Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 9: Entschluss: Begleitschutz ------------------------------------ Für Aye, weil ich will, dass sie lächelt. Für Lisa, weil sie mit ihrer Anweisenheit die Idee hervorgerufen hat. Für Arod, weil sie sich ständig für das Ausbleiben der Kommentare entschuldigt, obwohl sie das gar nicht muss. Für Tanja, weil sie jeden Tag nach dem Kapitel gefragt hat ;) Viel Spaß beim Lesen und danke für all die lieben Kommentare! Liebe Grüße, ___________________ Elias genoss die Zeit, in der Alex wieder in der Stadt war. Nachdem sie den ganzen Samstag miteinander verbracht hatten, trafen sie sich auch am Sonntag, spielten Gitarre und Querflöte, quatschten, veranstalteten Kissenschlachten und Alex setzte sich zu Nathalie und Elias ins Wohnzimmer und sah sich drei Folgen Pokémon mit seiner kleinen Schwester an, die Alex ohnehin schon immer vergöttert hatte. Am Abend setzten seine Eltern sich dazu und selbst Katharina kam für zehn Minuten aus ihrem Zimmer gekrochen, um sich kurz an den Unterhaltungen zu beteiligen. Nachdem Alex ihre schlanken Beine bewundert hatte, ging Katharina mit ziemlich guter Laune zurück in ihr Zimmer. Das war Alex’ besondere Gabe. Leuten das Gefühl zu geben, dass sie etwas Besonderes waren und sie aufzuheitern. Elias hatte Alex vorgeschlagen, sie an sein Bett zu ketten und nicht mehr gehen zu lassen. Alex war begeistert von der Idee, allerdings war sie sich sicher, dass ihre Eltern nicht viel davon halten würden, auch wenn sie in Elias einen erstrebenswerten, potentiellen, zukünftigen Ehemann für ihre Tochter sahen. »Schon seit wir uns im Kirchenchor kennen gelernt haben, sind sie der Meinung, du wärst genau der Richtige für mich«, hatte Alex erzählt und die Augen verdreht. Elias hatte sich geräuspert. »Aber da waren wir sieben. Da haben sich deine Eltern schon Gedanken über deine zukünftige Ehe gemacht?«, hatte er geantwortet. Er liebte Alex wirklich. Aber er wollte nicht mit ihr verheiratet sein. Zugegebenermaßen hatte er das Gefühl, sie jetzt schon wieder zu vermissen, kaum dass sie aus der Tür war. Aber so war das nun einmal, wenn die beste Freundin auf ein katholisches Mädcheninternat in einer anderen Stadt ging. Den Sonntagabend verbrachte er mit Hausaufgaben und Gitarrespielen. Ein wenig hoffte er, dass Anton auch Musik machte, weil Musik zusammen zu machen immer schöner war, als es allein zu tun. Aber drüben in der Wohnung der Nickischs herrschte Grabesstille. Auch am Montag sah Elias nichts von Anton und er konnte nicht umhin sich zu fragen, wo Anton eigentlich geblieben war. Mathe verging in einem Schleier von Lobhymnen seitens Frau Beyer, die seine Hausaufgaben enthusiastisch an die Tafel schrieb und der Klasse verkündete, dass sie sich alle an Elias ein Beispiel nehmen sollten, was Elias in Verlegenheit stürzte, weil ihn die Mathehausaufgaben nur zehn Minuten gekostet hatten. Die Pausen waren Anton- los, er saß nicht auf der Treppe und war auch nirgends auf dem Schulhof zu sehen. Elias überlegte, ob er Johanna anrufen und sie fragen sollte, wo Anton steckte, aber das erschien ihm dann doch zu gruselig. Immerhin war er kein Stalker. Allerdings ließ sich Anton auch die nächsten zwei Tage nicht blicken und Elias fragte sich allmählich, was denn mit ihm passiert war. War er krank? Beurlaubt? Oder übersah Elias ihn einfach? Er teilte seine Bedenken Dominik und Markus mit, die allerdings nur meinten, dass dies immerhin eine große Schule sei und Anton genauso gut am anderen Ende sitzen und seine Bücher lesen konnte. Elias hatte gar keine Lust, sich darüber Sorgen zu machen, wo genau sein neuer, unnahbarer Nachbar steckte, aber sein Verantwortungsbewusstsein stichelte ihn Tag und Nacht