In Good Faith von Glasschmetterling ================================================================================ Chapter 8 - Ability? -------------------- In Good Faith – Chapter 8: Ability? „Emma... was ist denn los?“ Sie murmelt ebenfalls, fast instinktiv. „Ich muss gehen, Prinzessin...“ „Gehen?“ Mit einem Schlag ist sie hell wach. Die Neonröhren an der Decke erwachten nur langsam, flackernd zum Leben, tauchten den großen, kahlen Raum in Blitze von grellem Licht, bevor sie schließlich ihren Dienst antraten, mit stetigem Summen jede Ecke ausleuchteten. Ein wenig desorientiert blickte Anne sich um, während Kurt von ihr zurücktrat, Munroe stand neben dem Lichtschalter, ihre zarte, feingliedrige Hand lag noch darauf, bildete einen dunklen Kontrast zum metallischen Grau der Wände. Das Labor – denn danach sah es aus, auch wenn Anne in dieser Hinsicht nicht viele Erfahrungswerte darauf anwenden konnte – wirkte verlassen, die Instrumente und Bildschirme wurden von weißen Tüchern verdeckt, auf denen sich zwar noch nicht der Staub niederschlug, die aber wohl längere Zeit nicht benutzt worden waren. Nur logisch – immerhin war Hank McCoy jetzt Botschafter und reiste durch die Welt, zu den verschiedenen Kongressen... trotzdem hoffte Anne, dass seine medizinischen Fähigkeiten noch nicht eingerostet waren. Das Geräusch von schabendem Leinen ließ sie sich umwenden, Munroe hatte mit Schwung die Stoffbahn von einer Behandlungsliege gezogen, schwarzes Leder kam darunter zum Vorschein und Anne betrachtete es für einen Moment, während Kurt leise darauf Platz nahm. „Hank!“ Die schwere, runde Tür mit den beiden Streben, die an ein überdimensionales X erinnerten, waren überraschend leise aufgeglitten und Annes Augen weiteten sich bei dem Anblick des massigen, von blauem Pelz bedeckten Mannes, doch nur für einen Moment wegen ihm. Dann wandte sich ihre Überraschung Ororo Munroe zu, die sich mit einer fast kindlichen wirkenden Freude in seine Arme warf, ihn fest an sich drückte, obwohl ihre zierliche Gestalt in seinen Pranken zu verschwinden drohte. Doch die kleine Szene dauerte nicht lange genug, um Anne oder auch Kurt das Unbehagen von Menschen einzuflößen, die Dinge sahen, die nicht für ihre Augen bestimmt waren, denn die beiden trennten sich schnell voneinander und Munroe lächelte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte wie verwandelt, zeigte nun echte Freude anstatt dieses Halblächelns, das sie Anne oft zuwarf und das trotz ihrer Bemühungen immer ein wenig gezwungen wirkte. „Miss Lewis, Kurt – wie Sie sich vielleicht denken können, ist das Doktor Hank McCoy...“ „Doktor McCoy.“ Anne nickte ihm respektvoll zu, so... kultiviert er auch wirkte, sein Aussehen und seine Statur flößten ihr eine gewisse Scheu ein und irgendwie konnte sie ihn sich nicht so recht auf dem Parkett der internationalen Diplomatie vorstellen. Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln, bevor er sich Kurt zuwandte. „Wie geht es Ihrem Arm?“ Anne hob überrascht die Augenbrauen, sie hatte nicht gewusst, dass der Teleporter sie nicht nur aus Gründen des Transports begleitet hatte, und auch der weiße Verband, der nun, als er aus seiner Jacke schlüpfte, zum Vorschein kam, war ihr bei ihren Begegnungen im Laufe der vergangenen Woche nicht aufgefallen. „Gehen wir nach draußen?