In Good Faith von Glasschmetterling ================================================================================ Chapter 9 - Monster ------------------- In Good Faith – Chapter 9: Monster „Gehen wohin? Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen...“ „Um zu packen, Anne...“ Erst jetzt sieht sie den großen Rucksack. „Aber...“ „Das hier erklärt alles.“ Ihre blassen Finger werden um einen Umschlag geschlossen. „Pass auf dich auf, Prinzessin.“ Die Misswirtschaft von Wochen ließ sich nicht in wenigen Tagen beseitigen, das hatte Anne schnell festgestellt, als sie angefangen hatte, aus ihrer Wohnung wieder einen Ort zu machen, der zumindest den Anschein von Sauberkeit und Ordnung erweckte. Im Nachhinein erschütterte sie es, wie sehr sie sich hatte gehen lassen in der Zeit nach der Trennung von Lucas', obwohl sie doch eigentlich eine Person war, die mit dem, was man oft kreatives Chaos nannte, nicht viel anfangen konnte. Es machte sie wahnsinnig, nicht zu wissen, wo ihre Bücher waren, ihre Unterlagen, und der Anblick der Küche, als sie sie endlich wieder einmal bewusst wahrgenommen hatte, hätte sie fast vor Scham im Boden versinken lassen. Besonders wenn sie daran dachte, dass ihre Kollegen von der Xavier's School for Gifted Youngsters ihre Adresse hatten und vielleicht einmal auf die Idee kamen, ihr eine Stippvisite abzustatten, vervielfachten sich ihre Sorgen in dieser Hinsicht – allerdings wuchs gemeinsam mit ihnen auch ihre Motivation. Das war es, was sie am Meisten überraschte und worüber sie grübelte, während ihre Finger in gelben Plastikhandschuhen steckte und sie Geschirr spülte, das auf dem besten Weg gewesen war, eine eigene Zivilisation zu entwickeln. Wo ihr Leben ihr vor wenigen Wochen noch wie gähnende Leere vorgekommen war, wie etwas, das sie so weit wie möglich aus ihrem Geist verdrängen wollte, um nicht daran erinnert zu werden, wie sinnlos es war, spürte sie jetzt eine Energie, die ihr in manchen Momenten fast ein wenig unheimlich vorkam. Jetzt wollte sie die Dinge in die Hand nehmen, etwas Besseres daraus machen, und den Sinn, den sie in ihrer Arbeit gefunden hatte, auch in andere Bereiche tragen, sich wieder all ihren Hobbies zu widmen, die sie in letzter Zeit so sträflich vernachlässigt hatte. Aber vorher wollte sie ihre Wohnung wieder in Ordnung bringen, denn langsam wurde es zu kalt, um sich in den Park zu setzen und Hausaufgaben zu korrigieren, denn der schneidende Wind vertrieb die letzte Wärme des Septembers aus New York. Langsam, mit verzogenem Gesicht streckte sie den Rücken durch, das Geschirr zu spülen, das sich über so lange Zeit hinweg angesammelt hatte, war eine Aufgabe, der sie sich nicht besonders gern widmete, doch wenn sie es einmal hinter sich gebracht hatte, wäre es schließlich erledigt. Und Anne war eigentlich kein Mensch, der gerne Dinge vor sich herschob... zumindest hatte sie das bis zu ihrer Trennung geglaubt. Das leicht metallische Geräusch des Schleudergangs der Waschmaschine, das monoton aus dem Badezimmer an ihre Ohren gedrungen war, war verstummt, und mit spitzen Fingern streifte sie die Gummihandschuhe ab, seufzte dankbar auf, als sie ihre nach vorne gebeugte Haltung verließ... immerhin war sie fast fertig. Die Arbeitsflächen waren zu niedrig, das hatte sie Lucas immer gesagt, doch er hatte sie nie besonders ernst genommen... auch etwas, um das sie sich vielleicht kümmern würde, wenn es um ihre finanzielle Situation ein wenig besser