Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 25: Beste Freundin -------------------------- Für Lisa, weil ich es nicht mag, wenn sie traurig ist. Und außerdem, weil sie die beste beste Freundin ist, die man haben kann :) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, ________________________ Wie sich herausstellte, war Marcel wirklich sehr nett. Aber Kathis Freundinnen fanden das nicht ausreichend. Kathi erzählte ihm, dass sie ständig darüber lachen würden, dass sie sich mit ihm traf. »Das kann doch nicht das Wahre sein«, beschwerte Kathi sich bei ihm, »deine Freunde würden das doch auch nicht machen, oder?« Elias schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, würden sie nicht. Wenn sie wirklich deine Freunde sind, dann sollten sie sich für dich freuen«, erklärte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Kathi seufzte leise. Sie spielte scheinbar gedankenverloren mit einer ihrer lockigen Haarsträhnen und blickte ins Leere. »Hast du nicht mal Lust, mit mir und den anderen in Dominiks Keller ein bisschen zu feiern?«, fragte Elias beiläufig. Die Idee war ihm spontan gekommen. Kathi blinzelte verwirrt und wandte ihm den Blick zu. »Mit meinem großen Bruder und zwei glücklichen Pärchen?«, gab sie mit einem halben Lächeln zurück, ganz so, als wüsste sie nicht recht, was sie davon halten sollte. Elias grinste. »Du kannst deinen Marcel mitbringen, wenn du willst. Die anderen haben sicher nichts dagegen. Caro ist auch manchmal mit ihrem Freund dabei, die ist so alt wie du. Es ist witzig! Wir trinken ein bisschen was, spielen Twister oder Playstation oder quatschen über irgendeinen Mist«, meinte er. Vielleicht verstand Kathi sich mit Caro gut, die ganz sicherlich kein Problem damit hätte, dass Kathis Freund nicht aussah wie Zac Efron. »Stört das deine Freunde nicht?«, gab sie zurück und nun war ihre Unsicherheit sehr deutlich. Elias grinste breit. »Quatsch. Die haben nie was gegen Neuankömmlinge. Am Freitag treffen wir uns wieder, also nimm dir nichts vor!« Er verbrachte den Tag abwechselnd mit Erdkundelernen und Pokémon- Schauen. Nathalie hatte ihn in Beschlag genommen und wollte kein Wort davon hören, dass ihrem Bruder bald wichtige Prüfungen bevorstanden. Zwischenzeitlich wurde er – wieder einmal – von Markus und Dominik angerufen, die sich bei ihm beklagten, weil sie keine Lust aufs Lernen hatten und die jeweils unterschiedliche Anekdoten – Markus von Lea- Lekysha und Dominik von Christine – erzählten. Elias erzählte ihnen nichts. Zumindest nichts, was in Richtung Anton ging und davon handelte, dass er kürzlich das deutliche Gefühl gehabt hatte, einen Jungen küssen zu wollen. Er wusste nicht recht, ob er es überhaupt jemandem sagen wollte, bis er nicht selbst wusste, was eigentlich los war. Natürlich machte es ihm wenig aus, dass er eventuell auf Männer stand. Oder auf Männer und Frauen. Das war ihm herzlich egal. Aber es hatte so lange gedauert, sich mit Anton anzufreunden, sein Vertrauen zu gewinnen. Anton hatte gesagt, dass Elias ihn manchmal an seinen toten Zwilling erinnerte. Das bedeutete sicherlich, dass Anton brüderliche Gefühle für ihn hegte und sonst nichts. Und ohnehin wusste Elias überhaupt nicht, wie Anton zum Thema Mädchen oder Jungs stand. Darüber hatten sie nie geredet. Das einzige, was Elias über das Thema Liebe in Zusammenhang mit Anton wusste, war, dass Anton schon einmal Liebeskummer gehabt hatte. Aber danach wollte er eigentlich nicht fragen. Ihm war es wirklich lieber, wenn Anton ihm all diese Dinge von allein erzählte, so wie er es schon mit der Geschichte seiner Familie gemacht hatte. Seine Mutter war jedes Mal ganz begeistert, wenn er sich mit Anton traf. Elias hatte auch endlich heraus gefunden, was denn an Antons Sternzeichen so wunderbar sein wollte. »Wassermann und Zwilling passen gut zusammen, wusstest du das nicht?