drüben bei den Nickischs an der Tür zu klingeln und sich davon zu überzeugen, dass der Schwarzhaarige noch lebte. Am Mittwochabend ertappte er sich dabei, wie er mit einem Ohr an der Wand lauschte. »Das ist doch lächerlich«, murmelte er und kletterte von seinem Bett, stapfte in die Küche und war fest entschlossen, sich mit einer Milchschnitte oder einer BiFi abzulenken, als er im Zimmer sein Handy klingeln hörte. An ‚Smash’ erkannte er, dass es Markus sein musste und so rannte er gleich wieder zurück, wühlte in seiner Schultasche nach seinem Handy und nahm schließlich etwas außer Atem ab. »Hey Alter«, ächzte er in den Hörer und warf sich aufs Bett, »was gibt’s?« Eine Stille am anderen Ende ließ ihn die Stirn runzeln. »Ähm…Markus? Bist du es?« »Ja«, krächzte es kläglich am anderen Ende und Elias setzte sich auf, die Stirn immer noch gerunzelt. »Was ist los?«, fragte Elias alarmiert und beugte sich vor, um seine Ellbogen auf die Knie abzustützen. »Ich bin schwanger«, sagte Markus am anderen Ende. Elias stutzte einen Moment lang, dann lachte er laut. »Man, ich dachte schon, es wäre wirklich was. Jag mir doch nicht so ’ne Angst ein!« Es folgte eine erneute Stille, in der Elias immer noch gluckste. Dann… »Ich meine… Nuri ist schwanger. Ich werde Vater…« Das Glucksen blieb ihm im Halse steckte und er spürte, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten. »Was? Im Ernst?« »Ja… sie war heute beim Arzt und der hat es ihr gesagt«, krächzte Markus. »Bist du bei Dominik?«, fragte Elias immer noch vollkommen perplex. Er wusste nicht, was er sonst dazu sagen sollte. »Hmhm…« »Ich komm vorbei und bring Bier mit!«, sagte Elias und legte auf. Dann schnappte er sich seine Jacke, schlüpfte hastig in seine Chucks, machte sich aber keine Mühe sie zuzubinden. Beim nächstbesten Kiosk kaufte er zwei Sixpacks Bier, dann hastete er in Richtung Dominiks Haus. Seine beiden besten Freunde saßen auf dem zerschlissenen, dunkelblauen Sofa direkt neben Dominiks Schreibtisch und sahen ihn an, während er das Bier vor ihnen auf den Boden stellte, sich aus seiner Jacke pellte und die Schuhe in eine Ecke katapultierte. Dann griff er in Dominiks uralte Kommode, in denen auch die Kondome seines Kumpels steckten, und zog einen Flaschenöffner mit Holzgriff hervor. Er war schon so oft in diesem Keller gewesen, seit er aufs Gymnasium ging war er mit Markus und Dominik befreundet und seitdem hielten sie ihre Treffen in diesem Keller ab. Es war abgedunkelt, der Teppich war irgendwann einmal hellgrau gewesen. Jetzt zierten ihn mehrere undefinierbare Flecken, die nicht mehr auszuwaschen waren. Das uralte Sofa knarzte immer, wenn sich jemand darauf niederließ und der Schreibtisch war unter einem Berg Papier, leeren Tellern und Computerspielen kaum noch zu erkennen. Irgendwo neben dem Sofa stand eine große Shisha, ein Regal war voll gestopft mit Ordnern, Politik- und Geschichtswälzern und mehreren Bilderrahmen, in denen man meistens sie drei bei vergangenen Abenteuern bewundern konnte. Markus sah noch blasser aus als sonst, Dominik tätschelte ihm die Schulter und Elias fragte sich, ob er das schon machte, seit Markus hier angekommen war. Er öffnete drei Flaschen, hielt seinen beiden Freunden jeweils eine hin und setzte dann an, um seine Flasche halb zu leeren. Dann erst setzte er sich im Schneidersitz auf den schmuddeligen Teppich und sah Markus an. »Seit wann weißt du’s?«, fragte er ehrfürchtig. Markus schluckte. »Nuri hat vorhin angerufen, da war ich schon hier. Wir wollten eigentlich nur Dominiks neues Computerspiel ausprobieren… Und dann hat sie von Moni aus angerufen und meinte, der Arzt hat es ihr vorhin gesagt…« Moni war Nuris beste Freundin. »Und jetzt?