Efeu von Ur (Schlicht und Immergrün) ================================================================================ Kapitel 1: Veränderungen ------------------------ Die Musik dröhnte so laut, dass er kaum seine Gedanken hören konnte. Zu allem Überfluss hatte seine kleine Schwester ihr Zimmer abgeschlossen, weswegen er leider Gottes nicht zu ihr hinein stürmen und sie zwingen konnte, die Musik leiser zu machen. Also musste er sich Rihanna anhören, sehr laut und ausgesprochen ätzend. Pubertierende Mädchen waren wirklich das Schlimmste, was einem passieren konnte. Wenn er bedachte, dass seine andere Schwester sicherlich auch bald in so eine Phase kommen würde, dann hatte er deutlich den Wunsch, sich aus dem Fenster im dritten Stock zu stürzen. Seine Rihanna- hörende Schwester hieß Katharina. Die Kleinere, die noch nicht in den unheilvollen Zustand der Pubertät gerutscht war, hieß Nathalie. Natürlich mochte er sie eigentlich. Am meisten mochte er sie, wenn sie nicht nervten. Und das kam leider selten vor. Als älterer Bruder hatte man es wirklich nicht leicht. Er hegte schon länger den Wunsch auszuziehen, nur leider Gottes konnte er sich das nicht leisten. Sonst hätte er sicherlich schon alle sieben Sachen gepackt und wäre verschwunden. Er massierte entnervt seine Schläfen, schnappte sich schließlich seinen MP3- Player und setzte sich auf sein Fensterbrett. Er sollte dringend sein Zimmer aufräumen, seine Mutter würde ihm sicherlich bald aufs Dach steigen, wenn er nicht bald etwas Ordnung in das kreative Chaos brachte. Sein Zimmer war nicht sonderlich groß, daher fiel die Unordnung noch mehr auf. Seine Möbel waren wild durcheinander gewürfelt, der Schreibtisch war am ältesten und aus klapprigem Kieferholz. Darauf stand sein riesiger Monitor und die Tastatur konnte man kaum erkennen, da sie unter einem Berg Mappen und Heften begraben lag. Eigentlich hatte er Hausaufgaben machen wollen, aber die laute Musik seiner Schwester trug nicht gerade zur Steigerung seiner Konzentration bei. Sein Blick glitt über den ramponierten Kleiderschrank, an dem noch aus jüngeren Tagen Sticker von Star Wars und Pokemon klebten. Manchmal dachte er sich, dass ihm das eigentlich peinlich sein sollte, aber irgendwie wollte ihm das nie so recht gelingen. Eigentlich war ihm so gut wie gar nichts peinlich. Sein Bett war wie immer ungemacht, immerhin legte er sich abends ohnehin wieder hinein. Abgesehen davon diente es auch als Sitzgelegenheit, wenn er Besuch hatte, daher war es gleich doppelt unnötig, die Bettdecke zusammen zu legen. Die Wand über seinem Bett war gepflastert mit Postern von The Offspring, den Ärzten und Nirvana. Hier und da hatte er Bilder ausgedruckt, auf denen halbnackte Frauen zu sehen waren. Dabei legte er allerdings Wert auf Ästhetik, er mochte nur schwarzweiße Bilder. Alles Andere war ihm zu pornografisch. Das Regal direkt neben seinem Schreibtisch war voll gestopft mit Ordnern, DVDs, CDs und einer Sammlung von Actionfiguren (allesamt aus Star Wars). Er entdeckte eine alte Brotbox, die er letzte Woche mit in der Schule gehabt hatte. Die Erinnerung daran, dass noch ein halbes Käsebrot darin sein musste, ließ ihn kurz erschaudern. Sein Fußboden könnte mal wieder den Staubsauger gebrauchen, allerdings wäre es sinnlos, mit diesem Haushaltsgerät durch sein Chaos aus Papier, Klamotten, seiner Akustikgitarre und Notenheften zu pflügen. Am Ende würde er nur seine Unterlagen wegsaugen und das wollte er wirklich nicht. Die vier Kleiderhaken an seiner Tür waren überfüllt, irgendwo unter seinem Bett musste sein zweiter Schuh liegen – ein dunkelbrauner Chuck – den er morgen wieder brauchte… allerdings wollte er ungern wissen, was sonst noch so unter seinem Bett lag. Er hätte seine Schuhe eben nicht so energisch quer durch sein Zimmer pfeffern sollen, überlegte er, während er sich die Stöpsel seines MP3- Players in die Ohren schob. Endlich erstarb Rihannas Gesang und wurde von Farin Urlaub ersetzt, der ihm nun einen Vortrag über den ‚perfekten Augenblick’ hielt. Er schaute hinunter auf die Straße und beobachtete einen Lieferwagen, der einige Schwierigkeiten hatte, im engen Efeuweg zu manövrieren. Elias beobachtete amüsiert, wie der Lastwagenfahrer sich im Wenden in 90 Zügen versuchte und es schließlich schaffte, den LKW in die Einfahrt ihres Mehrfamilienhauses – Efeuweg 4 – zu komplimentieren. Ihre Nachbarn – eine schrecklich lärmige Familie mit zwei Kleinkindern – war vorletzte Woche ausgezogen und hatte eine leere Vierzimmerwohnung zurück gelassen. Soweit Elias informiert war, hatten sie ein drittes Kind erwartet und die Wohnung war ihnen angesichts des Zuwachses zu klein geworden. Wenn Elias bedachte, dass seine Eltern im Wohnzimmer auf einer Schlafcouch schliefen, damit ihre Kinder alle ein eigenes Zimmer hatten… Er lauschte dem verstummenden Lied, hörte kurzzeitig wieder Rihannas Gesang (»…hate that I love you boy…!«), ehe Kurt Cobain seine Ohren mit Come as you are bereicherte. Ein schwarzer, ziemlich teuer aussehender Audi bog in ihre Straße ein und hielt direkt neben dem Lieferwagen. Elias konnte nur vermuten, dass es sich hierbei um die Nachmieter handelte und beobachtete interessiert, wie eine Frau mittleren Alters ausstieg. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und wirkte alles in allem sehr geschäftsmäßig. Als sich die Beifahrertür öffnete, sagte sie etwas, ehe sie sich an die aussteigenden Möbelpacker wandte, um ihnen Instruktionen zu erteilen. Elias lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe, während eine milchige Septembersonne versuchte, durch ein Loch in den dichten, grauen Wolken zu dringen. Vermutlich wehte draußen eine kühle Brise. Seine Augen beobachteten den Beifahrersitz, von dem sich nun eine recht schlaksige Gestalt erhob. Einen Moment später stieg ein Junge aus, er musste wohl ungefähr in Elias’ Alter sein. Seine Haare waren schwarz, viel mehr konnte Elias aus dem dritten Stock nicht erkennen. Er schob seine Hände in die Taschen seiner verblichenen Jeans und sah an der efeubewachsenen Hauswand hinauf. Tatsächlich sah der Neuling nicht sonderlich aufrührerisch aus. Self Esteem von The Offspring dröhnte in seinen Ohren, während er zusah, wie der Junge auf das Haus zuging, so langsam, als wollte er den Moment des Eintretens möglichst lange hinauszögern. Vermutlich würde es von nun an ziemlich ruhig in der Nachbarswohnung werden, dachte Elias, als der Fremde das Haus schließlich betrat und aus Elias’ Sichtfeld verschwand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)