Lauter Einzelteile von halfJack (26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen) ================================================================================ Kapitel 23: Whiteout -------------------- Er blickt hinüber in ihr schlafendes Gesicht. Die gelben Lichtreflexe der Laternen huschen gleichmäßig über die sanften Konturen ihrer Haut, nur unterbrochen von den Schatten der Bäume am Straßenrand. Er wendet sich ab und schaut wieder nach vorn. Es hat aufgehört zu schneien. Ein leichter Nieselregen liegt in der Luft. Die Raststätten neben der Autobahn ziehen vorbei. Ihre Lichter verschwinden hinter ihm, bis auch das letzte Leuchten in den Seitenspiegeln erlischt. Zwischen den Leitplanken hindurch greift Finsternis nach dem grauschwarzen Asphalt. Nun rücken die Wälder näher an den Rand der Straße und atmen ihren Nebel in die Nacht. Seit zwei Stunden lauscht er schon dem Motorengeräusch seines Wagens. Es erscheint ihm so laut, dass er das Radio ausgeschaltet hat, weil er nichts hören kann. Nur wenige Fahrer sind unterwegs. In der Dunkelheit sehen die Rücklichter der vorausfahrenden Autos in der Ferne wie Glühwürmchen aus. Leuchtkäfer, die unentwegt vor ihm fliehen, die er nicht erreichen kann und die ihn doch nicht verlassen wollen. Noch weiter entfernt, hinter ihnen am Horizont, blinken rote Sterne, vielleicht von den Windrädern oder Flugzeugen oder Rauchschlotspitzen der Fabriken. In diesen Nächten des Schweigens, in denen er fast einsam ist, obwohl er nur die Hand neben sich ergreifen müsste, in diesen Nächten driften seine Gedanken weit weg. Aus der Leere formt er Bilder und Worte. Die Heimkehr fällt ihm leichter, wenn sie an seiner Seite ist, weil sie ihn allein lassen kann, ohne zu gehen. Er hört ihren Atem nicht, denn das Dröhnen der Geschwindigkeit ist zu laut. Doch er weiß, dass ein Wort von ihm sie wecken könnte. Und dass er dann nicht mehr allein sein müsste. Auf einmal hört der Nieselregen auf. Schlagartig wird es still. Das Motorenrauschen verstummt und sein Wagen fährt ruhig, beinahe lautlos, als würden die Reifen über den Asphalt schweben. Unter den Nebelfetzen glitzert die Straße. Die Temperaturanzeige über dem Kilometerstand fällt um ein einziges Grad. Links schießt ein Auto an ihm vorbei. Er schaut ihm nach, während sein Atem in der Luft kondensiert. Ihm fällt auf, dass sich das Lenkrad in seinen Händen eiskalt anfühlt. Rechts wird er von einem weiteren Wagen überholt. Es geschieht annähernd zeitgleich. Er spürt den reißenden Windzug und hält sich noch stärker am Lenkrad fest. Jetzt will der zweite Fahrer von der Auffahrt auf die Autobahn einbiegen. Der Blinker wird gesetzt. Am Ende des Beschleunigungsstreifens gerät der Wagen ins Schlingern. Von links zieht der Erste zu ihm hinüber. Er sieht ihn nicht. Halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Standstreifen bricht das Heck des einen Wagens aus. Alles geschieht wie in Zeitlupe. Im Augenwinkel bleibt ihr schlafender Körper reglos, als hinter ihr etwas Schwarzes am Fenster vorbeifliegt. Der Aufprall erzeugt ein Kratzen und Knirschen und Schaben, das von woanders herzustammen scheint, bloß nicht von vorn. Bloß nicht von vorn. Eine endlose Sekunde lang sieht es so aus, als würde eines der Autos horizontal auf der Straße weitergleiten. Dann hebt sich der rechte Hinterreifen vom Boden. Er hat schon längst gebremst, ohne es zu merken, während er irritiert beobachtet, was sich vor ihm abspielt, ohne davon betroffen zu sein. Das sieht aus wie ein Tanz, denkt er verwirrt. Als die Tänzer in ihrer Endposition zum Stillstand kommen, verhallen die letzten Geräusche. Auch er ist am Rand zum Stehen gekommen und wartet den Moment bis zum Applaus ab. „Ruf einen Krankenwagen.