«, hatte sie ihm am gestrigen Tag verkündet. Elias hatte es sich verkniffen, nachzufragen, was genau seine Mutter mit ‚zusammenpassen’ gemeint sein sollte. Er war sich nicht sicher, ob er das wirklich wissen wollte. Im März stand bereits seine erste Abiturprüfung an und Elias vergrub sich mehr denn je in seinen Unterlagen, auch Dominik und Markus hatten ihre Proteste aufgegeben und damit begonnen, richtig zu pauken. Vor allem Markus’ Laune wurde immer gereizter, da er einen wirklich exzellenten Durchschnitt brauchte, um zu seinem gewünschten Medizinstudium zugelassen zu werden. In manchen Fächern halfen sie sich gegenseitig. Elias half Dominik beim Englischlernen, Dominik und Elias fragten Markus Lateinvokabeln ab und erklärten ihm die Dinge in Mathe, die er nicht verstanden hatte. Elias wusste, dass Alex sich wohlmöglich ein wenig vernachlässig fühlte, aber sie sagte nichts, weil sie genau wie er daran arbeitete, ihr Abitur so gut wie möglich zu bestehen. Manchmal rief sie ihn an, um sich Hilfe zu holen, da sie – genau wie Elias – Schwierigkeiten mit ihrem mündlichen Prüfungsfach hatte. Alex würde ihre mündliche Prüfung in Biologie machen, da sie für Naturwissenschaften mehr Talent hatte als für Sprachen. »Ich hätte auch Englisch nehmen können, aber das wäre mein Tod gewesen, ich schreibe Englisch lieber, als zu reden. Und das will bei mir schon was heißen. Und in Bio hab ich nur neun Punkte, ich möchte in der Mündlichen aber elf haben!« Bio übers Telefon zu lernen war zwar nicht gerade leicht, aber es ging. Manchmal saß er mit Dominik und Markus in Dominiks Keller und brütete schweigend über den Politikunterlagen, die Anton ihm zusammen gestellt hatte. Wenn Alex dann anrief, gab er sie an Markus weiter, der immerhin Bio- Leistungskurs hatte und ihr sicherlich besser helfen konnte. Das Gute daran war, dass die Erklärungen für Alex auch gleichzeitig Stoffwiederholung für Markus waren. Anton fragte Elias immer mal wieder in Politik ab. Manchmal, wenn sie beieinander saßen und einfach nur Musik hörten, dann stellte er plötzlich irgendeine beliebige Frage und daran, dass Elias mittlerweile wie aus der Pistole geschossen antworten konnte, merkte er, dass Antons ‚Unterricht’ ihm wirklich geholfen hatte. Außerdem hatte sich gezeigt, dass sein Plan, was Kathi und Caro betraf, aufgegangen war. Die beiden hatten sich sehr gut verstanden und sich erst kürzlich auf eine heiße Schokolade in der Stadt verabredet. Marcel war zugegebenermaßen ein wenig merkwürdig, aber das störte Elias herzlich wenig, wenn er sah, wie Marcel seine Schwester mit leuchtenden Augen betrachtete. Auch wenn er merkwürdig war, war er nett. Und Elias und seine Freunde waren schließlich auch nicht unbedingt das, was man als normal bezeichnen würde. In der Schule wurden sie täglich daran erinnert, dass bald ihre wichtigsten Klausuren anstanden. Die Lehrer waren gestresst, um auch ja noch den letzten Rest des Zentralabiturstoffs durchgepaukt zu bekommen, viele Schüler stellten immer wieder Fragen zum Prüfungsablauf. Eva war tatsächlich ausgesprochen interessiert an Dominik, Elias merkte es genau wie seine beiden Freunde überdeutlich. Sie setzte sich in der Pause zu ihm, warf ihre Haare in den Nacken, wie sie es