Lauter Einzelteile von halfJack (26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen) ================================================================================ Kapitel 10: Jahreszeiten ------------------------ „Setzen Sie sich bitte auf einen der Stühle. Die Aula wird lediglich ständig geschlossen gehalten im Frühling, Sommer, Herz und Kinder müssen in Begleitung ihrer Erziehungsberechtigten erscheinen. Die unteren Klassen haben ihr Ende schon angekündigt und befinden sich hinter der Bühne.“ Euch ist klar, dass es hier weder eine Bühne gibt noch einen Hinterausgang. Man kann schließlich alles sehen. Verbeugung Theater. Abgang Chor. „Applaus bitte!“ Die Pause ist vorbei. Ruhe kehrt in den Saal ein. Auf der Erhebung vor dem Publikum steht ein Stuhl. Darauf ein Mensch. weiblich, kurzes Haar, Rock in bordeaux, ansonsten schwarz, Gesicht betreten gesenkt. Sie ist die Mutter. Daneben das Kind, schwarzes Kleid, barfüßig. Augen verschlossen. „Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt die Mutter und wendet sich damit ernst an die Zuschauer. (Anmerkung: An euch, also schaut gefälligst wieder her!) „Was soll denn auch passiert sein?“ Die Stimme der Mutter wird fast trotzig. Sie beschimpft euch. „Sollten Sie mir das nicht sagen?“ Was meint ihr? Seid ihr dafür verantwortlich, der Mutter zu sagen, was passiert ist? Sollte sie das nicht selbst wissen? „Ich weiß es nicht.“ Das ist ihre Antwort. Sie glaubt, sie weiß es nicht. „Sie war doch meine Tochter“, ruft sie euch verzweifelt zu. „Wie konnte das geschehen?“ Die Frage verhallt. Schweigen im Saal. Verstört nimmt die Mutter die Hände vor das Gesicht. Sie sieht nicht, dass das Kind, welches neben ihr liegt, die Augen öffnet und sich langsam erhebt. Sitzend schaut es zur Mutter und fragt leise, naiv: „Mama?“ Die Mutter schreckt hoch, steht vom Stuhl auf. Der Schreck weicht jedoch schnell. Sie schaut ihr Kind überfreundlich an, geht ein paar Schritte auf es zu und spricht: „Na, was ist mit dir?“ „Mama?“, lächelt das Kind eindringlich zurück. „Ich weiß“, sagt die Mutter liebevoll und wendet sich halb von ihrem Kind ab, „dass dir nie…“ „Mama?“, fragt das Kind ungeduldig hinein. „Dass dir nie etwas passiert ist, denn…“, fährt sie unbeirrt fort. „Mama?“ Es hört der Mutter nicht zu, fällt ihr ins Wort. „Denn ich bin…“ „Mama?“ „…ja immer bei dir.“ „Mama?“ „Sei still!“ Sie ist wütend, verständlicherweise, oder? Ihr Kind schweigt erschrocken. Nun ist sie wieder freundlich. „So ist es brav.“ In ihrer Stimme schwingt ein herrischer Ton mit, der sich nun in lächerliche Hebammensprache wandelt: „Mami will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihr Blick wird glasig, sie schaut über das Publikum und redet plötzlich in Gedanken versunken. „Nein… das will sie nicht.“ Das Kind, noch immer sitzend, beobachtet die Mutter, wie sie langsam zu dem Stuhl zurückweicht, sich darauf niedersinken lässt und den Blick euch zuwendet. Sie scheint die Fassung wiederzugewinnen. „Sie hätten ihr helfen müssen!“ Das ist allerdings eine harte Beschuldigung. Lasst euch das durch den Kopf gehen. Es lag an euch. Warum habt ihr nicht geholfen? „Ich will wissen, wer der Schuldige ist!“ Das will man immer wissen. Bei wem liegt die Schuld? Wer ist schuldig? „Wer hat das meiner Tochter angetan?“ Sie spricht langsam, sehr ernst und schaut nun über die Menge. Ihre Augen bleiben an manchem Gesicht hängen, auch an eurem. (Anmerkung: Genau, du bist gemeint! Was fällt dir ein, deinen Blick zu senken?) Die Mutter blickt dir in die Augen. Sie hat dich erkannt. Ihre Miene spiegelt Verzweiflung wieder, während sie dich anschaut. (Anmerkung: Weitermachen!) Das Kind erhebt sich aus seiner sitzenden Haltung und betrachtet kniend seine Mutter. „Ich habe sie doch geliebt“, sagt die Mutter. Hört ihr das? Es sollte euch wehtun, daran zu denken. „Ich habe meine Tochter geliebt.“ Neugierig fragt ihr Kind erneut: „Mama?“ „Halt den Mund!