“ Er steigt aus und geht einen Schritt nach vorn, zögert und geht wieder zurück, zum hinteren Teil seines Wagens, öffnet den Kofferraum und nimmt von dort eine der Westen heraus, reißt die durchsichtige Plastikschutzhülle von der grellen Farbe herunter, wirft sie zurück in den Kofferraum und zieht sich die Warnweste an. Dann holt er tief Luft. Orangefarbenes Licht brennt in seinen Augen. Es lässt die Umgebung in Intervallen aufleuchten. Das ist seine Warnblinkanlage. Er fragt sich, ob er sie selbst angeschaltet hat oder ob sie es war. Er geht wieder nach vorn, diesmal auf der rechten Seite, und öffnet die Beifahrertür. „Bleib bitte hier“, hört er sich sagen. Er spürt, wie er schnell läuft. Das hat er schon ewig nicht mehr getan. Vielleicht sollte er das häufiger tun, zusammen mit ihr, hinunter ans Meer und mit nackten Füßen im Sand spazieren gehen. Die Vorstellung ist jedoch viel schöner als die Wirklichkeit. Sie ziehen nie ihre Schuhe aus, weil es dafür meistens zu kalt ist. Außerdem liegen oft Steine und Scherben im Sand. Nach kurzer Zeit würden ihre Fußsohlen schmerzen. Darum reicht es ihm, sich einfach vorzustellen, dass er es jederzeit tun könnte, wenn er wollte. Er versteht nicht, warum er gerade jetzt daran denken muss. So weit erschien ihm der Weg gar nicht, als er noch vor ihm lag. Keuchend erreicht er die Unfallstelle. Ein Wagen schmiegt sich seitlich an die Leitplanke, mit zerbeulter Motorhaube, in entgegengesetzter Richtung. Wie eingefroren auf Geisterfahrt, denkt er und merkt, dass sein Nacken ganz kalt ist und seine Beine ganz weich. Ihm ist schwindlig. Seine Hände sind feucht und zittern. In dem Wagen sitzt ein junger Mann, ungefähr so alt wie er selbst. Er umklammert das graue Material des Airbags und starrt wie ein Kind darauf herab, als handelte es sich um einen Wasserball, aus dem jemand die Luft gelassen hat. Auf der Beifahrerseite lassen sich beide Türen nicht öffnen. Er rüttelt an ihnen, versucht in das Innere des Wagens zu gelangen, aber nichts rührt sich. Quer über die rechte Seite des Autos gräbt sich eine Delle ins Blech. Hinter dem Steuer bleibt der junge Mann weiterhin reglos und schaut mittlerweile durch das Spinnennetz seiner zerbrochenen Frontscheibe. Seine Lippen sind weiß wie der Raureif auf dem Gras am Randstreifen, wie der Frost auf den Leitplanken, wie das Eis auf der Fahrbahn. Viel weißer als der Rest seines aschfahlen Gesichtes. Dass ein Mensch derart weiße Lippen haben kann, hätte er nicht gedacht. Darüber hinaus scheint es dem Mann allerdings gut zu gehen. Für das andere Automobil gilt das nicht. Es liegt einige Meter entfernt, umgekehrt auf dem Dach. Die Seitenfenster sind zersplittert wie Zuckerglas. Eine Frau hängt kopfüber in ihrem Gurt. Sie sieht aus wie eine Marionette, die sich in den Stricken verfangen hat. Rechts und links hängen ihre Arme schlaff herab, als wären sie im Jubel erhoben worden. Ihr stehen die Haare zu Berge. Im Gewirr der langen blonden Strähnen sind vereinzelt Diamanten oder Schmucksteine angebracht. Nachdem er näher herangetreten ist, schüttelt er unwillkürlich den Kopf über seine eigene Dummheit. Das sind keine Schmucksteine, sondern Glassplitter. Er wünscht sich, er hätte es nicht im ersten Augenblick schön gefunden. Während er vorsichtig ihren Gurt löst, hört er jemanden reden. Das könnte seine eigene Stimme sein, mit der er sich beruhigend oder aufgebracht an die Frau wendet, um sie aus ihrem Schlaf zu wecken. Er weiß nicht, wie er es getan hat, aber dann schafft er es, sie aus dem Wagen zu ziehen. Er spürt keinen Atem an seinem Handrücken, keine Bewegung ihres Brustkorbs, keinen Herzschlag. Mit den Fingern sucht er in ihrer Mundhöhle nach Erbrochenem und auf ihrer nackten Haut nach dem Punkt, den er einst, scheinbar in einem anderen Leben, zu finden gelernt hat. Drei Finger breit die Rippen hinauf. Er drückt mit beiden Händen