früher bei Elias getan hatte und lud ihn immer öfter zu einem Treffen ein, die Dominik immer wieder ablehnte. Es schien ihr nicht zu gefallen, dass er ihr nicht mehr nachlief. Elias fragte sich, ob es in allen Frauen solch einen Abgrund gab. »Ich wollte dich noch was fragen«, erklärte Alex ihm zwei Tage, bevor sie wieder in die Stadt kommen und sie sich sehen würden. »Schieß los«, murmelte er und kaute nervös auf einem Kugelschreiber herum, während der einige Matheübungsaufgaben durchging. »Würdest du… würdest du mit mir zu meinem Abschlussball kommen?« Elias nahm den Kugelschreiber aus dem Mund und blickte auf. »Zu deinem Abiball? Aber willst du da nicht mit Alex hingehen?«, fragte er verblüfft. Er hatte die Tatsache, dass es nach dem Abi noch einen Ball gab, völlig verdrängt. »Na ja… Erstmal kann er nicht tanzen, dann hat er an dem Wochenende sowieso keine Zeit, weil sein Vater Geburtstag hat und er nicht in der Stadt ist und außerdem… selbst wenn er Zeit hätte… ich hab Mama und Papa immer noch nichts von ihm erzählt. Und an dem Abend habe ich keine Lust auf Stress, verstehst du?« Elias verstand durchaus. Er schmunzelte. »Wann ist dein Abiball noch mal?«, wollte er wissen und kramte auf seinem Nachtschrank nach seinem Kalender. »Am 27. Juni«, gab sie zurück. Elias blätterte ein wenig in dem zerfledderten Kalender herum, fand das richtige Datum und notierte es sich. »Ok, dann komme ich. Aber ich warne dich, ich werde keine Krawatte tragen!«, sagte er. Aex lachte. »Das ist echt lieb von dir. Mir wäre es auch egal, wenn du in Jeans kommst. Scheiß auf die Krawatte«, meinte sie und Elias hörte, dass sie sich ziemlich über seine Zusage freute. Er hatte früher schon mit Alex getanzt, als sie noch hier in der Stadt gewohnt hatte. Sie hatten gemeinsam mehrere Tanzkurse gemacht und sogar Lateinamerikanisch angefangen, aber dann hatten ihre Eltern sie auf dem Internat angemeldet und sie hatten den Kurs leider nicht zu Ende machen können. Elias war eine Niete im ‚normalen’ Tanzen, weshalb er auch nie in Diskotheken ging, aber Standardtanzen mit Alex machte ihm Spaß. Und er war auch nicht allzu schlecht darin. Als Alex zwei Tage später bei ihm auf der Matte stand, strahlten ihre blauen Augen und sie warf sich auf ihn, um ihn ausgiebig zu umarmen. Seine Familie war nicht zu Hause und Alex hatte bereits nach zwei Stunden wieder das Gefühl gehabt, Urlaub von ihren Eltern zu brauchen. »Und dann haben sie sich wieder so angeschaut, als ich gesagt hab, dass ich mich mit dir treffe«, erklärte sie und verdrehte die Augen, während sie sich ihre ausgelatschten Turnschuhe auszog und ihren Rucksack in eine Ecke stellte. »Haben sie die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?«, fragte Elias grinsend. Alex schüttelte resigniert den Kopf. »Sie warten vermutlich nur darauf, dass ich unsere Verlobung bekannt gebe… ich glaube, wenn ich ihnen irgendwann das mit Alex erzähle, dann drehen sie total durch. Vielleicht sollte ich das für mich behalten, bis ich ausgezogen bin. Tamara guckt mich manchmal an, als wäre ich der Teufel. Wetten, sie ist nur neidisch, weil sie keinen Freund hat? Und insgeheim fragt sie sich garantiert die ganze Zeit, ob ich’s schon mit ihm gemacht hab, oder nicht. Hab ich übrigens nicht«, erklärte sie auf Elias’ gehobene Augenbraue hin. »Ehrlich gesagt sind wir weit entfernt davon. Eigentlich finde ich es ja lieb, dass er mir so viel Zeit lässt, aber andererseits frage ich mich auch, ob er mich vielleicht irgendwie nicht anziehend genug findet«, sagte sie und tippte sich gegen das Kinn. Dann schaute sie an sich herunter und Elias folgte ihrem Blick. Sie trug ein stinknormales, grauen Sweatshirt und eine Jeans. Alex war weder übermäßig dünn, noch breit gebaut. Elias hatte schon oftmals Fragen über sich ergehen lassen müssen, ob er ihre Figur gut fand. »Wie auch immer, gehen wir Anton besuchen?