Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 23: Das verlorene Spiegelbild ------------------------------------- Ich muss euch noch mal mit einem kurzen Kapitel ärgern. Wer die komplette Geschichte über Antons Vergangenheit hier bereits erwartet hat, den muss ich leider enttäuschen. Es ist nur ein kleines Stück der Geschichte ;) Aber wir haben ja noch ein paar Kapitel vor uns. Das nächste wird wieder länger, versprochen! Morgen schreib ich meine Klausur und dann hab ich in den Ferien hoffentlich ne Menge Zeit zum Tippen. Das Kapitel ist für meine Lisa Viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße, __________________________________________ Spiegelwelt voll schöner Sachen, die mich täglich traurig machen, schau mir nicht mehr ins Gesicht du bist fort, ich seh’ dich nicht. Er hatte sich noch nie in seinem Leben schlecht dafür gefühlt, dass es ihm immer gut gegangen war. Aber jetzt, als er dieses große Puzzlestück vor sich sah, kam er sich schrecklich vor. Wieso musste es zwei Menschen so unterschiedlich ergehen? Ihm war nie etwas passiert, außer einer Fünf in Französisch und dem Tod seiner Großmutter, als er vier Jahre alt gewesen war. Und hier saß Anton, dessen Eltern sich getrennt hatten, weil sein Vater fremdgegangen war, der daraufhin angefangen hatte zu trinken und jetzt hatte er auch noch einen vor genau vier Jahren – an ihrer beider Geburtstag – verstorbenen Zwillingsbruder. Wie viel Pech konnte ein einziger Mensch eigentlich haben? Und wie viel Unglück konnte ein Mensch ertragen? Die Spiegel, das Gedicht, Antons traurige Augen. Alles ergab einen Sinn. Er versuchte sich das ganze Gedicht ins Gedächtnis zu rufen. Er nahm dir die Lust am Leben, abgewendet, aufgegeben. Spiegelbilder blind und leer, sehen werd ich nimmermehr. Elias wusste nicht, ob er das wirklich verstand. Wer war ‚er’? Meinte Anton sich selbst damit? Elias wollte ihn nicht fragen. Anton saß immer noch neben ihm, starrte den Grabstein an und sagte kein einziges Wort. Elias schluckte und las immer wieder das kleine Gedicht auf dem Grabstein. »Das ist Hermann Hesse«, sagte Anton leise, »Ma hat mir früher immer Gedichte vorgelesen. Ich mag Gedichte… Lukas hatte nie sonderlich viel dafür übrig.« Die Sonne schien unerhört freundlich auf sie beide und das mit Efeu überwucherte Grab. Der helle Grabstein glitzerte sogar ein wenig im Licht. Elias wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte das Gefühl, er könnte nie wieder etwas zu Anton sagen. »Er war mehr der Sportler, ist viel mit seinem Skateboard durch die Gegend gezogen, hat mit Klassenkameraden Fußball gespielt… oder mit Pa. Er war immer mehr der Sohn, den Pa sich gewünscht hat. Ich war Mas Liebling. Sie hat mir vorgelesen, wir haben zusammen Klavier gespielt und Beethoven angehört…« Antons Stimme war leise und brüchig, als hätte er diese Geschichte noch nie in seinem Leben erzählt und als müsste er erst die richtigen Worte finden, um all das zu beschreiben, was in seinen Erinnerungen verankert und versteckt war. »Trotzdem haben wir viel zusammen gemacht. Wir waren immer zusammen. Er und ich. Wie man sich das so vorstellt, bei eineiigen Zwillingen. Immerzu haben Leute uns verglichen, wir haben immer versucht uns gegenseitig zu übertrumpfen. Auch wenn das dumm war, immerhin hatte jeder ein Gebiet, auf dem er gut war. Es war manchmal anstrengend, immer miteinander verglichen zu werden. Nur unsere Eltern haben das nie gemacht, die kannten uns. Und… unsere Freunde haben das auch nicht. Wahrscheinlich waren sie genau deswegen unsere Freunde…« Anton verstummte und seine Augen glitten über den Efeu, der das Grab überwucherte. »Ich hab das Gedicht ausgesucht. Und den Efeu… Ich hoffe du findest es nicht komisch, dass ich dir Efeu geschenkt hab. Es ist meine Lieblingspflanze«, murmelte Anton und zog seine Knie an den Körper, ehe er sein Kinn darauf ablegte. »Nein, ich… das macht gar nichts…«, erwiderte Elias heiser. Sein Herz schien sich konstant zusammen gezogen haben. Wieso hatte ihm nie jemand beigebracht, was man in solchen Augenblicken sagen sollte? »Ich hab deine Ma angemotzt«, platzte es schließlich aus ihm heraus. Anton blinzelte, sah ihn aber nicht an. »Wieso?