Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 21: Der Papierflieger ----------------------------- Für einfach weil ;) Für , weil sie sich nicht entscheiden kann, ob ich tippen oder lernen soll. Für , weil sie schon wieder ständig gefragt hat und weil der Tag mit ihr und Mama heute so cool war. Für , weil sie (immer noch) mein Stern ist. Für , weil sie ist, wie sie ist. Für alle, die mir regelmäßige ihr Feedback dalassen: Im Sinne des Kapitels bedanke ich mich ganz herzlich dafür, ich weiß das wirklich zu schätzen! Viel Spaß beim Lesen! _______________ Elias hielt sein Versprechen und fragte Anton nicht nach dem Gedicht. Er gab es Anton zurück, als dieser ihn am nächsten Tag wieder besuchen kam. Anton sah aus, als würde er erwarten, dass Elias doch Fragen stellte. Aber nach einiger Zeit schienen sich seine Bedenken zu zerstreuen. Elias beklagte sich bei Anton darüber, dass er Politik als mündliches Prüfungsfach fürs Abi vermutlich verhauen würde. »Soll ich dir beim Lernen helfen?«, erkundigte sich Anton nüchtern. Elias blinzelte. Antons Gesichtsausdruck war abwartend und es sah nicht so aus, als würde er spaßen. »Bist du gut in Politik?«, fragte Elias interessiert. Anton zuckte mit den Schultern. »Ich bin in jedem Fach gut. Außer in Sport und Kunst«, entgegnete er und brachte ein halbes Lächeln zustande. Wenn Anton so etwas sagte, dann klang es kein bisschen arrogant. Wenn Elias davon sprach, dass er in Mathe gute Noten bekam, ohne etwas dafür zu tun, dann hörte er sich grundsätzlich ein wenig überheblich an, ob er nun wollte oder nicht. »Oh… ja. Hab ich vergessen«, erwiderte Elias immer noch ein wenig verwirrt. Antons Mundwinkel zuckten und er angelte Elias’ Politikmappe vom Bett, die er dort vorhin in der Absicht hingelegt hatte, noch ein wenig zu lernen. Dann hatte er es sich kurzfristig anders überlegt. Politik bereitete ihm schlechte Laune. Anton blätterte behutsam durch die Mappe, ließ die Augen über Elias’ katastrophale Handschrift gleiten und runzelte ab und an die Stirn, wenn er ein oder mehrere Wörter nicht lesen konnte. »Ich weiß, es sind Hieroglyphen«, meinte Elias verlegen grinsend und fuhr sich durch die Haare. »Es gibt schlimmere Handschriften«, versicherte Anton ihm. Elias war eigentlich immer der Meinung gewesen, dass seine Handschrift die Krönung aller Sauklauen war. »Alex, meine beste Freundin, sagt immer, es ist schlimmer als das Schlimmste, was sie je gesehen hat«, meinte Elias grinsend und sah zu, wie Anton einen Text über Terrorismus überflog. »Übertreibt sie gern ein bisschen?«, wollte Anton wissen, klappte die Mappe zu und sah Elias mit leicht schief gelegtem Kopf an. Ein paar seiner schwarzen Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und er pustete sie sachte fort. »Ja, allerdings. Aber sie ist das tollste Mädchen, das ich kenne«, sagte Elias breit schmunzelnd. Anton lehnte sich mit dem Rücken gegen Elias’ Bett. »Erzähl mir was von ihr«, bat er leise. Elias blinzelte ein wenig erstaunt, dann lehnte er sich neben Antons an sein Bett, sodass sich ihre Schultern kaum merklich berührten. »Wir haben uns als Kinder im Kirchenchor kennen gelernt. Ihre Eltern sind der Meinung, dass ich der perfekte Schwiegersohn für sie bin. Aber sie hat sich kürzlich in einen langhaarigen, Springerstiefel- tragenden Rocker verliebt. Letztens hat sie mir gebeichtet, dass sie über zwei Jahre lang in mich verliebt war…« Er hielt kurz inne und betrachtete seine Knie. Anton schwieg und so fuhr Elias fort. »Sie geht seit ein paar Jahren auf ein katholisches Mädcheninternat. Sie spielt Querflöte und verschweigt ihren Eltern seit Ewigkeiten, dass sie Karate macht. Die glauben, dass sie Ballettunterricht nimmt. Früher, als wir noch kleiner waren, hat sie immer die Jungs verprügelt, die mich geärgert haben, weil ich früher mal gelispelt hab. Sie flucht ständig, am liebsten auf Polnisch, weil ihre Nonnen- Lehrerinnen das dann nicht verstehen…« Als Elias den Kopf drehte, um Anton anzusehen, sah er, dass sein Nachbar lächelte. Elias konnte sich nicht