Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 24: Lukas ----------------- »Sag mir noch mal, wo der Unterschied zwischen Bundesrat und Bundestag ist«, klagte Elias und legte sich den Unterarm über die Augen. Er lag auf Antons Teppichboden und raufte sich seit mehr als einer Stunde die Haare angesichts der Tatsache, dass Anton ihn unerbittlich in Politik abfragte. Anton hatte ihm – halb zu Elias’ Freude und halb zu seinem Entsetzen – ein Glossar zu wichtige politischen Begriffen geschrieben und ihn gezwungen es auswendig zu lernen. »Ich dachte, du kannst alles?«, gab Anton zurück und raschelte anklagend mit dem Stapel Papier in seiner Hand. Elias zog den Arm von seinen Augen und sah Anton über Kopf mit einem möglichst kläglichen Gesichtsaudruck an. »Das sind fünfzehn Seiten, ist dir das eigentlich klar?«, fragte er, ohne auf Antons Bemerkung einzugehen. »Ich weiß, dass das fünfzehn Seiten sind, ich hab sie schließlich selbst geschrieben. Also komm schon, so schwer ist das nicht«, ermunterte Anton ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Anton saß auf seinem Klavierhocker und hielt fünfzehn Seiten Computer- geschriebene Seiten in der Hand, Elias lag direkt vor ihm auf dem Boden, mit dem Kopf in Richtung Klavier und rang seinem Gehirn Politik aus allen Windungen. Zu seiner Überraschung hatte Anton ihn eingeladen. Zu sich herüber. Drei Tage nach dem Friedhofserlebnis. Noch mehr hatte es ihn überrascht, als Anton ihm erklärt hatte, dass seine Mutter geäußert hatte, Anton sollte ‚den Nachbarsjungen’ doch öfter mal herüber bitten. Bisher hatten weder Anton noch Elias ein weiteres Wort über Lukas verloren. Elias hatte beschlossen, Anton so viel Zeit zu lassen, wie er brauchte. »Ok… ist der Bundestag das Ding, das vom Volk gewählt wird und sich um die Gesetzesscheiße kümmert?«, riet Elias ins Blaue hinein. Anton schmunzelte. Elias wusste nicht genau wieso, aber trotz des Todestages seines Zwillings schien er nach ihrem gemeinsamen Friedhofsbesuch irgendwie wie ausgewechselt. Er war nicht mehr so still, lächelte öfter, er schmunzelte sogar ab und an verschmitzt. Elias freute sich immer noch über jedes Lächeln und er war sehr erleichtert, dass es Anton offensichtlich wieder besser ging. »Also so würde ich es in der mündlichen Prüfung nicht formulieren«, rügte Anton ihn, immer noch leicht schmunzelnd. »Sei nicht so streng«, beklagte sich Elias, »ich hab Recht, ja? Oder? Los, gib es zu, ich hab Recht!« »Ja, ok. Du hast Recht. Und der Bundesrat?« »Da sitzen die verschiedenen Bundesländer und bequatschen ihre politischen Anliegen«, sagte Elias grinsend. Anton schüttelte den Kopf und legte die Papiere beiseite. »An deiner Ausdrucksweise feilen wir später noch«, drohte er ihm und streckte sich ein wenig. »Verschone mich«, sagte Elias lachend und setzte sich auf. Sein Magen knurrte ziemlich laut. Antons Mundwinkel zuckten. »Hast du Hunger? Ich kann uns was kochen«, schlug er vor. Elias seufzte sehnsüchtig. »Das wäre klasse. Ich hab heute Morgen nur ein mickriges Marmeladentoast gegessen«, erwiderte er und erhob sich, um Anton aus seinem Zimmer in die Küche zu folgen. Er war das erste Mal hier drin und sah sich interessiert um. Es war fast lustig zu sehen, wie zwei gleich geschnittene Wohnungen von der Einrichtung so vollkommen verschieden aussehen konnten. Die Küche drüben war ein Mischmasch aus den verschiedensten Möbelstücken, die Stühle passten nicht zueinander, überall stand irgendetwas herum, ob es nun Gewürze oder kleine Keramikfigürchen waren. Diese Küche hier sah wie der Rest der Wohnung aus wie frisch aus einem Katalog bestellt. Elias setzte sich beinahe ehrfürchtig auf einen der Stühle und beobachtete, wie Anton aus verschiedenen Schubladen und Schränken Töpfe, Teller und Besteck hervor kramte. »Worauf hast du Lust? Ich war gestern einkaufen. Bandnudeln mit Champignons, Zwiebeln und Kräutersoße, Lasagne, Putenschnitzel mit-« »Halt, halt!