In Good Faith von Glasschmetterling ================================================================================ Chapter 6 - The Golden Cage --------------------------- In Good Faith – Chapter 6: The Golden Cage „Man muss sie unter Kontrolle halten.“ „Kontrolle. Manchmal, wenn man ein wildes Tier einsperrt, dann wird es gefährlich...“ „Du hast keine Ahnung...“ Auch wenn sie sich später sagte, dass es dumm und unverantwortlich gewesen war – Ororo Munroe verschwendete keinen Gedanken daran, in Deckung zu gehen, sondern griff hinaus, rief nach dem Sturm. Und er kam. Die erschrockenen Rufe der Teenager wurden vom Donnern des Gewitters übertönt, Windböen griffen nach ihren Haaren, ihrer Kleidung, rissen und zerrten daran, während elektrische Spannung sich sammelte, sich aufbaute, sich ihrem Willen beugte, bereit, jeden Moment zu einem Blitz geformt zu werden. Mit der zunehmenden Dunkelheit des Himmels, mit den Wolken, die sich plötzlich zusammenzogen, wuchs auch Ororos Wut, ihr Zorn auf diese Halbstarken, die es wagten, Dinge zu zerstören, von denen sie nichts verstanden... Kurt war nur noch eine Präsenz in einem entfernten Winkel ihres Geistes. Sie wollte nicht fliehen, wie sie es abgesprochen hatten – sie wollte Rache. Erste Regentropfen, vermischt mit Hagelkörnern prasselten auf den Vorplatz der Kirche, trieben die Jugendlichen nach drinnen, wo sie sich zitternd aneinanderdrückten, sie anstarrten wie eine Erscheinung, während der Sturm noch immer um sie tobte, sich sammelte, bis er sie schließlich nach oben trug. Keiner von ihnen sah besonders gefährlich aus, sie wirkten eher verschreckt, verängstigt, so als ob sie nicht mit ernsthafter Gegenwehr gerechnet hatten – und keiner von ihnen trug eine Waffe, sonst hätte Ororo sie längst gesehen. Nein... diese Teenager wirkten eher so, als ob sie aus gutem Haus kommen würden, behütet, beschützt, und nach einem Abenteuer suchten, von dem andere Kinder mehr bekamen, als ihnen lieb war. Besonders jene Kinder, die sie mit diesem Abenteuer in Gefahr brachten... wenn sie ihnen nachstellten. Der Sturm gewann erneut an Stärke, ließ die Plastikplanen wehen, das Material knallte fast in den scharfen Windböen, und aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, wie die Kerze, die Kurt mit so viel Mühe angezündet hatte, erlosch. „Verschwindet.“ Sie musste nicht einmal besonders viel Schärfe in dieses eine Wort legen, die eisige Kälte ihrer Gefühle, ein scharfer Blick aus ihren unheimlichen, weiß verschleierten Augen reichte, um das klägliche Häufchen zum ungeordneten Rückzug zu treiben. „Verzieht euch und kommt nicht wieder zurück.“ Ein paar letzte Schreie, während die Jugendlichen nach draußen stürzten, beschlossen, dass auch das launischste Wetter angenehmer wäre als eine nähere Begegnung mit dieser Frau, dann schlug Ororo die schweren Türen mit einer starken Windböe zu, erlaubte sich, das Gewitter abflauen zu lassen. Nicht einmal einen Blitz hatte sie gebraucht – schade eigentlich. Die Kälte ihrer eigenen Gedanken erschreckte sie ein wenig, eigentlich hatte sie nie viel von sinnloser, ungerechtfertigter Gewaltanwendung gehalten, aber wahrscheinlich hatte die Belastung der letzten Monate Barrieren in ihr niedergerissen. So lange nur im Büro zu sitzen, unter Schreibarbeit fast zu ersticken und doch das Gefühl zu haben, nicht vom Fleck zu kommen hatte Energie in ihr aufgestaut, die eine der seltenen Trainingseinheiten im Danger Room nicht abbauen konnte – und darüber hinaus hatte sie fast vollkommen vergessen, wie befreiend es sein konnte, den Sturm und die Zerstörung, die in ihr lauerten, von der Kette zu lassen. Und jetzt spürte sie, wie schwierig es sein konnte, ihn wieder einzufangen. „Ororo?