniefte es am anderen Ende. Auf Elias’ Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus. Anton lachte zittrig und Elias sah aus dem Augenwinkel, dass seine Augen feucht waren. Er sah dezent zur Seite. »Ja, weiß ich. Ich hätte nichts gegen einen Kinnhaken, ehrlich«, flüsterte er mit erstickter Stimme und schluckte heftig, wohl um gegen die aufkommenden Tränen zu kämpfen. »Das ist gut… Ich sitz grad im Kaninchenstall… Mittlerweile hab ich 37 Stück…«, kam es vom anderen Ende. Antons Lächeln war noch nie strahlender und seine Augen noch nie glücklicher gewesen, als in diesem Moment. Seit Elias ihn kannte, hatte er ihn nicht so gesehen und in diesem Augenblick war er der Junge auf dem Foto, der lachend neben seinen besten Freunden und seinem Zwillingsbruder stand. »Ach echt? Hast du den dicken mit den Schlappohren immer noch?«, fragte Anton und warf Elias einen glühenden Blick zu, der sein Herz irgendwo in die Nähe seines Kehlkopfs springen ließ. »Ja, sicher… Er ist noch fetter geworden, sag ich dir…« Elias erwiderte Antons Strahlen. Alex hatte – wie so oft – Recht behalten und dumpf fragte sich Elias, ob sie auch Recht behalten würde, was ihn und Anton anging. Kapitel 27: Liebeskummer ------------------------ Hallo ihr Lieben! Dieses Mal hat es ein wenig länger gedauert, aber ich hatte ein bisschen was um die Ohren. Aber weil ich schon seit 04:17 Uhr wach bin, hatte ich viiiel Zeit und hier haben wir das neue Kapitel. Danke an dieser Stelle für 356 Kommentare und 111 Favoriteneinträge. Das Kapitel widme ich mehreren Leuten: , und sie weiß warum. , und , einfach weil ♥. , weil Neuanfänge nicht leicht, aber möglich sind. , weil sie sich neulich wieder einmal hoffnungsvoll nach Efeu erkundigt hat. Außerdem ist es für alle, die regelmäßig Kommentare hinterlassen :) Das motiviert und freut mich jedes Mal aufs Neue! Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen, ____________________________ Elias hatte es nicht für möglich gehalten, Anton einmal so zu erleben, wie er auf diesem Foto zu sehen gewesen war. Aber es gab diesen strahlenden, lachenden Anton noch, auch wenn er manchmal immer noch traurig aus dem Fenster schaute und sein Blick sich in die Ferne richtete. Antons Augen funkelten freudig bei jeder Erwähnung von Fenja und soweit Elias es mitbekommen hatte, telefonierten die beiden nun jeden Tag mehrere Stunden miteinander. Immerhin hatten sie eine Menge nachzuholen. Manchmal ertappte sich Elias bei dem Gedanken daran, ob Anton Fenja wohl auch von ihm erzählte und was genau er dann wohl sagte. Aber fragen wollte er nicht danach. »Ich hab dir von Alex erzählt«, sagte er beim Politiklernen in Antons Zimmer und legte die Unterlagen beiseite, »dann musst du mir jetzt auch was von Fenja erzählen.« Anton grinste. Elias war sich noch nicht sicher, ob er sich an dieses Grinsen gewöhnt hatte. Er war von Anton ein Lächeln gewöhnt, vielleicht ein kleines Schmunzeln. Aber so ein breites Grinsen, das war neu. Was natürlich nicht hieß, dass es schlecht aussah. Elias fasste sich innerlich an den Kopf. Bald würde er durchdrehen, soviel war sicher. Anton legte Elias’ Mappe beiseite und kam zu Elias hinüber, der auf dem Sofa saß. Anton hatte – wie immer beim Lernen – auf seinem Klavierhocker Platz genommen. Als er sich neben Elias aufs Sofa fallen ließ, berührten sich ihre Schultern und ein leichtes Kribbeln durchfuhr ihn. Hastig rückte er ein Stück zur Seite und sah Anton dann gespannt an, während er das ignorierte, was gerade passiert war. Anton schien nichts bemerkt zu haben. Er lehnte sich zurück, legte seinen Kopf auf die Sofalehne und betrachtete nachdenklich die Decke, als müsste er die Worte über seine beste Freundin mit Bedacht wählen. »Sie macht auch dieses Jahr Abi. Wir haben uns in der Grundschule kennen gelernt. Sie hat damals schon auf diesem Bauernhof mit ihrer Familie gewohnt. Ihre Eltern haben den Hof von ihren Großeltern übernommen und jetzt wohnen sie immer noch da, zu acht. Ihre Eltern, die Eltern ihrer Mutter und sie mit ihren drei kleinen Schwestern. Sie reitet gerne und züchtete Kaninchen. Sie hat einen eigenen Stall für ihre ganzen Viecher und wenn sie zu Hause ist und nichts für die Schule macht, dann hockt sie im Kaninchenstall und liest oder hört Musik«, erzählte Anton und seine Augen sahen aus, als huschten Bilder davor herum, als wüsste er noch genau, wie es dort aussah. »Sie haben da auch Katzen. Ich mag Katzen. Eigentlich hätte ich selber gern eine, aber Ma ist von der Idee nicht so begeistert, glaub ich. Ich hab auch eine leichte Allergie. Aber nichts Tragisches. Jedenfalls ist Fenja ein Mensch, der eigentlich nie still sitzen kann. Manchmal steht sie in aller Herrgottsfrühe auf und geht Laufen. Oder Reiten. Im Sommer hat sie uns immer zum Schwimmen geschleift und jedes Mal war sie die Letzte, die aus dem Wasser kam, meistens dann mit blauen Lippen. Sie will später mal Sportlehrerin werden. An Kondition mangelt es ihr auf jeden Fall nicht. Und an Geduld auch nicht mit ihren drei kleinen Schwestern. Auf die musste sie früher immer schon aufpassen. Wir haben mal ein Baumhaus gebaut, irgendwo weiter hinten bei ihrem Bauernhof, hinterm Maisfeld. Keine Ahnung, ob das da immer noch steht. Ich bin handwerklich wirklich eine Niete. Das war eher so Bens und Fenjas Ding. Lukas und ich haben die beiden mental unterstützt und beim Tragen geholfen«, fuhr er fort und wiegte den Kopf leicht hin und her. Es lag immer noch eine gewisse Schwere in der Luft, wenn Anton den Namen seines verstorbenen Zwillings aussprach, aber es schien ihn nicht mehr so viel Überwindung zu kosten wie vorher. Eine Weile lang schwieg er, ehe er den Kopf wandte und Elias durch einige seiner schwarzen Haarsträhnen hindurch ansah. »Sie hat mich nicht einmal darauf angesprochen. Wir haben jetzt schon mindestens zehn Mal für mehrere Stunden miteinander geredet und sie hat es nicht ein einziges Mal erwähnt, dass ich mich nicht mehr gemeldet hab. Dass ich einfach so verschwunden bin, ohne Bescheid zu sagen. Oder über… ihn…« Elias erwiderte den Blick und dachte einen Moment lang darüber nach. »Vielleicht hat sie Angst. Oder… sie hat es dir einfach verziehen und findet es jetzt nicht mehr so wichtig«, sagte er und Anton brachte ein leichtes Lächeln zustande. »Vermutlich kriege ich noch einen Kinnhaken, wenn wir uns treffen sollten«, sagte Anton und bei diesen Worten huschte unweigerlich ein Schatten über Antons Gesicht. Elias meinte zu wissen, was in Anton vor sich ging. »Sie hat sich so gefreut, als du angerufen hast. Du kneifst doch jetzt nicht etwa, wenn es um ein Treffen geht?«, meinte er und boxte Anton sachte gegen den Oberarm. Anton zuckte leicht die Schultern und kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe herum, während er offenbar über eine Antwort nachdachte. »Meine Stimme zu hören, ist eine Sache. Mich zu sehen ist etwas anderes. Du weißt schon. Eineiig. Es gibt kaum Unterschiede…« Elias seufzte. »Also wenn du es genau wissen willst: Ich hab dich auf dem Foto erkannt. Du bist der mit dem blauen Shirt. Deine Nase ist irgendwie ein bisschen anders, du hast einen Wirbel da oben«, er zeigte auf Antons unordentlichen Scheitel, »und einen Leberfleck über der Augenbraue.« Anton blinzelte und sah ihn einen Moment lang an, als hätte Elias nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Du hast ihn nie gesehen und kannst uns unterscheiden?«, fragte er völlig perplex. Elias grinste und kam nicht umhin, sich ein wenig stolz zu fühlen. »Ich habe dich oft gesehen und ich kenn dein Gesicht praktisch auswendig«, sagte er. Einen Moment lang starrten sie sich an, dann spürte Elias, wie ihm angesichts seiner unüberlegten Worte die Hitze ins Gesicht kroch. Sein Herz machte einen übergroßen Hüpfer und Anton wandte hastig den Blick ab, als sich auch seine Wangen leicht rötlich färbten. Elias hatte das Gefühl, dass da plötzlich eine Spannung zwischen ihnen war. Unweigerlich dachte er daran, wie merkwürdig er sich in letzter Zeit manchmal in Antons Gegenwart fühlte und daran, dass er ihn hatte küssen wollen… Jetzt bloß nicht darüber nachdenken, ermahnte er sich selbst. Aber trotzdem huschten seine Augen hinunter zu Antons Mund und betrachteten ihn einen Moment länger, als es zwischen guten Freunden wohl üblich war. »Also meinst du, dass sie mich auch auswendig kennt und deswegen nicht ständig Vergleiche anstellen wird?«, murmelte Anton immer noch rot im Gesicht. Trotzdem wandte er den Blick wieder Elias zu, der seine Augen hastig von Antons Mund zurück nach oben huschen ließ. »Ja, genau. Sie kennt dich doch schon ewig. Viel länger als ich. Und Frauen haben sowieso eine bessere Beobachtungsgabe als Männer«, versicherte er Anton und dachte an Alex. Anton musste lächeln. »Ehrlich gesagt finde ich deine Beobachtungsgabe für einen Jungen ziemlich gut«, erwiderte er und pustete sich einige Haarsträhnen aus der Stirn. Es half nicht und eine Sekunde später fielen sie ihm wieder ins Gesicht. Elias widerstand der Versuchung, die Hand auszustrecken und Anton die Haare hinters Ohr zu streichen. »Das ist nett, danke«, gab Elias grinsend zurück und streckte Anton die Zunge heraus. Dann streckte er sich ein wenig und warf einen Blick hinüber zu dem Foto, das auf Antons Nachtschrank stand. Einen Moment lang zögerte er. »Was ist eigentlich mit Ben?«, fragte er und wandte Anton das Gesicht wieder zu, »Willst du dich bei ihm nicht auch noch melden?« Augenblicklich bereute er es, danach gefragt zu haben, denn Antons Gesicht verdunkelte sich und er presste einen Moment lang die Lippen aufeinander, dann atmete er tief durch und schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht«, sagte er leise und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Elias hatte das dumpfe Gefühl, dass er erneut auf etwas gestoßen war, was Antons Vergangenheit weniger schön gestaltet hatte, als es sein Nachbar verdient hatte. Sie schwiegen eine Weile lang, während Elias fieberhaft nachdachte, doch ihm fiel einfach keine Erklärung dafür ein. »Magst du… mir von ihm erzählen?«, fragte er schließlich behutsam. Irgendwie hatte er das Gefühl, alles über Anton wissen zu müssen. Jede noch so winzige Information schien ihm spannend und interessant und wissenswert zu sein und er spürte deutlich, dass er jede Neuigkeit aufsog wie ein trockener Schwamm einen Regentropfen. »Ich weiß nicht so genau«, sagte Anton und strich sich durch die Haare. Elias wusste, dass er das immer tat, wenn er nervös wurde. »Du musst nicht, wenn du nicht willst«, gab Elias hastig zurück. Anton blickte einen Moment lang zur Decke, dann sah er Elias wieder an. »Er ist riesig. Das hast du ja auf dem Foto gesehen. Mittlerweile ist er vermutlich noch größer. Wenn er sich vor dir aufbaut, dann denkst du, er könnte dich zusammenfalten wie ein Blatt Papier. Aber er ist so ziemlich die sanftmütigste Person, die ich je kennen gelernt habe. So eine Art sanfter Riese. Er hat Asthma und ein Händchen für Pflanzen. Er mag Tiere und hat selber zwei Hunde und eine Katze. Seine Eltern leben getrennt, seit er fünf ist und er wohnt… oder… hat gewohnt, ich weiß es nicht, bei seinem Vater und dessen neuer Freundin. Seine große Schwester hat immer bei ihrer Mutter gewohnt. Die beiden haben sich immer super verstanden und viel miteinander unternommen. Sie heißt übrigens Mia…« Antons Stimme verlor sich und er schien nachzudenken. Einen Moment lang dachte Elias, dass er nicht weiter reden wollte, doch er fuhr fort. »Er war nie so der Partymensch, genau wie ich. Und er hatte mit Sport nichts am Hut. Das war immer mehr Lukas’ Ding. Und Fenjas. Er trinkt keinen Alkohol und geht gern ins Theater. Wir sind uns ziemlich ähnlich. Wahrscheinlich irgendwie zu ähnlich…« Elias wurde nicht ganz schlau aus Antons letztem Satz und er ertappte sich dabei, wie er einen Augenblick lang die Luft anhielt. »Ich hab ihn kennen gelernt, weil Fenja mich auf eine… Party geschleift hat. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und dann haben wir… mal was zu viert unternommen. Ben ist… na ja… schwul. Und er war in Lukas verliebt«, erklärte er dann und sah Elias nur einen winzigen Moment lang an, ehe er wieder zur Decke hinauf sah. Elias schloss kurz die Augen und schluckte. Das erklärte, wieso Anton nicht erpicht darauf war, Ben wieder zu sehen. Für Ben wäre es wohlmöglich noch schwerer als für Fenja, Anton anzusehen und nicht Lukas in ihm zu sehen. Anton kaute auf seiner Unterlippe herum. Er schien angestrengt nachzudenken, dann, ganz plötzlich, als wollte er etwas schnell hinter sich bringen, wandte er Elias erneut das Gesicht zu. »Du hast mich mal gefragt, ob ich schon mal Liebeskummer hatte«, sagte er und Elias nickte langsam. „Ich hab ‚Ja’ gesagt. Die Wahrheit ist… ich hab Ben auf einer… Homo- Party kennen gelernt, auf die Fenja mich mitgenommen hat. Sie war die Einzige, die je wusste, dass ich… nicht auf… na ja… jedenfalls… meinen ersten und einzigen Liebeskummer hatte ich, weil mein bester Freund in meinen Bruder verliebt war… und ich in ihn.« Kapitel 28: Sehnsucht und Erkenntnis ------------------------------------ Für alle meine regelmäßigen Kommentarschreiber! Vielen lieben Dank! Einen schönen Restsonntag und liebe Grüße, PS: Übrigens haben Fenja und Ben auch Steckbriefe bekommen ;) _________________________ Sein Gehirn war gelähmt. Er öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und starrte Anton an, der nun dunkelrot anlief, als er Elias dermaßen sprachlos vor sich sitzen sah. Anton stand auf Männer. Nicht auf Frauen. Er wusste, dass er nun etwas sagen musste, aber ihm fiel nichts ein. Seine Gedanken waren wirr und chaotisch und es war wenig hilfreich, dass Antons Mund aussah, als würde er sich hervorragend zum Küssen eignen. »Ach übrigens, was ich dich fragen wollte, stehst du eigentlich irgendwie auf ihn?« Alex' Stimme hallte durch seinen Kopf, ihre blauen Augen sahen ihn fragend und wissend an. Elias öffnete den Mund erneut, räusperte sich heiser und hatte das Gefühl, sein Magen bestünde plötzlich nur noch aus mehreren aufgelösten Brausekugeln. Dann tat er etwas sehr Dummes: Er stand ruckartig auf und griff fahrig nach seiner Politikmappe. »Das bedeutet dann wohl ‚Ja’. Na ja, ich hab es mir schon gedacht und er schaut dich immer so an… ich hab ja gesagt, dass du vielleicht auf Männer stehst, ist doch nichts dabei, ihr wärt sicherlich ein niedliches Pärchen.« »Ich muss wieder rüber«, sagte er heiser und stolperte beinahe über seine eigenen Füße, während er in Richtung Zimmertür hechtete, als hinge sein Leben davon ab. Er wagte es nicht, sich zu Anton umzudrehen, sein Herz hämmerte wie eine rasende Dampflok. »Bis morgen!« Und mit diesen völlig verkehrten Worten war er aus Antons Zimmer und seiner Wohnung verschwunden, schloss hastig und mit leicht zittrigen Fingern seine Wohnungstür auf und stürmte in sein Zimmer. »Ich stehe nicht auf ihn, wir sind nur gut befreundet, ok? Und ich will die Freundschaft nicht ruinieren, indem ich auf irgendwelche dummen Gedanken komme…« Freundschaft. Was hatte er dabei gedacht? Wieso war er einfach gegangen, so als hätte er ein Problem damit, dass Anton schwul war. Er hatte überhaupt kein Problem damit, also wieso brachte ihn diese Eröffnung so sehr aus dem Konzept, dass er seinen gesunden Menschenverstand verlor und einfach davonlief. »Außerdem hat er nie erwähnt, dass er nicht hetero ist. Wir reden über so was nicht, ok?« Anton hatte ihm das anvertraut. Das letzte wichtige Puzzlestück. Er hatte sich ihm vollständig geöffnet und Elias etwas erzählt, was sonst nur Antons beste Freundin gewusst hatte. Und was tat er? Dachte daran, ihn zu küssen und verlor völlig den Kopf? Was war das für eine Antwort? Anton musste nun denken, dass er es abstoßend fand, dass Anton schwul war. Er würde nun sicher denken, dass Elias dieses Detail nicht akzeptierte. »Ok, letztens wollte ich ihn küssen, es war ein komisches Gefühl, aber ich will das abstellen. Er hat schon genug Stress in seinem Leben, da braucht er nicht noch einen knutschwütigen Nachbarn!« Jetzt hatte Anton nicht nur einen knutschwütigen, sondern auch noch einen idiotischen Nachbarn, der sich benommen hatte wie ein homophobes Arschloch. Er stand mit dem Rücken zur Tür in seinem Zimmer, seine Politikmappe baumelte in seiner Hand und er starrte auf das gekippte Fenster, ohne es wirklich zu sehen. Sollte er wieder zurück gehen und das klar stellen? Das wäre sicherlich die beste Idee. Aber sein Herz hämmerte immer noch wie verrückt und er war sich hundertprozentig sicher, dass er keinen vollständigen Satz hervorbringen könnte, wenn er jetzt vor Anton stand. Schließlich warf er seine Politikmappe lieblos zu Boden, ging hinüber zum Fenster und riss es weit auf, um tief einzuatmen und sich zu beruhigen. Anton war schwul. Na und? Er stand auf Männer. Er war früher in Ben verliebt gewesen. Aber die beiden hatten sich seit vier Jahren nicht mehr gesehen, also war Anton jetzt wohl nicht mehr in seinen besten Freund verliebt. Oder? »Scheißdreck«, grummelte er leise, setzte sich aufs Fensterbrett und starrte hinunter auf den kleinen Topf mit Efeu, der ihn unschuldig anzusehen schien. Als er seinen Blick hinunter auf den Efeuweg gleiten ließ, fiel ihm ein, dass er hier auf diesem Platz das erste Mal Anton gesehen hatte. Es war ein bewölkter Tag im September letzten Jahres gewesen. Der teuer aussehende Audi hatte dort unten gehalten, Antons Mutter war ausgestiegen… der Möbeltransporter hatte ewig gebraucht, um sich durch die enge Straße zu manövrieren… Und Anton war ausgestiegen, war langsam auf das Haus zugegangen, so als könnte es gar nicht lange genug dauern, bis er es betreten musste. Elias erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Damals, vor sieben Monaten, wäre er niemals auf die Idee gekommen, dass er später einmal in seinem Zimmer sitzen und darüber nachgrübeln könnte, wieso um alles in der Welt er ständig daran denken musste, Anton zu küssen. Den blassen Jungen, der wundervoll Klavier spielte und nie lächelte und der nun doch wieder lachte. Und der ihm gerade vor fünf Minuten gesagt hatte, dass er auf Jungs stand. Er angelte sein Handy aus der Hosentasche, drückte auf die Zwei und sah zu, wie sein Handy Alex’ Nummer wählte. »Hallo mein Bester«, flötete Alex’ gut gelaunte Stimme am anderen Ende. »Er hat mir grad gesagt, dass er schwul ist«, gab Elias zurück, ohne seine Zeit mit einem einleitenden Hallo zu verschwenden. Alex schien sich nicht an diesem verbalen Überfall zu stören, ihr Gehirn schaltete wie immer mit Lichtgeschwindigkeit. »Wie wunderbar! Heißt das, du hast dich endlich getraut, ihn zu küssen?