“ Munroe war auf sie zugetreten, Anne wusste nicht, ob ihr ihr leichtes Unbehagen aufgefallen war – immerhin hätte auch sie nicht gewollt, dass Kurt im Raum blieb, während sie untersucht wurde – oder ob sie ihr Taktgefühl keiner größeren Prüfung unterziehen wollte, aber in jedem Fall war sie froh, auf den kahlen Gang nach draußen treten zu können. Auch hier sprangen die Neonröhren an, enthüllten Wände in demselben Grau wie im Labor, doch bis auf einige identische Türen konnte sie hier nichts von Interesse entdecken. „Was ist denn mit Kurt los? Ist er krank?“ Munroe betrachtete sie für einen Moment, zuckte dann unbehaglich mit den schmalen Schultern. „Er ist in Boston angeschossen worden.“ „Angeschossen?“ Anne gelang es nicht, den Schrecken aus ihrer Stimme zu halten, doch Munroe hatte für ihre Reaktion nur ein müdes Lächeln übrig... eines, das wirkte, als ob sie schon mehr Schusswunden gesehen hatte als ihr eigentlich recht war. „Ja. Wir wissen noch immer nicht, wer dafür verantwortlich ist, die Jugendlichen, die wir in seinem... da, wo er normalerweise wohnt, gefunden haben, waren es nicht. Aber der Vorfall... es scheint nicht, als ob er im Moment besonders ungewöhnlich wäre. Ich meine, Sie haben ja die Abendnachrichten gesehen.“ Anne konnte nicht verhindern, dass ein Schauder über ihren Rücken lief, die feinen Härchen an ihren Armen sich aufstellten. Obwohl der Vorfall in der City sie betroffen gemacht hatte, war das Gefühl, damit eigentlich nichts zu tun zu haben, doch noch tief in ihr verankert, hatte sie sich noch immer nicht an die Tatsache gewöhnt, dass sie eine Mutantin war und dass ihr damit dasselbe passieren konnten. Was mit Kurt geschehen war, diesem Mann aus Deutschland, der so unglaublich gutherzig auf sie wirkte, hatte sich als kalter, aber sehr heilsamer Schock für sie überwiesen. „Was ist mit den Kindern?“ Sie hatte den erschrockenen Gedanken in dem Moment ausgesprochen, in dem er ihr in den Sinn gekommen war, und Munroe betrachtete sie mit Augen, die sie vor Überraschung zusammengekniffen hatte, dann nickte sie langsam, fast wie zu sich selbst, bevor sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf Anne richtete. „Ich habe ihnen gesagt, dass die Stadt im Moment kein sicherer Ort für sie ist, und ich denke, sie haben mich ernst genommen... ernster, als dass von Kindern ihres Alters normalerweise zu erwarten ist. Aber ich kann sie nicht einfach einsperren, und es gefällt mir nicht, dass sie kaum mehr aus dem Anwesen kommen. Eine Schule sollte sie auf das Leben vorbereiten und sie nicht davon abschließen.“ Das plötzliche Vertrauen überraschte sie, doch nur für einen Augenblick, denn eigentlich holte Munroe nur ihren Rat in einem pädagogischen Problem ein... dass die pädagogischen Probleme in einer Mutantenschule ein wenig spezieller waren als an einer anderen Bildungseinrichtung, sollte sie eigentlich nicht überraschen. „Ich denke, es ist richtig so... die Menschen waren schon bei Emma ablehnend genug, als wir damals in die Schule gegangen sind, und ihre Mutation war nicht so auffällig wie zum Beispiel bei Arty. Wenn jetzt schon auf Mutanten geschossen wird...“ Sie hatte nicht den Mut, den Satz zu beenden, wollte sich nicht vorstellen, wie einem dieser Kinder, die sie nun seit einer Woche unterrichtete, etwas zustieß, wie es vielleicht sogar ins Krankenhaus musste oder Schlimmeres... langsam schüttelte sie den Kopf. Sie waren keine Engel, aber das hätte Anne nie von ihnen erwartet, und sie trugen ihr Schicksal mit einer Fassung, von der sie selbst sich definitiv noch eine Scheibe abschneiden konnte. Noch immer waren ihr die Blicke ihrer Nachbarn, der Verkäufer in den Geschäften, die erfahren hatten, was sie war, unangenehm, und sie glaubte nicht, dass sie sich jemals daran gewöhnen würde – verstand aber immer besser, wieso ihre Schwester die erste Gelegenheit, von zu Hause wegzukommen, am Schopf gepackt hatte. „Ororo?