«, fragte sie plötzlich aus heiterem Himmel und strahlte ihn begeistert und mit neugierig funkelnden Augen an. Elias war ein wenig überrumpelt. Er wusste nicht, ob Anton zu Hause war. »Öhm… wir können ja mal klingeln gehen«, sagte er und fragte sich insgeheim, ob der eher schweigsame Anton nicht vollkommen überfordert mit einer Plappertasche wie Alex sein würde. Sie traten hinaus ins Treppenhaus und gingen auf Socken das kurze Stück hinüber zu Antons Wohnung, wo Elias auf den Klingelknopf drückte. »Ich bin total gespannt«, zischelte sie Elias ins Ohr und er buffte sie leicht in die Seite, als auch schon die Tür geöffnet wurde und Antons schwarzer Haarschopf erschien. »Hi«, sagte Elias grinsend und wollte gerade die Hand heben, um auf Alex zu deuten und sie vorzustellen, da streckte Alex schon begeistert ihre Hand aus und strahlte Anton entgegen. Elias konnte deutlich die Verwirrung auf dem Gesicht seines Nachbarn sehen. »Hallo, ich bin Alex, Elias’ beste Freundin! Freut mich, dich endlich mal kennen zu lernen!« Anton ergriff ziemlich perplex ihre Hand und sah sie einen Moment lang sprachlos an. »Anton«, sagte er dann und öffnete die Tür etwas weiter, damit sie eintreten konnten. Elias zuckte grinsend hinter Alex’ Rücken mit den Schultern und folgte den beiden ins Antons Zimmer. Alex sah sich staunend um. »Sieht hier irgendwie größer aus, als in eurem Wohnzimmer«, meinte sie und betrachtete interessiert das Regal mit Antons CD- Sammlung. Anton sah Alex dabei zu, wie sie sich in seinem Zimmer umsah. Ab und an huschten seine Augen zu Elias hinüber, der sich auf den Teppichboden gesetzt hatte und nun dabei zusah, wie Alex alles ganz genau inspizierte. »Elli hat schon erzählt, wie gut du Klavier spielst. Ich wollte früher auch immer Klavierspielen, aber wir hatten leider keinen Platz für ein eigenes Klavier. Deswegen bin ich dann auf Querflöte umgestiegen. Aber den Unterricht hab ich aufgegeben, meine Lehrerin war schrecklich, ich hab mir das meiste selber beigebracht, nimmst du Unterricht?« Anton starrte Alex an, die wie so oft ohne Luft zu holen geredet hatte und ihn nun gespannt anblickte, in der Erwartung, er möge ihre Frage beantworten. »Nein, auch nicht mehr«, sagte er schließlich. Elias streckte sich und grinste immer noch. »Ich hab meine Flöte mitgebracht. Soll ich sie rüberholen? Wir können zusammen was spielen«, schlug Alex begeistert vor und strahlte wie eine Tausendwattbirne. Elias kannte niemandem, der diesem Atomgrinsen widerstehen konnte. Selbst Anton konnte es nicht. »Gerne«, sagte er und lächelte sogar. Alex klatschte begeistert in die Hände, dann hielt sie Elias die geöffnete Hand hin und er ließ seinen Schlüssel hinein fallen. Als Alex draußen war, sah Anton Elias an. »Sie ist…«, begann er und suchte offensichtlich nach einem Ausdruck, der alles beinhaltete, was Alex war. »Umwerfend? Wunderbar? Gesprächig?