«, sagte Elias lachend und grinste zu Anton herüber, der halb mit dem Kopf im Kühlschrank steckte, »Nicht so viel Aufwand für mich. Mach einfach das, worauf du selber Lust hast, ich ess’ sowieso alles!« Anton zog den Kopf aus dem Kühlschrank und legte den Kopf schief. Sein Blick sah aus, als wollte er in Elias’ Gehirn eine Antwort auf die Essensfrage finden. »Dann Bandnudeln«, sagte er schließlich und begann im Kühlschrank herum zu wühlen. Nachdem er der Reihe nach Sahne, Gewürze, Pilze, Zwiebeln und Nudeln nebeneinander auf der Arbeitsfläche aufgestellt hatte, machte er sich daran, die Pilze klein zu schneiden. »Ma war übrigens drei Tage in Folge nicht mehr abends aus«, sagte er unvermittelt. Elias blinzelte verwundert und schluckte. Immer, wenn es um Antons Familie ging, spannte er sich automatisch an, in der Erwartung, dass gleich irgendeine erschütternde Erklärung folgte. »Ich glaube, dass du sie… angemotzt hat, das hat sie irgendwie ein bisschen wachgerüttelt«, fügte er leiser hinzu. Elias spürte, wie er rot anlief. Er hätte eigentlich nicht so unhöflich sein sollen, aber es schien, als hätte es etwas genutzt. »Und sie hat keine neuen Tiefkühlsachen gekauft«, fügte er hinzu und griff nach einer Zwiebel. Elias stand auf, trat neben Anton und beobachtete ihn dabei, wie er mit geübter Hand die Zwiebel schälte. »Kann ich dir was helfen?«, erkundigte er sich. Anton sah ihn von der Seite an und lächelte. »Du hilfst mir schon genug. Setz dich hin«, meinte er. Elias’ Herz machte einen Salto. Er schluckte, lachte verlegen und ging wieder zurück zu seinem Platz. »Ich würde wahrscheinlich sowieso alles verhackstückeln«, scherzte er, um von seiner Verlegenheit abzulenken. Langsam wusste er, wie Anton sich fühlte, wenn Elias ihm spontan etwas Nettes sagte oder ihm ein Kompliment machte. Sie schwiegen eine Weile lang und Elias beobachtete Anton dabei, wie er Zwiebeln und Pilze in eine Pfanne warf und beides mit Butter zu braten begann. »Du hast gar nicht mehr nachgefragt«, fuhr Anton nach einer Weile fort und nahm sich einen Topf, um Sahne hinein zu schütten. Elias wusste sofort, was er meinte. »Wieso sollte ich auch. Ich will, dass du’s irgendwann von allein erzählst«, erklärte er aufrichtig. Anton griff nach einem der Gewürze. »Ich hab dir damals gesagt, dass ich keine Drogen mag«, sagte Anton und rührte in dem Soßentopf. »Ja…«, erwiderte Elias zögerlich. »Das liegt aber nicht unbedingt an meinem Vater. Lukas ist an einer Überdosis gestorben. Und ich gebe Pa die Schuld dafür. Immer noch.« Elias hatte schon wieder das Gefühl, dass die Welt aus den Angeln kippte, wie schon auf dem Friedhof, als er Lukas’ Namen auf dem Grabstein gelesen hatte. »Nachdem Pa wegen der Scheidung ausgezogen ist, ist Lukas mit ihm mitgegangen. Er wollte ihn nicht allein lassen und hat immer versucht, Ma dazu zu überreden, es sich noch mal zu überlegen. Im Nachhinein hat er ihr die Schuld dafür gegeben, dass Pa angefangen hat zu trinken. Lukas hat sich echt bemüht, ihn davon wegzubekommen. Aber er hat’s nicht geschafft. Pa war irgendwann nur noch besoffen. Wenn Lukas ihm die Pullen wegnehmen wollte, hat er ihn manchmal auch verprügelt. Aber Lukas wollte nichts gegen ihn hören, er hat immer nur auf Ma rumgehackt. Und ich hab Ma beschützt. Unsere Beziehung ist dadurch total kaputt gegangen. Und Lukas hat’s nicht ausgehalten, wie Pa sich immer mehr zugrunde gerichtet hat. Er hat seinen Job verloren, hing nur noch vorm Fernseher… Und Lu ist in die falschen Kreise geraten. Er war anfällig dafür, weil es ihm so dreckig ging. Am Anfang hat er nur ununterbrochen irgendwas geraucht. Dann kamen irgendwann die harten Sachen. Er war ein Wrack. Seine Stimmung schwankte von supergut bis unterirdisch, er