zu, rhythmisch im Takt ihres verloren gegangenen Herzschlags, berührt ihre Lippen, nicht aus Zuneigung, sondern aus Angst, presst wieder die Handballen auf ihr stummes Herz, um es zum Sprechen zu bewegen. Es hat erneut zu nieseln begonnen. Blaue Lichter flackern im Regennebel. Und endlich geben seine Hände ihr den Widerhall des Lebens zurück. Sanitäter packen ihn an der Schulter, knien sich neben ihn, klopfen ihm auf den Rücken, holen ihre Geräte und Koffer hervor und eine Trage, laden die Bewusstlose ein und fahren sie ins Krankenhaus. Sterben muss heute niemand. „Rettet sie“, sagt er und lächelt. Vom Rand aus beobachtet er das Geschehen. Der junge Mann wurde aus seinem Wagen befreit und steht unter Schock vor dem anderen Fahrzeug. Eine Decke wurde ihm über die Schulter gelegt. Er klammert sich daran fest, wie er zuvor den Airbag umklammerte. Ein Sanitäter dirigiert ihn schließlich umsichtig zum Krankentransport und lässt ihn einsteigen. Ein paar Polizisten stellen kleine Kegel auf der Straße auf. Dann winken sie die nachkommenden Autos auf der freien Überholspur vorbei. „Können Sie uns schildern, was passiert ist?“ Zuerst versteht er nicht, was der Mann, der plötzlich vor ihm steht, von ihm will. Ihm fällt dessen Uniform auf. Sanft legt der Fremde die Hand an seinen Oberarm. Auch der zweite Mann daneben ist uniformiert und wirkt freundlich. Schließlich fällt ihm ein, dass es sich offenbar um Polizisten handelt. Er muss seine Gedanken ordnen. Er muss eine Antwort finden. „Es ging alles sehr schnell“, sagt er. Es klingt in seinen Ohren wie der Text aus einem schlechten Drehbuch. „Ich kann mich kaum recht entsinnen, wie das passiert ist. Nur so bruchstückhaft, als hätte man meine Erinnerungen in lauter Einzelteile zerschlagen. Zack! Verstehen Sie?“ Er lacht unbeholfen. Warum, das versteht er selbst nicht. Ihm ist kalt, deshalb zieht er die Decke, die ihm jemand umgelegt hat, ohne dass er es mitbekam, enger um die Schultern. „Beruhigen Sie sich erst einmal. Sie stehen unter Schock.“ Er schaut hinauf in das besorgte Gesicht des Sanitäters, der sich zu ihm hinabbeugt und noch einmal seine Schulter tätschelt. Jetzt erst fällt ihm auf, dass er nicht mehr auf der Straße steht, sondern in einem Transporter sitzt, auf einer von zwei Bänken, die einander gegenüber angebracht sind. Dazwischen befindet sich ein kleiner Tisch, auf der linken Seite, direkt unter dem Fenster. Er wundert sich, wie er in den Polizeitransporter gekommen ist und warum ein Sanitäter vor ihm steht, der doch eigentlich bei der Frau sein müsste, die er gerettet hat, die mit den blonden Haaren. Leise murmelt er etwas und zuckt mit den Schultern. „Was haben Sie gesagt?“, fragt ihn der Sanitäter stirnrunzelnd, übertrieben langsam, in einem deutlichen Tonfall. „Ich weiß es nicht“, antwortet er, zuckt erneut mit den Schultern und lächelt verlegen, bevor sein Gesicht wieder jeglichen Ausdruck verliert. Er kann sich nicht daran erinnern, überhaupt etwas gesagt zu haben. „Machen Sie sich keine Vorwürfe“, meint der Fremde und streicht ihm behutsam über den Oberarm. „Wie bitte?“ „Die meisten Menschen können in so einer Situation nur schwer reagieren.“ „Wie bitte?“ Er schüttelt den Kopf, greift sich an die Stirn, massiert seine Schläfen, um seine Gedanken in Gang zu bringen. Das Denken und Begreifen fällt ihm schwer, als hätte er vergessen, wie das geht. Vor seinem geistigen Auge sieht er diesen großen dunklen Sack mit dem Reißverschluss, der ungefähr zwei Meter lang ist und von unten bis oben reicht, und am Ende sind da diese blonden Haarspitzen, die ein wenig heraushängen und auf dem dunklen Material, auch ohne das funkelnde Glas, im Scheinwerferlicht der Autos auffallend hell wirken. Er fragt sich, ob er das tatsächlich gesehen hat. Wenn es wahr ist, dann will er es nicht noch einmal sehen müssen. Es soll nicht von vorn beginnen. Bloß nicht von vorn. Da war gar kein Leichensack. Aber er erinnert sich an die weit aufgerissenen Augen der Frau. Er weiß nicht, ob er ihren Herzschlag wirklich nicht bemerkte. Woran er sich jedoch erinnert, sind ihre Augen, die nicht blinzeln konnten, und ihr blondes Haar mit den Perlen aus Kristall und Rubin. „Ist sie tot?