“ Kurt war während ihres Ausbruches hinter einem der steinernen Pfeiler, die das Hauptschiff vom Seitenschiff trennten, in Deckung gegangen, doch nun trat er wieder hervor und musterte sie – mit Respekt, wie ihr schien, aber auch mit ein wenig Scheu. Und doch konnte sie diesmal weniger von dieser Abneigung gegen die Gewalt entdecken, er wirkte fast... zufrieden über das, was eben geschehen war, wenn sie sich nicht täuschte. In einem reinen Willensakt brachte sie den letzten, leichten Windhauch unter Kontrolle, suchte nach diesem Punkt der Ruhe tief in ihr, der ihr immer dabei half, die Zerstörungskraft ihrer Fähigkeiten zu unterdrücken, dann nickte sie, öffnete die Augen. „Ja?“ „Ich...“ Fast ein bisschen umständlich, wie es seiner Art entsprach, wies er auf den metallenen Kerzenständer, doch Ororo winkte nur ab, bedeutete ihm, zu gehen, wenn er es wollte. Es hatte etwas fast Mediatives, ihn dabei zu beobachten, wie er ein Streichholz entfachte, es vorsichtig an den Docht hielt, bis er mit einem leisen Zischen Feuer fing, und die Präzision seiner Bewegungen überraschte sie, was es eigentlich nicht gesollt hätte. Er war Zirkusartist gewesen, hatte seine Nummern vorausplanen müssen, sie mit anderen Akrobaten abstimmen, und dies hier war eine Handlung, die er wohl öfter ausgeführt hatte als jedes Kunststück, das Ororo sich auch nur vorstellen konnte. „Jetzt... jetzt können wir gehen.“ Sie hatte dieser Einschätzung nichts entgegen zu setzen und lächelte, trat auf ihn zu, doch erst als seine Arme sich um sie schlossen bemerkte sie, dass sie zitterte, dass ihre Schultern bebten – ob vor Wut oder vor Erschöpfung vermochte sie nicht zu sagen. „Ihr habt euch Zeit gelassen.“ Sie öffnete ihre Augen erst wieder, als sie Logans Stimme hörte, trat von Kurt zurück – sie waren im Hof des Xavier-Anwesens gelandet, vor der Eingangstür, und das beruhigende Plätschern des Springbrunnens neben ihr half ihr, ihre verspannten Schultern zu lockern. Sie würde sich niemals an diese Art des Reisens gewöhnen. Nie. Zumindest war das der Grund für ihre Nervosität, den sie sich einredete, den sie vorschob, um auch vor sich selbst zu verbergen, wie sehr dieser Kampf sie emotional erschöpft hatte. Die X-Men hatten tiefe Wunden davongetragen, natürlich – aber das hätte sie nicht davon abhalten dürfen, ihre Fähigkeiten zu schulen.. „Wir hatten eine kleine... Auseinandersetzung.“ „Ach?“ Ororo hatte nicht geglaubt, dass man so viel Schärfe, so viel Misstrauen in ein so kurzes Wort legen konnte, doch Logan hatte die Übung mühelos gemeistert – und das auch noch, während er sein Motorrad polierte, auch wenn die Bewegungen fahrig wirkten und fast zu heftig. „Ich dachte, der Plan wäre 'hingehen, packen, abhauen' gewesen? Oder hab ich eine Einsatzbesprechung verpasst?“ Sie fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, aber noch pumpte zu viel Adrenalin durch ihre Adern, als dass sie in der Stimmung gewesen wäre, sich ohne Retourkutsche anschnauzen zu lassen. „Das hättest du denen mal auseinandersetzen sollen... vielleicht am besten, bevor sie Kurts Zuhause verwüstet und ihn angeschossen haben.“ „Nein.“ Das eine, leise Wort war von Kurt gekommen, was sie – gelinde gesagt – überrascht hatte, da er zuvor bei Streit zwischen ihr und Logan eher wie ein Freund der Familie gewirkt hatte, der zufällig zwischen die Fronten geraten war... also sehr bemüht, sich herauszuhalten. Auch jetzt wirkte er verlegen, spielte mit seinen Fingern, so als wäre er krampfhaft bemüht, ihre und Logans Aufmerksamkeit von sich abzulenken... auch wenn sie diesen Aspekt gut verstehen konnte. Ihrer beider Blicke waren gerade nicht besonders freundlich, das spürte sie, und sie gab sich alle Mühe, ein wenig zu lächeln. „Nein?