“ Mit wutverzerrtem Gesicht ist sie aufgesprungen. „Mama?“, entgegnet das Kind ängstlich. Seine Mutter dreht sich um, legt die Hände auf die Ohren und spricht apathisch flüsternd immer wieder die Worte: „Halt den Mund. Halt den Mund…“ „Mama?“ Das Kind fragt verstörter, flehend. „Mama?“ „Halt den Mund“, redet sie beschwörend zu sich selbst. „Mama!“, schreit das Kind nun endlich. Sie hält inne, wendet den Blick verwirrt zum Kind, schweigt. Dieses schaut sie beschuldigend an und ruft dann fordernd: “Lutscher!“ Erneut kehrt die Mutter zu ihrer Hebammensprache zurück und antwortet: „Aber nein, mein Kleines. Das ist nicht gut für dich. Das ist schlecht. Ich will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihre Stimme wird leiser. „Ich muss…“ Sie weicht wieder zurück. „… doch schließlich auf dich aufpassen.“ Scheinbar erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl fallen und wendet sich wieder dem Publikum zu. Das Kind kniet weiterhin, während es seine Mutter fragend betrachtet. Diese ruft nun aufgebracht in die Menge: „Sie wollen mir die Schuld in die Schuhe schieben? Ich will wissen, wer meine Tochter umgebracht hat, und sie beschuldigen mich!? Ich liebe meine Tochter...“ Von ihr unbemerkt erhebt sich das Kind langsam und steht bald aufrecht. Seine Mutter fährt fort: „Ich würde ihr das niemals antun. Halten Sie den Mund!“ Den letzten Satz schreit sie fast. „Mutter?“, fragt das Kind erwachsen und ernst. Erschrocken dreht sie sich zu ihm um, bleibt jedoch sitzen und spricht verwirrt und ängstlich, als sei ihr Kind das Unheil selbst. „Was willst du hier?“ Freundlich lächelt das Kind und geht auf seine Mutter zu. Noch immer bleibt sie sitzen, als ihre Tochter sie zu umkreisen beginnt und fröhlich singt: „Sie geht um den Kreis, sodass niemand es weiß. Wer sich umdreht oder lacht…“ Das Kind bleibt stehen und lacht. Die Mutter wendet den Blick ab und schaut vor sich auf den Boden. Gedankenversunken redet sie vor sich hin, man kann nicht sagen, mit wem sie spricht. „Ich wollte nicht, dass das geschieht. Ich habe doch immer auf sie Acht gegeben. Es war nicht meine Schuld. Ich würde so etwas niemals tun. Ich liebe meine Tochter.“ Für den Zuschauer verliert sich das Gerede fast in der Tonlosigkeit lauter Einzelteile. Das Kind steht neben dem Stuhl und betrachtet seine Mutter, bevor es sich dem Publikum zuwendet und in überzeugtem Ton sagt: „Meine Mutter liebt mich.“ Apathisch beginnt diese den Satz: „Ich liebe sie wirklich…“ „…Wirklich“, beginnt das Kind zur selben Zeit, „sie liebt mich.“ „Ich wollte nicht, dass das geschieht“, sagt euch die auf dem Stuhl Sitzende verzweifelt. „Sie wollte nie, dass das geschieht“, pflichtet ihr das Kind bei, doch unterdrückte Verachtung mischt sich in seine Stimme. „Sie hat immer auf mich Acht gegeben. Es war nicht ihre Schuld.“ „Es war nicht meine Schuld“, sagt die Mutter leise. „Sie würde so etwas niemals tun“, erklärt euch ihre Tochter weiter. „Sie würde mich niemals schlagen, weder mit dem Kochlöffel noch mit dem Kleiderbügel.“ „Das würde ich niemals tun“, beschwört die Mutter lauter. „Sie würde mich nicht auf dem Balkon schlafen lassen, damit ich sie nicht mehr störte.“ „Das würde ich niemals tun.“ „Sie würde nicht meine Hände auf die Herdplatte drücken, wenn sie wütend ist.“ „Das würde ich niemals tun.“ „Sie würde mir nicht die Hände um den Hals legen und zudrücken, damit sie endlich ihre Ruhe vor mir hätte.“ „Das würde ich niemals tun.“ „Sie…“, das Kind zögert und fährt nur sehr langsam fort, „…hätte mich niemals umgebracht.“ Die Mutter öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen, schaut über das Publikum und schweigt. Betreten schaut sie zu Boden und senkt immer weiter den Blick. Das Kind läuft hinter dem Stuhl der Mutter entlang auf die andere Seite, scheinbar tief in Gedanken versunken. Schließlich bleibt es stehen, schenkt den Zuschauern ein Lächeln und sagt: „Das hätte sie niemals getan.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)