Lauter Einzelteile von halfJack (26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen) ================================================================================ Kapitel 25: Yokohama -------------------- Nina hat ein besonderes Album. Es liegt ganz hinten in der untersten Schublade ihres Schreibtischs. Kleine Mädchen besitzen oft Alben, in denen sie etwas sammeln. Aufkleber im Stickeralbum. Bilder im Fotoalbum. Freunde im Poesiealbum. Gedanken im Tagebuch. Nina sammelt in ihrem Album Erinnerungen. Erinnerungen an sich selbst. In jenes Album, ganz hinten in der untersten Schublade ihres Schreibtischs, klebt sie äußerst sorgfältig, was sie von sich selbst verlor. Mit einem ausgerissenen Zehnagel fing alles an. Sie warf ihn nicht weg und jetzt klebt er in ihrem Album. Ein paar Seiten weiter bewahrt sie einen geflochtenen Zopf auf, den Mama abschnitt, als Nina sich einen Kaugummi in die Haare geschmiert hatte und Mama wütend geworden war. Sogar eine Locke von ihrem Schamhaar klebt darin. Besonders stolz jedoch ist Nina auf die Wundinseln. Wenn sie hingefallen ist und es blutet, dann entstehen sie. Ganz vorsichtig löst Nina die kleinen Inseln von ihrer Haut ab, sobald sie reif genug sind. Erst anschließend macht sie ein Pflaster auf die helle, fleischfarbene Stelle, die zurückblieb. Dann klebt sie den Schorf auf und notiert darunter den Tag der Ablösung. All diese Wundinseln besitzen einen Namen, meist nach einem Kontinent oder Land, an dessen Form der Schorf erinnert. Manchmal wiederholen sich diese Formen, daher besitzt Nina Erinnerungen, die „Australien 1“ und „Australien 2“ und „Australien 3“ heißen, obwohl sie niemals in Australien war. Einmal hatte sie ein seltsam geformtes Stück von einer Verletzung am Knöchel. Sie kannte kein Land, das so seltsam aussah wie dieses Stück Schorf, daher klebte sie es ein und nannte es „Yokohama“. Erst kürzlich hat sie im Fernsehen etwas davon gehört. Sie hatte keine Ahnung, wie Yokohama aussah, aber so seltsam der Name klang, so wahrscheinlich passte die Form davon vermutlich zu ihrer Wundinsel. Staub sind tote Menschen, hat mal jemand zu ihr gesagt und Nina konnte es nie vergessen. Hautpartikel und Haare und abgestorbene Zellen, lauter Einzelteile von Menschen, die tot sind. Darum beherbergt das Album lauter Einzelteile der toten Nina. Setz deinen Helm auf und mach die Schützer um, sagt Mama und Nina antwortet, jaja, und lässt die Schützer weg. Später behauptet sie immer, sie habe es vergessen. Dabei sammelt sie Erfahrungen. Sie sammelt Stürze. Ihre Mitschüler verstehen sie nicht. Zum Geburtstag hat Mama sie mal eingeladen. Sie haben das Album gefunden und – auf dem Weg zur Schule lachen sie und schubsen und treten. Nina kann den Griff oben an ihrem Schulranzen nicht ausstehen. Viel zu leicht kann man ihn packen und daran ziehen. Dann liegt man auf dem Rücken wie eine Schildkröte. Es blutet nicht, aber es tut trotzdem weh. Das sind keine Verletzungen, die man abziehen und aufbewahren kann. Keine Erinnerungen, die man behalten wollen würde. Der Weg ist weit, aber Nina möchte heute nicht mit der Bahn fahren. Die Bahn, mit der all die anderen Kinder fahren. Es kann nicht schaden, zu Fuß zu laufen, denn schließlich hat sie Zeit. Ihr Orientierungssinn ist nicht gut, doch dieser Weg müsste richtig sein. Die Häuser hier sind wahrscheinlich nicht mehr bewohnt. Höchstens Obdachlose wohnen darin, sagt Mama. Die Türen und Fenster sind durch Eisenplatten versperrt oder komplett zugemauert. Der Laden vorne an der Ecke verkauft Tierbilder, umrahmt von goldenem Plastik, und unechte Blumen in bunten Vasen. Nina geht über die Straße. An einigen Stellen ragen lockere Pflastersteine heraus, über die man leicht stolpert. Die Häuserwand wurde mit Sprühdosen bemalt und auf der zertretenen Rasenfläche beim Eingang liegt ein umgekippter Mülleimer. Daneben auf dem Gehsteig flattern walnussgroße weiße Vögel herum. Die winzigen Vögel huschen schnell über das Pflaster, als spielten sie miteinander Fangen. Während Nina weitergeht, achtet sie darauf, keinen von ihnen zu zertreten. Bald ist sie auf der belebten Hauptstraße. Aus einem vorbeifahrenden Auto hört sie laute Musik. An der Kreuzung muss das Auto halten, sodass es Nina bald eingeholt hat. Der Fahrer schaut zu ihr hinüber und macht eine abfällige Bemerkung. Nina streckt ihm die Zunge heraus. Einige Radfahrer kommen vorbei, bleiben stehen, manch einer greift nach seinem Mobiltelefon. Ein älterer Mann hält kurz die Hand zur Seite und sieht Nina an. Sie weiß nicht, warum er das tut. Andere fahren vorbei. Nina denkt zurück an die winzigen weißen Vögel, die miteinander gespielt haben. Schade, dass es nur Papierfetzen waren, die aus dem Mülleimer fielen und im Wind tanzten, sonst hätte Nina vielleicht wirklich die Zunge herausgestreckt. Wenn die Mitschüler Freunde gewesen wären, hätten sie vielleicht das Album nicht zerrissen. Wenn Nina nach rechts und links geschaut hätte, wenn die Musik nicht so laut gewesen wäre, hätte der Autofahrer sie vielleicht bemerkt. An ihrem reglosen Arm ist die Haut vom Asphalt aufgeschürft. Das ergäbe bestimmt eine hübsche Wundinsel, sehr groß und merkwürdig geformt. Vielleicht ein zweites Yokohama. Staub sind tote Menschen. Tote Menschen sind Staub. Nina sammelt ihr totes Ich. Sie sammelt den Tod. Wie jeder von uns. Lebewohl, Yokohama. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)