“ „Das waren nicht diejenigen, die mich angegriffen haben. Sie mögen vielleicht Bier trinken und sich herumtreiben... aber die Männer, die auf mich geschossen haben, waren bedeutend älter als diese... Kinder. Und sie wirkten... organisierter. Die hier sind einfach durch die Haupttür hereingeplatzt... aber Freitag Nacht habe ich sie auch hinter der Kirche gehört, sie sind durch die Sakristei gekommen – da stand ein Plan dahinter.“ Ororo seufzte. „So viel also zu meiner Hoffnung, dass ein paar Jugendliche für den Angriff verantwortlich wären... das Schicksal geizt heute auch mit guten Nachrichten.“ „Habt ihr sonst noch etwas herausgefunden, außer der Tatsache, dass einige Leute ein Problem mit Mutanten haben?“ Logan war auf sie zugetreten, wischte sich die Hände am Putzlappen ab, während er ihr Kopfschütteln mit einem leisen Schnauben quittierte. „Also nichts... der Abstecher hat sich wirklich ausgezahlt. Von seinen Sachen habt ihr ja auch nichts mitgebracht.“ Er klang mehr resigniert als wirklich gereizt, fand sie, und das wahrscheinlich vor allem, weil sie sich für einen Ausflug in Gefahr gebracht hatte, von dem er von Anfang an nicht besonders begeistert gewesen war. „Es war nicht mehr besonders viel in einem Zustand, dass sich das Mitbringen gelohnt hätte.“ Die Bitterkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören, noch immer ging ihr das Schicksal dieser alten Kirche nahe, besonders, wenn sie zu Kurt blickte... Ororo wusste einfach zu genau, was es hieß, ein Zuhause zu verlieren, und nachdenklich streckte sie die Hand aus, klopfte ihm auf die Schulter. „Immerhin werden sie es sich jetzt zweimal überlegen, ob sie sich in einer bestimmten, leerstehenden Kirche herumtreiben sollen...“, fügte sie langsam hinzu, und nach dem Blick, den Kurt ihr zuwarf, war das zumindest für ihn ein kleiner Erfolg. Das leise, fast kaum hörbare Klopfen an der schweren Tür des Arbeitszimmers, das einst Charles gehört hatte, rettete Ororos Bleistift wohl das Leben, denn sie hörte auf, ihn mit kleinen, weißen Zähnen zu bearbeiten und nahm ihn aus dem Mund. „Herein?“ „Ähm...“ Das scheue Geräusch kam von Marie, passte so gar nicht zu der jungen Frau, die irgendwie verlegen wirkte, während sie sich mehr in den Raum drückte als wirklich eintrat und ihre Augen über die Einrichtung wandern ließ, die Nippsachen auf dem Schreibtisch, die Topfpflanzen auf den Fensterbrettern. „Ja?“ Ororo gab sich alle Mühe, so ermutigend zu klingen wie sie nur vermochte, sogar ein Blinder hätte erkannt, dass Marie etwas auf dem Herzen hatte – und auch ein emotionaler Analphabet wie Logan wäre dazu vielleicht in der Lage gewesen. „Setz dich doch... soll ich dir etwas zu trinken holen?“ „Nein... nein, ich...“ Ungeduldig – oder unschlüssig – verharrte sie auf der Kante des Stuhles, schien sich nicht sicher, ob sie wirklich hier sein wollte, spielte mit der weißen Strähne in ihren Haaren. „Ich glaube, ich sollte einfach wieder gehen...“ Sie hatte die Tür schon fast erreicht, als Ororo sie einholte, ihre zierliche Hand auf der Türklinke abfing, eine Berührung, die sie noch vor wenigen Monaten fast getötet hätte und noch immer nicht selbstverständlich war, weder für Marie noch für sie. „Nein... wenn du um diese nachtschlafende Zeit, wo morgen Schule ist und du schon längst im Bett sein solltest, noch hier ankommst, dann können wir auch gleich in die Küche gehen und uns Tee machen... während du überlegst, was du mir eigentlich sagen wolltest.