bestellt wäre. Geübt füllte sie den Wäschekorb, seit heute Morgen hatte sie so oft gewaschen, dass sie kaum mehr wusste, was eigentlich – diesmal waren es die weißen Vorhänge, die wegen des Staubs bereits einen leichten Grauschleier angesetzt hatten. Es war die letzte Füllung für heute, mittlerweile spürte sie, wie die Erschöpfung in ihre Arme und Beine kroch, aber dazu hatte sie im Moment jedes Recht, nach allem, was sie bis jetzt geschafft hatte. Und zudem fand sie diese Art der Müdigkeit angenehm, sie bildete einen angenehmen Kontrast zu jener innerlichen, die sie so oft gelähmt hatte und die nun endlich verschwunden war. Vorsichtig schüttelte sie die Vorhänge aus, bevor sie sie auf den Wäscheständer hängte, so weiß, wie sie es sich gewünscht hätte, waren sie nicht geworden, aber im Moment gab es eindeutig wichtigere Dinge, beispielsweise, endlich in eine sitzende Position zu kommen und sich ein wenig zu entspannen. Ihre Muskeln schmerzten bereits, doch trotzdem ignorierte sie das Sofa im Wohnzimmer, das nun unter ihrer Kleidung und nicht weggeräumtem Müll endlich wieder zum Vorschein gekommen war, sondern setzte sich an ihren Schreibtisch. Auch hier musste Platz geschaffen werden, sie hatte gedacht, Zeit zu haben, bis hier die Überreste ihrer Bachelorarbeit Hausaufgaben von Schülern weichen würden, doch die hatte sie nun doch nicht. Mathematikhefte, die sie morgen durchsehen wollte, stapelten sich auf dem Boden neben ihrem Stuhl, und jetzt würde sie endlich Platz für sie schaffen. Es war keine besonders anspruchsvolle Arbeit, das viele Papier und die Bücher, den Tisch bedeckten, sauber zu sortieren und abzuheften, doch auch eine, gegen die Anne keinen besonderen Widerwillen empfand. Immerhin dokumentierten all diese Dinge, was sie in den letzten Jahren getan und geleistet hatte, waren Zeugen ihres erfolgreichen Studiums, und sie zu betrachten bewies ihr, dass sie nicht so wertlos war, wie sie sich nach ihrer Trennung gefühlt hatte. Auch Lucas' verbliebene Sachen, die er bei seinem überhasteten Verschwinden hier gelassen hatte, waren ihrer Aufräumaktion zum Opfer gefallen, fein säuberlich stapelten sie sich nun in einer Kiste im Flur und auch wenn Anne versucht gewesen war, sie einfach in den Müll zu werfen, wäre ihr das doch... unfair vorgekommen. Zwar hatte er sich nicht als besonders verlässlich erwiesen, doch irgend etwas in ihr trieb Anne dazu, zu beweisen, dass sie besser war als er und nicht annähernd so irrational und unkontrolliert, wie die gängige Meinung von Mutanten dachte... also würde sie sie ihm vorbei bringen. Oder besser gesagt seinen Eltern, denn seit sie an diesem lauen Abend hinaus in die Straßen gestürmt war, hatte sie ihn weder gesehen noch gehört, und eigentlich hatte sie keine Lust, an diesem Zustand etwas zu ändern. Natürlich, sie wusste, wo er arbeitete, und hätte ihm eine Stippvisite abstatten können, doch wie sie auf ein erneutes Aufeinandertreffen reagiert hätte, konnte sie nicht einschätzen, und ihr Bedürfnis, es herauszufinden, hielt sich in sehr engen Grenzen. Immerhin hatte sie ihn geliebt, und dieses Gefühl war nicht einfach über Nacht verschwunden – und Liebe trieb Menschen zu irrationalen Dingen... auch dazu, einem unverlässlichen, oberflächlichen Idioten eine zweite Chance zu geben. Nachdenklich strichen ihre Finger über den Packen mit Umschlägen und Glückwunschkarten, die sie aus einer versteckten Schublade des Schreibtisches gezogen hatte, sie