“ Die Tür hatte sich erneut geöffnet, wieder einmal war Anne aufgefallen, wie beängstigend leise sie trotz ihres massiven Aufbaus war, und Kurt war nach draußen getreten. Munroe machte fast instinktiv einen Schritt zu, als ob eine Spannung, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie vorhanden war, sie dazu trieb. „Wie geht es dir? Und was sagt Hank zu deiner Verletzung?“ Kurt kam nicht dazu, die Frage selbst zu beantworten, denn Doktor McCoy war ebenfalls an die Tür gekommen. „Die Wunde wurde ausreichend versorgt und ist nicht infektiös, mir blieb also nicht viel zu tun, außer sie neu zu verbinden... gute Arbeit, Ororo.“ Die Frau lächelte über das Kompliment, es schien ihr viel zu bedeuten, auch wenn sie es sofort wieder relativierte. „Ich hatte einen ausgezeichneten Lehrer.“ „Und was ist mit Ihnen, Miss Lewis?“ McCoy hatte sich ihr zugewandt, seine blauen Augen, die nun von einer fast absurd zerbrechlich wirkenden Brille umrahmt wurden, sahen bemerkenswert neugierig aus. „Hat Miss Munroe Ihnen nichts erzählt?“ „Doch... allerdings würde ich gerne die ganze Geschichte von Ihnen hören. Kommen Sie.“ Mit einer Handbewegung, die trotz seiner Bemühungen ein wenig einschüchtern wirkte, wies er auf die Tür, und Anne trat hindurch, hörte, wie sie sich hinter ihr schloss, ein Geräusch, das sie doch beunruhigte, auch wenn sie es sich kaum eingestehen wollte. „Also?“ McCoy hatte sich von ihr abgewandt, seine Stimme klang gedämpft, während er sich die Hände desinfizierte und Anne langsam auf der Behandlungsliege Platz nahm. Ärzte waren ihr immer ein wenig suspekt gewesen, besonders, weil sie in ihrer Jugend kaum einen mehr gesehen hatte, nachdem Emma ihre Fähigkeiten entdeckt hatte, auch wenn ihre Eltern davon nicht besonders begeistert gewesen waren. „Nun... ich hab vor einigen Wochen herausgefunden, dass ich eine Mutantin bin, und ich hab keine Ahnung, woraus meine Fähigkeiten eigentlich bestehen.“ „Wie haben Sie das herausgefunden?“ McCoy musterte sie neugierig, mittlerweile hing ein Stethoskop um seinen Hals und er war auf sie zugetreten. „Mein Freund – Exfreund – Lucas hat darauf bestanden, dass ich einen Test mache, bevor wir unser erstes Kind bekommen. Meine Schwester ist eine Mutantin und er wollte wohl das Risiko ausschließen, dass ich das X-Gen trage...“ Bei dem letzten Satz spürte sie Bitterkeit, langsam hatte sie sich eingestanden, dass Lucas' Motive wohl doch nicht so auf das Wohl ihres möglichen Kindes bedacht gewesen waren, wie sie sich das gerne eingeredet hatte. Immerhin wäre er sonst bei ihr geblieben. „Das Ergebnis hat ihn wohl nicht so begeistert... deswegen Exfreund.“ „Könnte ich Ihre Unterlagen sehen?“ Anne seufzte auf, schalt sich selbst für ihre eigene Vergesslichkeit, in ihrem Eifer, endlich die Teleportation – die in ihrer Erinnerung definitiv nicht so schlimm war wie in ihrer Vorstellung – hinter sich zu bringen hatte sie vollkommen vergessen, die Mappe aus ihrem Unterrichtsraum zu holen. „Nein. Die liegen im Moment leider in Westchester... also meilenweit weg, vermute ich.“ McCoy wirkte für einen Moment irritiert von ihrer Aussage, doch dann nickte er. „Natürlich... aber das hat Zeit, denke ich. Die modernen Testergebnisse lassen ohnehin nicht besonders viel Raum für Spekulationen zu. Also, wenn Sie soweit sind, würde ich gerne anfangen...