« Elias seufzte. »Nein. Ich bin abgehauen«, sagte er und machte sich auf eine Explosion gefasst. Alex schwieg eine ganze Weile lang, was eindeutig kein gutes Zeichen war. »Er hat dir so ein intimes Detail anvertraut und du bist einfach gegangen?«, erkundigte sich Alex mit sehr leiser Stimme, als würde sie zu einem Sterbenden sprechen. Elias räusperte sich. Wenn sie es so sagte, klang es noch zehn Mal schlimmer. »Ähm… ja. Genau…« Erneut schwieg sie. Elias konnte sich nicht daran erinnern, wann Alex das letzte Mal so lang geschwiegen hatte. Normalerweise schnatterte sie wie ein Wasserfall und- »Elli, entschuldige bitte, dass ich dir das jetzt so sagen muss, aber… WAS HAST DU DIR DABEI GEDACHT?« Elias zuckte zusammen und hielt den Hörer ein Stück von seinem Ohr weg, um seine Trommelfelle vorm Platzen zu bewahren. »Ich hab nicht nachgedacht, es hat mich einfach eiskalt erwischt, weil ich grad selber nicht weiß, was mit mir los ist und dann sagt er mir plötzlich, dass er in seinen besten Freund verliebt war und jetzt sitz ich hier und will mich eigentlich entschuldigen, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll und ich will keine Dummheit machen und ihn dann doch knutschen, wo er mir grad gesagt hat, dass er Männern eindeutig nicht… abgeneigt ist…« »Aber du bist Männern doch selber nicht abgeneigt«, sagte Alex vorwurfsvoll. Elias raufte sich innerlich die Haare. »Ja, von mir aus! Aber das weiß ich auch erst seit… nicht lange! Und es verwirrt mich und Anton und ich sind gute Freunde und selbst wenn ich mich in einen Kerl vergucke, dann will ich mich nicht in Anton vergucken!« Alex schwieg schon wieder. Elias stellte fest, dass er ihre Wasserfall- Redereien sehr viel angenehmer fand, als ihr Schweigen. »Aber du hast dich schon längst in ihn verguckt, du Dumpfbeutel!« Elias hatte das Gefühl zu Stein erstarrt zu sein. Sein Kopf war einen Moment lang wie leergefegt, dann begannen seine Gedanken zu rasen. War er ver…knallt in Anton, weil er ihn küssen wollte? Weil sein Herz hämmerte, wenn ihre Schultern sich berührten? Sollte das ein schlechter Witz sein, dass er sich immer gewünscht hatte zu wissen, wie es war, verliebt zu sein und dass er nun Gefühle für seinen Nachbarn entwickelte, der weiß Gott genug andere Probleme hatte? »Meinst du?«, fragte er ungewöhnlich kleinlaut und sein Herz durchbrach sicherlich jeden Moment seinen Brustkorb. »Ja, meine ich. Wie steht’s, hast du Herzklopfen?« Elias fand es gruselig, dass Alex hellsehen konnte. »Vielleicht ein wenig…« Sie schnaubte. »Na gut, ein wenig mehr als ein wenig!«, gab er resignierend zu. »Kribbeln im Bauch?« »Hmpf.« »Den Wunsch denjenigen zu küssen haben wir ja auch schon…« »Ja, danke. Erinnere mich noch mal dran«, seufzte er leise und rutschte von seinem Fensterbrett, schloss das Fenster und warf sich in der aufkommenden Dämmerung auf sein zerwühltes Bett. »Also erst beklagst du dich, dass alle um dich herum verliebt sind, nur du nicht und dass du auch mal verliebt sein willst. Dann verknallst du dich endlich mal und es ist auch wieder nicht recht. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, auf jeden Fall solltest du das schnell wieder klar stellen, nicht dass Anton noch denkt, du hast ein Problem mit ihm. Schließlich hast du nur ein Problem mit dir!« Elias seufzte erneut, fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht und starrte hoch zur Decke. »Ja… ich werd mich morgen bei ihm entschuldigen, wenn wir zur Schule gehen«, versprach er und beschloss, sich heute Abend noch genau zu überlegen, was er sagen konnte, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber Anton war nicht da. Wie schon kurz vorm 16. Februar und damals, als Elias angetrunken bei ihm aufgetaucht war, wartete Anton morgens nicht im Treppenhaus. Elias sah ihn nirgends in der Schule. Je länger er darüber nachdachte, desto schlimmer schien ihm seine Reaktion am Vorabend gewesen zu sein. Er war einfach gegangen, wie hatte er das tun können? Er zerfaserte sich das Gehirn, wie er das wieder gutmachen konnte, aber ihm fiel nichts ein. Seine Gedanken waren nicht beim Unterricht, der sich auch in den letzten Tagen vor den Ferien nur noch um die Wiederholung des Abiturstoffs drehte. Eine dumpfe Erkenntnis sagte ihm, dass er in Politik aufpassen müsste, wenn Anton nicht so hartnäckig mit ihm gelernt hätte und er nun fast alles konnte, was in der Prüfung verlangt wurde. Er hatte bereits die Themen mit seinem Politiklehrer festgelegt und hatte das Gefühl, dass die mündliche Prüfung nicht mehr so bedrohlich war, wie noch vor seiner Lernerei mit Anton. Elias hatte Dominik und Markus immer noch nichts von seinen aufkeimenden Gefühlen für Anton erzählt. Er hatte das Gefühl, solange er selbst nicht sicher war, wollte er es mit ins Grab nehmen. Aber als sie am Mittwoch in der Pause standen – Elias hatte Anton seit Sonntagnachmittag nicht mehr gesehen – und Markus gerade davon schmachtete, dass er Lea- Lekyshas Tritte spüren konnte, wenn er die Hand auf Nuris Bauch legte, platzte es aus ihm heraus. »Es kann sein, dass ich vielleicht bi bin.« Markus verstummte, eine Hand in der Luft, so als würde er einen imaginären Bauch streicheln. Dominik, der gerade an einem Tetrapack Apfelsaft schlürfte, hustete leicht und starrte Elias an, als hätte er ihnen den Wunsch offenbart, sich Brüste wachsen zu lassen. »Wie… wie kommst du denn darauf?«, fragte Markus betont lässig und ließ seine Bauch streichelnde Hand sinken. Elias spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht kroch und er zuckte die Schultern. Dann versuchte er sich an einem lässigen Grinsen. Fast war er sich sicher, dass er bei diesem Versuch vollkommen versagte. »Also… es ist… eventuell… wegen Anton«, gestand er dann zögerlich. Seine beiden besten Freunde schwiegen, wie schon Alex geschwiegen hatte, dann hoben sie fast gleichzeitig eine Hand und klopften ihm auf die Schultern. »Na dann viel Erfolg damit«, sagte Dominik grinsend und Markus grinste zustimmend. Elias fragte sich, wieso er sich eigentlich solche Gedanken darum gemacht hatte, was die beiden dazu sagen würden… »Er geht dir aus dem Weg?«, fragte Alex, als er sie am Freitag anrief, nachdem Anton sich immer noch nicht hatte blicken lassen. Es war der letzte Schultag gewesen und Elias freute sich eigentlich auf die Ferien… aber die Sache mit Anton trübte seine Freude ziemlich und er fühlte sich merkwürdig, so als würde etwas Wichtiges fehlen. Er hatte nicht wirklich eine Ahnung, wo er dieses Gefühl einordnen sollte, aber es war auf jeden Fall nicht sonderlich angenehm. »Ja, tut er«, sagte Elias seufzend und fand, dass er sich ziemlich kläglich anhörte. »Kann ich verstehen«, erwiderte Alex trocken. »Vielen Dank für dein Mitgefühl«, sagte er matt. Elias hörte deutlich, dass Alex sich ein Glucksen verkniff. »Vermisst du ihn?«, erkundigte sie sich dann und plötzlich war in ihrer Stimme unglaublich viel Mitgefühl. Elias schluckte, blinzelte irritiert und dachte einen Augenblick darüber danach. Aber dann wurde ihm klar, dass dieses ziehende Gefühl der Leere nichts anderes war als… Sehnsucht. »Ja. Ziemlich«, gestand er peinlich berührt. Als Alex wieder sprach, hörte er sie lächeln. »Das ist ziemlich niedlich, weißt du. Du musst dir nicht tagelang zurecht legen, was du sagen willst. Du wirst schon das Richtige sagen, es ist einfach nur wichtig, dass du ihm überhaupt zeigst, dass es dir Leid tut«, erklärte sie. Wieso waren Mädchen meistens so viel weiser als Jungs? Elias fühlte sich richtiggehend minderwertig. »Jetzt wo du es sagst und ich es zuordnen kann«, gestand er – und er war unendlich dankbar für das Wissen, dass Alex nicht lachen würde, wenn er es sagte – »vermiss ich ihn…wie verrückt.« »Na dann geh rüber und bring das wieder in Ordnung! Und dann kannst du dir immer noch darüber Gedanken machen, wie das mit euch beiden ausgehen kann«, sagte sie und klang ziemlich gut gelaunt. Elias musste lächeln. »Du bist die Beste«, sagte er. »Ich weiß. Du bist auch der Beste! Ich hab dich lieb!« »Ich dich auch.« Dann legten sie auf und Elias atmete einmal tief durch, stopfte sich das Handy in die Hosentasche und ging zur Wohnungstür, um das Treppenhaus zu durchqueren und bei Anton zu klingeln. Er wusste, dass Anton zu Hause war, weil er vor nicht mehr als einer Viertelstunde noch Klavier gespielt hatte. Trotzdem öffnete niemand die Tür. Elias grummelte leise und klingelte noch zwei Mal, doch Anton schien nicht gewogen zu sein, ihm aufzumachen. Also kramte er sein Handy erneut hervor, öffnete eine neue SMS und begann zu tippen: »Wenn du mir nicht aufmachst, dann klettere ich wieder über den Balkon. Oder ich campe so lange vor eurer Wohnungstür, bis du raus kommst!« Diesmal überlegte er nicht, bevor er die SMS abschickte. Er schob das Handy zurück und wartete. Zu seiner Erleichterung dauerte es nicht lange, bis die Tür schließlich doch geöffnet wurde. Und da stand Anton nur in T-Shirt und Boxershorts und Elias hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Die Erleichterung durchflutete ihn, ebenso wie ein deutliches Glücksgefühl, begleitet von Herzklopfen und einem Gefühl, als hätte sich seine Magengegend in einen riesigen Ameisenhaufen verwandelt. »Was wi-«, begann Anton, aber weiter kam er nicht. Elias stieß die Tür etwas weiter auf und umarmte Anton so heftig, dass sie beide rückwärts in den Flur taumelten. Sein Herz schrie förmlich auf vor Freude, als er Antons Körperwärme spürte, den Duft seiner seidig glänzenden Haare in sich aufsog und als er feststellte, dass Anton ihn nicht von sich schob. »Tut mir Leid, dass ich mich so scheiße verhalten hab… tut mir wirklich Leid«, nuschelte er gegen Antons Halsbeuge und er spürte, wie Anton leicht in seinen Armen erschauderte. Elias wollte ihn nicht loslassen. Es fühlte sich viel zu gut und zu richtig an, ihn zu umarmen. »Schon…ok…«, krächzte Anton und dann, ganz behutsam erwiderte er die Umarmung und irgendwo in Elias’ Innerem explodierte etwas. Ihm war klar und deutlich bewusst, dass es passiert war. Er hatte sich verliebt. Zum allerersten Mal in seinem Leben. In Anton. Kapitel 29: Wieder vereint -------------------------- Ich entschuldige mich schon mal im Voraus, falls allzu viele Tippfehler in diesem Kapitel stecken. Es ging sehr fix und ist mir unglaublich leicht von der Hand gegangen. Ich hoffe, dass es euch gefällt und nutze diese Stelle mal wieder zum Werbung machen. Ich hab eine neue Slash / Eigene Serie namens Spiegelverkehrt hochgeladen. Für alle, die meine J-Rock Geschichten noch kennen, dürfte sie nichts Neues sein, für alle anderen ist sie etwas Neues ;) Viel Spaß beim Lesen und danke für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel, ich bin zeitlich einfach nicht dazu gekommen, mich für jeden davon zu bedanken! ________________________ Elias wusste nicht, wie lange sie in Antons Flur standen und sich einfach nur festhielten. Er war sich nicht sicher, ob Anton es nicht vielleicht merkwürdig fand, dass Elias ihn so partout nicht loslassen wollte. Aber auch Anton machte keine Anstalten, seine Arme von Elias’ Rücken fortzunehmen. Einige Ewigkeiten vergingen, dann lösten sie sich sehr langsam voneinander. Elias’ Kopf war erneut von unpassenden Gedanken an Küsse gefüllt, doch er räusperte sich mit trockener Kehle und wagte es, die Augen auf Antons Gesicht zu richten. Antons Augen schimmerten leicht, als er ihn mit roten Wangen betrachtete. Er könnte ihn küssen. Jetzt. Anton sah ihn so an, als hätte er nichts dagegen, was natürlich eine komplette Fehleinschätzung war, denn Elias hatte sich vor einer Woche wie ein homophober Volltrottel benommen und von so einem wollte man nicht geknutscht werden. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sein hämmerndes Herz schien auf seinen Kehlkopf zu drücken und so machte er den Mund wieder zu und sagte gar nichts. Eine weitere kleine Ewigkeit starrten sie sich schweigend in die Augen. Dann räusperte auch Anton sich und machte einen Sprechversuch. »Ich hab mich für Sonntag mit Fenja und Ben verabredet«, sagte er. Elias’ Eingeweide, die sich gerade noch federleicht angefühlt hatten, sackten irgendwo in die Nähe seiner Kniekehlen und fühlten sich plötzlich an wie Backsteine. Sein Herz verlangsamte den halsbrecherischen Takt, bis es sich anfühlte, als hätte er gar kein Herz. »Oh«, sagte Elias leicht heiser und räusperte sich erneut, um den Frosch in seinem Hals loszuwerden, »oh… hast du… hast du mit ihm telefoniert?« Er wollte beiläufig klingen und freudig überrascht. Aber er freute sich kein bisschen darüber, dass Anton sich mit Ben traf. Plötzlich wurde ihm klar, dass Ben ein ignoranter Vollidiot war, der Antons Gefühle kein Stück verdient hatte. Gleichzeitig fragte er sich, wieso er solche Dinge dachte. Er kannte Ben nicht und hatte normalerweise selten Vorurteile gegen Menschen. Aber er konnte sich nicht helfen. Er mochte Ben nicht. Einfach so. Und das fand er ziemlich gruselig. Anton nickte, scheinbar verlegen. »Fenja hat ihn überredet bei mir anzurufen. Ich hätte das ja nie gemacht und war auch total perplex… und dann… na ja, es war auch kein langes Telefonat, ich bin ein wenig skeptisch, wie das beim Treffen wird…« Er hielt inne und sah Elias ein wenig hilflos an. Die Osterferien hatten begonnen, seine Abiturprüfungen standen an, aber dieser Umstand erschien ihm plötzlich ziemlich unwichtig angesichts der Tatsache, dass Anton sich mit Ben treffen würde. Was war nun, wenn Anton seine alten Gefühle für seinen besten Freund wieder neu entdeckte und feststellte, dass er immer noch unsterblich in Ben verliebt war? Was, wenn Ben plötzlich klar wurde, dass seine Verliebtheit zu Lukas damals ein Fehltritt gewesen war und er nun dringend mit Anton zusammen sein musste? Anton zeigte unsicher auf die Tür zu seinem Zimmer und Elias nickte, in Gedanken immer noch bei der schlichtweg grässlichen Vorstellung eines strahlenden Antons, der Bens Hand hielt und ihm verkündete, dass er für immer und ewig mit seinem ehemals besten Freund zusammen sein wollte. Die Vernunft in seinem Gehirn erklärte ihm augenverdrehend, dass er maßlos übertrieb. Aber Elias beachtete sie nicht weiter und ließ sich auf Antons Sofa sinken. »Tut mir echt Leid, dass ich einfach abgehauen bin«, sagte er, um sich von den unschönen Gedanken an Ben und Anton – lachend auf einer Blumenwiese – abzulenken. Anton fuhr sich durch die Haare und brachte ein Lächeln zustande. »Ich bin wohl auch ganz schön mit der Tür ins Haus gefallen… aber ich dachte… vielleicht hast du jetzt doch ein Problem damit…« Elias schüttelte heftig den Kopf. »Nein, hab ich nicht. Ehrlich«, versicherte er Anton aufrichtig. Einen Moment lang überlegte, einfach mit der Wahrheit heraus zu platzen, aber vermutlich war das der falsche Zeitpunkt, wenn man bedachte, dass Anton sich vermutlich gerade darüber Gedanken machte, wie er seinen ehemals besten Freunden am Sonntag gegenüber treten sollte. »Soll ich mitkommen zum Bahnhof, am Sonntag?«, fragte er schließlich und war sich gleichzeitig nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Doch als sich auf Antons Gesicht ein strahlendes Lächeln ausbreitete und Elias’ Gehirn sich plötzlich anfühlte wie ein riesiger Wattebausch, da erschien ihm die Idee blendend zu sein. »Das würdest du machen?«, fragte Anton hoffnungsvoll und er schien sich sofort weniger Sorgen zu machen, was Elias ziemlich schmeichelte. »Klar. Wir können zusammen bis hierher gehen und ich schweige brav und dann lass ich euch alleine«, schlug er vor. Antons Gesicht glühte und Elias unterdrückte den Drang, sofort zu ihm hinüber zu gehen und ihn noch einmal für mindestens drei Stunden zu umarmen. Anton saß wieder einmal auf seinem Klavierhocker, stand aber bei Elias’ Worten auf und kam zu ihm herüber. Seine dunklen Augen funkelten freudig. »Das Ganze würde mir sicher viel leichter fallen, wenn du dabei wärst… sonst sterbe ich sicher vor Nervosität«, sagte Anton leicht heiser und ließ sich neben Elias aufs Sofa sinken. Elias mochte Antons Nähe. Aber im Moment waren seine Gedanken so unsortiert und sein Herz bollerte schon wieder wie eine Dampflok, sodass er sich nicht sicher war, ob Anton sich in seiner Nähe sicher fühlen konnte. »Wann kommen sie denn am Sonntag an?«, erkundigte sich Elias mit gespielter Gelassenheit. In Gedanken beschloss er, gleich nachher bei Alex anzurufen und sich ein wenig therapieren zu lassen, soweit das bei seinem verwirrten Geisteszustand noch möglich war. Dummerweise kannte er sich mit Verliebtsein kein bisschen aus und gewöhnt war er es schon einmal gar nicht. All dieses Herzklopfen und das kribbelige Gefühl im Magen waren vollkommen neu für ihn. Und auch, wenn er sich die ganze Zeit gefragt hatte, wie sich so etwas anfühlte, so wäre es ihm im Moment doch lieber, es nicht zu erfahren. Denn Anton war eindeutig die falsche Wahl für seine Gefühle. Sein Nachbar hatte genug eigene Probleme. »Um halb zwei…«, antwortete Anton und spielte nervös mit seinen Fingern, die er in seinen Schoß gelegt hatte. Elias widerstand der Versuchung, nach Antons Händen zu greifen. Bei der Vorstellung, mit dem Schwarzhaarigen Händchen zu halten, wurde ihm ganz mulmig vor Nervosität. Vielleicht war verliebt sein doch nicht so das Wahre… Am Abend saß er immer noch ziemlich verwirrt bei Dominik im Keller. Er hatte Alex nicht mehr angerufen, denn irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, ihr lautes Quietschen und ihre romantischen Beteuerungen hätten alles nur noch schlimmer gemacht. Jetzt hielt er ein Bier in der Hand und lauschte Nirvana. »Bin ich froh, dass endlich Ferien sind. Diese ganzen Ermahnungen wegen der Prüfungen gingen mir extrem auf den Keks«, sagte Markus gerade und nippte an seinem Glas Apfelschorle. Seit Lea- Lekysha angefangen hatte zu treten, hatte Markus keinen Alkohol mehr angerührt. Nuri war bereits nach Hause gegangen und hatte Markus leicht entnervt versichert, dass sie durchaus in der Lage war, Auto zu fahren. Elias hatte ununterbrochen schmunzeln müssen, während er beobachtet hatte, wie Markus Nuri umsorgte. Sie durfte nicht aufstehen und selbst etwas zu trinken nehmen, er trug ihr alles vor die Füße, bis sie ihm irgendwann trocken erklärt hatte, dass sie schwanger und nicht todkrank war. Gerade, als Elias sein zweites Bier aufmachte, sah Dominik ihn einen Augenblick lang unsicher an, dann holte er tief Luft. »Wie kam es denn jetzt eigentlich… zu der Sache mit Anton?