stammten aus einer Zeit noch vor ihrem Umzug und wahrscheinlich hatte Anne sie einfach dort hineingesteckt, weil gerade Platz war. Durchgesehen haben konnte sie sie nicht, dessen war sie sich sicher, denn es fanden sich Grüße zu ihrem vierzehnten Geburtstag darunter, und das war doch schon fast zehn Jahre her. Das Kuvert musste von ihrer Tante aus Alaska stammen, die gestempelte Briefmarke auf dem bunten Papier wies darauf hin, dass es nicht persönlich übergeben worden war, und Anne warf einen letzten Blick hinein, bevor sie es auf den Stapel mit Altpapier warf, der sich langsam neben ihr angesammelt hatte. Sie hatte kein geschenktes Geld darin vergessen, aber das hätte sie auch schwer verwundert, als Teenager jagte man jedem Dollar hinterher und... Sie erstarrte, als sie bemerkte, was ihre mechanisch weiterarbeitenden Finger in ihr Blickfeld getragen hatten, während ihre Gedanken an einem anderen Ort verweilt hatten, und spürte, wie ihre Schultern sich verkrampften. Der schlichte, weiße Umschlag hatte nichts von der Pracht seiner Vorgänger, die unbeachtet auf dem Müll gelandet waren, und doch berührte er etwas tief in ihrem Inneren, rührte an alten Erinnerungen, die Anne lieber verdrängt hätte, besonders nach allem, was in den letzten Wochen passiert war. Doch ihre Hände schienen anderer Meinung zu sein, öffneten in fahrigen Bewegungen, die kaum zu ihr gehören zu schienen, das abgegriffene, zerknüllte Kuvert, zogen einen eng beschriebenen Bogen heraus. Er war bunt, Kinderbriefpapier, ein letztes Überbleibsel des Versuches ihrer weit entfernt lebenden Tante, ihre Nichten zu einer Korrespondenz zu bewegen und Luftballons schlängelten sich an den Rändern empor, erweckten den Anschein von Bewegung. Anne strich mit den Fingerkuppen darüber, fühlte die kleinen, runden, gewellten Stellen, die aus der Ferne betrachtet den Eindruck noch verstärkten, streichelte fast sanft die Spuren ihrer eigenen Tränen, während ihre Augen instinktiv zu lesen begannen. Anne, ich wüsste nicht, wie ich dir einfacher machen könnte, was ich dir jetzt erklären muss, also mache ich den Versuch erst gar nicht. Ich werde gehen, und ich werde nicht wieder zurückkommen. Ich weiß, du hast immer gehofft, dass unsere Eltern und ich uns irgendwann wieder besser verstehen würden, doch daraus ist nichts geworden... und jetzt ist jede Chance dafür vorbei. Die Universität hat von meiner Mutation erfahren und ich wurde exmatrikuliert, weil ich „unerlaubte Hilfsmittel“ benutzt hätte. Du weißt, wie teuer das College ist und was Mum und Dad immer von den Kosten gehalten haben, deswegen würden sie mich wohl umbringen, wenn sie davon erfahren und ich noch in der Nähe wäre. Es tut mir leid, dass du den Sturm abbekommen wirst, aber ich möchte weit weg sein, wenn sie den Brief vom Rektor bekommen. Doch auch wenn ich jetzt von hier verschwinde und dich im Stich lasse, möchte ich, dass du weißt, dass ich dich liebe, so sehr, wie das nur eine große Schwester tun kann. Und dass ich da sein werde, wenn du mich brauchst, egal wie, egal wo, egal wann. Das verspreche ich dir. Pass auf dich auf, kleine Prinzessin. Und ruf mal an. Emma Langsam, fast in Trance wendete sie den Bogen Papier, auf der Rückseite stand in Emmas schwungvoller, nicht besonders sauberer Handschrift eine Telefonnummer geschrieben und vorsichtig streichelte sie darüber, bevor sie in Tränen ausbrach, den kleinen, gewölbten Stellen neue hinzufügte. Der Septemberwind, der schon