“ Das Lächeln der jungen Frau, mit der sie auf ihren sanften, beruhigenden Tonfall antwortete, wirkte ein wenig brüchig, so als ob diese Reaktion mehr wäre, als sie erwartet hatte, und Ororo wagte es, ihre Hand loszulassen, war sich nun sicher, dass sie nicht wieder versuchen wollte, vor ihr zu fliehen. „Also?“ „Gut...“ Gemeinsam schritten sie den Gang entlang und mit leichtem Amüsement bemerkte Ororo, dass Marie ebenso sehr wie sie bemüht war, leise zu sein, um die Jüngeren nicht zu wecken – ein verantwortungsvolles Verhalten, das bei Siebzehnjährigen alles andere als selbstverständlich war. Aber vielleicht wurden Mutantenkinder einfach schneller erwachsen... mussten schneller erwachsen werden... jene, die bereits in diesen Krieg hineingeraten waren, wie Marie, Bobby, Kitty und Peter besonders. „Also... was möchtest du?“, fragte sie, während Ororo den Wasserkocher füllte und ihre Schülerin die Tür hinter ihnen schloss. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, dass sie die Frage falsch verstanden hatte, also lächelte sie über ihre Schulter hinweg – eine Geste, die schon fast zum Reflex geworden war, ihr leicht fiel, auch wenn ihr gar nicht danach zumute war, und setzte hinzu: „Früchte, Kräutermischung, Pfefferminz, Grün, Earl Grey...?“ Der Stich, den sie bei der letzten Sorte empfand, war schon fast unmerklich – es gab so viele Dinge, die sie an Jean erinnerten, und irgendwann musste sie lernen, nicht bei jedem von ihnen zusammenzuzucken. „Wobei ich den Earl Grey nicht empfehlen würde, wenn du heute Nacht noch schlafen möchtest...“ „Früchte, bitte...“ Marie hatte auf einem der Küchenstühle Platz genommen, trommelte mit unruhigen Fingern auf den blauen Fliesen der Tischplatte herum, ein leises Geräusch, das es doch fast schaffte, Ororo in den Wahnsinn zu treiben, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte. Sie konnte nicht leugnen, dass es sie erleichterte, schließlich eine Tasse voll heißen Tees zwischen Maries fahrige Hände zu schieben, nur damit endlich Stille eintrat. „Fühlst du dich jetzt besser?“ Die junge Frau nickte langsam, während sie zu ihr hochblickte, sie selbst fand es nach den langen Stunden der Büroarbeit äußerst angenehm, hier an der Küchenzeile zu lehnen, während sie ihre verspannten Schultern lockerte. „Also... was hast du auf dem Herzen?“ „Ich...“ Marie nahm einen ersten, vorsichtigen Schluck aus ihrer großen Tasse, wahrscheinlich, um Zeit zu schinden, bevor sie mit den Schultern zuckte, aus dem offenen Fenster starrte. Die Nächte waren jetzt, im September, noch immer warm, auch wenn man den Beginn des Herbstes bereits erahnen konnte... Ororo seufzte auf. „Wenn es dir schwer fällt, mit mir darüber zu sprechen... du könntest doch mit Logan reden.“ Die Worte, die sie eigentlich hätten beruhigen sollen, schienen etwas auszulösen, denn Maries Schultern sackten in sich zusammen und sie stieß ruckartig die Luft aus, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie angehalten hatte. „Das ist es ja.“ „Das ist was?“ „Das Problem. Logan, meine ich...“ Es schien sie beträchtliche Mühe zu kosten, das einzugestehen, es laut auszusprechen, was sie sich wohl schon länger gedacht hatte – anscheinend besonders vor ihr, Ororo. „Was ist mit ihm?