sah immer schlechter aus…« Die Zwiebeln und die Pilze brutzelten leise in der Pfanne, Anton rührte in der Soße und warf die Bandnudeln ins mittlerweile kochende Wasser. »Es ist ein bisschen wie in einem schlechten Drama«, fuhr Anton leise fort und Elias fühlte sich taub und bewegungsunfähig. »Ich hab immer versucht, ihn davon wegzubekommen. Am Ende kam er immer öfter vorbei, anfangs in seinen gute- Laune- Phasen, dann irgendwann nur noch, wenn er übermüdet war und seine Hände gezittert haben wie verrückt. Manchmal lag er bei mir auf dem Bett und hat plötzlich angefangen um sich zu schlagen, weil er irgendwelche Halluzinationen hatte. Aber er wollte nicht aufhören und wahrscheinlich konnte er auch irgendwann nicht mehr. Und dann, einmal, da kam er zu mir und wollte Geld. Er wollte sich Geld von mir leihen. Und als ich ihm gesagt hab, dass ich ihm kein Geld für Drogen gebe, ist er völlig ausgerastet. Das war der Zeitpunkt, an dem ich wusste, dass ich ihn nicht retten kann. Ich hatte meine eigenen Aussetzer. Irgendwann bin ich aufgewacht, im Bad, auf dem Boden. Ma stand neben mir und hat geweint und ich hab mich umgeschaut und alles war total zertrümmert. Ich hab die Spiegel kaputt gemacht, alles runtergefegt. Und ich konnte mich nicht mal dran erinnern…« Elias versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie Anton ausrastete und Spiegel zertrümmerte. Seine Gedanken rasten angesichts dieser Geschichte. »Ma hat in der Zeit nur noch geweint. Immer, wenn sie mich angeschaut hat, fing sie an zu weinen. Das war die Hölle. Und dann hat Pa an unserem Geburtstag angerufen und gesagt, dass Lu nicht mehr aufsteht. Ich war allein zu Haus und bin hingefahren. Man sieht solche Sachen so oft im Fernsehen, aber wenn man dann wirklich einen Toten irgendwo liegen sieht, ist es was anderes. Pa war total besoffen, er meinte, ich soll ihn aufwecken, er hat überhaupt nicht verstanden, was da eigentlich los war. Ich saß ewiglang neben Lukas und Pa hat mich von hinten angeschrieen, dass ich ihn wieder aufwecken soll. Und dann bin ich irgendwann ausgetickt. Ich hab ihn angeschrieen, dass er Lukas umgebracht hat, ich hab ihn geschlagen. Er war so voll, er konnte kaum noch stehen. Wenn er nicht so voll gewesen wäre, dann hätte er vielleicht verstanden, dass Lukas am Sterben ist, dann hätte er vielleicht einen Krankenwagen rufen können. Ich hab erst den Notarzt gerufen, als Pa sich nicht mehr gerührt hat… Ich hab mir in diesem Moment echt gewünscht, dass er tot ist und nicht Lukas. Wir haben nie raus gefunden, ob es Selbstmord oder ein Versehen war. Ma und ich waren beiden in Therapie danach. Wir sind sofort weggezogen, nachdem die Beerdigung war. Ich hab den Kontakt zu allen Leuten abgebrochen, die ich kannte. Immer, wenn Fenja und Ben… das waren damals unsere beiden besten Freunde… mich angeschaut haben, dann hatte ich das Gefühl, sie suchen Lukas in mir, aber wir waren immer so komplett verschieden und ich konnte ihn nicht ersetzen…« Anton goss die Nudeln ab und verteilte sie auf zwei Teller. Elias starrte ihn an und beobachtete, wie er Zwiebeln und Pilze in die Soße tat und umrührte, ehe er den Soßentopf und die beiden Teller mit Nudeln auf den Tisch stellte. »Ich dachte… ich muss länger… auf die Geschichte warten«, murmelte Elias kaum merklich. Anton stand neben dem Tisch und seine Augen flackerten unsicher zu Elias hin. »Dachte ich auch… aber irgendwie… ich weiß auch nicht«, flüsterte Anton und senkte den Kopf. Elias meinte zu sehen, dass die schwarzen Augen in Tränen schwammen. Also tat er das, was Alex nach am besten war, wenn jemand Trost brauchte. Er stand auf und zog Anton in seine Arme. Anton war ein paar Zentimeter kleiner als er, er war zierlicher und seine Haare rochen nach einem fruchtigen Shampoo. Elias schloss die Augen und Anton stand einen Moment