den ersten Vorgeschmack des kommenden Herbstes mit sich trug, zerzauste Annes dünne, blonde Haare, wehte sie ihr ins Gesicht, ließ sie unangenehm ihre Nase kitzeln, während sie doch keine Hand frei hatte, um sie sich aus den Augen zu streichen. Zu sehr war sie damit beschäftigt, die Last der großen Kiste, in der sie Lucas' Sachen deponiert hatte, vor sich her zu tragen, sich den kleinen Hügel hinaufzuschleppen, auf dem das Haus der Robertsons lag und an dessen Fuß die Bushaltestelle. Erschöpft hielt sie für einen Moment inne, setzte die schwere Schachtel auf dem Gehsteig ab, der raue Asphalt schabte mit einem unangenehmen Geräusch über den Karton, bevor sie sich aufrichtete, den Rücken durchstreckte. Sie konnte bereits den Briefkasten der Familie sehen, der wie ein Meilenstein auf der Straße den Beginn des Vorgartens markierte, und schüttelte ein letztes Mal ihre Muskeln durch, bevor sie sich wieder auf den Weg machte. Sie hatte unterschätzt, wie schwer die Sachen ihres Exfreundes sein würden, doch sein hastiger Aufbruch hatte ihm offenbar keine Zeit zur Gründlichkeit gelassen und so waren immer wieder Kleinigkeiten aufgetaucht, die ihm gehörten. Hemden und Shirts zwischen ihren Sachen im Wäschekorb, vergessene Bücher neben dem Nachttisch, Aftershave und Duschgel im Badezimmerschrank, das alles schleppte sie nun mit sich herum, und langsam zweifelte sie daran, ob das Ergebnis die Mühe wert war. Ein wenig moralischer Sieg für diese Anstrengung? „Anne!“ Der Ruf hatte freudig geklungen und sie vollkommen überrumpelt, selbst als sie sah, dass Mrs Robertson, Lucas' Mutter, inne gehalten hatte und sich auf ihrem Rechen abstützte, während sie die Gartenhandschuhe auszog, konnte sie es kaum glauben. „Lass dir helfen, Kind. Du siehst aus, als würdest du gleich umfallen.“ Die ältere Frau lehnte ihr Werkzeug, mit dem sie das erste Laub des beginnenden Herbstes zu einem kleinen Haufen getürmt hatte, an die Veranda und wollte schon auf sie zukommen, als eine dunkle Stimme sie innehalten ließ. „Brenda.“ Lucas' Vater war nach Draußen getreten, betrachtete sie mit misstrauisch gerunzelter Stirn, wie sie an ihrem blanken, weißen Gartenzaun stand, und Anne fühlte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Nicht nur, weil sein Sohn ihm ähnlich sah, sondern auch, weil ihre Blicke sich so sehr glichen mit dem kaum verhohlenen Misstrauen und der latenten Angst darin. „Was macht sie hier?“ Mrs Robertson bedachte ihn mit einem Funkeln, das Anne von der noch immer schlanken und zierlichen Frau nie erwartet hätte. „Das, mein Lieber, wollte ich Anne gerade fragen, bevor du mich unterbrochen hast.“ In ihrer Stimme lag ein schneidender Ton, unter dem Anne sich, wenn er ihr gegolten hätte, zusammengekrümmt hätte, doch die ältere Frau lächelte sie nur an, als sie zu ihr trat und ihr den Karton aus den schmerzenden Armen nahm. „Was hast du denn da?“ Sie wirkte, als ob das kleine Intermezzo nicht gewesen wäre, was Anne einigermaßen überraschte, doch die ehrliche Freundlichkeit in diesen braunen Augen nötigte ihr einen erfreuten Gesichtsausdruck ab. „Ich bringe die Sachen vorbei, die Lucas in der Wohnung vergessen hat... ich weiß ja nicht, wo er jetzt wohnt.“ „Das ist wirklich nett von dir... willst du noch auf Kaffee und Kuchen hereinkommen?