“ „Und? Was haben Sie herausgefunden?“ Gemeinsam mit Doktor McCoy saß Anne wieder wohlbehalten im Wohnzimmer des Anwesens in Westchester, während Ororo sich gemeinsam mit Kurt in die Küche zurückgezogen hatte, um Tee zu kochen, und betrachtete den Arzt, während sie mit einer gewissen Beklemmung auf seine Antwort wartete. Zwar war sie sich recht sicher, dass er es ihr bereits mitgeteilt hätte, wäre etwas wirklich Besorgniserregendes bei ihrer Untersuchung ans Tageslicht gekommen... aber die irrationale Furcht blieb. Immerhin hatte sie auch das letzte Mal, als sie in dieser Situation gewesen war, gedacht, dass nichts passieren könnte. „Dass Sie nach allem, was ich vor Auswertung der Blutprobe sagen kann, bei guter Gesundheit sind, ich keine Anomalien auf den Röntgenbildern feststellen konnte, und dass ich absolut nichts über Ihre Mutation weiß, Miss Lewis.“ Anne seufzte auf, sie wusste nicht, ob vor Erleichterung, dass diesmal keine Überraschungen zu Tage getreten waren oder vor Enttäuschung, weil sie noch immer nicht wusste, woraus ihre geheimnisvollen Fähigkeiten bestanden. Vielleicht waren sie auch gar nicht vorhanden, und das X-Gen hatte sich bei ihr nicht ausgeprägt? „Hast du denn gar nichts, Hank?“ Munroes Stimme klang mitfühlend, als sie ins Wohnzimmer trat, ein Tablett in der Hand, von dem der wohltuende, beruhigende Duft heißen Tees aufstieg; vorsichtig setzte sie es auf dem kleinen Couchtisch ab. „Nicht einmal eine Idee?“ McCoy zuckte mit den Schultern. „Ich bin Arzt und kein Hellseher, Ororo.“ „Natürlich.“ Ihr Unterton wirkte amüsiert, während sie sich neben Anne auf das Sofa sinken ließ, der gerade auffielen, dass nur drei Tassen auf dem Tablett standen. „Was ist mit Kurt?“ „Er möchte sich erholen... immerhin hat er in den letzten Stunden ziemlich viele Leute über ziemlich weite Strecken mitgenommen.“ Plätschernd goss sie Tee ein, während Anne sich zurücklehnte, die Augen schloss, der Tag war lang gewesen und sie war froh, wenn das Wochenende endlich anfing... ein Wort, das für sie, seit sie wieder arbeitete, wieder Bedeutung gewonnen hatte. Und Erholung klang im Moment sehr verführerisch. „Können wir denn gar nichts tun?“Munroes Stimme klang frustriert, eine Tatsache, die Anne ihr irgendwie nachfühlen konnte – auch sie frustrierte es oft nicht, zu wissen, welche Kräfte sie möglicherweise hatte, und die Sorge, dass vielleicht irgendwann einmal etwas geschehen könnte, wie Lucas es befürchtet hatte, beunruhigte sie noch mehr. Aber eigentlich war das ihre Sache, und es wunderte sie, wie sehr die Schulleiterin mit ihr mitzufühlen schien, wo sie sie doch überhaupt nicht kannte... aber vielleicht hatte Anne auch einfach nur vergessen, dass es auch gute Menschen gab, vor allem nach Lucas' Ablehnung. McCoy schüttelte langsam den Kopf. „Nicht wirklich. Miss Lewis, Sie könnten ein paar Konzentrationsübungen machen, um herauszufinden, ob Sie einige der häufigeren Fähigkeiten – Telepathie, Telekinese, Elementarkontrolle – besitzen... aber Mutationen äußern sich in so mannigfaltigen Formen, dass die Chance darauf relativ gering ist. Abgesehen davon können wir nur warten, vielleicht äußern sich Ihre Kräfte in einer Extremsituation oder unter großem emotionalem Druck, aber darauf wollen wir besser nicht hoffen.