ganz still da, dann hob er langsam die Arme und erwiderte die Umarmung. Seine Hände krallten sich in Elias’ Pullover und er vergrub sein Gesicht an seiner Schulter. Elias spürte, wie sein Herz beschleunigte und er Antons Duft in sich aufsog. Zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, dass Alex vielleicht Recht hatte. Er hatte noch nie einen Jungen auf diese Art und Weise umarmt. Er drückte Anton etwas fester an sich und in ihm keimte das dringende Gefühl, Anton nicht mehr loszulassen. Er lehnte seinen Kopf gegen Antons und seine Finger strichen behutsam über den weichen Stoff von Antons schwarzem Pullover. Wie lange sie dort standen, wusste er nicht. Irgendwann lösten sie sich voneinander und Antons Augen funkelten ihn merkwürdig von unten herauf an. Seine Wangen waren gerötet und Elias spürte, wie sein Gehirn ihm einen Impuls vermittelte, der deutlich verlangte: Küss ihn! Er schluckte und ließ sich leicht benommen auf den Küchenstuhl sinken. Anton setzte sich ebenfalls und griff fahrig nach der Kelle im Soßentopf. Elias konnte es nicht fassen. Er kannte jetzt das ganze Puzzle und alles, was ihm dazu einfiel, war, dass er Anton gern küssen würde? Drehte er nun vollkommen durch? Nachdem Anton ihnen beiden Soße aufgetan hatte, drehte Elias völlig verwirrt einige Nudeln auf den Löffel. »In dem Gedicht«, murmelte er leise, »da stand was davon, dass er dir gesagt hat, dass du ihn hassen sollst…?« Anton stocherte ein wenig in seinem Essen herum, dann nickte er. »Er hatte einen Schuhkarton. Voll mit Papierkram, eine Menge Songtexte von irgendwelchen Bands, Briefe, wirre Notizen, das meiste davon hat er wohl im Drogenrausch aufgeschrieben. Mein Name stand auf der Kiste. Ich hab sie immer noch. Und von seiner Lieblingsband gab es ein Lied, das ihm wohl immer wieder durch den Kopf gegangen ist. Er hat ein paar der Liedzeilen gefühlte hundert Mal aufgeschrieben… ich kann dir das Lied vorspielen, wenn du willst«, antwortete Anton mit noch immer hochroten Wangen. »Nur wenn du wirklich willst«, entgegnete Elias hastig. Anton lächelte kaum merklich. »Du bist der Erste, dem ich das alles erzähle… wenn schon, denn schon…« Sie aßen schweigend, nur einmal versicherte Elias Anton, dass es wirklich gut schmeckte. Dann sortierte Anton das Geschirr in die Spülmaschine und schrieb einen kurzen Zettel für seine Mutter, dass er ihr etwas zu essen aufgehoben hatte. Schließlich folgte Elias Anton wieder zurück in sein Zimmer und Anton kramte in seinem CD- Regal, bis er fand, was er suchte. Dann legte er die CD in seine Stereoanlage und blieb im Schneidersitz davor sitzen. Elias kam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Anton spulte das Lied ein wenig vor, dann beobachtete er Elias dabei, wie er dem Text lauschte. »Hate me today. Hate me tomorrow. Hate me for all the things i didn't do for you. Hate me in ways, yeah ways hard to swallow. Hate me so you can finaly see what's good for you« Anton schloss die Augen und seufzte. Elias unterdrückte den Impuls, nach seiner Hand zu greifen. »In a sick way I want to thank you for holding my head up late at night While I was busy waging wars on myself, you were trying to stop the fight You never doubted my warped opinions on things like suicidal hate. You made me compliment myself when it was way too hard to take So I'll drive so fucking far away that I'll never cross your mind And do whatever it takes in your heart to leave me behind« »Ich glaube, er hat das alles auf unsere Familie übertragen… Manchmal hör ich mir das Lied stundenlang an…«, murmelte Anton seinen Knien entgegen. Schließlich sah er auf und sein Blick war irgendwie nervös. »Manchmal… erinnerst du mich an ihn«, gestand Anton sehr leise. Elias brachte ein Lächeln zustande, auch wenn er nicht wusste, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)