«, fragte er. Markus ließ sein Glas sinken und sah Elias gespannt und ein wenig unsicher an, so als wüsste er noch nicht ganz, wie er mit dieser Neuigkeit umzugehen hatte. Elias räusperte sich verlegen und begann automatisch, die Folie von seiner Bierflasche abzupulen. »Ich weiß nicht so genau… irgendwie haben wir ziemlich viel Zeit miteinander verbracht und ich kenne ihn mittlerweile recht gut. Und… vor einer Woche hat er mir dann gebeichtet, dass er schwul ist. Und ich hab erst total scheiße reagiert und bin einfach gegangen, weil ich irgendwie nicht drauf klar kam. Heute Mittag hab ich mich dann bei ihm entschuldigt und da… ist es mir irgendwie klar geworden, als wir uns… ähm… umarmt haben«, erklärte er verlegen und knibbelte weiter an seiner Bierflasche ohne seine beiden Freunde anzusehen. Eine Weile lang herrschte Stille, in der Markus hastig seine Apfelschorle hinunter stürzte. Dominik war wieder der Erste, der anfing zu sprechen. »Und wie ist das jetzt mit euch beiden… seid ihr… zusammen?«, fragte er behutsam. Elias blickte auf und sah seinen besten Freund verwirrt an. »Was? Oh, nein! Sind wir nicht, er weiß nichts davon und letztens hab ich erfahren, dass er früher in seinen besten Freund verliebt war und den trifft er Sonntag wieder… und…«, er brach ab. Markus verzog das Gesicht. »Unschön. Hast du jetzt Schiss, dass er immer noch Gefühle für ihn hat?«, erkundigte er sich. Elias nickte verlegen. Dominik schüttelte den Kopf. »Echt scheiße so was. Aber der Kerl kann dir doch sowieso nicht das Wasser reichen, Alter«, meinte er aufmunternd und Markus nickte. »Ja, dem wirst du schon zeigen, wo der Hammer hängt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!« Elias musste schmunzeln. Wieso eigentlich nicht? Wieso sollte er sich nicht darum bemühen, Anton zu bekommen? Vielleicht hatte er ja doch eine winzige Chance gegen Ben… Während er darüber nachdachte, freute er sich gleichzeitig unglaublich darüber, dass Dominik und Markus es hinnahmen und sogar Anteil daran nahmen, wie es mit ihm und Anton weiter ging. Elias wusste, dass dies nicht selbstverständlich war. Und es zeigte ihm einmal mehr, was für ein verdammter Glückspilz er eigentlich war. Am Sonntag war er schon nach dem Aufstehen unerklärlicher Weise extrem nervös. Er wünschte Kathi Glück für ihr heutiges Treffen mit Marcel, – sie hatte sich vorgenommen, ihn einfach zu küssen, weil er offenbar nichts zustande brachte – ehe er die Wohnung verließ, um Anton abzuholen. Er hatte sich morgens besonders sorgfältig angezogen und seine Haare feinsäuberlich mit Gel zurechtgezupft. Als könnte er Ben mit einer perfekt sitzenden Frisur beeindrucken… »Hey«, wurde er von Anton bereits im Treppenhaus begrüßt. Egal wie nervös Elias sein mochte, das war sicherlich nichts gegen die Schmetterlinge in Antons Magengegend. Anton war noch blasser als sonst und er spielte ununterbrochen an den Kordeln seiner schwarzen Jacke herum. »Wird schon alles gut laufen«, versicherte Elias ihm und Anton nickte kaum merklich lächelnd, doch je näher sie dem Bahnhof kamen, desto stiller wurde Anton, bis er schließlich – leicht grün um die Nase – auf Gleis sieben stehen blieb und Elias kläglich ansah. »Ich sterbe gleich«, sagte er mit krächzender Stimme. Elias lächelte Anton aufmunternd an und aus dem Grün um Antons Nase wurde ein zartes Rot. »Meine Damen und Herren, auf Gleis sieben fährt ein: Regionalexpress…« Antons Hände verkrampften sich augenblicklich und Elias schluckte, dann nahm er all seinen Mut zusammen und griff mit seiner rechten Hand nach Antons Linken. Sein Nachbar zuckte kaum merklich zusammen, doch er zog die Hand nicht zurück und er protestierte auch nicht. Elias’ Herz war kurz davor, seinen Brustkorb zu durchbrechen. Der Zug hielt schrill kreischend und ein Strom Reisender ergoss sich aus den geöffneten Schiebetüren. Man sah ihn sofort. Er überragte die meisten auf dem Bahnsteig. Ben trug eine dunkelgrüne Stoffjacke und eine dunkle Jeans. Seine Schultern waren unerhört breit, sein Gesicht ernst und besonnen. Er strahlte eine Ruhe aus, die Elias seltsamerweise beunruhigte. Er selbst würde niemals so beruhigend auf Menschen wirken. War das nun ein Minuspunkt für ihn? Fenja neben ihm war mindestens genauso auffällig wie ihr Begleiter. Ihre feuerroten Locken wehten im kühlen Märzwind, sie strahlte mindestens so sehr wie die Sonne am azurblauen Himmel und sie trug ein kariertes, schlabbriges Hemd ohne jegliche Jacke. Ihre Statur war schlacksig, geradezu dünn und Elias war sich sicher, dass sie fast genauso groß war wie er selbst. Jedenfalls überragte sie Anton um einige Zentimeter. Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die ihm verriet, dass sie ein ungewöhnlich gesundes Selbstbewusstsein haben musste und als sie Anton entdeckt hatte, verließ sie Bens Seite und rannte auf ihn zu. Anton atmete tief ein und aus, dann entzog er Elias seine Hand und taumelte nach hinten, als Fenja ihn ansprang. Elias fühlte sich unweigerlich an Alex erinnert. Doch dieses Mädchen hatte – allein ihrer Erscheinung und ihrer Ausstrahlung her – wenig mit Alex gemeinsam. Und während Anton und Fenja sich umarmten und festhielten und Fenja an Antons Schulter schniefte, kam Ben näher und blieb direkt vor Elias stehen. Er musste hoch sehen, um in die dunklen, tiefliegenden Augen sehen zu können. »Ben«, sagte Antons ehemaliger bester Freund und seine Stimme war tief und ebenso ruhig wie seine ganze Ausstrahlung. Er hielt Elias eine seiner ziemlich großen Pranken hin und Elias ergriff sie. »Elias«, gab er zurück. Dann schwiegen sie, während Fenja Anton ausschimpfte und ihn gleichzeitig mit freundschaftlichen Liebesbekundungen überschüttete. Dann löste sie sich von ihm und wandte sich mit einem strahlenden Lächeln Elias zu. Ihre Augen waren gerötet von den Freudentränen und sie ergriff Elias’ rechte Hand mit beiden Händen. Ihre Finger fühlten sich unglaublich zerbrechlich an, doch ihr Händedruck war fest. »Ich bin Fenja. Du musst Elias sein«, begrüßte sie ihn. Elias nickte und schaffte ein verlegendes Grinsen. Das hieß dann wohl, dass Anton durchaus über ihn geredet hatte, dachte er benommen, während die nervösen Schmetterlinge in seinem Bauch aufgeregt umher tänzelten. Als Fenja seine Hand losgelassen hatte, wanderte Elias’ Blick zu Anton. Der wiederum sah Ben an und Ben sah Anton an. Elias hatte keine Ahnung, was dieser Blick bedeutete. Es lag etwas Suchendes in Antons Blick, etwas mühsames in Bens. Ob Anton sich gerade fragte, ob er noch Gefühle für Ben hatte? Und ob Ben gerade versuchte, nicht Lukas in dem Gesicht zu sehen, das dem seines Zwillings so ähnlich war? Fenja beobachtete die beiden einen Moment lang, dann lächelte sie kaum merklich und hakte sich bei Anton unter. »Ich bin gespannt auf dein neues Zimmer«, sagte sie zu Anton und winkte Elias neben sich. Ben folgte ihnen und trat auf Antons andere Seite. Elias bemerkte, dass Ben Anton immer wieder von der Seite musterte. Unweigerlich kroch wieder dieses unangenehme Gefühl in ihm auf, Ben aus unerfindlichen Gründen nicht zu mögen. Das war irrational. Und es dauerte noch zwei Straßenecken, bis Elias begriff, dass er eifersüchtig war. Na wunderbar. Fenja und Anton unterhielten sich, Elias hielt sich zurück und Ben schwieg, doch Elias hatte ohnehin das Gefühl, dass er nicht der gesprächige Typ war. Fenja war ihm sehr sympathisch. Sein erster Eindruck von ihr schien berechtigt gewesen zu sein. Sie erzählte von einigen Dates, die sie in den letzten Monaten gehabt hatte, von ihren Kaninchen und von einem neuen Pferd auf ihrem Bauernhof. Ihre Stimme war angenehm frisch, aber sie neigte nicht zu diesem hysterischen Tempo wie Alex es manchmal tat. Die beiden würden sich sicherlich gut verstehen, dachte Elias bei sich. Obwohl er den Gesprächen der beiden gern lauschte, war er froh, als der Efeuweg 4 in Sicht kam. »Viel Spaß«, sagte er und schaffte ein Lächeln. Anton lächelte ihn ebenfalls an und nickte ihm dankbar zu. »Vielleicht sehen wir uns später noch mal!«, sagte Fenja freundlich und reichte ihm erneut die Hand. Elias winkte, warf Ben noch einen kurzen Blick zu und dann verschwand er hinter der Wohnungstür, insgeheim hoffend, dass Anton während dieses lauschigen Treffens nicht erneut seine Gefühle für Ben entdeckte. Kapitel 30: Aus Drei mach Zwei mach Drei ---------------------------------------- Für Katja :) Viel Spaß beim Lesen und mal wieder ein dickes Dankeschön für die lieben Kommentare und all die Favoriteneinträge! Liebe Grüße, ________________________ Elias saß auf heißen Kohlen. Einerseits wollte er wissen, was drüben in der Wohnung der Nickischs vor sich ging, andererseits war er sich nicht sicher, ob ihm das Ergebnis gefallen würde. Er fragte sich nun seit seiner Ankunft zu Hause, was genau diese Blicke bedeuten konnten, die Ben und Anton sich zugeworfen hatten. Aber er war für diese Dinge nicht sensibel genug, er war kein Mädchen, das solche Blicke lesen konnte wie ein Buch. Vielleicht wäre alles leichter, wenn er ein Mädchen wäre? Und wieso machte er sich plötzlich solche schwachsinnigen Gedanken? Sich die Haare raufend tigerte er in die Küche, kramte zwei Milchschnitten und eine neue Packung Zitroneneistee aus dem Kühlschrank und ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. Seine Mutter legte im Schlafzimmer Wäsche zusammen, Nathalie saß in ihrem Zimmer und bastelte irgendetwas, Kathi telefonierte sicherlich wieder und sein Vater war außer Haus. »Du siehst irgendwie scheiße aus«, sagte eine Stimme aus Richtung der Tür und er wandte sich zu Kathi um, die offensichtlich doch nicht telefonierte. Er zuckte mit den Schultern und packte seine erste Milchschnitte aus. Kathi kam zu ihm herüber, schnappte sich die zweite Milchschnitte und setzte sich ihm gegenüber. »Keine Diät mehr?«, fragte Elias beiläufig. Kathi schnaubte. »Marcel sagt, ihm ist es egal, wenn ich zehn Kilo zunehme«, erklärte sie und biss herzhaft in ihre Milchschnitte. Elias musste grinsen, obwohl ihm so gar nicht nach grinsen zumute war. »Also ist dein Plan aufgegangen, ja?«, erkundigte er sich. Sie nickte. Die beiden hatten sich vormittags zum Frühstücken verabredet und jetzt breitete sich ein leichtes Schmunzeln auf dem Gesicht seiner Schwester aus. »An seiner Technik muss er noch ein wenig arbeiten«, sagte sie amüsiert und nahm einen weiteren Bissen von ihrer Milchschnitte. Elias wollte gerade lachen, als ihm ein schrecklicher Gedanke kam. Was, wenn er es irgendwann doch wagen sollte, Anton zu küssen und Anton den Kuss schrecklich finden würde? Seit wann machte er sich überhaupt Gedanken über seine Kusskünste, das hatte er niemals vorher getan! Er konnte es nicht fassen. Verliebtsein war die Hölle. Wenn es nach ihm ging, würde er es am liebsten wieder abstellen. »Du siehst aus, als hättest du Oma in Unterwäsche gesehen«, mampfte Kathi und schnippte das Papier ihrer Milchschnitte zu ihm hinüber. Er verschluckte sich an seinem letzten Happen und hustete ausgiebig, bevor er antwortete. »An so was denke ich nicht«, röchelte er. Kathi kicherte leise und nahm einen Schluck Eistee. »Also los, spuck es aus. Ich hab dir auch mein Seelenleben ausgebreitet. Ausgleichende Gerechtigkeit«, meinte sie und sah ihn auffordernd über das Tetrapack hinweg an. »Also schön«, sagte Elias und lehnte sich zurück, »ich bin in Anton verliebt und gerade sitzt er drüben mit seinem ehemals besten Freund, in den er mal verliebt war und ich könnte ausrasten, weil ich nicht weiß, ob die beiden jetzt plötzlich eine tiefe Liebe zueinander entdecken.« Kathi hob eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen und ließ den Eistee sinken. »Du bist schwul?«, fragte sie nüchtern. »Nein. Bi«, entgegnete Elias und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Weile lang schwieg Kathi angesichts dieser Offenbarung, aber dann lächelte sie. »Wer auch immer der Kerl ist, der kann dich sowieso nicht ausstechen«, meinte sie und es klang beinahe zärtlich. Elias grummelte. »Das haben Dominik und Markus auch schon gesagt. Aber na ja… ich bin mir nicht so sicher, ob Anton mich auch in diese gewisse Richtung toll findet…«, murmelte er und sah Kathi ein wenig kläglich an. Kathi schien wegen etwas anderem beeindruckt. »Die haben so was gesagt, echt? Finden sie es nicht komisch oder abartig oder so?«, wollte sie wissen. Elias blinzelte erstaunt, dann fiel ihm ein, dass er selbst auch erleichtert gewesen war, weil die beiden es so gut aufgenommen hatten. »Nein, finden sie nicht. Sie haben echt klasse reagiert. Ich bin von den tollsten Menschen der Welt umgeben«, sagte er grinsend und Kathi lachte leise. »Ja, du bist echt ein Glückspilz. Meine so genannten Freundinnen wären vermutlich über mich hergefallen, wenn ich ihnen verkündet hätte, dass ich auf Frauen stehe…« Ihre Stimme verlor sich und sie betrachtete nachdenklich die Eisteepackung. Elias sah sie an und war froh, dass sie sich mit Caro so gut verstand. Caro war in diesen Dingen wie ihr großer Bruder und ihr großer Bruder war – neben Markus – der beste Freund, den Elias sich vorstellen konnte. Vielleicht sollte er das den beiden beizeiten sagen. »Bist du mit Marcel nun zusammen?«, erkundigte er sich. Kathi zuckte die Schultern. »Irgendwie schon, denke ich. Er ist fast in Ohnmacht gefallen, als ich ihn nach seinem Croissant mit Honig geküsst hab… das heißt dann wohl, dass er mich ziemlich gut leiden kann«, entgegnete sie und schmunzelte erneut. Elias schüttelte grinsend den Kopf. Seine Schwester war ganz schön durchtrieben. »Wann sagst du’s Mama und Papa?«, wollte sie wissen, gerade als ihre Mutter höchstpersönlich in die Küche geschneit kam, einen Stapel Geschirrhandtücher auf dem Arm. »Wer sagt uns was?«, wollte sie wissen und verfrachtete die Wäsche in einem der Küchenschränke. Elias seufzte. Sein Herz hämmerte schon wieder in der Gegend seines Adamsapfels. Aber schließlich war er der größte Glückspilz unter der Sonne. »Ich habe festgestellt, dass ich bisexuell bin und gerade bin ich das erste Mal in meinem Leben verliebt und zwar in Anton«, erklärte er und schnappte sich die Eisteepackung vom Tisch. Seine Mutter tauchte mit einem Brotmesser aus einer Schublade auf. »Ach so, das«, erwiderte sie, holte Brot aus dem Schrank und begann einige Scheiben abzuschneiden, »ich dachte schon, du hättest was ausgefressen.« Elias und Kathi starrten ihre Mutter an. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«, fragte Elias vollkommen perplex. Seine Mutter wandte sich zu ihm um, ihre blonden Haare fielen ihr in die Stirn und sie pustete sie energisch fort. Dann schnaubte sie. »Mein lieber Sohnemann«, begann sie und Elias musste lachen, »glaubst du, ich hätte meine Kinder zu Toleranz erzogen, wenn ich selbst wie eine verstockte Drossel auf so eine Ankündigung reagieren würde? Hauptsache du bist glücklich damit, der Rest ist doch vollkommen wumpe!« Nach dieser Standpauke steckte sie das Brotmesser in die Spülmaschine und ging zum Kühlschrank, um nach Wurst und Käse zu suchen. Elias stand auf und ging zu seiner Mutter hinüber, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie lächelte wissend und sagte nichts dazu. »Ich hab eindeutig die beste Familie der Welt«, sagte er grinsend, wuschelte Kathi durch die langen Haare und verschwand aus der Küche. »Mein Scheitel, du Arschloch!«, rief Kathi ihm noch nach und er huschte lachend in sein Zimmer. Das war schneller und einfacher gegangen, als er es sich vorgestellt hatte. Eigentlich hatte er es sich überhaupt nicht vorgestellt… Ob Antons Mutter wusste, dass ihr Sohn schwul war? Wenn nein, was würde sie sagen, wenn sie es herausfand? Würde er es ihr überhaupt jemals sagen? Elias ließ sich auf sein Bett sinken und versank wieder in Grübeleien. Die kleine Episode mit seiner Mutter und Kathi hatte ihn kurz abgelenkt, aber jetzt dachte er erneut darüber nach, was drüben wohl gerade passierte. Er nahm noch einen Schluck Eistee, dann piepte sein Handy. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es fast halb sieben war. Er fischte nach seinem Handy und öffnete die erhaltene Kurzmitteilung. »Hast du nicht Lust, rüber zu kommen?« Sein Herz setzte aus und er wollte sich am liebsten kopfüber aus dem Fenster stürzen. Er konnte da jetzt nicht rüber gehen! Wenn er Ben zu lange ansah, dann machte er wohlmöglich eine Dummheit! Vermutlich musste man sich auf einen Stuhl stellen, um überhaupt an Bens Nase heran zu kommen… Er könnte absagen. Er könnte so tun, als hätte er die SMS nicht erhalten. Aber er könnte sich auch einfach zusammen reißen und sich verhalten wie ein normaler, netter Nachbar. Bei diesem Gedanken schnaubend, stand er auf und schob sein Handy in die Hosentasche. »Ich geh rüber zu Anton«, rief er durch den Flur. »Viel Spaß«, flöteten seine Mutter und seine Schwester aus der Küche und Elias wusste nicht, ob er sie verfluchen, oder ob er lachen wollte. Er wollte gerade an die Tür klopfen, als sie bereits geöffnet wurde. Anton sah ihn lächelnd an und Elias wollte sofort umdrehen, als sein Magen wie verrückt zu kribbeln begann und sein Herz einen Tango tanzte. »Ich hab deine Tür gehört«, sagte Anton und trat zur Seite, damit Elias eintreten konnte. Sobald Anton die Tür hinter ihm geschlossen hatte, beugte er sich leicht vor. »Sie würde dich ziemlich gern singen hören, also wundere dich nicht, falls sie anfängt zu betteln«, erklärte er leicht verlegen. Elias fragte sich, ob Anton nur davon erzählt hatte, dass er Musik machte und sang, oder ob er auch erwähnt hatte, wie er Elias’ Stimme fand. Er folgte Anton in sein Zimmer und als die Tür aufging, blinzelte er verwundert. Ben war nicht da. Fenja lag bäuchlings auf dem Teppich und grinste ihm entgegen, sie blätterte durch ein Fotoalbum und ließ ihre Beine in der Luft baumeln. Sie trug immer noch das übergroße Hemd. Und abgesehen davon nur noch einen Slip. Elias war leicht verwirrt. »Stört dich das? Mir war so warm«, sagte Fenja und deutete mit dem Daumen in Richtung ihres Hinterns. Elias schüttelte den Kopf und ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. Sie war wirklich verdammt dünn. »Ähm… wo ist-«, begann er. Antons Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung und Wehmut. »Er ist schon wieder gefahren«, sagte er und fuhr sich verlegen durch die Haare, »ich denke… das wird nichts mehr. Er konnte mich kaum ansehen und ich hatte keine Ahnung, worüber ich mit ihm reden soll. Es war nicht sonderlich… angenehm«, sagte er und Elias spürte einen Funken Mitleid, gleich überschattet von der Erleichterung darüber, dass nichts anderes zwischen den beiden passiert war, als sie sich wieder gesehen hatten. »Ich hab mir das schon gedacht, er war nach eurem Telefonat schon ziemlich schweigsam«, sagte Fenja und blätterte eine Seite weiter in dem Album. Anton seufzte leise, dann ließ auch er sich auf dem Boden nieder, sodass sie nun in einer Art Dreieck saßen – beziehungsweise lagen. Elias’ Blick fiel auf das Fotoalbum und er erkannte Fenjas feuerrote Haarmähne hoch oben in einem Baum, Bens große Gestalt mit ein paar Brettern im Arm und Anton, der den Baumstamm umarmte und grinste. »Die Entstehung unseres Baumhauses«, erklärte Fenja schmunzelnd, »ich hab das Album mitgebracht. Willst du mal Anton mit Sahnetorte im Gesicht sehen?