«, schlug Elias amüsiert vor. Anton schmunzelte. »Sie ist ein bisschen wie meine… ehemals… beste Freundin«, sagte er und sein Schmunzeln erstarb. Einen Moment lang schien er zu zögern, dann ging er hinüber zum Nachtschrank und griff nach dem Foto. »Ich hab dir noch kein Foto von ihr gezeigt«, meinte er und klang beinahe entschuldigend. Er hielt Elias den Bilderrahmen hin, den Elias schon einige Male auf dem Nachtschrank gesehen, aber sich nie getraut hatte, ihn anzusehen. Er griff nach dem Rahmen und blickte darauf hinunter. Vier junge Leute grinsten ihm breit und strahlend entgegen. Anton und Lukas waren nicht voneinander zu unterscheiden, aber Elias meinte zu wissen, dass Anton derjenige mit dem knallblauen T-Shirt war. Es war ungewohnt, ihn so strahlen zu sehen und er war viel jünger. Vielleicht 13 oder 14? Neben ihm stand ein sehr viel größerer Junge mit raspelkurzen, hellbraunen Haaren und einem breiten Grinsen, auf Antons anderer Seite stand ein Mädchen. Sie hatte feuerrote Locken, – noch röter als Markus’ Haare, was Elias schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatte – war dünn und sah vom Gesicht her ein wenig aus wie Pippi Langstrumpf. Neben ihr stand Lukas – wenn es denn Lukas war. Elias betrachtete das rote Poloshirt, die schwarzen, glänzenden Haare und die schalkhaften Züge des Gesichts, die bei Anton fehlten. Elias unterdrückte ein Schaudern bei dem Gedanken, dass dieser Junge kurze Zeit später an einer Überdosis gestorben war und damit das Lächeln aus dem Gesicht seines Zwillings gewischt hatte. »Sie sieht aus wie Pippi Langstrumpf«, entfuhr es ihm. Anton lächelte und nahm das Foto in die Hand. »Ja, ein bisschen. Wenn man ihr das sagt, schlägt sie einen«, murmelte er und seine Augen richteten sich, obwohl sie immer noch auf dem Foto lagen, in die Ferne. Fast konnte man in der nostalgischen Atmosphäre des Zimmers Fenjas Lachen hören. »Da bin ich!«, sagte Alex’ Stimme an der Tür. Elias wandte sich um. Sie trug ihre eigene Querflöte und seine Gitarre. Diese drückte sie ihm schwungvoll in die Arme und ließ sich neben ihm auf dem Fußboden nieder. »Ihr könnt euch auch aufs Sofa setzen«, sagte Anton ein wenig verwirrt und stellte das Foto zurück auf den Nachtschrank. Alex grinste. »Elli und ich sitzen gern auf dem Boden. Blöde Angewohnheit. Was spielen wir? Gibt’s überhaupt was, was wir alle können?« Diese Frage beschäftigte sie die nächste Viertelstunde. Sie grübelten nach, was dazu führte, dass sie sich gegenseitig ihre Lieblingslieder nannten und schließlich darauf kamen, dass die einzige Musik, die sie alle drei kannten und spielen konnten, Filmmusik war. Und zwar größtenteils von Disney. »Ok, wie wäre es mit irgendwas aus Tarzan?«, fragte Alex. Elias verzog das Gesicht. »Den mag ich nicht«, widersprach er. Alex brummte. »Aber die Musik ist von Phil Collins und Phil Collins ist toll. Es ist doch egal, ob du den Film magst«, beklagte sie sich und boxte ihm gegen den Oberarm. Ihm fiel wieder einmal auf, wie hart seine beste Freundin zuschlagen konnte. »Wie ist es mit Aladdin? ‚A whole new world’?«, schlug Anton vor. Alex strahlte. »Ein Liebeslied!«, quietschte sie begeistert, warf Elias einen überschwänglichen Blick zu und hob ihre Flöte an den Mund. Anton schmunzelte kaum merklich, als er sich auf seinen Klavierhocker setzte und seine Finger auf die Tasten legte. »Schlagt mich nicht, wenn ich was verpatze, ich spiel das alles aus dem Gedächtnis«, sagte Elias, legte sich seine Gitarre übers Knie und sah Alex an. Sie zuckte mit den Schultern, holte Luft und zauberte die ersten Töne von ‚A whole new world’ aus ihrer Querflöte. Anton war der Erste, der einsetzte. Elias lauschte noch einen Moment, dann strichen seine Finger über die Saiten. Alex sah ihn über ihre Flöte hinweg auffordernd an. Elias brummte leise. Dann sang er, bevor Alex ihn noch einmal boxte. »In deiner Welt, so neu