“ Seine blauen Augen, die mit der Farbe seines Pelzes harmonierten, wirkten ausgesprochen ernst, er schien wohl zu hoffen, dass dieser Fall nicht eintreten würde, und Anne verstand, wieso. Immer wieder war in den Medien von jungen Mutanten berichtet worden, die ihre Kräfte in Gefahr unbewusst eingesetzt hatten, und die Ergebnisse... nun, Anne konnte nur zu gut darauf verzichte, ihre Fähigkeiten zu entdecken, indem sie versehentlich jemanden verletzte oder sogar tötete. „Ich könnte es immerhin versuchen...“ McCoy nickte. „Vielleicht bringt es uns ja irgendwie weiter... haben Sie schon versucht, mit Ihrer Schwester darüber zu sprechen? Immerhin ähneln sich Mutationen innerhalb einer Familie manchmal, und vielleicht könnte sie Ihnen weiterhelfen.“ „Nein...“, langsam schüttelte sie den Kopf, spürte ihren Unwillen, darüber zu sprechen, immerhin hatte sie sich, was Emma betraf, nicht mit Ruhm bekleckert – und Munroe und McCoy würden das ebenso sehen. „Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, nachdem ich herausgefunden habe, dass ich eine Mutantin bin... aber sie möchte nichts von mir wissen. Genauso wenig wie von unseren Eltern, fürchte ich.“ „Eine bedauerliche, aber keineswegs ungewöhnliche Situation.“ Der Arzt wirkte nicht so ruhig, wie er es sich vielleicht gewünscht hätte, als er diesen Satz aussprach, und trotz seiner Mutation erweckte er für einen Augenblick den Eindruck eines verloren gegangenen Welpens, der nicht wusste, wohin er sollte. „Trotzdem bin ich mir sicher, dass wir Ihre Mutation früher oder später finden werden... sie kann sich nicht ewig verstecken, würde ich sagen.“ Anne lächelte pflichtschuldig, während McCoy seine Tasse Tee in einem Zug leerte und sich mit einem beeindruckenden Gähnen erhob, bevor er nach der Mappe mit den Testergebnissen griff, die sie ihm geholt hatte. „Aber so leid es mir tut, ein interessantes Gespräch mit zwei Ladies zu unterbrechen... ich muss morgen früh am Flughafen sein und sollte zusehen, dass ich davor so viel Schlaf bekomme wie möglich. Ich werde mir Ihre Daten ansehen, sobald ich Zeit dazu finde, Miss Lewis.“ Er hielt ihr die Hand hin und sie ergriff sie, hatte das Gefühl, dass er die Kraft seiner Finger sorgfältig dosieren musste, um sie nicht zu verletzen, aber seine Beherrschung wirkte abwesend, als ob sie ihm schon zur zweiten Natur geworden wäre. „Einen guten Flug, Doktor McCoy. Und danke für Ihre Bemühungen.“ „Nichts zu danken – es ist mir immer eine Freude, hierher nach Westchester zu kommen. Grüß die Kinder von mir, Ororo.“ Eine Umarmung, ein prüfender Blick auf die Schulleiterin, dann war er mit einem letzten Nicken verschwunden, und Anne ließ sich wieder auf das Sofa sinken, griff nach ihrer Teetasse. „Nehmen Sie den letzten Bus?“ Sie sah auf die große, antiquierte Standuhr, das lange Pendel schwang in trägem Rhythmus hin und her ihre Augen fixierten es kurz, bevor sie schließlich nickte. „Ja.“ „Dann...“ „Storm.“ Die Stimme war von der Tür gekommen und ließ Anne einen Schauer über den Rücken laufen, so viel Angst, so viel Grauen lag darin, und hastig wandte sie den Kopf. Jimmy stand in der Tür, ein Junge aus den unteren Klassen, der immer ein wenig einsam auf sie gewirkt hatte, und schien panisch etwas hinter ihr anzustarren. Ein kurzer Blick nach hinten überzeugte sie, dass da nichts war, dass – was auch immer er gesehen hatte – aus seinen Träumen stammte und nicht aus der realen Welt. „Storm... ich hab Angst.“ Anne wunderte sich, mit wem er sprach, wen er mit Storm meinte, doch die besorgte Art, in der Munroe auf ihn zuging, ihn in ihre Arme schloss und drückte schien die Frage zufriedenstellend zu beantworten. „Aber wovor denn?