ganz entscheiden, ob es ein fröhliches oder ein wehmütiges Lächeln war. »Sie klingt nett«, murmelte er leise. Elias lachte leise. »Sie ist nett. Wenn du sie mal kennen lernst, mach dich auf was gefasst. Sie redet schlimmer als ein Wasserfall«, erklärte er amüsiert. Anton wandte sein Gesicht Elias zu und sah ihn direkt an, immer noch lächelnd. Elias ertappte sich dabei, wie er einen Moment lang den Atem anhielt. Anton hatte ihn noch nie direkt angelächelt. Nicht so. Und nicht so aus der Nähe. Er räusperte sich und wandte den Kopf ab, leicht verwirrt davon, wie sehr ihn diese Tatsache… beeindruckte? »Wenn sie mal wieder ein Wochenende hier ist, dann stelle ich sie dir vor«, sagte Elias. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. »Sag mal… hast du eigentlich ein Handy?«, fragte er und starrte Anton an. Anton blinzelte verwirrt, dann nickte er. »Aber ich benutze es eigentlich nie«, sagte er langsam. Elias fuhr mit der Hand in seine Hosentasche und kramte sein Handy hervor. »Gib mir mal deine Nummer. Kann ja nicht angehen, dass ich die nicht hab«, meinte er schmunzelnd. Anton sah schon wieder irritiert aus, doch dann diktierte er Elias bereitwillig seine Handynummer. Der Januar floss schnell dahin und die Abiturprüfungen krochen drängend näher. Elias sah sich jeden Tag in der Schule damit konfrontiert, denn alle ihre Lehrer sprachen von nichts anderem mehr, predigten dunkle Vorahnungen über das Zentralabi und häuften ihnen mehr Arbeit als jemals zuvor auf. Katharina traf sich noch zweimal mit Marcel, dann tauchte sie eines Donnerstagabends bei Elias im Zimmer auf und verkündete, dass sie ihn komplett neu eingekleidet hatte. Alex schmachtete von Alex, Dominik von Christine, Markus und Nuri redeten nur noch von Babyschuhen und Kinderbetten und davon, wie schön sie den Namen für ihr Kind fanden, auf den sie sich nun endlich geeinigt hatten. Es sollte eine kleine Lea- Lekysha werden. Langsam aber sicher konnte man deutlich Nuris Bauch erkennen und Elias und Dominik betrachteten sie jedes Mal voller Ehrfurcht, wenn sie sich zu viert trafen. Nuri fand das alles sehr amüsant. Auch wenn Elias ziemlich damit beschäftigt war, sich auf sein Abitur vorzubereiten, so konnte er doch nicht umhin zu bemerken, dass Anton aus irgendwelchen Gründen schweigsamer und nachdenklicher wurde. Elias wusste nicht, woran das lag. Aber er fragte auch nicht nach, da er das dumpfe Gefühl hatte, dass diese Sache genauso heikel war wie die mit den Spiegeln. Trotzdem half er ihm bei den Politikvorbereitungen und Elias stellte fest, dass Anton ziemlich gut darin war, Dinge zu erklären. Als Elias ihm das als Kompliment unterbreitete, wurde Anton wieder einmal knallrot und begann zu stottern. Daraufhin ertappte sich Elias bei einem strahlenden Lächeln. Er fragte sich, ob er langsam aber sicher durchdrehte. »Also das mit den Spiegeln versteh ich nicht. Ich würde ohne Spiegel sterben, auch wenn es manchmal ganz nützlich wäre, keinen zu haben, vor allem morgens nach dem Aufstehen. Aber vielleicht erzählt er es dir ja noch irgendwann, hab ich erwähnt, dass ich Anfang März ein Wochenende bei dir sein werde? Ich weiß, das ist kurz vorm Abi, aber vielleicht kannst du ja mal einen Tag für mich freischaufeln«, sagte Alex, als Elias am dritten Februar – einem Mittwoch – mit ihr telefonierte. »Für dich kann ich immer einen Tag freischaufeln«, sagte Elias schmunzelnd. Er kaute an einer Bifi und lag bäuchlings auf seinem Bett, die Erdkundemappe vor sich. »Hättest du übrigens Lust, Anton mal kennen zu lernen? Ich dachte, ich stell euch einander mal vor«, mampfte er. »Oh, ja! Unbedingt, ich will zu gern wissen, wer dich da so beeindruckt hat, dass du ganze Wochenenden mit ihm verbringst«, sagte Alex und Elias hörte sie grinsen. Zu seiner Verwirrung spürte er, wie sein Gesicht heiß wurde. »Klingt irgendwie komisch, wenn du es so sagst«, nuschelte er und biss noch einmal von seiner Bifi ab. Alex hatte für diese Bemerkung nur ein Kichern übrig. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, Anton und Alex einander vorzustellen. »Du interpretierst in meine Worte viel zu viel hinein«, belehrte Alex ihn gut gelaunt und gerade als sich Elias das letzte Stück Bifi in den Mund schob, stellte sie eine Frage, die ihn dazu brachte, sich zu verschlucken. »Sag mal, kann man eigentlich viel verkehrt machen, wenn man einem Kerl einen runterholt?« Er hustete ausgiebig und drehte sich auf den Rücken. Alex schwieg und wartete darauf, dass Elias seine Atmung wieder unter Kontrolle bekam. »Bitte? Woher soll ich das wissen?«, fragte er stumpf und ein wenig fuchsig, weil er automatisch daran denken musste, dass Alex ihm erklärt hatte, er sei vielleicht nicht ganz so heterosexuell, wie er dachte. »Erde an Elias? Du bist ein Mann. Manchmal liegen die abends sicher im Bett und machen es sich selber, oder? Woran hast du denn wieder gedacht, ich hab dir doch eben gesagt, du sollst nicht immer irgendwelche Sachen in das rein interpretieren, was ich dir sage. Dachtest du etwa, dass ich denke, dass du schon mal einem Kerl einen runtergeholt hast? Das verbitte ich mir und das will ich nicht hoffen, denn dann hättest du es mir natürlich augenblicklich erzählt und sei es vier Uhr nachts!« Elias fragte sich, seit wann Alex so auf seine angebliche Homo- oder Bisexualität fixiert war. Oder ob er es vielleicht selbst war, der darauf fixiert war… »Ähm… also so viel verkehrt machen kannst du eigentlich nicht«, sagte er zögerlich und verscheuchte die Gedanken daran, wie es wohl wäre, einem anderen Kerl… »Bist du dir sicher? Ich will echt nicht dastehen wie der letzte Depp, wenn ich mich in zwanzig Jahren das erste Mal traue, meine Hand überhaupt in die Richtung der unteren Körperhälfte meines Freundes zu schieben…«, sagte Alex selbstironisch und seufzte tief. »Du wirst schon merken, was gut ist. Wenn er laut aufschreit und wimmert, dann weißt du, dass du besser aufhören solltest«, meinte er beiläufig. Alex schnaubte ungeduldig. »Sehr witzig! Schön, dass du dir darüber keine Gedanken machen musst, Mr. Lover Lover!« Sie klang deutlich angefressen. »Tut mir Leid. Nur hab ich ehrlich gesagt noch nie eine Gebrauchsanweisung fürs männliche Geschlechtsteil gegeben«, lenkte er ein. Alex schwieg einen Moment. »Kannst du das gar nicht verstehen? Nicht mal ein bisschen? Dass ich Angst hab, was falsch zu machen und dass ich ihm nicht gefalle und dass ihm das, was ich mache, nicht gefällt? Macht man sich solche Gedanken nur, wenn man verliebt ist?« »Ich hab mir nie Gedanken darum gemacht«, gab Elias zu und augenblicklich kamen die Gedanken zurück, dass er noch nie verliebt gewesen war und dass er wohl wirklich einiges verpasst hatte. Seufzend fuhr er sich durch die Haare. »Weißt du… ich denke, wenn du ihm einfach erklärst, dass du unsicher bist, dann wird er dir schon dabei helfen raus zu finden, was er gut findet. Du bist toll und er wäre ein Vollidiot, wenn er es dir übel nehmen würde, dass du noch nie was mit einem Mann hattest, ok?« »Du bist ein blöder Schleimer«, brummelte Alex und Elias lächelte, weil er wusste, dass sie rot angelaufen war. »Bei dir brauch ich nicht zu schleimen. Und jetzt mach ich mich ans Erdkundelernen. Mich hat der Abi- Ehrgeiz gepackt«, sagte er schmunzelnd. »Na fein. Ich werd dir berichten, wenn ich meinen Freund zeugungsunfähig gemacht habe«, erwiderte Alex. »Alles klar. Ich warte gespannt!« »Arschloch…« Er beschäftigte sich ganze zweieinhalb Stunden mit Erdkunde. Danach schwirrte ihm der Kopf vor Informationen über Schwellenländer und Statistiken. Gerade fragte er sich, ob er noch ein Kotelett ergattern könnte, als sein Handy piepte. Er fischte es mit zwei Fingern aus seiner Hosentasche und öffnete die Kurzmitteilung, die er erhalten hatte. Blinzelnd betrachtete er sein Handy, das ihm verkündete, dass die SMS von Anton war. »Du hast Post auf dem Balkon.