“ Marie zuckte unbehaglich die Schultern, ihre Finger verkrampften sich immer wieder um die Tasse, während sie sie abwesend zwischen den Händen drehte. „Er ist einfach nicht mehr derselbe, weißt du? Früher... früher hatte er immer Zeit für uns, hat mit uns gelernt, trainiert, uns durch den Garten gejagt, wenn wir das wollten... und auch wenn er manchmal ein wenig... rau ist, was Gefühle angeht, hat man sich doch immer darauf verlassen können, dass er ein offenes Ohr hat. Und dass er schweigt wie ein Grab, wenn es darauf ankommt.“ Die Zuneigung auf ihren Zügen war offensichtlich und doch anders als jene, die sie für Bobby hegte, mehr die Bewunderung einer kleinen Schwester – aber sie hatte Logan wirklich gern. Und er Marie ebenfalls, nach allem, was sie bis jetzt von ihm erlebt hatte. „Aber?“ Es fiel Ororo schwer, diese Frage zu stellen, aber auch sie mochte Logan... und genau deswegen war es ihre Pflicht, nachzuhaken, herauszufinden, was sie zwischen all ihrer Arbeit und den Sorgen, die sie erfüllten, vielleicht übersehen hatte. „Denn da kommt noch ein aber, das merkt man...“ Marie zuckte mit den Schultern. „Na ja... er hat sich verändert, irgendwie...“ „Verändert?“ Ororo spürte, wie ihre Ungeduld wuchs, dass das Mädchen sich alles aus der Nase ziehen ließ, sprach vielleicht für ihre Loyalität Logan gegenüber, aber in der jetzigen Situation ging es ihr eigentlich eher auf die Nerven. „Was meinst du?“ „Du erinnerst dich doch noch, wie er war, als wir ihn damals kennengelernt haben, oder? So... unruhig, so... getrieben von Dingen aus seiner Vergangenheit, die es ihm nicht erlaubt haben, länger an einem Ort zu bleiben. Man hatte das Gefühl, dass er irgendetwas sucht, das er nicht finden kann... und eigentlich war es ja auch so, nicht wahr?“ Ihre Stimme verebbte, kapitulierte vor der Aufgabe, etwas zu beschreiben, das kaum zu beschreiben war, für das wohl nicht einmal Logan selbst die richtigen Worte finden würde, wenn er überhaupt die Notwendigkeit eingestanden hätte, nach ihnen zu suchen. „Auf jeden Fall... was auch immer es war, das diesen Teil von ihm in den letzten Jahren zurückgehalten hat... es ist fort.“ Ororo konnte nicht anders, als zu nicken, Marie schien besser verstanden zu haben, was mit diesem schweigsamen Kanadier los war, als sie selbst, eine Tatsache, die sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, ziemlich überraschte. Sie hatte sich niemals eingebildet, eine so gute Menschenkenntnis wie Charles zu besitzen, wenn man bei ihm überhaupt von Menschenkenntnis sprechen konnte, aber doch immer den Eindruck gehabt, Einfühlungsvermögen zu besitzen... dass ein Mädchen ihr jetzt etwas über Logans Gefühlsleben erklärte, kam unerwartet. Sehr unerwartet. „Ich meine... ist es dir nicht aufgefallen? Er ist viel öfter draußen, im Park, streift dort alleine umher... geht nachts in die Stadt, betrinkt sich – sieh mich nicht so empört an, ich weiß, was Alkohol ist, auch wenn ich noch keinen trinken darf!“ Der kurze Einwurf brachte sie zum Lächeln, das klang wieder mehr nach einem Teenager, eine Tatsache, die sie doch einigermaßen beruhigte... in gewissen Bereichen war sie Marie also noch voraus. Aber nicht mehr in vielen. „Auf jeden Fall... ich glaube, er wird irgendwann wieder abhauen und sich auf die Suche nach seinen Dämonen machen... und davor habe ich Angst, Storm. Große Angst.“ „Ja...“ Ororos Stimme verlor sich, während sie nach draußen in den Garten starrte, durch das offene Fenster die nächtlichen Geräusche wahrnahm, das Zirpen der Grillen, das Rascheln der Blätter, und verzweifelt versuchte, sich daran festzuhalten, während die Angst in ihr hochkroch. „Davor hab ich auch Angst. Wir brauchen ihn doch hier...