« Elias stutzte, dann lachte er. »Hey! Nicht die peinlichen Fotos von Bens Geburtstag!«, protestierte Anton und versuchte, Fenja das Album wegzuschnappen, doch sie rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Elias grinste Anton an. »Du siehst mit Sahnetorte im Gesicht sicherlich umwerfend aus«, sagte er unbedacht und war leicht überrascht, als Anton schon wieder rot anlief und sich räusperte. Fenja schmunzelte kaum merklich, während sie weiter im Album herumblätterte und Elias das Album schließlich auf den Schoß legte. Es zeigte einen Tisch in einem Garten und vier junge Mensch, wovon man einen – offenkundig Anton – kaum erkennen konnte, weil sein Gesicht über und über mit einer weißen, cremigen Masse verschmiert war. Neben ihm saß Fenja, die sich kringelte vor Lachen, Ben, der Anton eine Serviette reichte und da war Lukas, der am lautesten lachte und sich den Bauch hielt und mit dem Finger auf seinen Bruder zeigte. Elias musste glucksen, als er das Foto sah, auch wenn es ihn irgendwie melancholisch stimmte. Einer dieser jungen Menschen war tot, sein Zwilling hatte dadurch sein Lächeln verloren und die Gruppe war auseinander gebrochen. Aber darüber sollte er jetzt nicht nachdenken, denn Anton konnte wieder lächeln und er hatte Fenja zurück. Das war besser als nichts. Er verbrachte die nächste Viertelstunde damit, sich das Album anzugucken. Fenja moderierte und erklärte ihm, was auf den einzelnen Bildern zu sehen war. Anton brach hin und wieder in Klagen aus, wenn Elias auf ein – Antons Meinung nach – peinliches Foto stieß. Aber Elias zeigten diese Bilder nur, was für ein glücklicher Mensch Anton gewesen war. Und er wollte in diesem Moment nichts sehnlicher, als ihn noch einmal so glücklich zu machen. Als sie das Album schließlich durchgesehen hatten, verstaute Fenja es in ihrem Rucksack und sah Elias an. »Anton meint, du singst ganz toll«, sagte sie und in dem beiläufigen Tonfall erkannte Elias, dass Anton diese Beschreibung von Elias’ Stimme eigentlich lieber nicht hatte offenbaren wollen. Sofort lief er wieder rot an. Elias grinste verlegen und fuhr sich durch die blonden Haare. Jetzt, da Ben nicht mehr da war, waren ihm seine Haare herzlich egal. »Was willst du denn hören?«, fragte er. Fenja wippte leicht vor und zurück, als sie nachdachte. Elias betrachtete sie von der Seite. Ihre Sommersprossen waren tatsächlich fast über ihr ganzes Gesicht verteilt. Ihre blauen Augen waren heller als die von Alex – er wusste gar nicht, wieso er die beiden ständig miteinander verglich – und ihre Ausstrahlung war sehr viel ruhiger. Fenja schien mit sich und der Welt zufrieden. Das war bei Alex eindeutig nicht der Fall. »Kennst du Iris? Von den Goo Goo Dolls?«, fragte sie hoffnungsvoll. Elias nickte. »Einfach so? Oder mit Klavier?«, fragte er grinsend. Anton stand auf und ging hinüber zu seinem Regal. »Ich schau mal, ob ich die Noten irgendwo habe«, sagte er. Fenja schnaubte leicht entrüstet. »Du musst die Noten noch haben, das ist mein Lieblingslied!«, sagte sie empört und Elias hörte Anton leise lachen. Das Geräusch jagte ihm einen heißen Schauer über den Rücken und er war sich plötzlich nicht sicher, ob er überhaupt ein Wort herausbringen konnte. Ob nun gesungen oder gesprochen. Sein hämmerndes Herz drückte auf seinen Kehlkopf. »Da sind sie«, verkündete Anton und ging hinüber zu seinem Klavier, legte die Noten sorgsam auf den Halter und sah Elias an. »Du kannst den Text?«, wollte er wissen. Elias konnte nur nicken. Immer noch schwirrte der Klang von Antons Lachen in seinem Gehörgang herum. »Ich denke schon«, sagte Elias und er wunderte sich, dass seine Stimme so normal klang. Fenja legte sich auf den Rücken, das Gesicht ihm zugewandt und mit freudiger Erwartung in den sommersprossigen Zügen. Anton spielte. Und Elias stellte wieder einmal fest, wie gut er es konnte und wie wunderbar dieses Instrument zu Anton passte. Er dachte an Antons schmale Finger, die über die weißen und schwarzen Tasten huschten. Elias merkte kaum, wie er sang, weil seine Gedanken sich nur um Anton drehten. Erneut kreiste die Vorstellung in seinem Kopf herum, wie es sich anfühlen mochte, ihn zu küssen. Ihn umarmen zu dürfen, wann man wollte, in der Öffentlichkeit seine Hand halten zu können… Fenja wiegte sich leicht im Takt der Musik und ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie hatte die Augen geschlossen und Elias wurde bewusst, dass Ben nicht mehr da war. Er war nicht mehr nur nicht hier in diesem Zimmer, er war auch nicht in der Stadt, er war nicht in Antons Leben, er war vollkommen verschwunden. Elias selbst war nun da, in Antons Zimmer, in seiner Stadt, in seinem Leben. Die Gefühle, die Ben niemals für Anton gehabt hatte, die hatte nun Elias für ihn. Und Lukas, an den Elias Anton manchmal erinnerte und der auch nicht mehr da war, der war trotzdem hier. Weil Anton hier war und weil Elias hier war, der Lukas ähnelte. »Du singst echt klasse«, sagte Fenja anerkennend und sie strahlte Elias an. Er brachte ein Grinsen zustande. »Danke«, erwiderte er. So gute Laune hatte er – zumindest fühlte es sich so an – noch nie in seinem Leben gehabt. Gerade wollte er Fenja fragen, wie es ihren Kaninchen ging, als es an der Tür klopfte. »Ja?«, sagte Anton verwundert. Die Tür öffnete sich und Antons Mutter kam herein. Elias fiel auf, dass sie ziemlich nervös aussah. Ihre Haare waren nicht in einem strengen Knoten gefangen und sie trug ein ganz normales T- Shirt mit einer ziemlich ausgeleierten Jeans. Alles in allem sah sie ganz anders aus, als in diesen geschäftlichen Kostümen oder in diesen Kleidern, die sie abends zum Weggehen getragen hatte. Sie sah plötzlich aus wie eine Mutter eben aussah. »Habt ihr Lust, Pizza zu bestellen?«, fragte sie. Anton sah vollkommen perplex aus, Fenja fasste sich als Erste. »Ja, wir lieben Pizza«, sagte sie immer noch strahlend und erhob sich, »ich helf dir beim Tischdecken, die beiden können sich ja schon mal überlegen, was sie wollen.« Und sie hakte sich tatsächlich bei Antons Mutter unter und ging mit ihr in die Küche. Elias fiel ein, dass Fenja Antons Mutter natürlich schon genauso lange kannte, wie sie Anton kannte. Es hatte merkwürdig geklungen, als sie sie geduzt hatte. Anton schien immer noch verdutzt. »Das ist nett von ihr«, sagte Elias lächelnd und Anton nickte kaum merklich. Dann lächelte auch er. »Ich kann’s nicht fassen… wie sich alles verändert hat«, sagte er leise und seine Augen huschten zu Elias hinüber. Der musste schlucken, weil Antons dunkle Augen glühten. Anton stand von seinem Klavierhocker auf und Elias erhob sich. Seine Gedanken sollten sich um Pizza drehen, aber das klappte im Moment nicht. Denn Anton kam zu ihm herüber und umarmte ihn. Wieder einmal kroch ihm Antons Duft in die Nase und seine Nähe brachte Elias’ Gehirn sowie einen nicht unerheblichen Teil seiner inneren Organe dazu, vollkommen verrückt zu spielen. »Danke für alles…«, murmelte Anton, dann war er auch schon aus dem Zimmer gehastet, um das Prospekt vom Pizza- Bringdienst zu holen. Das Abendessen war seltsam. Es war ein komisches Gefühl nicht nur mit Anton in dessen Küche zu sitzen, sondern auch mit Fenja und – was am aller merkwürdigsten war – mit Antons Mutter. Sie saßen zu viert um den Tisch herum, jeder eine große Pizza vor sich. Fenja hatte eine ausgesprochene komische Art, ihre Pizza zu essen. Sie aß erst den kompletten Belag und dann den Teig. Antons Mutter hielt sich zurück, während sie sich unterhielten und Elias konnte sich vorstellen, dass dies alles ziemlich schwierig für sie war, da sie sich so viele Jahre vom Leben ihres Sohnes ferngehalten hatte. Schließlich befand Elias, dass es nicht fair war, sie die ganze Zeit schweigen zu lassen, wo sie doch diesen Schritt gemacht hatte. »Was arbeiten Sie eigentlich?«, erkundigte er sich bei ihr. Sie sah erstaunt auf und blickte ihn einen Moment lang perplex an. Fenja schmunzelte und schob sich ein Stück Teig in den Mund, Anton lächelte seiner Pizza entgegen. »Ich arbeite in der Marketing- Abteilung von Sony…«, erklärte sie und schien immer noch vollkommen perplex darüber, dass Elias sie einfach so angesprochen hatte. Er war beeindruckt. »Klingt nach harter Arbeit… ich weiß noch nicht, was ich machen will. Mögen Sie eigentlich Katzen?« Anton verschluckte sich an seinem Stück Pizza. Frau Nickisch sah ihn einen Moment lang an, als sei er ein Alien. Dann lächelte sie tatsächlich. Die Alex- Verwirrungs- Strategie klappte doch immer, um Leute aus der Reserve zu locken, dachte Elias und schmunzelte innerlich. »Nenn mich Erika«, bot sie ihm plötzlich an. Elias nahm noch ein Stück Pizza. »Ok. Also… magst du Katzen?« Anton hustete immer noch, aber seine Mutter klopfte ihm beiläufig auf den Rücken und begann mit Elias ein Gespräch über Haustiere. Alles in allem, dachte er, während Antons Mutter ihm von ihren zwei Katzen erzählte, die sie als junges Mädchen gehabt hatte, war der Tag ein voller Erfolg gewesen. Kapitel 31: Treffen der Giganten -------------------------------- Für Lisa, die morgen Geburtstag hat, Für Tanja, weil sie mal wieder 500x gefragt hat und für Katja, als Dank für die netten Unterhaltungen! Viel Spaß beim Lesen und einen schönen Abend wünsche ich euch, (DANKE FÜR ÜBER 450 KOMMENTARE!) Eure PS: Die Alex/Fenja Szene ist Fanservice für mich selbst. Ursprünglich hatte ich vor, die beiden zu verkuppeln. Random Info Ende! ____________________________ »Fenja hat übrigens gesagt, sie würde gern mit zu Alex’ Abschlussball kommen«, erklärte Anton, während er sich über Elias’ Schulordner mit den Abiturnotizen beugte und scheinbar darüber nachdachte, in was er Elias als nächstes abfragen sollte. »Das ist klasse«, entgegnete er ehrlich erfreut und war bereits jetzt gespannt, wie Alex und Fenja sich verstehen würden, »wann kommt sie denn eigentlich wieder?« Fenja war am vorigen Tag zurück nach Hause gefahren, nachdem sie drei Tage geblieben war. Dann hatte sie Anton beteuert, dass sie wiederkommen wollte, sie musste nur dringend ihre Abiturnotizen mitbringen, damit sie in den Ferien wenigstens ein bisschen lernen konnte. »Übermorgen«, sagte Anton und blätterte einige Seiten weiter. Draußen schien die Sonne. Elias hatte sich in einem Fleck Sonnenlicht auf Antons Teppich ausgestreckt, Anton saß ausnahmsweise nicht auf seinem Stammplatz am Klavier, sondern direkt neben ihm auf dem Boden. »Das wird sicher lustig. Ich hab schon ewig lange nicht mehr mit Alex getanzt«, meinte Elias gut gelaunt und schloss genüsslich die Augen, während die Märzsonne ihn wärmte. »Oh…«, sagte Anton. Elias blinzelte, öffnete ein Auge und sah hinüber zu Anton. »Was denn?«, wollte er verwirrt wissen. Anton fuhr sich durch die Haare und räusperte sich kurz. »Ich hab vergessen, dass man auf einem Ball tanzt. Ich kann nicht tanzen«, sagte er verlegen. Elias grinste, drehte sich auf den Bauch und sah hoch zu seinem Nachbar. »Ich aber. Ich kann’s dir beibringen.« Erst als Antons Gesicht sich dunkelrot färbte, wurde Elias klar, was genau er da gerade angeboten und dass er damit wohlmöglich sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte. Er wollte Anton Tanzen beibringen? War er vollkommen übergeschnappt? Und dann würde er sich bei der nächstbesten Gelegenheit auf ihn stürzen, weil ihn Antons ständige Nähe komplett benebelt machte. Ein wunderbarer Einfall! Manchmal sollte er erst nachdenken und dann sprechen, dachte er sich im Stillen. »Das ist… nett«, sagte Anton ein wenig heiser und brachte ein zittriges Lachen zustande, dann senkte er den Blick rasch auf die Notizen. »Machen wir mit Erdkunde weiter?«, fragte er dann völlig aus dem Zusammenhang gerissen und Elias drehte sich eilends wieder auf den Rücken. »Ja, gute Idee«, sagte er zerstreut und schloss erneut die Augen, während sein Herz ihm bis zum Hals schlug. Allein die Vorstellung, mit Anton zu tanzen, ließ seine Nerven blank liegen. Wo hatte er sich da nur wieder hinein geritten? »Das ist ja so niedlich!« Nachdem er und Anton fertig mit Lernen waren, hatte Elias bei Alex angerufen. Die schien unglaublich begeistert von der Vorstellung zu sein, dass Anton und Elias miteinander tanzen würden. »Das ist nicht niedlich, das ist mein Untergang! Ich kriege schon die Krise, wenn ich nur neben ihm sitze, wie soll ich ihm da tanzen beibringen?«, fragte Elias zerknirscht. Alex kicherte leise. »Das ist auch niedlich. Ihr zwei seid wie eine große Zuckertorte! Ich komme übrigens am Wochenende. Wenn du willst, helfe ich dir bei deinem Tanzvorhaben«, bot sie großzügig an und Elias hörte deutlich, wie sie am anderen Ende breit grinste. Elias konnte auf diese ganze ‚Ihr seid so niedlich’- Tirade nur grummeln. »Dann lernst du ja auch Fenja kennen. Die kommt übermorgen wieder und sie will auch gern mit zu deinem Ball kommen«, erklärte er. Alex kicherte leise. »Das Treffen der Giganten«, sagte sie amüsiert. Elias musste lachen und stellte sich vor, wie Fenja und Alex voreinander standen. Die beiden besten Freundinnen. Was für ein Spektakel! »So in etwa. Sie ist aber fast genauso groß wie ich«, warnte er. Alex schnaubte. »Soll ich deswegen Minderwertigkeitskomplexe haben? Dafür kann sie bestimmt nicht polnisch fluchen und so schnell reden, dass anderen davon ganz schwindelig wird, oder?« »Nein, das kann sie sicher nicht. Da bist du wirklich Weltmeisterin drin«, meinte Elias breit grinsend. Dann seufzte er. »Ich dreh bald durch. Diese ganze Verliebtsein- Sache ist nichts für mich«, murmelte er leise. Alex lachte leise. »Das sagst du nur solange, wie du aus der Ferne schmachtest. Wenn du ihn erstmal hast, dann wirst du dir wünschen, nie wieder nicht verliebt zu sein!« Elias konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er Anton überhaupt je ‚haben’ würde. Aber Alex schien, was diese Angelegenheit betraf, sehr zuversichtlich zu sein. Die nächsten zwei Tage büffelte Elias allein in seinem Zimmer, nur ab und an unterbrochen von Nathalie, die eine Folge Pokémon mit ihm schauen wollte und von Kathi, die ihm erzählte, dass Marcel, Caro, André – Caros Freund – und sie in den Sommerferien zusammen Urlaub in Frankreich machen wollten. Natürlich nur mit Jugendreisen, sonst wäre ihre Mutter garantiert gestorben vor Sorge. Weder Kathi noch seine Mutter erwähnte es noch einmal, dass Elias seine Bisexualität entdeckt und sich in Anton verliebt hatte. Ab und an lächelte seine Mutter wissend, wenn sie Elias nachdenklich in seinem Essen herumstochern sah. Er hatte in den letzten Tagen nicht wirklich Hunger und das, obwohl er normalerweise essen konnte, wie ein Scheunendrescher. Fenja kam zwei Tage später wieder zu ihnen und es traf sich, dass Elias gerade bei Anton zu Besuch war, um sich eines seiner neu komponierten Klavierstücke anzuhören und anschließend mit Antons Mutter Mittag zu essen – das war als Neues Ritual eingeführt worden. Sie hatte sich offenbar ein Taxi genommen und war vier Stunden eher in den Zug gestiegen, um Anton zu überraschen. Und als sie neben ihrer großen Reisetasche auch einen großen Karton hastig an Elias vorbei schmuggelte, der ihr die Tür geöffnet hatte, fragte er sich, ob sie die einzige Überraschung an diesem Tag war. War sie nicht. Elias kam in Antons Zimmer, nachdem er die Wohnungstür geschlossen hatte und entdeckte Anton – offensichtlich sprachlos – auf dem Sofa. Vor ihm auf dem Tisch stand der offene Karton und darin saß eine kohlrabenschwarze, winzige, flauschige Katze. Fenja grinste so breit, wie Elias es bisher noch nicht bei ihr gesehen hatte und Antons Augen leuchteten wie die eines Kindes an Weihnachten. »Ich dachte mir… nachträglich zum Geburtstag«, meinte Fenja scheinheilig, ließ sich im Schneidersitz vor dem Tisch nieder und kraulte die kleine Katze behutsam am Kopf. »Eine Babykatze«, war alles, was Elias dazu einfiel. Fenja lachte leise. »Ein Babykater. Und so jung ist er nicht mehr, dreieinhalb Monate. Er ist viel kleiner als seine Geschwisterchen und der einzige schwarze«, erklärte Fenja. Anton starrte immer noch sprachlos auf das kleine Tier. »Ich hab’s mit deiner Ma abgesprochen, falls du dir darüber Sorgen machst. Sie hortet das Katzenklo und den ganzen Rest bei sich im Schlafzimmer«, fuhr Fenja fort. Elias näherte sich dem Tisch und hielt dem kleinen Kater die Hand hin. Er schnupperte interessiert daran, dann schmiegte er seinen Kopf in Elias’ Handfläche und verlangte maunzend eine Krauleinheit. »Ich wollte immer eine Katze«, sagte Anton vollkommen perplex. Fenja knuffte ihn in die Seite, sodass er zusammen zuckte. »Weiß ich. Deswegen hab ich eine mitgebracht. Wir haben sowieso schon so viele auf dem Hof. Seit Nellys Wurf sind es elf. Sie musste ja auch gleich sechs auf einmal bekommen. Jetzt haben wir noch zehn und das reicht wirklich. Ich weiß ja, dass er bei dir in guten Händen ist«, sagte Fenja, setzte sich neben Anton aufs Sofa und nahm den schwarzen Kater mit den grünen Augen aus dem Karton, um ihn Anton auf den Schoß zu setzen. Anton streichelte den Kater behutsam und Elias wurde augenblicklich neidisch. Wie einfach das Leben wäre, wenn er klein, flauschig und ein Kater wäre! »Wie soll ich ihn denn nennen?