« Mehr stand da nicht. Elias runzelte die Stirn, legte das Handy beiseite und verließ sein Zimmer, um durchs Wohnzimmer zu gehen und auf den Balkon hinaus zu treten. Suchend blickte er sich um, bis er auf dem grauen Betonboden ihres Balkons einen weißen, sorgfältig gefalteten Papierflieger fand. Daran war ein Bindfaden befestigt, mit dem Anton wohl sicher gegangen war, dass seine Post nicht auf Abwege geriet. Elias hob den Papierflieger auf und entdeckte auf einem der Flügel in gestochen scharfer Handschrift seinen Namen. Den Blick immer noch den Papierflieger gerichtet, ging er zurück durchs Wohnzimmer, den Flur und in sein Zimmer. Das Kotelett hatte er vollkommen vergessen. Gespannt warf er sich mitsamt seiner Post aufs Bett und zerdrückte dabei seine arme Erdkundemappe, die schon bei der Rauferei mit Kathi einiges hatte aushalten müssen. Er zog sie unter sich hervor und schob sie ungeduldig beiseite. Dann faltete er seinen Brief behutsam auseinander. »Danke, dass du mir das Sekretariat an meinem ersten Tag gezeigt hast. Danke, dass du mit deiner Familie rüber gekommen bist, um uns den Kuchen zu bringen. Danke, dass du mein Etui aus der Mülltonne gefischt und mir deine Brotbox geliehen hast. Danke, dass du Harry Potter nicht peinlich findest. Danke, dass du mit mir Musik durch die Wand gemacht hast und Danke, dass du gesagt hast, dass wir das öfter machen könnten. Danke, dass du rüber gekommen bist, als ich länger nicht in der Schule war und dass du dich so entrüstet hast, weil die drei Vollidioten aus meinem Jahrgang mir ein blaues Auge verpasst haben. Danke, dass du jeden Morgen mit mir zur Schule gehst und dafür früher aufstehst. Danke, dass du jeden Mittag mit mir nach Hause gehst und sogar wartest, wenn du eigentlich eher Schluss hättest als ich. Danke, dass du meine Mundwinkel zucken siehst, wenn ich mir ein Lächeln verkneife. Danke, dass du den lila Schirm über uns beide gehalten hast. Danke, dass du mich nach der Schule mit zu dir genommen hast, als ich meinen Schlüssel vergessen hatte. Danke, dass du mir eins von deinen eigenen Liedern vorgespielt- und gesungen hast. Danke für das Essen, was du für mich mitbestellt hast. Danke, dass du Klassik nicht blöd findest und dir sogar Sachen angehört hast. Danke, dass du mich immer wieder zu dir rüber einlädst. Danke, dass ich mit dir und deiner kleinen Schwester Memory spielen und Pokémon schauen durfte. Danke für das Angebot, dass ich immer rüber kommen kann, wenn ich bei mir nicht sein will. Danke, dass du dich so über mein erstes (und auch alle danach folgenden) Lächeln gefreut hast. Danke, dass du mir von deinem Traum mit der Band erzählt hast. Danke, dass du die Sache mit dem Schreiben nicht panne findest. Danke, dass du dich für mich geschlagen hast. Danke, dass du danach gesagt hast, dass man das unter Freunden so macht. Danke, dass du mir beim Tütentragen geholfen hast. Danke, dass du mir kein ‚fröhliche Weihnachten’ gewünscht hast. Danke, dass du nie nachbohrst, wenn du merkst, dass du einen wunden Punkt getroffen hast. Danke, dass du dich von meinem Wutausbruch nicht hast abschrecken lassen. Danke, dass du zu mir rüber geklettert bist und nichts zu der Sache mit meinem Vater gesagt hast. Danke, dass du extra Bescheid gesagt hast, dass du krank bist, damit ich morgens nicht umsonst warte. Danke, dass du mir gesagt hast, dass du mich magst. Danke, dass du gesagt hast, dass meine Suppe geschmeckt hat. Danke, dass du dich für meine Gedichte interessierst, dir eins durchgelesen und wirklich keine Fragen gestellt hast. Danke für alles, was du bisher für mich getan hast. Bisher habe ich noch kein einziges Mal ‚Danke’ gesagt. Ich wollte das unbedingt nachholen. Danke dafür, dass du so bist, wie du bist. Anton« Elias starrte auf die säuberliche Auflistung. Sein Herz schlug irgendwo in der Gegend seines Adamsapfels und er schluckte, als könnte er sein Herzklopfen damit irgendwie beruhigen. Was sollte er dazu sagen? Sollte er eine SMS schreiben? Einen Brief zurück? Sollte er gar nichts sagen? Er starrte auf den Zettel und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Dann griff er nach seinem Handy und tippte zwei Worte, die er wirklich so meinte. »Gern geschehen.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)