“ Mrs Robertson schien es ernst zu meinen, hatte wohl keinerlei Bedenken wegen ihrer Mutation – denn dass Lucas ihr nichts davon erzählt hätte, schien ihr ausgeschlossen – was ein warmes Gefühl der Zuneigung in Annes Brust erblühen ließ. Doch bevor sie antworten konnte, drang wieder die harsche Stimme von Mr Robertson an ihre Ohren, der mittlerweile näher getreten war, um ihr Gespräch mitanzuhören. „Brenda, das kannst du doch nicht machen.“ „Wieso nicht?“ Wieder dieser frostige Tonfall, der Anne an der normalerweise so freundlichen Frau schwer überraschte – ihr aber auch klar machte, wie sie es geschafft hatte, drei Jungen großzuziehen, ohne dass einer von ihnen jemals in gröbere Schwierigkeiten gekommen war. „Sie ist doch einer von diesen Freaks, oder hast du schon vergessen, was Lucas uns erzählt hat? Dass sie gefährlich sein könnte?“ Brenda Robertson schnaubte. „Wo wir beim Thema vergessen sind... hast du vergessen, dass Anne eine nette, freundliche und liebenswürdige junge Frau ist, die Lucas' Sachen lieber hier vorbeigebracht hat, anstatt sie einfach aus dem Fenster zu werfen, wie er das eigentlich verdienen würde nach seinem Verhalten?“ Für einen Moment maßen sich Lucas' Eltern mit Blicken, während Anne versuchte, möglichst unauffällig auszusehen und gleichzeitig ihre Überraschung über diese Einschätzung zu verbergen, bevor Mr Robertson sich schließlich abwandte, mit missmutigem Gesichtsausdruck ins Haus stapfte. „Du musst ihn entschuldigen.“ Brenda lächelte einnehmend, bevor sie das Gartentor vor Anne aufzog und die Schachtel aufnahm, die sie zwischenzeitlich abgestellt hatte. „Er ist manchmal ein wenig... brummig.“ Anne selbst war der Ansicht, dass diese Einschätzung eindeutig eine Untertreibung darstellte, ging aber nicht weiter darauf ein, während sie in die Küche traten. Mrs Robertson war einfach zu freundlich, als dass sie ihr das gerne unter die Nase gerieben hätte. Aus dem anliegenden Wohnzimmer drang der Lärm des Fernsehers durch die dünne Tür, Lucas' Vater hatte wohl beschlossen, dass die Baseballübertragung interessanter war als seine ehemalige Schwiegertochter in spe, und Brenda schüttelte resigniert den Kopf, während sie die Kaffeemaschine bediente. „Möchtest du Apfelkuchen?“ Anne nickte zaghaft, während sie auf einem der Küchenstühle Platz nahm, unruhig mit den Füßen wippte. Sie wurde das Gefühl nicht los, hier falsch zu sein, das durch die Tatsache noch verstärkt wurde, dass Lucas möglicherweise vorbeikommen und sie hier finden würde, und irgendwie wünschte sie sich weit weg von dieser ein wenig altmodischen, aber sehr sauberen und ordentlichen Küche. „Und? Wie geht es dir?“ Brenda stellte ein großes Stück Kuchen vor ihr ab, der Teller mit der Gabel darauf klirrte leise, als er die Tischplatte berührte, das dezente Geräusch akzentuierte das Brodeln der Kaffeemaschine mehr, als dass es es unterbrach. Die Szene wirkte so idyllisch, so unglaublich normal, Mrs Robertson mit der schmalen, wahrscheinlich unechten Perlenkette um den Hals erweckte mit spielerischer Leichtigkeit den Eindruck einer perfekten Hausfrau, nicht einmal der Schmutzfleck an ihrer Wange, der wahrscheinlich von der Gartenarbeit stammte, konnte das Gesamtbild stören. Anne fühlte sich fürchterlich fehl am Platz, ein Eindruck, der sie bei ihren früheren Besuchen nicht beschlichen hatte, und abwesend fragte sie sich, wie schnell man aus seinem eigenen Leben purzeln konnte ohne Chance auf Rückkehr. „Ganz gut, eigentlich. Ich unterrichte jetzt an einer Schule in Westchester.“ „Ja? Ich wusste gar nicht, dass du dich vor Beginn des Schuljahres beworben hast...