«, fragte Anton immer noch vollkommen überwältigt von der Tatsache, dass er nun einen Kater hatte. Fenja zuckte die Schultern. »Es ist doch dein Kater. Aber er wird es dir sicherlich nicht übel nehmen, wenn er noch zwei Tage länger ohne Namen leben muss«, sagte Fenja und streckte sich ein wenig. »Ich geh mit deiner Ma mal das Zeug aus dem Schlafzimmer holen«, sagte sie dann, stand auf und verschwand. Elias betrachtete Anton und den Kater, der sich auf Antons Schoß zusammen gerollt hatte und zufrieden schnurrte. »Wie wär’s mit Luke?«, fragte Elias leise und schaffte ein Lächeln. Anton blickte auf und blinzelte. Dann brachte auch er ein leichtes Lächeln zustande und wandte den Blick wieder zum Kater zu. »Luke…«, murmelte er und nickte schließlich, »klingt gut.« Einen Moment lang schwiegen sie angesichts der Tatsache, dass der kleine schwarze Kater einen Namen bekommen hatte, der gut und gerne als Spitzname für den Namen Lukas hätte durchgehen können. Fenja kam wieder herein. Sie schleppte ein großes Körbchen und sah sich einen Moment lang um, dann platzierte sie es direkt am Fußende von Antons Bett. »Das Katzenklo steht im Bad«, sagte sie und warf sich neben Anton, Elias und Luke aufs Sofa. Anton streichelte ziemlich hingerissen den kleinen, schnurrenden Fellball und Elias war immer noch neidisch. Also beschloss er, sich abzulenken. »Meine beste Freundin kommt am Wochenende her. Wir wollen Anton das Tanzen beibringen, für den Ball«, erklärte er Fenja. Sie grinste ein wenig verlegen. »Ich glaube, ich kann in etwa so gut tanzen wie ein Besen«, sagte sie und fuhr sich durch die roten Locken. Elias lachte. »Das ist ok. Alex hat eigentlich auch ne brettsteife Hüfte vom Kampfsport. Aber das Tanzen klappt trotzdem gut«, sagte er aufmunternd. Wenn sie zu viert Tanzstunden hatten, dann würde er vielleicht nicht der Versuchung erliegen, sich auf Anton zu werfen und ihn besinnungslos zu knutschen. Es war gut, dass Fenja da war, so konnte Elias nicht so häufig mit Anton allein sein. Er lernte für seine Prüfungen, er verbrachte Zeit mit seinen Freunden, er half Markus die ersten Babyklamotten zu kaufen und beriet Dominik beim Kauf eines Geburtstagsgeschenks für seine kleine Schwester. Er aß mit Anton, Fenja und Erika zu Abend und spielte mit Luke und versuchte sich mit aller Macht von seinen Gefühlen für Anton abzulenken, die allerdings mit jedem Mal, das er Anton sah, schlimmer zu werden schienen. Bisher waren für ihn Kribbeln im Bauch und Herzklopfen immer nur Gerüchte gewesen. Jetzt hatte er beinahe keine anderen Empfindungen mehr als diese. Er war wirklich ziemlich froh, als Alex am Freitag kam und er sie endlich bei sich hatte. »Ich sage es dir, Mathelernen ist ja kein Ding, aber Bio geht mir vielleicht auf den Keks! Es ist zum Kotzen, ich krieg diese blöden Photosynthese- Vorgänge einfach nicht in meinen Schädel. Ich meine, wozu hab ich Chemie abgewählt, das ist doch bescheuert! Du siehst übrigens total verknallt aus, das ist fast schon gruselig. Deine Augen schimmern herzchenförmig…« Sie hakte sich bei Elias unter und schleifte ihren Koffer hinter sich her. Elias bot ihr nicht an, den Koffer zu tragen. Wahrscheinlich bekam er ihn kaum vom Boden hoch. Alex besiegte ihn auch jedes Mal im Armdrücken. »Ich sterbe bald. Ich muss ihn nur ansehen und bekomme Herzflattern. Wieso hast du mich nie vorgewarnt, dass Verliebtsein so anstrengend ist?«, beklagte er sich bei Alex, während sie den Bahnhof verließen. Alex grinste nur schweigend und äußerte sich nicht weiter dazu. Es war ein ziemlich merkwürdiges Bild. Alex hatte noch mit ihm und seiner Familie zu Mittag gegessen, dann hatte sie darauf bestanden, bei Anton zu klingeln. Sie war nicht nur neugierig auf Antons umgewandelte Mutter und den kleinen Luke. Besonders neugierig war sie auf Antons beste Freundin. Kaum hatte Anton die Tür geöffnet, umarmte Alex ihn gut gelaunt und stürzte sich quietschend auf Luke, der gerade um die Ecke gestrichen kam, um zu sehen, wo der Lärm herrührte. Er ließ sich gnädig von Alex kraulen, dann folgte sie dem kleinen Fellball in Richtung von Antons Zimmer. Elias und Anton warfen sich einen bedeutungsschweren Blick zu, dann gingen sie Alex hinterher. Da standen sie. Fenja, groß, dünn, sommersprossig und rothaarig mit einem schlabbrigen Männerhemd und einer zerfledderten Jeans. Alex, klein, sportlich, brünett und mit einem sonnengelben T- Shirt und einem knielangen Rock. Elias war sich nicht sicher, ob zwischen besten Freundinnen automatisch eine Art Konkurrenz herrschte – frei nach dem Motto: wer war die bessere beste Freundin? – aber das schalkhafte Funkeln in beiden Augenpaaren gruselte ihn ein wenig. Dann reichten sie sich die Hände und der Moment war vorbei. »Fenja.« »Alex.« »Schön, jetzt da wir uns alle kennen«, sagte Alex im nächsten Moment begeistert und wandte sich um, »können wir ja mit den Tanzstunden anfangen! Das Zimmer ist ja riesig, da werden wir kein Platzproblem haben. Ich bin schon ganz scharf drauf, endlich mal wieder zu tanzen!« Die Alex- Verwirrungstaktik klappte auch bei Fenja. Sie sah vollkommen perplex aus, was Elias zum Lachen brachte. Anton schmunzelte verhalten. »Die Strategie hat er sich bei dir abgeschaut«, sagte Anton lächelnd zu Alex, »er hat sie bei meiner Ma angewandt.« Alex blickte einen Moment überrascht, dann feixte sie breit. »Ja, er lernt eben auch Dinge von mir. Das gefällt mir. Also, hast du Musik? Wollen wir mit Walzer anfangen?« Elias konnte sich selbst nicht wirklich begreifen. Zuerst hatte er sich verflucht, weil er Anton angeboten hatte, ihm das Tanzen beizubringen. Jetzt war er plötzlich enttäuscht, weil Alex vor Anton stand und ihm die Walzerschritte beibrachte. Er hatte Fenja vor sich stehen, die beinahe so groß war wie er selbst und sich wirklich ein bisschen wie ein Stock anfühlte. Er legte die Hände auf ihre Hüften und grinste, während er sie vorsichtig dazu zwang, das Becken abwechselnd nach links und rechts zu bewegen. Fenja lachte. »Kannst du dir mich in einem Kleid vorstellen? Ich glaub, ich komm im Hosenanzug«, sagte sie glucksend und sah nach unten, um Elias’ Händen und ihren Hüften zu folgen. »Also noch mal…«, meinte Elias, nahm ihre Hand und legte die andere auf ihre Hüfte. Fenja starrte auf ihre Füße, während Elias mit ihr einen langsamen Walzer durch Antons Zimmer drehte. Zweimal trat sie ihm auf die Füße und entschuldigte sich mindestens zehn Mal dafür. »Du musst mich führen, nicht andersrum«, sagte Alex lachend hinter ihm. »Ich bin nun mal keine führende Persönlichkeit«, klagte Anton und Elias musste lachen. Er und Fenja wandten sich zu den beiden um. Sie gaben eigentlich ein ganz hübsches Pärchen ab, aber Alex schob Anton herum, als wäre sie der Mann und nicht er. »Vielleicht sollten wir mal Partner tauschen«, schlug Alex scheinheilig vor. »Ja genau. Vielleicht kann ich besser führen, als mich führen zu lassen«, stimmte Fenja ihr sofort zu. »Eben! Und Elli kann dann Anton führen, wie wäre es damit?«, fuhr Alex geschäftig fort, schob Anton zu Elias hinüber und grinste ihm breit hinter Antons Rücken zu. Fenjas Schmunzeln war nicht minder breit, als sie Elias zu Anton herumdrehte, dessen Gesichtsfarbe der von Fenjas Haaren glich. »Walzer also«, sagte Elias nervös und brachte ein leicht zittriges, panisches Lachen vor, was Alex dazu brachte, sich auf die Unterlippe zu beißen, damit sie nicht losprustete. Sie nahm sich stattdessen Fenja vor und wandte sich zwinkernd von ihrem besten Freund ab. Die Verräterin! Elias griff langsam nach Antons Händen und schluckte. »Und es stört dich nicht, den weiblichen Part zu tanzen?«, fragte er vorsichtshalber, während er seine Hand auf Antons Hüfte legte, so behutsam, als wäre sein Nachbar aus Glas. Anton schüttelte den immer noch hochroten Kopf. »Also gut… dann mit links rückwärts«, sagte Elias leise. Anton nickte. Und dann tanzten sie langsamen Walzer in Antons Zimmer. Er hatte überhaupt kein Problem damit, mit Anton zu tanzen. Anton schien dankbar dafür, dass er nicht führen musste. Und Elias’ Herz tanzte mit ihnen, während sein Magen so heftig kribbelte, dass Elias sich sicher war, nie wieder etwas essen zu können. Fenja und Alex schienen hinter ihnen eine Menge Spaß zu haben. Andauernd lachten sie, rissen Witze und giggelten vor sich hin. Elias wollte gar nicht wissen, worüber sie lachten. Mädchen waren furchtbar. Und Verliebtsein auch. »Na immerhin… kann ich jetzt einen Walzer«, scherzte Anton verlegen, als sich Elias von ihm löste. Es fühlte sich so an, als hätte sein Gesicht mittlerweile den gleichen Ton wie das von Anton. »Ja… wollen wir noch einen Wiener Walzer hinten dran hängen?«, fragte Elias. Na bitte. Er war also doch ein Masochist, er hatte es ja immer gewusst. Während Alex und Fenja im Hintergrund ihre Walzerrunden drehten, legte Elias seine eine Hand wieder auf Antons Hüfte und griff mit der anderen Hand nach Antons Fingern. »Ok… dann wieder mit links nach hinten«, murmelte er leise und Anton nickte leise. Er sah einen Moment lang auf seine Füße, dann hob er den Kopf und lächelte Elias an. Verliebtsein bedeutete seinen Tod. Garantiert. Wenn nicht jetzt, dann spätestens in fünf Minuten. Kapitel 32: Mutter und Sohn, Vater und Sohn ------------------------------------------- Das Kapitel ist ein bisschen kürzer, aber ich denke mal, dass ihr mir das nicht übel nehmen werdet :) Wir nähern uns dem Ende und ich möchte mich zum gefühlten hundertsten Mal für all die lieben Kommentare und auch die zahlreichen Favoriteneinträge bedanken. Ihr motiviert mich damit jedes Mal aufs Neue ungemein! Liebe Grüße, _________________________ Der Kugelschreiber in seiner Hand tippte nachdenklich auf dem karierten Papier herum. Um ihn herum konnte man förmlich die Köpfe rauchen sehen und die absolute Stille, die den Raum beherrschte, wurde nur ab und an von einem Papierrascheln oder einem Hüsteln unterbrochen. Elias runzelte ein wenig die Stirn und las sich Aufgabe 3a noch einmal durch. Er war sich nicht sicher, ob seine Lösungsidee die war, die hier gewollt wurde. Aber es war wohl besser, die Aufgabe zu lösen, als überhaupt nichts zu schreiben. Mathe war seine letzte schriftliche Abiturprüfung und alles, was danach noch kam, war die mündliche Prüfung in Politik, vor der er sich am meisten gruselte. Physik war reibungslos verlaufen, Erdkunde hatte ihm streckenweise einige Schwierigkeiten gemacht und die Englischklausur war für seine Maßstäbe gut gelaufen. Er war froh, dass er das Abitur nun bald hinter sich hatte, allerdings hatte er auch Bammel vor dem, was danach kam. Zivildienst, Studium? Ausbildung? Er würde irgendwann ausziehen, er würde sich entscheiden müssen, was er eigentlich machen wollte. Aber dies war eindeutig nicht der richtige Moment, um über seine Zukunft nachzudenken. Immerhin lag hier vor ihm sein schriftliches Mathematikabitur. Er machte sich also daran, Aufgabe 3a zu lösen, 3b ließ er vorerst aus und fing mit Aufgabe 4 an. Draußen klingelte es zur großen Pause, doch natürlich blieben alle sitzen und beugten sich noch etwas tiefer über ihre Papiere. Einige Stunden später hatte Elias alles gerechnet, bis auf Aufgabe 3b, auf deren Lösung er einfach nicht kommen wollte und er beschloss, dass es nichts brachte, sich wegen einer Teilaufgabe vollkommen verrückt zu machen. Und so sah er alles noch einmal durch, packte seine Sachen ein und legte alles an beschriebenen Papieren zusammen, ehe er aufstand, nach vorne ging und die Klausur abgab. Elias war der Erste, der fertig war und er verließ den Raum mit einem Winken zu seinen Klassenkameraden. Kaum hatte er den Raum verlassen, schweiften seine Gedanken hin zu Anton. Er erinnerte sich an die ‚Tanzstunden’, an die Zeit mit Alex und Fenja und daran, dass er das eindeutige Gefühl hatte, sich mit jedem verstreichenden Tag mehr in seinen Nachbarn zu verlieben, wenn das überhaupt noch möglich war. Draußen schien die Sonne und Elias hielt sein Gesicht der Sonne entgegen, während er den schmalen Betonweg entlang ging, der vom Hautpeingang der Schule hin zur Straße führte. Er hatte die schriftlichen Prüfungen hinter sich. Und er hatte das Gefühl, sich für Politik gut vorbereitet zu haben, aber immerhin waren es immer noch anderthalb Wochen bis zur mündlichen Prüfung. Er schlenderte in Richtung Efeuweg, summte leise vor sich hin und genoss das gute Wetter. Kurz bevor er sein Haus erreichte, schrieb er eine kurze SMS an Alex, Dominik und Markus, um ihnen zu sagen, dass Mathe gut gelaufen war. »Und, wie ist es gelaufen?«, wurde er sofort begrüßt und seine Mutter, Nathalie und Kathi kamen in den Flur gerannt, als sie hörten, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Sein Vater war noch bei der Arbeit. Elias grinste und ließ sich von Nathalie und seiner Mutter umarmen. »Gut. Nur eine Teilaufgabe hab ich nicht gerafft. Aber ich denke, ansonsten war’s schon ok«, meinte er. Seine Mutter strahlte und Nathalie sah unglaublich stolz aus. Kathi schmunzelte. »Streber«, sagte sie und boxte ihn leicht. Elias schnaubte grinsend und zerwuschelte ihr zur Strafe die säuberlich gescheitelten Haare, worauf sie sofort zu zetern begann. »Ich hab doch gesagt, du sollst nicht an meine Haare gehen!«, motzte sie lachend und Elias rannte durch den Flur vor ihr weg, hinein in sein Zimmer, um sich dort zu verbarrikadieren. »Anton war übrigens vorhin hier«, rief Kathi amüsiert durch die Tür. Elias’ Herz machte beim Klang dieses Namens augenblicklich einen Sprung. »Was wollte er denn?«, fragte er, riss die Tür auf und Kathe stolperte ihm beinahe entgegen. Sie lachte. »Was krieg ich dafür, wenn ich es dir sage?«, neckte sie ihn und streckte ihm die Zunge raus. Er trat nach ihr, doch sie wich ihm kichernd aus und tänzelte in Richtung ihres Zimmers. »Ich hab keine Ahnung, er hat nur gefragt, ob du schon wieder von Mathe zurück bist«, sagte sie dann gnädigerweise und verschwand in ihrem Zimmer. Elias atmete tief durch, dann ging er zur Wohnungstür und huschte ins Treppenhaus zu Antons Tür hinüber. Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde. Anton sah ihm entgegen und sein Gesicht hellte sich auf, als er Elias erblickte. Luke, der kleine schwarze Kater, strich um Antons Beine und maunzte leise, während Elias eintrat. Dann verlangte er eine Streicheleinheit von ihm und Elias bückte sich grinsend, um den schwarzen Kater am Kopf zu kraulen. »Kathi hat mir eben gesagt, dass du drüben warst«, sagte er mit hämmerndem Herzen, als wären seine Worte ein Heiratantrag. »Ja… ich dachte, du bist vielleicht schnell mit Mathe fertig. Wie ist es gelaufen?«, wollte Anton wissen, nahm Luke auf den Arm und trug ihn mit sich in sein Zimmer. Elias folgte ihm. »War ganz gut. Ich hab nur eine Teilaufgabe nicht. Aber das wird wohl nicht allzu schlimm sein«, entgegnete Elias grinsend und warf sich neben Antons aufs Sofa, wo sein Nachbar nun mit Luke auf dem Schoß saß. Luke hatte sich zufrieden eingerollt und schnurrte lautstark. »Was ich eigentlich wollte, als ich rüber kam«, sagte Anton zögerlich und betrachtete den schwarzen Kater in seinem Schoß. Elias hob den Kopf und sah ihn fragend an. »Also… du musst jetzt nichts sagen, oder so. Ich wollte dir nur erzählen, dass… na ja…« Er brach ab und wiegte den Kopf hin und her. Offensichtlich wusste er nicht, wie er es – was auch immer es sein mochte – formulieren sollte. »Meine Ma hat vorhin einen Anruf bekommen«, sagte er schließlich nach einigem Nachdenken. Elias runzelte leicht die Stirn. »Der Vermieter hat Dad gefunden, in seiner Wohnung. Er… na ja…«, Anton brach wieder ab. Elias’ Augen weiteten sich. Anton meinte doch wohl nicht das, was Elias dachte, das er meinte…? »Alkoholvergiftung«, erklärte Anton und irgendwie sah er verlegen aus, als wüsste er nicht, ob Elias das wirklich hören wollte. »Das heißt also…?«, erwiderte Elias zögerlich, nur um sicher zu gehen. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. »Die Beerdigung ist nächste Woche Mittwoch«, sagte Anton. Elias starrte ihn an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Vor allem nicht, weil Anton nicht traurig aussah. Er sah aus, als würde es sich einfach komisch anfühlen, dass sein Vater gestorben war. »Und wie… wie geht’s dir jetzt?«, fragte er behutsam. Anton verzog den Mund zu einer nachdenklichen Schnute. »Es fühlt sich merkwürdig an. Es ist eher so etwas wie Schwermut. Aber das liegt wohl eher an den Erinnerungen an ganz früher, als alles noch in Ordnung war. Ich hab nicht das Gefühl, dass mein Leben über mir einbricht. Ich hatte einfach schon lange mit ihm abgeschlossen und er war für mich ohnehin schon… irgendwie tot. Seit damals, als Lukas gestorben ist«, erklärte er und gestikulierte leicht in der Luft herum, als würde er mit den Händen nach den richtigen Worten fischen. Elias glaubte, Anton zu verstehen. Auch wenn er sich selbst natürlich nicht vorstellen konnte, wie es wäre, wenn sein Vater starb. Aber Gott sei Dank lag das in hoffentlich weiter Ferne. Anton erhob sich und setzte Luke behutsam auf dem Sofa ab. Dann ging er hinüber zur Balkontür, öffnete sie und ließ die warme Luft ins Zimmer hinein. Sein Gesicht der Sonne zugewandt, schloss er kurz die Augen. »Es ist ein bisschen so, als wäre es jetzt wieder richtig. Ich und Ma. Lukas und Dad. So war es früher immer schon. Ich stell mir einfach vor, dass… dass die beiden jetzt wieder zusammen sind und die Daumen drücken, dass Ma und ich uns wieder komplett zusammen reißen«, sagte Anton leise. Elias schwieg. Er wusste nicht, was er dazu sagen konnte. Aber Anton hatte ja schon am Anfang gesagt, dass Elias nichts zu sagen brauchte. Anton konnte so herrlichen unkompliziert sein. Unweigerlich überfiel ihn ein schmachtendes Gefühl für seinen Nachbarn, dessen schwarzes Haar in der Sonne glänzte. »Soll ich mitgehen…auf die Beerdigung?«, wollte er leise wissen. Anton wandte sich zu ihm um und legte den Kopf schief. Dann lächelte er. »Du bist zu lieb für diese Welt«, stellte er fest und Elias spürte zum hundertsten Mal, wie er rot anlief. »Quatsch, ich bin ein beinharter Kerl«, scherzte er ein wenig unbeholfen. Anton lachte leise, kam zum Sofa hinüber und setzte sich wieder. »Willst du dir das wirklich antun?