«, fragte Elias und nahm noch einen Schluck Bier. Markus trank seines auf Ex. »Lasst ihr es wegmachen?«, fragte Dominik. Markus stutzte, dann runzelte er die Stirn und sah Dominik ungläubig an, als sei er von allen guten Geistern verlassen. »Nein!«, sagte er entrüstet und es klang, als sei das selbstverständlich. »Wie…ihr… ihr behaltet es?«, hauchte Dominik. Markus nickte. »Sie würde es nicht verkraften, wenn wir es wegmachen und ich will es auch behalten. Abtreiben ist scheiße. Außerdem hab ich ’ne Wohnung und meine Eltern schwimmen in Geld. Das wird schon irgendwie hinhauen«, entgegnete Markus. Den Rest des Abends redeten sie über Babynamen und darüber, wie man ein Studium und ein Baby am besten unter einen Hut bekam. Nach vier Bier und einigen kräftigen Bekundungen, dass er sicher ein toller Vater werden würde, sah Markus nicht mehr ganz so blass aus und er und Elias gingen gemeinsam nach draußen. Vor der Tür trennten sie sich und Elias klopfte Markus zum Abschied ermutigend auf den Rücken. Elias ging leicht angeschwippst und ziemlich nachdenklich nach Hause. Er wollte später keine Kinder und heiraten wollte er auch nicht. Aber zu Markus passte das ganz gut, auch wenn das mit dem Kind vielleicht ein wenig früh kam. Im Treppenhaus angekommen blieb er einen Moment lang vor Antons Wohnungstür stehen, dann wandte er sich ab und schloss seine Wohnung auf, ließ die Tür leise ins Schloss fallen und verschwand in seinem Zimmer. Am nächsten Morgen sah alles schon ganz anders aus. Dominik begrüßte Markus mit den Worten »Hey Daddy!« und sie lachten alle drei darüber. Englisch war langweilig wie immer, allerdings war von Anton immer noch nichts zu sehen. Mathe und Bio ließ er über sich ergehen, erst beim Sportunterricht war er wieder mit Begeisterung dabei. Weniger begeistert war er am Ende der Doppelstunde, als Frau Ebers ihnen verkündete, dass sie Handball nun abgeschlossen hätten und nächste Woche mit Bodenturnen anfangen würden. Er hasste Turnen und er war auch überhaupt nicht gut darin. Ziemlich verschwitzt zog er sich in der Umkleide um, steckte sich die Stöpsel seines MP3- Players in die Ohren und machte sich auf den Weg nach Hause. Nach einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es bereits viertel nach drei war. Er wollte dringend duschen und außerdem hatte er ziemlich großen Hunger. Er schaffte drei Teller Gulasch, seine Haare waren noch nass vom Duschen, als er seinen Teller und sein Besteck in die Spülmaschine räumte und sich eine Packung Zitronen- Eistee aus dem Kühlschrank nahm. Auf dem Weg ins Zimmer hielt er inne und sah einen Moment die Haustür an. Dann stellte er kurz entschlossen den Eistee auf den Schuhschrank, öffnete die Wohnungstür und trat hinaus ins Treppenhaus, um einige Sekunden später bei den Nickischs zu klingeln. Es dauerte einige Zeit, dann wurde die Tür geöffnet. Elias blinzelte. Er starrte Anton an, der wiederum zurückstarrte, als hätte er jeden Menschen eher erwartet, als seinen Nachbarn. Sein linkes Auge war leicht geschwollen und von einem gelb-grünlichen Kranz umgeben, seine Unterlippe war dicker als gewöhnlich und Schorf hatte sich daran gebildet, was darauf schließen ließ, dass sie aufgeplatzt war. »Was machst du denn hier?« »Was ist mit dir passiert?