so völlig unbekannt, mit dir auf Wolken geh’n und plötzlich seh’n, dass deine Welt auch meine Welt sein kann…« Dass er dieses Lied überhaupt singen konnte, wunderte ihn. Aber da seine kleine Schwester ihn oft genug gezwungen hatte, alle Disneyfilme anzuschauen, konnte er tatsächlich die meisten Liedtexte auswendig. Elias hätte nicht gedacht, dass seine Gitarre und Alex’ Querflöte zusammen mit einem dritten Instrument spielen würde. Aber es klang toll, wie sie zu dritt spielten. Es folgten ‚Colors of the wind’ und ‚Reflection’, beide sehr brüsk von Alex vorgeschlagen, weil sie sie sicher und auswendig spielen konnte. Bei beiden Liedern musste Elias die hohen Passagen auslassen, weil er so hoch nicht singen konnte. Alex verkniff sich dann jedes Mal ein Lachen. »Kannst du ‚Für Elise’ spielen?«, fragte Alex, als sie mit ihren Disneyliedern fertig waren. »Ja, kann er«, antwortete Elias automatisch. Anton sah ihn mit einer gehobenen Augenbraue an. »Hey, ich hör dich immer spielen, ok«, sagte Elias ein wenig verlegend grinsend. »Spielst du’s mal?«, bat Alex mit funkelnden Augen. Anton schien Alex’ Leuchtaugen nicht widerstehen zu können und so wandte er sich erneut zu seinem Klavier um und begann zu spielen. »Für Elise klingt fast wie Für Elias«, flüsterte Alex ihm ins Ohr. Er spürte, wie er rot anlief und knurrte leise. Sie grinste nur breit und wiegte sich dann leicht im Takt der Musik. Danach aßen sie Pistazien und Muffins – selbstgebacken von Anton, aus purer Langeweile vom gestrigen Abend – und zitierten sich Liedzeilen, die die anderen dann erraten mussten. Als Alex ihren dritten Muffin verspeiste, wandte sie sich an Anton. »Hast du nicht Lust auch zu meinem Abiball zu kommen? Dann ist Elli nicht so allein. Du könntest auch ein Mädchen mitbringen«, sagte sie freiweg. Anton starrte sie an. Elias konnte förmlich sehen, wie hinter Antons Stirn die Zahnrädchen ratterten. Dunkel fragte er sich, ob Anton überhaupt Mädchen kannte, die er einladen würde? Dann fiel ihm ein, dass er Anton letztens hatte küssen wollen und daraufhin eröffnete sich ihm die Frage, ob er es überhaupt gut finden würde, wenn Anton mit einem Mädchen… ausging. Anton öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Alex kicherte, dann stand sie auf. »Die Toilette ist ja da, wo Ellis Klo auch ist, oder?«, fragte sie und Anton nickte, immer noch vollkommen überrumpelt. Als Alex das Zimmer verlassen hatte, sah Anton ihn perplex an. »Zu ihrem Abiball? Ich?«, fragte er vollkommen verdattert. »Sie mag dich offenbar. Du könntest…«, er räusperte sich und hoffte, dass er Anton mit seiner Direktheit nicht wieder verschreckte, »du könntest Fenja anrufen. Du vermisst sie doch, oder? Ich hab gesehen, wie du das Foto angeschaut hast.« Antons Blick wurde nachdenklich und er betrachtete gedankenverloren den halbaufgegessenen Muffin in seiner Hand. Dann blickte er wieder zu Elias auf. »Ich weiß nicht, ob ich mich das traue«, murmelte er leise. Elias wusste, dass das untertrieben war. Antons Blick verriet ihm, dass er eine Heidenangst davor hatte, sich mit seinen besten Freunden in Verbindung zu setzen, einfach weil er es nicht ertragen könnte, wenn sie ihn ansahen und an Lukas dachten. »Es lohnt sich sicher«, sagte Elias lächelnd, gerade als Alex wieder ins Zimmer geschneit kam, »beste Freundinnen sind nämlich was Tolles.« Alex grinste breit und griff nach dem letzten Muffin. »Ich weiß, ich weiß. Jeder sollte eine Alex haben«, scherzte sie und entlockte Anton ein Lächeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)