Lauter Einzelteile von halfJack (26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen) ================================================================================ Kapitel 2: Bagatelle -------------------- Sie kann nicht mehr. Ihre Hände krallen sich in den schwarzen Strähnen ihres Haares fest. Die Finger zerren und kratzen und finden doch keinen Halt, weder an den eigenen schmalen Schultern, denen Atlas gespottet hätte, noch an den wankenden Beinen, die kaum die geringe Last tragen können. Sie sinkt hinab auf die Knie und stützt sich nur noch mit den zitternden Armen vom Boden ab, bevor auch diese nachgeben. Niedergedrückt liegt sie da. Das Gewicht kann sie spüren, doch sieht sie es nicht. Schon lange nicht mehr. So liegt das junge Mädchen in der Mitte des Zimmers. Ein kleiner Raum, der sie umgibt, der ihr oder dem sie gehört, der sie gefangen und am Leben hält. Kein Geräusch mehr, nur das Hämmern ihres Herzens, das tapfer gegen den Rhythmus der Welt ankämpft. Und unterliegt. Sie atmet flach. Ein Stechen durchdringt ihre linke Brust bis zum Rückgrat. Dass ihre Hände sich krampfhaft suchend strecken, merkt sie kaum, während Tränen sich in ihre Haut beißen und im freien Fall das schwarze Haar tränken. Unbewusst findet sie endlich den Halt, den sie suchte. Mit der winzigen, unscheinbaren Schachtel. Den unauffälligen Hüllen. Und dem hauchdünnen Metallstreifen, dessen Form sie immer an die Kennmarken der Soldaten erinnert. Das Leben eines Kriegers, der kein Held mehr sein kann, reduziert auf ein Minimum an Information. Zugleich schenkt ein solches Metall auch anders Rettung. Durch Schmerz. Vielleicht auch mit dem Tod. Das Mädchen schaut zwischen dem Riss der Rasierklinge hindurch an die Wand ihres Käfigs und in das Universum dahinter. Nicht ein Stern ist zu sehen. Nur lauter Einzelteile eines verlorenen Horizonts. Langsam lässt sie die Klinge sinken. Versinken in ihrem eigenen Leib, des Kindes Haut und Fleisch. Der Riss, in welchem sie zuvor das Universum sah, ist verschwunden und zieht sich nun durch ihren Arm. Vom Makrokosmos zum Mikromort. Manchmal ist der nächste Tod nur einen Blick entfernt. Das Hämmern wird lauter. Im Vakuum ihres Inneren hört das Mädchen kein Klopfen, kein Hämmern, aber der Boden trägt die Vibration an sie heran. Müde öffnen sich ihre Lider und ein paar Schritte weiter die Tür. Dann begegnet das Mädchen den Augen ihres Ebenbildes, ihrer Schwester. Kein Zwilling und doch von gleicher Art. Bereits in der ersten Sekunde spricht beider Mimik alle Emotionen aus, während die Schwestern einander betrachten. Erschöpfung im Gesicht der einen. Schrecken und Erkenntnis im Gesicht der anderen. Noch bevor jene, die im Türrahmen steht, den Atem zum Sprechen findet, weiß die am Boden Liegende bereits, was ihre ältere Schwester sagen will. "Ich wusste es", formuliert diese nun leise. "Du hast schon wieder meine Rasierklingen genommen. Kauf dir endlich ein paar eigene!" Genervt richtet sich die Jüngere auf. Voller Trotz und Verzweiflung setzt sie zu einer Entgegnung an. "Sei nicht so geizig. Du schneidest dich doch sowieso nur abends nach dem Abschminken." "Mutter!", ruft die andere bereits. "Kannst du nicht mal ein Machtwort sprechen?" "Was ist denn?", fragt die Frau mittleren Alters, die nun im Flur erscheint und ihre beiden Töchter mustert. "Hat deine Schwester etwa...?" "Ja, hat sie!", fällt das ältere der Mädchen unterbrechend ein. "Sie hat schon wieder meine Rasierklingen benutzt." "Aber Schatz, das bleibt doch in der Familie." "Dann sieh dir das an." Genervt entwindet sie ihrer Schwester die Rasierklinge und hält sie vor das Gesicht der Mutter. "Nie, wirklich nie macht sie die nach dem Benutzen sauber. Das ganze verkrustete Blut daran, schau doch mal, das ist so widerlich!" Tadelnd blickt die Mutter ihre jüngste Tochter an. "Deine Schwester hat Recht. Wenn du schon ihre Sachen benutzt, dann behandle sie auch ordentlich. Letzten Monat habe ich schon nichts gesagt, wegen der Blutflecken im Teppich." "Ihr übertreibt", verteidigt sich die Jüngste stur. "Wie kann man als Schwester nur so spießig sein? Mama, weißt du, was sie in der Schule über sie erzählen? Einige behaupten, sie hätte nicht mal einen Psychologen." "Kleines, jetzt reicht es aber", schimpft ihre Mutter. "Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, auf solche Gerüchte darf man gar nicht hören." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)