“ Brenda machte offensichtlich Smalltalk, während ihre braunen Augen Anne musterten, ganz offensichtlich suchte sie in ihrem Gesicht nach etwas, und automatisch fragte die junge Frau sich, was. Nach Schmerz? Schuld? Scham? „Habe ich auch nicht... ich hatte das Glück, während des laufenden Unterrichts aufgenommen zu werden.“ Die entstehende Stille war ihr wohl genauso peinlich wie Brenda, allerdings waren an ihr keine Anzeichen zu entdecken, dass sie ihre spontane Einladung bereute, eine Tatsache, die Anne glücklicher machte, als sie sich selbst jemals eingestanden hätte. Es war einfach... erleichternd festzustellen, dass sie auch als Mutantin nicht vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten war, dass sie noch Menschen hatte, mit denen sie sprechen konnte, und dass sie die an Orten fand, an denen sie nicht gewagt hätte, danach zu suchen. Mit einem letzten Zischen verstummte die Kaffeemaschine und die ältere Frau erhob sich, schenkte ihnen mit geübten Bewegungen zwei Tassen ein, die sie auf dem Tisch abstellte, bevor sie eine kleine Kanne und die Zuckerdose holte. „Bitte.“ „Danke.“ Anne lächelte leicht, sog für einen Moment das herbe Aroma ein, bevor sie sich Milch eingoss und einen kleinen Würfel in die wirbelnde Flüssigkeit warf, danach mit präzisen Bewegungen den Kaffee umrührte. Der Löffel klirrte, als sie ihn auf der Untertasse ablegte, bevor sie einen Schluck nahm, um die Frage hinauszuzögern, die sie eigentlich gerne stellen wollte. „Wie geht es Lucas?“ Brenda zuckte langsam mit den Schultern, sie schien unschlüssig, doch Anne vermochte nicht zu sagen, ob die ältere Frau nichts über Lucas wusste oder ob sie sich nicht sicher war, was davon sie gefahrlos verraten konnte. „Nun... am Anfang war er sehr aufgebracht. Wegen dir, wegen des Lebens, wegen des Schicksals – und er hat sich große Mühe gegeben, aller Welt zu verraten, warum er sich von dir getrennt hat.“ Das hatte Anne gemerkt – sie scheute sich aber davor, es zu erwähnen, pickte lieber vorsichtig die letzten Krümel des Apfelkuchens mit ihrer Gabel auf in dem dilettantischen Versuch, unbeteiligt zu wirken. „Das hat sich nach ein oder zwei Wochen geändert... jetzt ist er sehr still, arbeitet viel, und lässt sich hier kaum mehr blicken...“ Brenda seufzte auf. „Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn...“ Langsam leerte Anne ihre Kaffeetasse, doch sie erwiderte nichts. Nachdenklich stapfte sie die Treppe empor, nahm Stufe um Stufe, während draußen vor dem Haus schließlich die Dunkelheit einfiel, in jede Ecke und jeden Winkel drängte, der nicht von den flackernden Straßenlaternen erleuchtet wurde. Im Nachhinein fragte sie sich, warum sie so nervös gewesen war. Es war alles gut gegangen, und der Besuch hatte ihr geholfen, hatte ihr sogar Freude gemacht, besonders, als Brenda ihr erklärt hatte, dass sie gerne wiederkommen könne, wenn sie das denn wolle – und ihr ein großes Stück Apfelkuchen eingepackt hatte. Zu erfahren, dass die Trennung auch an Lucas nicht spurlos vorbeigegangen war, war eine gewisse Genugtuung für sie gewesen, und im Verein mit der Tatsache, dass nicht alle ihre ehemaligen Bekannten und Freunde sie hassten... Anne erstarrte, als sie den letzten Treppenabsatz erklommen hatte, betrachtete fassungslos das braune Holz ihrer Wohnungstür, verfolgte mit ihrem Blick die Buchstaben, die mit einer Spraydose darauf geschrieben worden waren. „Hau ab, du Monster!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)