« Sie hatten gleichzeitig gesprochen und auch wenn die Situation eigentlich nicht lustig war, musste Elias glucksen und er meinte, Antons Mundwinkel zucken zu sehen, doch gleich darauf verzog er das Gesicht, als würde es ihm Schmerzen bereiten zu lächeln. »Also… ich fang an«, sagte Elias etwas verlegen schmunzelnd und fuhr sich durch die immer noch feuchten Haare, »ich hab dich seit Tagen nicht in der Schule gesehen und du hast kein Klavier gespielt, deswegen dachte ich, ich schau mal vorbei…« Anton blinzelte erstaunt. »Du schaust vorbei, weil ich nicht in der Schule war und kein Klavier gespielt habe…«, wiederholte er langsam und bedächtig, als müsste er die Worte erneut hören, um sie ganz zu verstehen. Elias nickte und hüstelte leicht. »Aha«, machte Anton nur, dann zögerte einen Moment lang, warf einen Blick über die Schulter und trat einen Schritt zur Seite. »Möchtest du…«, begann er, aber dann brach er ab, räusperte sich verlegen und sah interessiert den Türrahmen an. Elias war sich sicher, dass er kurz überlegt hatte, ob er ihn herein bitten sollte. Er fand es irgendwie schade, dass Anton angebrochen hatte. »Also… was… ist mit dir passiert?«, erkundigte sich Elias erneut und fragte sich einen Moment lang, ob Frau Nickisch vielleicht… »Ach nichts«, sagte Anton leichthin. Elias runzelte die Stirn. »Ach nichts? Sieht aber nicht nach nichts aus«, meinte er und verschränkte die Arme. Anton zog die Brauen hoch, als wäre er versucht Elias zu sagen, dass es ihn nichts anginge. »Es ist nicht schlimm. Ich komm schon zurecht«, erwiderte er stur. Elias grummelte leise. Dann kam ihm ein Geistesblitz. »Das waren doch nicht diese halbstarken Vollidioten von neulich, oder?«, fragte er und Anton sah ihn schweigend an, doch seine rechte Augenbraue zuckte leicht. Elias nahm das als ‚Ja’. Schnaubend stemmte er die Arme in die Hüften. »Das ist ungeheuerlich! Du musst zur Vertrauenslehrerin gehen. Oder… wer ist deine Tutorin? Oder noch besser, geh gleich zur Schulleitung!« Antons Gesichtszüge entgleisten, während er Elias beobachtete. Er sah vollkommen fassungslos aus. »Warum regt dich das so auf?«, fragte er perplex. Elias spürte, wie seine Augen sich weiteten. »Warum mich das aufregt?«, wiederholte er fassungslos, »Das ist doch total asozial? Wieso machen die so was? Ich finde das ungeheuerlich, wahrscheinlich noch mit drei Kerlen auf einen losgehen, so was kann ich nicht ab!« Antons Mundwinkel zuckten erneut. Elias blinzelte erneut. »Was ist so lustig?«, fragte er verwirrt. Anton räusperte sich. »Ich hab nicht gelacht«, gab er beiläufig zurück. Elias grummelte erneut. »Deine Mundwinkel haben gezuckt. Ich hab’s genau gesehen…!« Anton musterte ihn eingehend, sagte aber zunächst nichts. Dann öffnete er den Mund und sprach bedächtig, als müsste er seine Worte sorgsam wählen. »Du hast eine ziemlich scharfe Beobachtungsgabe«, meinte er schließlich. Elias wollte gerade antworten, als Schritte auf der Treppe zu hören waren und im nächsten Moment kam Frau Nickisch die Treppe hinauf, in eines ihrer strengen Kostüme gekleidet und mit ausdrucksloser Miene. Sie nickte Elias nur zu, sah ihren Sohn kurz an und schob sich dann an ihm vorbei. »Ich hoffe, dieses blaue Auge ist bald weg. Pass das nächste Mal einfach besser auf, wenn du Treppen steigst!« Mit diesen Worten verschwand sie. Antons Miene hatte sich verfinstert und er schwieg, dann wandte er sich ab, ohne Elias noch einmal anzusehen. Elias fragte sich, wie Frau Nickisch diese billige Ausrede à la »Ich bin die Treppe runter gefallen« hatte schlucken können. »Bis dann«, murmelte sein Nachbar. Elias schob hastig den Fuß zwischen Tür und Rahmen und stemmte seine Hand gegen die Tür. Anton hob den Blick und sah ihn fragend an. »Wir gehen morgen zusammen zur Schule«, sagte er mit fester Stimme. Anton sah vollkommen fassungslos aus. »Und wir gehen zusammen nach Hause! Haben ja sowieso den gleichen Weg.« Anton öffnete den Mund, wohl um zu widersprechen, doch Elias winkte nur, zog seinen Fuß und seine Hand zurück und drehte sich um, ehe er in seiner Wohnung verschwand. Er nahm seinen Eistee vom Schuhschrank. Draußen hörte er, wie Anton leise die Wohnungstür schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)