«, fragte er nachdenklich. »Wenn’s dir hilft?«, gab Elias zurück. Anton wandte ihm das Gesicht zu und musterte ihn durchdringend. »Wahrscheinlich schon. Du hast mir bisher immer geholfen«, sagte er sehr leise. Elias hatte das deutliche Gefühl, dass sein Herz gleich zerspringen würde. Wieso musste all das so anstrengend sein? Elias war noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Es waren kaum Leute da und die, die da waren, schienen alte Schulfreunde von Antons Vater zu sein, denn Anton kannte keinen davon. Der Pfarrer sprach hauptsächlich vom Paradies und von Gott, doch Anton schien sich nicht daran zu stören. Die ganze Zeit über war er sehr nachdenklich, so als würde er an Lukas und seinen Vater denken, so wie er sie sich nun vorstellte. In irgendeinem anderem Leben, an einem besseren Ort, wo alles wieder in Ordnung war. Am Ende schippten sie etwas Erde auf den Sarg und anschließend schwiegen sie. Nach und nach kamen die alten Schulfreunde und bezeugten ihr Beileid, ehe sie alle verschwanden und Frau Nickisch, Anton und Elias die einzigen waren, die noch am offenen Grab standen. Er wagte einen Blick zur Seite. Frau Nickisch sah sehr verweint aus. Sie schien diese Sache nicht so leicht zu verwinden wie Anton. Elias beobachtete die beiden einen Moment lang, dann griff Anton nach der Hand seiner Mutter und sie drückte die Finger ihres Sohnes leicht. Elias hatte das Gefühl, dass auch Frau Nickisch – auch, wenn sie sehr niedergeschlagen wirkte – der Ansicht war, dass die Dinge nun wieder ‚gerecht verteilt’ waren. Und irgendwie war er sich sicher, dass – nachdem es zwischen den beiden ja schon seit einiger Zeit wieder bergauf ging – nun alles wieder gut werden konnte. So gut, wie es eben sein konnte, nach allem, was früher geschehen war. Kapitel 33: Eine gute Idee -------------------------- Und mal wieder danke für die ganzen lieben Kommentare. Ich bin jetzt immer von Dienstag bis Donnerstag eigentlich gar nicht da, um Nachrichten zu beantworten, weil ich den ganzen Tag Uni habe und dann abends für den nächsten Tag ne Menge lesen muss. Also seid nicht sauer, wenn die Antwort ein wenig auf sich warten lässt. Das Kapitel hat mir sehr viel Spaß gemacht. Zwei Kapitel kommen jetzt noch und dann verabschiede ich mich mit Efeu bei euch :) Ich werd dieses Kapitel mehreren Leuten widmen (hab ich schon länger nicht gemacht). Für Lisa als Trostpflaster, weil KoWi einfach blöd ist. Für Tanja & Charlie, weil sie in diesem Kapitel irgendwie drin stecken. Für meinen Papa, (der das hier Gott sei Dank nie lesen wird) weil ihm bei meiner Geburt damals auch schlecht geworden ist. Für Aye als kleinen Glücksbringer zum Abi, ich weiß, dass du das schaffst! Und für Katja und arod, einfach weil sie Anton so lieben. Viel Spaß beim Lesen! ____________________________________ »Du musst nicht mitkommen«, sagte Elias zum dritten Mal, doch Anton schüttelte nur resigniert den Kopf. »Doch, ich will aber. Du warst mit bei der Beerdigung!«, sagte er widerborstig. Elias seufzte und grinste schließlich. »Na gut. Dann bist du heute mein Glücksbringer«, gab er zurück. Es war der fünfte Mai. Der Tag seiner mündlichen Abiturprüfung. Er hatte sich vormittags mit Anton getroffen, um alles noch einmal durchzugehen und nun bestand Anton darauf, mit ihm zur Schule zu gehen und ihm seelischen Beistand zu leisten. Im Gegensatz zu seinen anderen Prüfungen empfand Elias bei dieser das erste Mal Aufregung und Nervosität. Politik war immer sein schlechtestes Fach gewesen – wenn man solide sieben oder acht Punkte als schlecht bezeichnen konnte – und er hatte das Gefühl, wenn er nur zwanzig Minuten zur Vorbereitung hätte und dann vor einem Pulk Prüfer saß, dann könnte doch einiges schief gehen. Anton hatte ihm mittlerweile gefühlte hundert Mal versichert, dass Elias das schon hinbekommen würde und dass sie doch alles Wichtige gelernt hatten. Auch auf dem Hinweg zur Schule wurde Anton es nicht müde, Elias’ Bemühungen zu loben. Als sie schließlich vor Raum 55 angekommen waren, in dem Elias seine Vorbereitungszeit absitzen würde, war ihm tatsächlich ein wenig schlecht. Er drückte Anton sein Handy in die Hand. »Das nehm’ ich lieber nicht mit rein. Wenn jemand anruft, geh ran, ok?«, sagte er nervös. Anton sah verwirrt aus, nahm aber das Handy und schob es sich umsichtig in die Hosentasche. »Drück mir die Daumen«, meinte er dann ziemlich kläglich und mit einem nervösen Kribbeln im Magen. Anton lächelte, dann umarmte er ihn hastig und ging hinüber zu einer der Fensterbänke, um sich darauf nieder zu lassen und zu warten. »Viel Glück«, wünschte er ihm noch. Elias’ Kribbeln wurde von dieser Umarmung nicht gerade besser, sondern schwang eher in eine andere Richtung um. Er brachte ein Grinsen zustande und betrat den Raum, in dem schon fünf andere Schüler saßen. Wie sich herausstellte, hatte er tatsächlich alles gelernt, was in der Prüfung dran kam. Er kritzelte zwei Seiten voll mit Notizen zu den Aufgaben und als sein Politiklehrer schließlich herein kam, um ihn zu holen und in einen anderen Raum zu bringen, da atmete er tief durch und folgte Herrn Tau in Richtung Raum 43. Anton zeigte ihm gedrückte Daumen, als er vorbei ging und Elias winkte ihm noch kurz, dann war er um die Ecke verschwunden. Elias hatte Herrn Tau noch nie gemocht. Außerdem war er so nervös, dass er die Hälfte seiner Notizen auf dem Zettel schon wieder vergessen hatte, als er Raum 43 betrat und feststellen musste, dass auch der Schulleiter als Protokollant anwesend war. Herr Tau, der Schulleiter, zwei andere Lehrer und zwei Schüler, die zum Zuhören da waren, saßen in einem Hufeisen um ihn herum und sahen ihn aufmerksam an. Gleich würde er sterben, soviel war sicher. Eine Viertelstunde später war es vorbei. Elias hatte das Gefühl, dass er mindestens eine Stunde in dem Raum verbracht hatte. Sein Notizzettel war vollends zerknittert und er warf ihn in den nächstbesten Papierkorb. Es war nicht schlecht gewesen, aber durch seine Nervosität auch nicht so gut, wie es hätte sein können. Er entdeckte Anton vor dem Raum, der ihm sein Handy hinhielt. »Und?«, wollte er gespannt wissen. Elias zuckte mit den Schultern. »Ich bin froh, dass ich’s hinter mir hab. Ich denke mal, es war ok«, sagte er. Anton schmunzelte. Dann hielt er ihm sein Handy entgegen. »Markus hat angerufen«, sagte er. Elias stutzte. Markus wusste doch sehr genau, dass er heute Prüfung hatte? Markus und Dominik hatten ihre mündliche Prüfung bereits hinter sich gebracht. Markus mit 15 Punkten und Dominik mit sieben – und darüber hatte er sehr geflucht. »Wieso hat er…« Er brach ab. Dann riss er Anton das Handy aus der Hand, griff nach seinem Handgelenk und rannte in Richtung Ausgang. Anton folgte ihm leicht stolpernd. »Wie kannst du mir das so ruhig sagen?«, schimpfte Elias hektisch und stieß die Glastür auf. »Ich wollte erst nach der Prüfung fragen«, keuchte Anton. Elias musste lachen. »Und, wie klang er so?« Sie preschten um eine Ecke, die Straße entlang, in der Alex die drei Kerle verprügelt hatte, um eine weitere Ecke und die Straße hinunter. »Nervös. Eigentlich so, als würde er sich gleich übergeben«, berichtete Anton und atmete schwer vor Anstrengung. Elias grinste beim Laufen. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie Markus vollkommen grün um die Nase im Krankenhaus saß und darauf wartete, dass seine Tochter zur Welt kam. Er hielt bei einem Kiosk, entschuldigte sich bei Anton, huschte hinein und kam mit mehreren Kurzen wieder heraus. »Nimm’s mir nicht übel«, bat er Anton keuchend. Anton seufzte, aber schließlich lächelte er leicht gequält und folgte Elias die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. »Ma! Du musst mich und Anton ins Krankenhaus fahren!«, rief er quer durch die Wohnung. Seine Mutter kam in den Flur gehastet. »Ist was passiert?«, fragte sie leicht panisch und musterte sie eingehend. Elias winkte ab. »Markus bekommt sein Baby! Also, ich meine… du weißt schon, was ich meine!«, drängelte er. Seine Mutter schien erleichtert, griff kommentarlos nach dem Autoschlüssel auf der Kommode und rief Nathalie zu, dass sie kurz wegfuhr. »Wie war Politik?«, fragte sie, als sie im Auto saßen und in Richtung Krankenhaus brausten. »War ok«, sagte er, »ich war so aufgeregt, dass ich erst die Hälfte vergessen hab.« Seine Mutter lächelte leicht. »Jetzt hast du es hinter dir«, sagte sie stolz. Elias lachte. »Ja, das ist irgendwie noch nicht so zu mir durchgedrungen«, gab er zu. Immerhin wurde sein bester Freund gerade Vater! Seine Mutter hielt vor dem Krankenhaus und winkte ihnen nach. Elias wählte unterdessen Markus’ Nummer. »Hey Alter, wo bist du?«, wollte er wissen, während er in der Eingangshalle des Krankenhauses stand. Eine dicke Krankenschwester warf ihm angesichts des Handys einen bösen Blick zu. Elias winkte ihr lächelnd zu. »Weiß nicht«, sagte Markus matt. Elias verkniff sich ein Lachen. »Na gut, dann fragen wir an der Anmeldung. Bis gleich!« Er schaltete sein Handy aus, stopfte es in seine Hosentasche und hastete mit Anton hinüber zur Anmeldung, wo er erfragte, in welchem Kreissaal Nuri lag. »Ist das überhaupt ok, dass ich auch da bin?«, fragte Anton vorsichtig, als sie zwei Treppen hinaufstiegen und einen sterilen Gang entlang gingen. »Wieso nicht? Er kann jeden seelischen Beistand gebrauchen«, sagte Elias schmunzelnd. Er entdeckte Markus, Dominik und Christine auf einigen blassgrünen Stühlen im Flur. Christine tätschelte Markus den Rücken. Sein bester Freund sah sehr grün im Gesicht aus, genauso wie der Stuhl, auf dem er saß. »Hey!«, sagte Elias, ließ sich den Stühlen gegenüber auf den Boden fallen und Anton setzte sich neben ihn. Markus warf ihm einen kläglichen Blick zu. »Solltest du nicht eigentlich da drin sein?«, fragte Elias und ruckte mit dem Kopf in Richtung Tür, hinter der gedämpfte Schreie zu hören waren. »Er war drin«, sagte Dominik und warf Markus einen Seitenblick zu, der ziemlich amüsiert aussah, »aber Nuri hat ihn rausgeschmissen, weil er fast umgekippt wäre.« Elias biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. »Mann, du willst Arzt werden!«, sagte er und kramte nach den Kurzen, wovon er Dominik, Christine und Markus je einen reichte. Markus hob die Schultern. Offenbar traute er sich nicht den Mund aufzumachen, aus Angst, er müsste sich übergeben. »Scheint beim eigenen Kind was anderes zu sein«, meinte Christine trocken, öffnete ihren Kurzen und prostete den drei Jungs zu. Anton beobachtete Elias aus dem Augenwinkel. »Auf Lea und das fertige Abi und die bald frisch gebackenen Eltern«, sagte Dominik grinsend und sie leerten ihren Kurzen in einem Zug. Eine Weile lang schwiegen sie, während die Geräusche aus dem Kreissaal zu ihnen nach draußen drangen. »Ich muss nachher noch meine Note abholen«, sagte Elias, »um vier kriegen wir die, glaub ich.« »Wie war es?«, wollte Christine wissen. Elias erzählte ihnen das, was er seiner Mutter und Anton auch schon gesagt hatte. Später, wenn er die Note hatte, würde er Alex eine SMS schreiben, sonst wurde sie sicherlich noch ganz hysterisch. Dann konnte er ihr auch gleich von der neugeborenen Lea- Lekysha berichten. Anderthalb Stunden später öffnete sich die Tür des Kreissaals und eine Hebamme streckte den Kopf heraus. »Herr Kauz? Ihre Tochter ist da«, sagte sie lächelnd und Markus sprang auf und hastete in den Saal. Elias und die anderen blieben sitzen. »Ich denke mal, wir können wieder abziehen, was?«, meinte Dominik schmunzelnd. Elias nickte und erhob sich. »Wir können ja morgen oder übermorgen mal reinschauen«, entgegnete er und ging mit Anton, Christine und Dominik in Richtung Ausgang. Ihm wurde unweigerlich heiß, als er die beiden Händchen halten sah. Warum musste er sich in jeder Situation vorstellen, solche Dinge auch mit Anton zu tun? Das würde ihn noch wahnsinnig machen. Elias hatte sich auf dem Weg zurück zur Schule – dieses Mal zu Fuß – ein Kaugummi in den Mund geschoben, nur um sicher zu gehen, dass er nicht nach Alkohol roch, wenn er mit Anton sprach, der ja bekanntlich wenig Begeisterung angesichts dieses Themas zeigte. »Ich hab mein Abi hinter mir«, sagte er gut gelaunt, »mein bester Kumpel ist Vater geworden. Wir haben schönes Wetter!« Elias grinste zufrieden. In seiner Aufzählung fehlte »Und du bist da.«, aber er war sich ziemlich sicher, dass Anton auf so eine Offenbarung vielleicht etwas geschockt reagieren würde. Er schrieb Alex eine SMS und berichtete ihr, wie die Politikprüfung gelaufen und dass Markus jetzt offiziell Vater war. Soweit er von Alex gehört hatte, war ihre Matheklausur sehr gut gelaufen, die Bio- Prüfung hingegen katastrophal. Was auch immer katastrophal bei Alex heißen mochte. Sie hatte ihre mündliche Prüfung morgen noch vor sich, dann kam sie nach Hause, bis zu ihrem Abschlussball. »Willst du wirklich noch mitkommen die Note abholen?«, erkundigte sich Elias. Anton nickte. »Je nachdem, wie schlecht es war, schimpf ich mit dir«, sagte Anton scheinheilig. Elias schnaubte. »Warte nur bis du nächstes Jahr Abi machst und da vor so vielen Leuten sitzt!« Anton schmunzelte. »Ich habe Philosophie mündlich. Es ist eigentlich egal, was ich erzähle, solang es nur möglichst schwülstig klingt«, meinte er schulternzuckend. Elias lachte und klopfte ihm auf die Schulter, was in seinem Brustkorb peinlicherweise beinahe zu einem Herzinfarkt führte. Wie es sich herausstellte, war die Politikprüfung besser gelaufen, als alles, was Elias bisher in Politik abgeliefert hatte. »10 Punkte?«, fragte er ungläubig und starrte auf den Zettel, den er bekommen hatte. Er stand neben Anton in einem Pulk Schüler, die alle auf ihren Zettel mit der Note warteten und ziemlich hysterisch waren. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Anton lächelnd. Elias starrte noch einen Moment lang auf die Note, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und er zog Anton in eine gut gelaunte Umarmung, sodass sein Herz ihm erneut beinahe die Rippen brach. »Danke für die ganze Nachhilfe- Sache!«, sagte er und wedelte mit dem Papier herum. Anton war leicht rot angelaufen. »Kein Problem«, sagte er nuschelnd. »Ach übrigens«, sagte Elias, als sie zwischen den Wohnungstüren standen, jeder mit einem Schlüssel in der Hand, »ich wollte dich noch was fragen…« Sein Herz klopfte ziemlich schnell. Was würde Anton dazu sagen? Aber es war ihm auf der Beerdigung eingefallen und Anton hatte bisher so viel geschafft… und Elias wollte gern glauben, dass es nur noch besser werden konnte. »Was denn?«, fragte Anton erstaunt angesichts von Elias’ verlegener Miene. »Würdest du… würdest du dich vor einen Spiegel stellen? Mit mir…?«, murmelte er peinlich berührt und spürte, wie ihm wieder einmal Hitze ins Gesicht stieg. Anton schwieg und starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben an. »Wie kommst du darauf…?«, fragte er unsicher. Elias schaffte ein Lächeln. »Ich dachte… jetzt, wo es mit dir und deiner Ma wieder bergauf geht und du Fenja zurück hast und alles wieder ein bisschen besser geworden ist… irgendwie hab ich das Gefühl, dass das noch fehlt«, sagte er umständlich. Er hatte keine Ahnung, wie er es besser erklären konnte. Aber er hatte das Gefühl, dass Antons Leben nicht vollauf normal werden konnte, wenn er sich nicht seinem eigenen Spiegelbild stellen konnte. »Ich weiß nicht… ob ich das kann«, sagte Anton und fuhr sich durch die Haare, »das letzte Mal, als ich in den Spiegel gesehen habe, hab ich das halbe Bad zerlegt. Seitdem hab ich mein Spiegelbild nicht mehr gesehen.« Elias seufzte leise. Dann straffte er ein wenig die Schultern. »Du siehst anders aus als er, wirklich. Ich meine, natürlich seht ihr euch ähnlich, aber ich hab auf dem Foto gleich gesehen, welcher von euch beiden du warst! Vielleicht musst du nur mal richtig hinschauen, ich erklär dir auch gern ganz genau, wo was anders… was ist denn?« Anton lächelte. Er lächelte auf eine absolut merkwürdige, Puls in die Höhe treibende Art und Weise, die ihm beinahe den Boden unter den Füßen wegzog. Und dann, ganz plötzlich, machte er einen Schritt nach vorne, beugte sich vor und drückte Elias einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Sein Herz explodierte wie eine Tonne Feuerwerkskörper, die Welt kippte aus den Angeln und das Kribbeln in seinem Magen breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Er konnte gar nicht so schnell gucken, wie Anton sich umwandte, mit zittrigen Fingern die Tür aufschloss und verschwand. Die Tür ging zu und Elias blieb ihm Treppenhaus stehen, mit Knien wie Pudding und einem Gehirn, das sich anfühlte, als wäre es gelähmt. Hatte er das gerade geträumt? Hatte Anton ihm gerade einen Kuss auf den Mund gedrückt? Hatte der eine kleine Schnaps ihn so betrunken gemacht, dass er jetzt schon fantasierte? Und seit wann kippte seine Welt aus den Angeln, wenn er von jemandem geküsst wurde? Das war noch nie da gewesen. Aber er war ja auch verliebt. Wenn er früher gewusst hätte, dass sich so ein kleiner Kuss so anfühlen konnte, dann hätte er nie im Leben jemanden geküsst, in den er nicht verliebt gewesen war. Er konnte jetzt für den Rest seines Lebens in diesem Treppenhaus stehen bleiben und sich fragen, ob er durchgedreht war. Er konnte auch in sein Zimmer gehen, sich dort aufs Bett werfen und sofort bei Alex anrufen. Und er konnte bei Anton klopfen und endlich das tun, was er schon seit einer gefühlten Ewigkeit tun wollte. Wie in Zeitlupe drehte er sich zu Antons Tür um, machte zwei wackelige Schritte darauf zu und hob mit hämmerndem Herzen die Hand, um zu klopfen. Es dauert ziemlich lang, bis die Tür geöffnet wurde. Dann stand Anton vor ihm, mit hochrotem Kopf. »Tut mir Leid! Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich-« Weiter kam er nicht. Elias machte einen Schritt vorwärts, streckte die Arme aus und zog Anton in eine feste Umarmung, beugte sich leicht nach unten und küsste seinen Nachbarn so heftig auf den Mund, als wäre er seit Monaten auf Entzug gewesen. Vielleicht traf das ja auch irgendwie zu… Er spürte, wie sein Herz aufseufzte und dann noch einen Schlag zulegte. Alles in ihm kribbelte und seine Lippen brannten unter der Berührung mit Antons Mund. Seine Lippen waren weich und nachgiebig und was das allerbeste an ihnen war: sie küssten ihn ebenfalls. Elias revidierte alles, was er bisher über das Verliebtsein gedacht oder gesagt hatte. Es war eindeutig das Beste, was er je gefühlt hatte. Ihm wurde schrecklich heiß und seine Knie drohten ohnehin schon die ganze Zeit damit, einzuknicken. Er tastete mit dem Fuß nach der Tür, schob sie zu und lehnte Anton gegen die Wand, ohne seine Lippen von denen seines Nachbarn zu lösen. Er würde nie wieder aufhören, Anton zu küssen. Elias hatte das Gefühl, er sollte sich zurückhalten, aber es ging nicht. Seine Zunge strich über Antons Lippen und er war sich sicher, dass er noch nie jemanden geküsst hatte, der besser schmeckte. Alles in ihm vibrierte. Er drückte sich etwas näher an Anton, er hatte den Eindruck, er könnte gar nicht eng genug an dem Kleineren sein und Anton zog ihn noch näher, strich mit zittrigen Fingern über Elias’ Rücken und krallte seine Finger schließlich in Elias’ Shirt. Elias hatte keine Ahnung, wie lange sie in Antons Flur standen und sich so verlangend küssten, als würde morgen die Welt untergehen. Einmal meinte Elias irgendwo eine Tür gehen zu hören, aber er schob den Gedanken beiseite. Irgendwann schließlich, nach einer herrlichen, durchküssten Ewigkeit, lösten sie sich voneinander und Elias blickte in die glasigen, fast schwarzen Augen und das gerötete Gesicht seines Nachbarn. Er wollte irgendetwas Geistreiches sagen, aber seine Zunge war gelähmt, genauso wie sein Gehirn mitsamt Sprachzentrum. In seinem Kopf gab es genau zwei Worte: Anton und Küssen. »Wir könnten… sollten… also… mein Zimmer ist da hinten«, krächzte Anton, als wäre Elias noch nie bei ihm in der Wohnung gewesen und Elias musste lachen. Scheinbar war Anton genauso durch den Wind geknutscht wie er selbst. »Hmhm«, nuschelte er leise und vergrub seine Nase an Antons Hals. Wie konnte ein Mensch so gut riechen? Und überhaupt, wieso hatten sie das nicht schon viel früher gemacht? Widerwillig löste er sich ein wenig von Anton und schob ihn hinüber zu seinem Zimmer, wo er die Tür schloss und Anton sofort wieder in die Arme schloss. Nase an Nase standen sie da und starrten sich schweigend an, als könnten sie beide das Wunder nicht ganz begreifen, was da eben geschehen war. »Soll ich dir was verraten?«, murmelte Elias und er konnte sich nicht beherrschen, er musste einfach viele kleine Küssen auf Antons blasse Haut drücken. Sein Nachbar erschauderte merklich, während Elias seine Lippen auf seine Wange, die Stirn auf in die Mundwinkel tupfte. »Wa…was denn?«, stammelte Anton heiser. »Ich denke seit ungefähr drei Monaten daran, wie es wäre, dich zu küssen…« Als er Anton wieder ansah, merkte er, dass er dunkelrot angelaufen war. »Wirklich«, nuschelte er kaum hörbar. Elias lächelte. »Wirklich«, gab er zurück. Zu seiner Überraschung schnaubte Anton. »Das ist nichts«, sagte er und brachte ebenfalls ein Lächeln zustande. »Ach nein?«, erwiderte Elias erstaunt. Er hob eine Hand und fuhr damit sachte durch Antons schwarze, glänzende Haare. Sie fühlten sich genauso seidig an, wie er es sich vorgestellt hatte. Noch besser eigentlich. »Ich denke schon sehr viel länger daran… so lange, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wann es eigentlich angefangen hat«, sagte Anton mit belegter Stimme und wandte den Kopf zur Seite. Elias war perplex, aber eigentlich war es ja egal, seit wann sie daran dachten. Wichtig war, dass sie es sich jetzt nicht mehr nur vorstellen mussten. »Wir könnten noch mal nachprüfen, wie genau es jetzt eigentlich ist, den anderen zu küssen«, sagte er gespielt nachdenklich. Anton lachte leicht zittrig. »Gute Idee«, flüsterte er. Kapitel 34: Der letzte Dämon ---------------------------- Und schon wieder ein neues Kapitel von mir. Die Woche war tatsächlich sehr produktiv. Weil man es nicht oft genug sagen kann, bedanke ich mich an dieser Stelle noch mal für 533 Kommentare und 134 Favoriten. Das Kapitel ist für alle, die schon einmal einen Dämon besiegt haben :) Viel Spaß beim Lesen, eure ________________________ »Du stellst dir das so einfach vor«, klagte Anton und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist ja auch einfach. Bei mir war es auch einfach«, erwiderte Elias beschwichtigend. Anton verzog das Gesicht. »Das kannst du jawohl schlecht vergleichen«, schmollte er. Elias musste lachen. »Aber wieso sollte sie dir denn den Kopf abreißen? Daran ist überhaupt nichts merkwürdig. Du gehst einfach hin und sagst es ihr wie es ist. Ich komm auch gern mit«, versicherte er Anton. Anton sah ihn einen Moment schweigend an. »Küss mich«, brummte er dann. Elias stutzte, dann lachte er leise und sein Herz hüpfte aufgeregt und zufrieden in seiner Brust. Er beugte sich vor und legte seine Lippen auf Antons, der die Arme um ihn schlang und in den Kuss seufzte. Sie waren ein wenig wie Drogenabhängige, was wohl im Zuge von Antons Vergangenheit ein wenig makaber klang. Aber sie konnten die Lippen nur schwerlich voneinander lassen. Nachdem sie sich ausgiebig – ungefähr eine halbe Stunde lang – geküsst hatten, löste sich Elias von Anton, um ihn daran zu erinnern, dass es da noch etwas Wichtiges zu klären gab. »Deine Mutter ist die letzte auf der Liste«, sagte er. Anton seufzte. Er tat sich schwer damit, zu seiner Mutter zu gehen und ihr zu sagen, dass er seit ungefähr einer Woche mit seinem Nachbarn zusammen war. So richtig. Als Pärchen. Elias’ Mutter und seine Schwestern hatten sich für ihn gefreut. Sein Vater war vollkommen verwirrt gewesen, dann hatte er gescherzt, dass Elias vermutlich wirklich nicht sein Sohn war, was Elias ihm aber nicht übel genommen hatte. Markus und Dominik hatten ihm grinsend gratuliert. Markus sagte zur Zeit ohnehin zu allem Ja und Amen, er sprudelte regelrecht über vor Liebe für die ganze Welt und alles, was es an außerirdischem Leben geben mochte. Die kleine Lea war wirklich sehr niedlich und Elias hatte sich sogar getraut, sie einmal auf den Arm zu nehmen. »Gott sei Dank sieht sie aus wie ihre Mutter«, hatte er breit grinsend gescherzt, nachdem er Nuri die Kleine wieder zurück gegeben hatte. Dafür hatte er von Markus einen Schlag gegen den Hinterkopf bekommen. Alex war selbstverständlich vollkommen hysterisch geworden und hatte ihn etwa zwei Minuten lang vollgequietscht, weil sie sich so für ihn und Anton freute und weil sie sie ja ‚so unglaublich niedlich’ fand. Dann hatte sie darauf bestanden, alle Einzelheiten zu erfahren, mitsamt der genauen Beschreibung darüber, wie Elias sich beim Knutschen mit Anton fühlte und ob er sich auch mehr mit ihm vorstellen konnte. Fenja hatte weniger hysterischer, aber ebenso erfreut reagiert, als Anton es ihr erzählt hatte. Wie sich herausgestellt hatte, hatte Fenja es schon die ganze Zeit gewusst und Elias war sich ziemlich sicher, dass diese ganze Tanzsache Absicht von ihr und Alex gewesen war. »Du schuldest ihr die Wahrheit. Immerhin ist sie deine Ma«, sagte Elias streng. Und Anton gab schließlich nach. »Also gut, ich mache es kurz und schmerzlos. Ich stell dich einfach… als meinen… du weißt schon… vor«, sagte er und wurde gegen Ende immer leiser und röter im Gesicht. Elias grinste und wuschelte ihm durch die Haare. Das war etwas, das er aus vollem Herzen genoss. Er mochte Antons weiche Haare unglaublich gern und endlich durfte er sie so oft anfassen, wie er wollte. Ganz zu schweigen von den Küssen und den Umarmungen… er fühlte sich, als würde er vor lauter Glück bald platzen. Am Abend schien Anton endlich seinen inneren Feigling überwunden zu haben, denn er stand von seinem Bett auf und atmete einmal tief durch. »Also gut. Lass uns zu ihr in die Küche gehen«, sagte er und sah ziemlich blass aus. Elias lächelte, nahm Antons Hand und folgte ihm in Richtung Küche. Vor der Tür zögerte er noch einmal, doch dann öffnete er sie und trat mit Elias an der Hand ein. Erika saß am Küchentisch und las Zeitung. Sie hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und sah wieder einmal wie eine vollkommen normale Mutter aus. Ihre Augen lösten sich von der Zeitung, als sie die Tür gehen hörte und sah ihnen entgegen. Elias registrierte, wie ihre Augen hinunter zu ihren verschränkten Fingern huschten und er meinte ein kaum merkliches Lächeln um ihren Mund spielen zu sehen. »Ma, ich wollte dir sagen… also, es ist folgendermaßen… Er und ich… also, Elias und ich… wir sind sozusagen…«, er brach ab und sah kläglich zu Elias hinüber. Der musste sich ein Grinsen verkneifen. Erikas Augenbrauen waren in die Höhe gewandert. »Was er sagen wollte, ist, dass wir zusammen sind«, erklärte er ihr freundlich. Sie schwieg einen Moment und ließ die Zeitung sinken. Dann lehnte sie sich auf dem Küchenstuhl zurück und musterte ihren Sohn nachdenklich. »Ich hab euch im Flur gesehen, letzte Woche«, sagte sie dann unvermittelt und Elias stutzte, ehe er sich daran erinnerte, dass er geglaubt hatte, eine Tür gehört zu haben. Antons Gesicht sah vollkommen fassungslos aus. Er lief wieder einmal knallrot an. Elias bekam beinahe zu viel und hatte schon wieder das deutliche Gefühl, er müsste sich auf Anton stürzen. »Oh…«, war alles, was Anton dazu matt entgegnen konnte. »Ich hab nur drauf gewartet, bis du es mir endlich sagst«, fuhr Erika fort und erhob sich ein wenig zögerlich. Anton sah sie unsicher an. Dann breitete sie zögerlich die Arme aus und Anton löste sich von Elias, um zu ihr hinüber zu gehen. Die unbeholfene Art und Weise, wie sie sich umarmten, ließ Elias wissen, dass sie sich wohl seit Jahren nicht mehr in den Armen gehabt hatten. Er sah diskret weg, als er Tränen in Erikas Augen glitzern sah. »Es stört dich nicht?«, murmelte Anton. »Wieso sollte es? Ich bin froh, dass ich dich habe und dass du wieder lächeln kannst«, sagte sie erstickt und Elias lächelte kaum merklich, ehe er leise die Küche verließ, um in Antons Zimmer auf seinen Freund – jedes Mal, wenn er das dachte, wurde ihm ganz kribbelig zumute – zu warten. Anton kam eine Viertelstunde später zu ihm und sah aus, als wäre er ziemlich durch den Wind. »Lebt dein Efeu eigentlich noch?«, fragte er völlig aus dem Zusammenhang gerissen, als er sich neben Elias aufs Sofa sinken ließ. »Ja. Aber nur, weil Mama ihn ab und an gießt«, sagte er grinsend und zog Anton in seine Arme. Anton lächelte leicht. »Wir könnten ihn einpflanzen. Unten vorm Haus, zu dem anderen Efeu. Dann musst du ihn nicht mehr gießen«, meinte er. Elias lachte. »Gute Idee. Draußen fühlt er sich garantiert wohler als in meinem Saustall.« Einen Moment lang sagte er nichts. »Ich wusste doch, dass alles gut geht«, meinte er dann leise. Anton hob den Blick und sah ihn einen Augenblick lang an. »Ich hab so langsam das Gefühl, dass ich mit dir einfach alles schaffen kann«, antwortete er offen und Elias spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Es herrschte erneut ein kurzes Schweigen, dann… »Weißt du noch, was du gesagt hast? Mit dem Spiegel? Ich glaub, ich will’s versuchen. Mit dir zusammen hab ich bisher alles hinbekommen. Ich weiß zwar nicht genau wie, aber du hast wirklich alles wieder in Ordnung gebracht…«, flüsterte er und schmiegte sich in Elias’ Arme. Seine Kehle war ziemlich trocken geworden und er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte das alles eher unbewusst getan, aber ihm war klar, dass er einen deutlichen Anteil an Antons wieder gefundenem Glück hatte. »Hab ich gern gemacht«, nuschelte er schließlich. Dann drückte er Anton etwas fester an sich und genoss das Gefühl der Nähe. Sie pflanzten den Efeu am nächsten Vormittag vorm Haus ein. Elias kramte aus dem Keller eine Schaufel und Gartenhandschuhe hervor und buddelte ein Loch, während Anton den Efeu umsichtig aus dem kleinen Terrakottatopf nahm. Dann setzte er die Pflanze, die seit Weihnachten doch um Einiges gewachsen war, in das neu entstandene Loch und Elias machte sich daran das Loch mit seinen behandschuhten Händen wieder zuzuschütten. »Jetzt kann er mit den anderen die Wand hochklettern«, sagte Elias zufrieden, als sie fertig waren. Anton schmunzelte leicht, dann streckte er sich und sie gingen gemeinsam in den Keller, um die Schaufel und die Handschuhe zurück zu legen. Dann wuschen sie bei Elias im Bad ihre Hände und Elias beobachtete Anton aus dem Augenwinkel, der es – vermutlich schon automatisch – vermied, in den Spiegel über dem Waschbecken zu sehen. Er zögerte einen Moment, dann ging er die Badezimmertür abschließen und stellte sich hinter Anton, der sich gerade die Hände abtrocknete. »Lass uns zusammen reinschauen, ja?«, fragte er leise in Antons Ohr, der merklich erschauderte und einen Augenblick lang mit gesenktem Kopf stehen blieb. Dann richtete er sich ganz langsam auf und Elias legte von hinten seine Arme um Antons Bauch. Die Augen seines Freundes waren geschlossen, als Elias sein Gesicht im Spiegel ansah. Er drückte ihn fest an sich und dann, als würde er versuchen es so lang wie möglich heraus zu zögern, öffnete Anton seine fast schwarzen Augen. Blass und nervös starrte er erst Elias’ Gesicht im Spiegel an, das neben Antons schwebte. Und dann blickte er in sein eigenes Gesicht. Elias spürte, wie er leicht zitterte, aber er wandte den Blick nicht ab. »Schau, du hast hier diesen kleinen Leberfleck«, sagte Elias leise und fuhr mit dem Finger über den besagten Fleck über Antons linker Augenbraue, »den hat er nicht.« Anton schluckte. »Und den Wirbel oben am Scheitel«, fuhr er fort und strich Anton sachte durch die Haare, »den hat er auch nicht. Und deine Nase…« Elias stupste Antons Nase an, was Antons Mundwinkel zum Zucken brachte. »Deine Nase ist ein bisschen schmaler und spitzer. Und abgesehen davon sitzt dir nicht der Schalk in den Augen. Und du… bist einfach ganz anders.« Antons Augen wandten sich im Spiegel Elias zu und musterten ihn. »Deine Beobachtungsgabe ist gruselig«, sagte er mit leicht brüchiger Stimme. Elias grinste ihn breit an und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Nicht gut genug. Immerhin hab ich monatelang nicht gecheckt, dass du mich auch nicht ganz übel findest«, sagte er gut gelaunt. Anton hatte in den Spiegel gesehen und er war nicht ausgerastet oder am Boden zerstört. Anton drehte sich weg vom Spiegel und Elias sah, dass er merklich erleichtert wirkte. Sie standen nun direkt voreinander und Anton stupste Elias’ Nase mit seiner eigenen an. »Wenigstens haben wir es überhaupt gemerkt«, murmelte er und lehnte sich an Elias, platzierte den Kopf auf seiner Schulter und seufzte leise. »Wir üben das mit dem Spiegel noch«, versprach Elias lächelnd. Anton lachte leise gegen seinen Hals. »Wenn ich dich nicht hätte, wäre mein Leben immer noch scheiße«, nuschelte er kaum hörbar. »Umso besser, dass du mich hast. Und ich dich. Und wir uns und so«, sagte Elias bestens gelaunt und küsste Anton als Belohnung dafür, dass er sich getraut hatte, auch noch dem letzten Dämon seiner Vergangenheit ins Gesicht zu sehen. Kapitel 35: Efeu ---------------- Willkommen zum letzten Kapitel von Efeu! Ich bin ganz stolz, dass ich es bis hier hin geschafft habe. Immerhin habe ich die Geschichte am 26.06.2009 angefangen und hier online gestellt. Hat fast ein Jahr gedauert, bis sie nun endlich fertig ist. Danke noch mal an alle, die bis hierher gelesen, favorisiert und kommentiert haben! Ich hoffe, dass euch auch das Ende gefällt und vielleicht lesen wir uns ja bei einer meiner anderen oder einer geplanten Geschichte wieder. Wer wissen möchte, wann es Neues von mir gibt, der kann einfach ab und an in meinem Weblog vorbeischauen, da poste ich immer, wenn es etwas Neues gibt :) Viel Spaß beim Lesen! ______________________________ »Willst du wirklich keine Krawatte umbinden?«, fragte Elias’ Mutter und betrachtete ihren Sohn skeptisch, der in einer schwarzen Jeans und einem blauen, kurzärmligen Hemd vor ihr stand. Elias grinste. »Ich hasse es, wenn es um den Hals so eng ist«, gab er zurück und warf einen Blick in den Spiegel im Flur, um zu sehen, ob seine Haare in Ordnung waren. Seine Mutter lächelte, schüttelte seufzend den Kopf und umarmte ihn. Elias schnappte sich seinen Rucksack und winkte seiner Mutter, ehe er hinüber zu Antons Wohnung ging und klopfte. Fenja öffnete ihm. Sie trug eine schwarze Bundfaltenhose und ein knallgrünes Oberteil mit V- Ausschnitt und Trompetenärmeln. Ihr Gesichtsausdruck wirkte ein wenig kläglich. »Ich sehe aus wie ein Mädchen«, zischte sie ihm zu, als wäre dies das schlimmste, was ihr je passiert war. Elias grinste breit. »Sei froh, dass du kein Kleid tragen musst«, beschwichtigte er sie und sie lachte, dann schloss Fenja die Tür hinter ihm und ging ihm voran in Antons Zimmer. Augenblicklich kam Luke zu ihm und schnurrte ihn auffordernd an. Elias bückte sich, um den Kater kurz zu kraulen, dann blickte er auf. Elias legte den Kopf schief, als er Anton vor einem Spiegel stehen sah, der seit neustem in seinem Zimmer hing. Er trug ein weißes Hemd und genau wie Fenja eine schwarze Bundfaltenhose. »Ich komme mir underdressed vor«, sagte Elias und verbarg so gut wie möglich, dass er Anton in diesem Aufzug ziemlich umwerfend fand. Anton wandte sich unsicher zu ihm um und hielt eine Krawatte in der Hand. »Meinst du, ich soll die umbinden?«, fragte er unsicher und strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Elias grinste und zeigte auf seinen Kragen. »Ich trag auch keine. Wir sind nur Gäste und können uns ganz schrecklich daneben benehmen«, meinte er amüsiert. Anton schmunzelte und Fenja schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das würde Alex dir nie verzeihen«, sagte sie. Da mochte Fenja Recht haben. Immerhin hatte sie Elias auf den Ball eingeladen, um – nach ihren Worten – mit ihm anzugeben. Sie hatte vielen Mädchen eine Menge von ihrem besten Freund erzählt und freute sich schon unglaublich darauf, ihn endlich vorzeigen zu können. »Ich sehe sie schon vor mir… als komplettes Nervenbündel«, meinte er amüsiert und sah zu, wie Anton und Fenja ihre Rucksäcke nahmen und dann ging Anton in den Flur, um seiner Mutter Bescheid zu sagen. Erika hatte ihnen angeboten, sie alle zum Bahnhof zu fahren, damit sie zu Alex’ Abschlussball fahren konnten. Erika musterte sie alle lächelnd, dann schnappte sie sich den Autoschlüssel vom Haken neben der Tür und ging ihnen voran die Treppen hinunter zu dem chicen Audi, in dem Elias Anton damals hatte ankommen sehen. »Wie kommt es übrigens, dass Gäste im Internat übernachten dürfen? Sind die da nicht normalerweise so streng?