“ In Jimmys großen, grünen Augen spiegelte sich die Furcht. „Vor meinem Fenster... da ist etwas, irgendetwas bewegt sich... und es schnüffelt so laut.“ „Bist du dir sicher?“ Munroe runzelte die Stirn, und der Junge nickte. „Ja.“ „Nun... wie wäre es dann, wenn du dir eine Jacke anziehst, ich eine Taschenlampe hole und wir nachsehen gehen? Mit mir fürchtest du dich doch nicht, oder?“ Fast augenblicklich schüttelte Jimmy den Kopf und griff nach Munroes Hand, zog sie aus dem Wohnzimmer. „Nein, mit dir nicht. Gehen wir.“ „Ich kann Sie doch alleine lassen, oder?“ Der Blick der Schulleiterin wirkte fast schicksalsergeben, allerdings auch ein wenig verschmitzt, und Anne beeilte sich zu nicken. „Natürlich.“ Dann waren sie fort, ihr Lächeln verblasste, während sie spürte, wie die Nachdenklichkeit zurückkehrte, die der Junge für ein paar Momente vertrieben hatte, als sie Munroes unberührte Teetasse bemerkte. Seufzend schenkte sie sich selbst nach, die Flüssigkeit wirbelte zwischen den Porzellanwänden hin und her, verwandelte sich in einen kleinen Strudel, als sie den Zucker einrührte, bevor er schließlich langsamer wurde und schleppend zum Stillstand kam. Nachdenklich starrte sie in die Tiefen ihrer Teetasse, Doktor McCoy hatte gesagt, sie sollte herausfinden, ob ihre Fähigkeiten durch Konzentration zum Vorschein kamen, und wieso sollte sie nicht jetzt, wo sie ein wenig Zeit hatte, damit anfangen? Sie intensivierte ihren Blick auf die Flüssigkeit, versuchte, alle anderen Gedanken auszusperren, auch wenn die Gewissheit, dass sie höchstwahrscheinlich gerade ein wenig verrückt wirkte, in dieser Hinsicht ausgesprochen hartnäckig war. Tiefer und tiefer versank sie in ihrer Tasse, fast ohne ihr Zutun senkte ihr Kopf sich hinab, bis ihre Nase fast den Rand berührte, sie versuchte sich, vorzustellen, wie der Tee sich bewegte, wie er schwappte... das Porzellan klirrte leise. „Was machen Sie da? Wollen Sie die Zukunft vorhersagen?“ Fast ertappt blickte Anne auf, Logan war so gut wie lautlos an den Wohnzimmertisch getreten und blickte nun mit hochgezogenen Augenbrauen auf sie herab, was ihre Vermutung bestätigte, dass sie wohl ziemlich lächerlich ausgesehen hatte. „Ich wollte herausfinden, ob ich telekinetische Kräfte besitze.“ „Falls Ihnen das hilft... die Tasse hat gerade gewackelt.“ Logan grinste amüsiert und nahm neben ihr Platz, erst jetzt bemerkte sie, dass er eine Bierflasche in der Hand hielt, von der Anne sich fragte, wo er sie in einer Schule gefunden hatte. „Natürlich – weil Sie den Tisch bewegt haben.“ Ihre Gereiztheit musste auf ihre Stimme durchgeschlagen sein, denn er hob in einer gespielt hilflosen Geste die Arme, die ihre Laune nur noch weiter in den Keller sinken ließ – dieser Mann nahm sie definitiv nicht ernst. „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht bei Ihrem Experiment stören.“ „Ich muss ohnehin gehen, wenn ich meinen Bus erwischen möchte“, entgegnete sie so würdevoll, wie sie in diesem Moment gerade noch vermochte, und erhob sich, aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, wie Logans Blick zur Uhr huschte – sie beide wussten sehr genau, dass sie eigentlich noch mehr als genug Zeit hatte. „Na dann. Nacht.“ „Nacht“, antwortete sie leise und trat nach draußen auf den Gang, während sie sich fast abwesend fragte, wieso sie eigentlich vor diesem Mann weglief. Denn dass sie das tat, wusste Anne, auch wenn sie es niemals vor irgendjemand anderem – oder gar Logan – zugegeben hätte, und irgendwie fühlte sie sich nicht wohl dabei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)