“ Der Andere antwortet ihm nicht. Er schaut ihn nur an, so verständnisvoll, angefüllt mit der nötigen Stärke in seiner Ausstrahlung, derer er sich bedienen kann, sollte es erforderlich sein. Einen langen Moment versucht er, sich an den Namen dieses Mannes zu erinnern. Dann fällt ihm ein, dass er dessen Namen gar nicht kennen kann. Das ist nur irgendein Polizist. Oder irgendein Sanitäter. Er kann es selbst nicht genau sagen. Er starrt auf die Riemen an der Bahre, die links von ihm in der Mitte des Wagens befestigt ist. Auf der anderen Seite der Bahre befindet sich ebenfalls ein Stuhl, der demjenigen gleicht, auf dem er selbst sitzt. Das Fenster ist verschwunden. Stattdessen hängen dort ein paar Gegenstände, die sachte hin und her pendeln, hin und her. Er sieht es nur im Augenwinkel und weiß nicht, worum es sich dabei handelt. Es interessiert ihn auch nicht. Er merkt, dass ihn die schaukelnde Bewegung des Wagens müde macht, doch er weiß nicht, warum der Transporter plötzlich so anders aussieht, seit wann er anders aussieht als der, in dem er eben noch saß, und seit wann sie nicht mehr stehen, sondern losgefahren sind, wohin sie fahren und warum er eigentlich allein ist. „Ich rede mit Ihnen!“ Jemand sagt sehr eindringlich seinen Namen. „Sind Sie noch da? Ich rede mit Ihnen. Antworten Sie bitte auf meine Fragen. Sehen Sie mich an. Wissen Sie, wo sie sind?“ Immer wieder hört er seinen Namen, reagiert und antwortet. Was er sagt, versteht er nicht. Was der Andere sagt, versteht er genauso wenig. Er sieht ein Standbild, einen Mann, eingefroren auf dem Asphalt. Das ist eine Erinnerung, denkt er und versucht zu atmen. Das ist er selbst. Eine Frau liegt auf dem Boden im Scherbenmeer. Es ist die Frau mit dem blonden Haar. Sie atmet nicht und schaut ihn an. Er möchte zu ihr gehen, aber sein Körper ist erstarrt. Er kann sich nicht bewegen. Da sind Fesseln, die ihn halten, wie die Stricke einer Marionette, breit und anthrazitfarben. Sie schnüren seinen Magen ab. Es schmerzt, doch er kann sich nicht von ihnen befreien. „Ich rede mit Ihnen. Können Sie mich hören?“ Verschwunden ist die Straße und der Horizont, die Erde und der Himmel, als wären sie eins geworden. Der Frost hat riesige Eisblumen auf das Glas vor seinen Augen gemalt. Spinnennetzartig breiten sie sich aus, umgeben sein gesamtes Blickfeld und werfen ihre Kristalle in die Nacht. Ihm ist übel, weil der Gurt ihm den Magen abschnürt, so übel, dass er sich übergeben möchte. Das Schwindelgefühl und die Trockenheit in seinem Mund hindern ihn daran. Er versucht nur noch zu atmen, während sein Schädel unerträglich dröhnt, ein Pfeifen in seinen Ohren anschwillt und langsam abklingt. Er will nicht alles noch einmal erleben. „Bleib bitte hier“, hört er sich sagen und sucht nach der Hand seiner Frau. Er würde gern loslaufen, schnell wie der Wind. Das hat er schon ewig nicht mehr getan. Vielleicht hätte er es häufiger tun sollen, zusammen mit ihr, hinunter ans Meer und mit nackten Füßen im Sand spazieren gehen. Die Vorstellung ist jedoch viel schöner als die Wirklichkeit. Die Heimkehr fiel ihm leichter, als sie an seiner Seite war. Im Schlaf sah sie so friedlich aus. Er mochte es, mit ihr durch die Nacht zu fahren und schweigend für ein paar Sekunden das vorbeiziehende Laternenlicht auf ihrer Haut und dem blonden Haar zu betrachten. Noch heute sieht er ihr Gesicht im Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)