«, erkundigte sich Fenja bei Elias, während sie beide auf dem Rücksitz saßen. Anton hatte vorne neben seiner Mutter Platz genommen. »Es kommen so viele Leute von außerhalb, dass sie wohl einfach gnädig sein mussten. Es wurden einige der leeren Zimmer fertig gemacht. Natürlich müssen Mädchen und Jungs getrennt schlafen«, sagte er amüsiert. Fenja lachte. »Wenn die wüssten«, sagte sie spitzbübisch und Elias sah aus dem Augenwinkel, wie Anton auf dem Beifahrersitz rot anlief. Draußen war es warm und ziemlich schwül. Der Himmel war azurblau mit einigen vereinzelten Wolken und es war endlich Sommer, Elias’ liebste Jahreszeit. Die letzten Wochen hatte er in einem rosaroten Pärchenhimmel verbracht, den er sich so nie vorgestellt und den er noch nie so erlebt hatte. Im Rückspiegel sah er ein amüsiertes Schmunzeln um Erikas Mund spielen. Er räusperte sich verhalten und blickte aus dem Fenster, wo die Innenstadt an ihnen vorbei flog. Sie fuhren fast drei Stunden mit dem Zug und Elias konnte es nicht lassen, ab und an am Bahnhof, wenn sie umstiegen, nach Antons Hand zu greifen, was ihnen viele Blicke von Vorbeigehenden einbrachte. Anton schien das alles sehr nervös zu machen, doch er freute sich offensichtlich darüber, dass Elias ihn in der Öffentlichkeit als seinen Freund präsentierte. Fenja ging dann grinsend neben ihnen her, ab und an an ihrem Trompetenärmel zupfend, als könnte sie nicht glauben, dass sie dieses Oberteil wirklich trug. Als sie schließlich am Bahnhof in Alex’ Internatsstadt ankamen, wartete Alex bereits vollkommen nervös und aufgelöst auf dem Gleis. Wie immer sprang sie Elias an und begrüßte auch Fenja und Anton mit einer überschwänglichen Umarmung. »Du hast hoffentlich ein Foto von der kleinen Lea- Lekyasha dabei! Und du wirst es nicht glauben, aber fast wäre die ganze Tischordnung durcheinander geraten, aber jetzt können wir doch alle zusammen an einem Tisch sitzen und ich hoffe wirklich, dass der DJ anständige Musik spielt. Ich hatte ja fast schon befürchtet, dass Elina und Karin was vorsingen wollen und das wäre wirklich peinlich geworden, die können nämlich kaum einen Ton halten…« Elias grinste breit und ging neben Alex her, während Fenja und Anton – ebenfalls grinsend – folgten. Alex’ Redeschwalle waren doch immer wieder erfrischend. »Drehen deine Eltern durch, wenn sie sehen, dass Anton und ich Händchen halten?«, erkundigte sich Elias, während sie eine von Fachwerkhäusern gesäumte Straße entlang gingen. »Wahrscheinlich schon, immerhin bist du für sie immer noch der perfekte Schwiegersohn. Aber stört euch nicht daran, sie sollten langsam mal das echte Leben kennen lernen«, sagte Alex und wedelte mit der Hand herum. Elias gluckste heiter und warf Anton einen Blick über die Schulter zu. Anton lächelte zurück und Elias verkniff sich den Impuls, seinen Freund auf offener Straße abzuknutschen. Sie erreichten das Internatsgelände nach einer Viertelstunde Fußweg. Es war ein schönes, altes Gemäuer mit einem Springbrunnen auf dem Vorplatz und einem hübschen, weißen Kiesweg. »Es ist schlimmer als ein Knast! Sag bloß nicht, dass es schön ist!«, sagte Alex mahnend und Elias lachte. Manchmal konnte Alex seine Gedanken lesen. Tatsächlich begegneten sie auf dem Weg in Alex’ Zimmer einigen Nonnen, die durch die Gänge streiften und nicht aussahen, als wären sie schon in Feierlaune. Schließlich machte Alex in einem hellen Korridor mit vielen, hohen Fenstern Halt und stieß eine Tür auf. Ein kleiner Aufschrei am Fenster ertönte und Elias erblickte ein blondes Mädchen mit Locken, einer Hornbrille und Zahnlücke. »Musst du die Tür immer so aufreißen?«, quietschte Tamara und warf Alex einen vorwurfsvollen Blick zu, dann huschten ihre Augen über die drei Gäste und sie lief scharlachrot an. »Das ist mein bester Freund, Elias«, sagte Alex strahlend, ohne auf Tamaras Gemecker zu achten und schob Elias vor. Elias gab Tamara die Hand und grinste ihr zu, was sie offensichtlich vollkommen aus dem Konzept brachte. Sie stand vom Stuhl auf, auf dem sie bisher gesessen hatte und gab nun auch Fenja und Anton die Hand. »Das ist Anton, Elias’ fester Freund und seine beste Freundin Fenja«, erklärte Alex beiläufig und Tamara lief noch röter an, sodass Elias beinahe Angst hatte, ihr Kopf würde platzen. »Schwester Renate war vorhin hier«, sagte sie mir schriller Stimme, »die Einlaufprobe ist in einer Stunde!« Und sie rauschte aus dem Zimmer. Fenja sah ihr nach. »Sie ist süß«, sagte sie amüsiert. Alex sah Fenja fassungslos an. »Sie ist erzkatholisch und ziemlich… merkwürdig«, erwiderte sie. Fenja grinste. »Ich sag ja, sie ist süß«, wiederholte sie und fuhr sich durch die roten Haare. Elias erinnerte sich daran, dass Anton ihm erzählt hatte, Fenja sei bisexuell. »Hat jedes Mädchen einen Tanzpartner mitgebracht?«, erkundigte er sich bei Alex und ließ sich auf ihrem Bett nieder, während er sich in dem kleinen, aber hellen Raum umsah. Es gab zwei Betten, ein Trennregal und zwei kleine Schreibtische. In einer Ecke stand ein Kleiderschrank. Alex’ Seite des Zimmers war bepflastert mit Fotos, einer großen Collage aus allen möglichen Zeitungsschnipseln und einem Jackie Chan Filmposter. Über Tamaras Bett hing nichts, abgesehen von einem Holzkreuz und auf dem Nachtschrank stand ein Bild ihrer Eltern. Auch Anton und Fenja ließen sich nun auf Alex’ zerwühltem Bett nieder. »Nein. Nur wenige«, sagte Alex und grinste ziemlich stolz. »Und sieh mal, ich hätte zwei Kerle haben können, wenn Alex nicht übers Wochenende weg wäre«, sagte sie und streckte ihm die Zunge heraus, aber an ihrem Tonfall merkte Elias deutlich, dass sie traurig war, weil ihr Freund nicht hier sein konnte. »Also laufen nur die mit Partner ein, die einen haben und die anderen… laufen mit einem anderen Mädchen ein?«, fragte er. Alex nickte und warf sich neben sie aufs Bett. »Meine Eltern kommen erst eine halbe Stunde vor dem richtigen Einlauf. Lasst euch nicht von ihnen stören«, sagte sie an Fenja und Anton gewandt. Fenja schmunzelte. »So schlimm können sie nicht sein«, meinte sie, doch Alex schnaubte nur. Elias musste sich ein Lachen verkneifen. »Du hast ja keine Ahnung. Die erste Frage – gleich nachdem sie eure Namen erfahren haben – wird sein, ob ihr katholisch getauft seid. Sagt am besten Ja, sonst versuchen sie am Ende noch, euch zu missionieren«, meinte Alex ungnädig und streckte die Beine vor sich in die Luft. Elias konnte das nur bestätigen. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen war der Himmel immer noch hellblau. Es war wunderbares Wetter für einen Abschlussball. »Was willst du eigentlich jetzt nach dem Abi machen?«, erkundigte sich Anton bei Alex, die ihre Füße betrachtete und den Kopf hin und her wiegte. »Eigentlich würde ich gern ein FSJ machen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich wirklich Mathe studieren will. Aber wenn ich mich dafür entscheide, dann bewerbe ich mich bei euch an der Uni«, sagte sie lächelnd. Elias grinste breit. »Aber dann bist du ja wieder so nah an deinen Eltern dran«, sagte er amüsiert. Sie schnaubte. »Das ist mir doch egal. Ich ziehe dann mit dir in eine WG und berichte ihnen nur ab und an von meinem ausschweifenden Studentenleben«, sagte sie grinsend. Elias lachte. »Wie schön. Dann landen wir alle in derselben Stadt«, sagte Fenja beiläufig. Anton blinzelte und wandte ihr den Blick zu. »Wie jetzt…?«, sagte er vollkommen verdattert. Fenja grinste ihn breit an und sah mehr als zuvor aus wie Pippi Langstrumpf. »Ich bewerbe mich bei euch für Agrarwissenschaften«, sagte sie. Elias war sich sicher, dass sie diese Neuigkeit extra aufgespart hatte. Anton öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und brachte nur ein undefinierbares Geräusch heraus. Elias hatte schon wieder das dringende Bedürfnis, seinen Freund in Grund und Boden zu knutschen. »Aber was ist mit Ben…?«, fragte er vollkommen perplex. Den hatte Elias schon vollkommen verdrängt… »Der geht ein Jahr nach Indien und wird mich schon nicht allzu sehr vermissen. Und danach fängt er seine Ausbildung an, denke ich. Er kann sich noch nicht so ganz entscheiden. Entweder beim Tierarzt oder irgendwas Soziales«, sagte Fenja leichthin und winkte ab. Elias stellte sich vor, wie es wäre, wenn Anton seine Fenja immer in der Nähe hatte. Es konnte also immer noch besser werden, dachte er sich zufrieden. »Dann können wir ja alle zusammen in unserem Haus wohnen. Ich glaube, Herr und Frau Kramer siedeln gerade ins Altenheim um und da wird dann eine Wohnung unter uns frei«, sagte Elias lachend. Das Schweigen, das ihm antwortete, ließ ihn aufblicken. Er entdeckte ein begeistertes Funkeln in Alex’ Augen, ein ungläubig freudiges Glitzern in Antons fast schwarzen Iriden und ein schelmisches Schmunzeln auf Fenjas Gesicht. »Ähm…«, machte er unsicher. Alex quietschte. »Ja, ja, ja! Frag deine Ma nach der Nummer des Vermieters! Wie toll wäre das? Deine Eltern sind klasse, wir können deiner Ma Essen klauen und mit Nathalie Memory spielen und die Uni ist auch nicht weit weg und es sind genau vier Zimmer und stell dir mal vor, wie absolut cool das wäre!«, plapperte Alex sofort los und sie mussten alle lachen. Aber jetzt, wenn er darüber nachdachte, gefiel ihm der Gedanke doch ziemlich gut… Es lief mit Alex’ Eltern nicht allzu übel. Sie versuchten nicht, Anton und Fenja zu missionieren. Alex gab ihnen ohnehin kaum eine Gelegenheit zu Wort zu kommen. Sie plapperte so aufgeregt vor sich hin und strahlte immer wieder zu Elias hinüber. Und dann verschwand sie irgendwann einfach, um sich umzuziehen. Alle anderen Mädchen waren schon vorher auf ihre Zimmer gegangen, aber er wusste, dass Alex nichts Großartiges mit Schminke anfangen würde. Er stand gerade neben der Aulatür und plante mit Fenja und Anton die Zimmerverteilung – solche Pläne waren toll, sie machten unglaublich gute Laune, auch wenn es vielleicht nicht klappen würde – als Fenja einen leisen Pfiff durch die Zähne ausstieß. Elias wandte sich um. Da stand seine beste Freundin in einem marineblauen, knielangen Cocktailkleid, das sie im Nacken zusammen gebunden hatte. Ihre langen braunen Haare trug sie hochgesteckt und Elias fragte sich, wie sie das so schnell geschafft hatte. Wie er erwartet hatte, war sie ungeschminkt. Alles in allem sah sie umwerfend aus. »Wow«, sagte er grinsend und zog sie in eine Umarmung. Alex kicherte leise und Elias sah aus dem Augenwinkel, wie sie von mehreren vorbeigehenden Mädchen angestarrt wurden. »Die sind alle neidisch, weil sie nicht so einen schnieken Kerl bei sich haben«, sagte Alex kichernd. Elias stieß sie mit der Schulter an. »Die sind neidisch, weil du so umwerfend aussiehst«, gab er zurück. Alex kam nicht dazu, etwas zu antworten, denn eine herrische Stimme, die zu einer der Nonnen gehörte, beorderte alle Paare zum Einlauf in eine Reihe. Elias winkte Fenja und Anton zu, die grinsten und sich dann an den Tisch zu Alex’ Eltern verzogen. Es war schön, wieder einmal mit Alex zu tanzen. Nachdem jede der Abiturientinnen vorgestellt worden war, gingen sie vor die Bühne, um dort den Eröffnungstanz zu tanzen. Es war ein Wiener Walzer und Elias ließ es sich nicht nehmen, direkt vor Alex’ Eltern mit ihrer Tochter herum zu wirbeln. Die sahen ziemlich begeistert aus. »Sie überlegen gerade, wie gut ich im Hochzeitskleid neben dir aussehen würde«, flüsterte Alex und grinste ihn an. Die Blicke vieler Mädchen des Internats lagen auf ihnen, er sah nur sechs oder sieben andere Jungs. Die meisten hier schienen ihre Religion ernster zu nehmen als Alex und hatten mit Jungs während ihrer Internatszeit nicht wirklich etwas am Hut gehabt. »Dann werd ich ihnen beizeiten mal demonstrieren, dass ich momentan vergeben bin«, murmelte er amüsiert und warf einen Blick zu Anton hinüber, der ihn so verträumt betrachtete, dass Elias augenblicklich warm wurde. Als der Eröffnungstanz vorbei war, wurde geklatscht und viele der Mädchen schwärmten von der Tanzfläche, um sich zu ihren Eltern zu setzen. Dafür standen einige der Erwachsenen auf, um zu tanzen. »Ich werd mir nachher einen Tango wünschen«, sagte Alex breit grinsend. Elias musste lachen. »Nicht, dass wir hier noch rausgeworfen werden, weil es denen zu anzüglich wird«, gab er amüsiert zurück und Alex zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja fertig in dieser Anstalt. Sollen sie denken, was sie wollen«, meinte Alex und umarmte ihn bestens gelaunt, nachdem der zweite Tanz vorbei war. »Lass uns erstmal was essen gehen, ich hab einen Bärenhunger«, sagte sie und zog ihn hinüber zum Tisch. Sie schnappten sich Anton und Fenja und huschten hinüber zum Buffet. »Ihr seht ziemlich toll aus, wenn ihr tanzt«, sagte Fenja frei heraus und belud ihren Teller mit jeder Menge Salat und Thunfisch. »Danke«, sagte Alex schmunzelnd und tat sich Kartoffelgratin auf. Fenja grinste ihren Thunfisch an. »Wieso grinst du so?«, wollte Anton verwirrt wissen. »Weil man mich anstarrt«, sagte sie amüsiert und schlenderte an ihnen vorbei hinüber zum Pudding. Elias sah ihr nach und entdeckte Tamara, die in einem fliederfarbenen Kleid dort stand und knallrot anlief, als Fenja an ihr vorbei ging. »Sag mal«, meinte Elias an Alex gewandt, die ebenso erstaunt schien wie Anton und er, »bist du dir sicher, dass Tamara so erzkatholisch ist, wie du dachtest?« Alex schien vollkommen perplex zu sein. »Wahrscheinlich ist sie es wirklich und betet innerlich die ganze Zeit zu Gott, dass er ihr diese Schmach vergeben möge«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Mit beladenen Tellern gingen sie zurück zu ihrem Tisch. Alex’ Eltern tanzten gerade und so konnten sie die Sache mit Tamara in Ruhe diskutieren. Gerade war Fenja mit ihrem Salat fertig geworden und davon geschlendert, um sich mit Tamara zu unterhalten, als Alex ganz große Augen bekam und zum Eingang der Aula starrte. Elias folgte ihrem Blick. Er hatte Alex zwar noch nie gesehen, aber er erinnerte sich noch sehr genau an die Beschreibung, die er von seiner besten Freundin damals bekommen hatte. Der Neuankömmling trug eine schwarze Hose, Springerstiefel und hatte lange Haare, die zum Pferdeschwanz gebunden waren. Sein Hemd hing ihm halb aus der Hose, aber im Gegensatz zu Elias trug er eine Krawatte – auch wenn diese nicht festgezogen war. Alex sprang von ihrem Stuhl auf und rannte zu ihm hinüber. Offensichtlich war es ihr nun doch egal, dass ihre Eltern es heute Abend schon erfuhren. Elias beobachtete schmunzelnd, wie sie ihrem Freund in die Arme sprang, der sich nun einmal mit ihr um Kreis drehte und sie dann auf den Mund küsste. »Das ist ihr Freund«, erklärte Elias an Anton gewandt. Anton schmunzelte. »Ist er katholisch?«, wollte er wissen. Elias verschluckte sich an seinem Stück Hähnchen, das er gerade in den Mund geschoben hatte. »Ich glaube, selbst wenn er es wäre…«, röchelte er und klopfte sich mit der Faust auf die Brust. Alex zog ihren Freund zu ihrem Tisch hinüber. »Das ist Elli«, sagte sie und strahlte sie beide abwechselnd an. Elias, der immer noch hustete, streckte mit tränenden Augen die Hand aus und nickte Alex zu. Der grinste. »Danke, dass du hergekommen bist. Ich hab es leider nicht früher geschafft«, sagte er mit einem Seitenblick auf Alex. »Kein Problem. Ich tanze gern mit Alex«, sagte Elias und trank ein wenig Wasser, damit das Husten aufhörte. Elias wagte einen Blick in Richtung Alex’ Eltern. Und tatsächlich standen sie wie vom Donner gerührt auf der Tanzfläche. Alex atmete einmal tief durch. »Gehen wir«, sagte sie und straffte die Schultern, griff nach Alex’ Hand und zog ihn hinüber zu ihren Eltern. Elias war sich nicht sicher, ob er das Spektakel mit ansehen wollte und so schaute er Anton einen Moment lang an. Dann… »Tanzt du mit mir?«, fragte er leise. Anton starrte ihn an und wurde knallrot. »Hier…? Vor allen Leuten?«, fragte er vollkommen verdattert. Elias lächelte und griff unter dem Tisch nach der Hand seines Freundes. »Fenja macht eine Katholikin zur Lesbe, Alex schockt alle Welt mit gleich zwei Männern und dann können wir doch das Entsetzen ihrer Eltern auf uns lenken. Vielleicht finden sie Alex dann nicht mehr ganz so übel«, sagte er grinsend. Anton lachte nervös und stand auf, wobei er beinahe über seine eigenen Füße stolperte. Gerade als sie die Tanzfläche erreichten, hörten sie die ersten Klänge von »Iris«. Elias grinste, zog Anton nah zu sich heran und schlang seine Arme fest um ihn. Irgendwo in ihrer Nähe tanzte Alex mit ihrem Freund. Von ihren Eltern war keine Spur zu sehen. »Du musst dich nur ein bisschen mit mir im Kreis drehen. Dann bin ich zufrieden«, nuschelte Elias, lehnte seine Stirn an die von Anton und sog zum hundertsten Mal Antons Geruch in sich ein. Er seufzte zufrieden, während sie sich langsam auf der Stelle drehten. »Ich muss dir noch was sagen«, murmelte Anton und Elias legte den Kopf leicht schief und sah ihn an. »Was denn?«, fragte Elias verwundert. Anton war schon wieder knallrot im Gesicht. »Ich… ich hab dir noch nicht gesagt, dass… dass ich… verliebt bin…« Seine Stimme wurde immer leiser und brach schließlich ab. Elias’ Herzschlag beschleunigte sich von null auf hundert und ihm wurde plötzlich ziemlich heiß. Richtig. Das hatten sie sich noch nicht gesagt. Irgendwie waren sie zwischen all den Küssen einfach darüber hinweg gekommen. »Ah, richtig«, krächzte er heiser und drückte Anton ein wenig näher an sich, »das hab ich dir auch noch nicht gesagt.« Er beugte sich vor zu Antons Ohr und spürte, wie sein Freund in seinen Armen erschauderte. »Ich bin das erste Mal in meinem Leben verliebt. Und zwar in dich«, flüsterte er. Anton seufzte zittrig und vergrub sein Gesicht an Elias’ Hals. »Ich weiß nicht, wie ich die letzten Jahre überhaupt über die Runden gekommen bin… ohne… das alles«, nuschelte Anton und seine Hände krallten sich leicht in Elias’ Hemd. Er lächelte. »Ist doch egal. Jetzt ist es ja vorbei«, entgegnete er und seine Gedanken huschten zu der kleinen Efeupflanze, die nun vor ihrem Haus wuchs. Efeu konnte nicht bestehen, wenn er sich nicht anschmiegte. Anton war wie der Efeu, der all die Jahre versucht hatte, ohne jemanden zu leben, an den er sich lehnen konnte. Und jetzt, dachte Elias lächelnd und nicht ohne Stolz, jetzt kann er sich an mich schmiegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)