«, fragte Anton unvermindert leise. Ein kühler Wind strich über sie hinweg und ließ den Efeu sacht rascheln. »Weil sie… sie wollte mir am Anfang nicht sagen, wo du steckst und ich dachte… dass es eigentlich ihre Aufgabe wäre, hier bei dir zu sein und dich wieder zurück zu holen«, murmelte er. Er spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg. Anton schwieg eine Weile lang. »Ich wäre vermutlich nicht mit ihr gegangen, das weiß sie sicher… aber sie war ohnehin nie hier, seit damals. Sie war nie hier. Ich weiß, dass sie immer, wenn sie mich anschaut, auch ihn sieht. Ich mach ihr keinen Vorwurf. Ich seh’ ihn ja selber in mir, jedes Mal wenn ich in den Spiegel schau. Manchmal ruft Pa bei Ma auf dem Handy an… wenn er richtig betrunken ist. Und dann fragt er nach ihm. Ma erzählt mir das nie, aber ich weiß, dass er’s immer noch macht. Sie versucht ihn von mir fern zu halten. Aber sie wechselt ihre Handynummer nicht, ich glaube, sie hängt irgendwie immer noch an dem, was früher mal war. Obwohl sie jedes Mal wütend wird, wenn er betrunken anruft. Sie kann mich kaum anschauen und trotzdem tut sie alles, was sie kann, um mich zu beschützen. Ich weiß, dass Leute immer denken, sie würde mich schlecht behandeln, aber das stimmt überhaupt nicht. Sie gibt sich die Schuld. Und er hat ihr die Schuld auch gegeben…« Elias fragte nicht, wer ‚er’ war. Ob er Lukas oder seinen Vater meinte. Der Kloß in seinem Hals, den er seit der Ankunft am Friedhof verspürt hatte, schien anzuschwellen. Sollte er Anton auffordern die ganze Geschichte zu erzählen? Denn Elias wusste, dass da noch Puzzlestücke fehlten. Er spürte es irgendwie. Die Geschichte hatte Lücken. Aber sollte Anton ihm diese Dinge nicht besser freiwillig erzählen? »Mein Geburtstag ist immer auch sein Todestag. Ich werd sicher nie wieder feiern…«, murmelte Anton kaum hörbar und legte die Stirn auf seine Knie, sodass Elias sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Er war sich nicht sicher, ob er es ertragen könnte, wenn Anton jetzt weinen würde. Er rutschte unruhig auf dem Beton hin und her, dann rückte er unbeholfen etwas näher zu Anton und zögerte mehrere rasche Herzschläge lang, dann legte er ihm behutsam einen Arm um die Schultern. Anton rührte sich nicht, sagte nichts und ließ auch nicht erkennen, dass ihm diese Geste irgendwie unangenehm war. Elias wusste nicht, wie lange sie so dort vor Lukas’ Grab saßen, aber irgendwann hob Anton den Kopf und sah ihn von der Seite an. Etwas an diesem Blick ließ Elias seinen Arm hastig zurück ziehen. Sein Herz hämmerte schon wieder in Halshöhe. »Es ist bald Schulschluss«, sagte Anton und rappelte sich auf. Elias stand ebenfalls auf und sah Anton verwirrt an. »Ähm…«, begann er, aber Anton klopfte sich sachte die Hose ab und beantwortete die ungestellte Frage. »Es gibt noch… andere… die jedes Jahr hierher kommen. Nach der Schule. Wenn es so weit ist, will ich nicht mehr da sein«, meinte er unverbindlich, wandte sich ab und ging in Richtung Ausgang des Friedhofs davon. Elias warf noch einen Blick auf das Grab, dann folgte er Anton. Anton sprach nicht mehr viel. Er ließ sich von Elias überreden, in der Innenstadt etwas zu essen. Elias sah sich insgeheim um und befand, dass die Stadt eigentlich recht hübsch war. Ob er und seine Mutter damals sofort weggezogen waren, nachdem es passiert war? »Du schwänzt die Schule wegen mir«, sagte Anton leise, als sie sich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof machten. Elias räusperte sich verlegen. Er fühlte sich merkwürdig. Schwer und irgendwie schuldig, was natürlich bescheuert war, denn Anton würde ihm sicherlich nie vorhalten, dass er immer glücklich gewesen war. »Ja, ich hab mir Sorgen gemacht«, erwiderte Elias frei heraus und Anton warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Schließlich räusperte er sich. »Tut mir Leid, dass ich nicht Bescheid gesagt hab. Ich bin schon gestern hergekommen und hab am Bahnhof übernachtet«, gestand er. Elias hob die Brauen, fragte aber nicht weiter nach. »Ich hab dir zwei SMS geschrieben…«, sagte er dann ein wenig verlegen. Anton sah überrascht auf. »Oh… ich hab mein Handy gar nicht dabei…«, antwortete er entschuldigend. Elias nickte nur und warf einen Blick auf die Anzeigetafel am kleinen Bahnhof, die die Rückfahrt in zehn Minuten ankündigte. Sie standen dicht beieinander, beide mit Rucksack, im blassen Licht der Wintersonne und warteten schweigend auf den Zug. Elias konnte sich nicht recht entscheiden, ob er das Schweigen unangenehm finden sollte, aber der Zug kam schon im nächsten Augenblick und sie stiegen ein, ließen sich auf einen Viererplatz fallen und Anton sah aus dem Fenster. Elias räusperte sich nervös. »Erzählst du es mir… irgendwann?«, fragte er leise. Anton wandte den Blick vom Fenster ab und musterte Elias, bis der Zug sich schließlich in Bewegung setzte. »Willst du es denn wirklich hören?«, erwiderte Anton noch leiser. Elias atmete einmal tief durch. Dann nickte er. »Ja, will ich. Wenn du es erzählen möchtest«, gab er aufrichtig zurück und sah Anton fest in die Augen. Anton legte den Kopf schief und sah ihn noch einen Moment lang durchdringend an, dann wandte er sich wieder dem Fenster zu und betrachtete die vorbei fliegende Landschaft. »Wenn du nichts dagegen hast, ein bisschen zu warten…« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)