“ Maries braune Augen bohrten sich in ihre, sie kniff die Lippen mit einem Ausdruck zusammen, der Missbilligung sehr nahe kam, und doch schien sie zu... zögern, ihrem Unmut Luft zu machen. „Was ist?“ „Nichts...“ Das eine Wort klang nicht besonders ehrlich, eher so, als würde sie sich auch nach dieser direkten Nachfrage krampfhaft bemühen, ihre wirkliche Meinung zu verbergen – Ororo seufzte unhörbar auf. „Sicher?“ „Ja... nein. Ich meine nur, dass man manchmal erst daran denken muss, was man für sich selbst tun muss, bevor man sich überhaupt überlegen kann, was man für andere tun könnte. Und dass es Logan im Moment vielleicht genauso geht.“ Hinter diesen einfachen Sätzen schien mehr zu liegen, als Ororo sehen konnte, eine tiefe... Gewissheit, die nur aus der eigenen Erfahrung kommen konnte, eine Gewissheit, die sie ausgerechnet bei Marie nicht vermutet hätte. Aber die junge Frau, die in den letzten Monaten manchmal so unsicher, so scheu gewirkt hatte zwischen all den anderen Kindern und Jugendlichen, zu denen sie nicht mehr so ganz zu gehören schien, war sich in diesem Punkt wohl sicher – sehr sicher. Langsam schüttelte Ororo den Kopf, nahm den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse, sie hatte kaum bemerkt, dass sie getrunken hatte, und spürte nun, wie die Müdigkeit in ihr hochkroch – die sich noch steigerte beim Gedanken daran, dass sie morgen würde unterrichten müssen. „Du hast ja Recht...“ Das Eingeständnis schien Marie zu überaschen, eine Tatsache, die Ororo nicht besonders gefiel – war sie wirklich so rau, so abweisend gewesen in letzter Zeit, dass sie es nicht mehr schaffte, ihren Schülern zu vermitteln, dass diese immer zu ihr kommen konnten, egal, was sie auf dem Herzen hatten? Besonders für Marie sollte das doch gelten, immerhin war sie die einzige Schülerin der Xavier's School for Gifted Youngsters, die keine Mutantin war. Schon oft hatte Ororo sich gefragt, wieso sie eigentlich noch hier war, sich nicht für das normale Leben entschied, das ihr nun, wo sicher war, dass die Heilung ihre Mutation vollständig unterdrückte, offen stand – denn an Bobbys gewinnendem Lächeln alleine konnte es nun wirklich nicht liegen. Zumindest hoffte sie das für Marie. „Danke...“ Das eine Wort klang verlegen, Marie wirkte so, als ob sie nicht so recht wüsste, was sie eigentlich sagen wollte, während sie rhythmisch mit dem Löffel gegen ihre nun ebenfalls leere Tasse schlug. „Eigentlich sollte ich mich bedanken, nicht du... dafür, dass du mir endlich die Augen geöffnet hast. Warum hast du nicht früher etwas gesagt?“ Ihr war es gelungen, der letzten Frage den Vorwurf zu nehmen, doch trotzdem wirkte die junge Frau unbehaglich, während sie die Fugen der Fliesen auf der Tischplatte musterte wie Ororo es so gerne tat. „Na ja... ich hatte das Gefühl, dass ich... naja, dass es deine Angelegenheit ist, und nicht meine, verstehst du? Ihr habt immer versucht, uns aus allem herauszuhalten, uns die Sorgen abzunehmen – und jetzt, wo ich nicht einmal mehr eine Mutantin bin...“ „So etwas solltest du gar nicht denken, Marie. Du hast uns das Leben gerettet bei Alkali Lake, und das hier...“, vorsichtig streckte Ororo ihre Hand aus, berührte sanft die weiße Strähne in Maries Haaren, „... das hier zeigt, dass du mehr Recht hast, meine Entscheidungen anzuzweifeln als viele andere... egal, was du mit deinen Genen anstellst oder nicht anstellst. Wenn wir anfangen zu unterscheiden, sind wir nicht besser als sie.“ Und während sie das sagte, konnte sie sogar selbst daran glauben... fast. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)