Licht und Finsternis von DoctorMcCoy ================================================================================ Kapitel 2: Gedanken und Gefühle ------------------------------- Victoria stand unschlüssig vor der provisorisch reparierten Tür. Sie hatte Angst, dass sie wie ein verwöhntes kleines Kind klingen würde, wenn sie mit den Meister über ihre Bedenken sprach. Besonders die amüsierten Gesichter der Zwillinge versuchte sie aus ihren Kopf zu verbannen. Wenn diese kleinen Gören nur nicht immer beim Meister sein mussten. Victoria vermisste die Zeit, als sie noch alleine mit ihm durch die Gegend gereist war. Nur er und sie, Vater und Tochter. Diese Zeit war für Victoria eine der Glücklichsten in ihren gesamten Leben gewesen. Und dann kam Rak’shir und bevor sie sich versah, wurde daraus ein ganzer Clan, einer der größten noch dazu. Nun war man hier so gut wie nie allein. Jeder kannte Victoria, immerhin stand sie direkt unter dem Meister, aber manchmal wünschte sie sich, dass es anders wäre. Sie musste immer die Haltung wahren, um für die niederen Vampire ein gutes Vorbild zu sein, doch manchmal wollte sie einfach nur flüchten. Wenn der Meister nicht wäre, wäre Victoria vermutlich schon lange weggelaufen. Hin und wieder beneidete sie auch Rak’shir, der sich so gekonnt vom Clan distanzierte und trotzdem vom Meister geschätzt und geehrt wurde. Victoria musste sich für diese Anerkennung immer den Arm ausreißen, zumindest kam es ihr öfters so vor. Sie zweifelte zwar nicht daran, dass der Meister sie wie eine Tochter liebte, doch trotzdem erzählte er ihr nicht alles. Das beste Beispiel dafür war die Tatsache mit dieser Prophezeiung. Rak’shir hatte davon gewusst, die Zwillinge natürlich auch und seiner Tochter erzählte er nichts davon. In dem Moment hatte Victoria sich gekränkt gefühlt. War sie etwa nicht vertrauensvoll genug, um ein Geheimnis zu bewahren? Früher hatte der Meister ihr alles erzählt. Alles, was wichtig war und noch so jede winzige Kleinigkeit. Seit nunmehr dreißig Jahren kam es ihr so vor, als ob sich der Meister immer mehr von ihr distanzieren würde. Seit Seth in den Clan gekommen war. Er hatte ihn sofort herzlich aufgenommen, ihn fast schon wie einen Sohn behandelt. Victoria verstand es nicht. Immerhin war er nur irgendein dahergelaufener Streuner. Und der Meister behandelte ihn, als ob er ein Heiliger wäre. Dabei war doch der Meister selber der Heilige, ihr persönliche Retter aus der Hölle gewesen. Victoria holte einmal tief Luft, eine Handlung, die sie aus Gewohnheit immer noch tat, obwohl sie es nicht mehr benötigte. Langsam griff sie nach der Klinke. Wie in Zeitlupe drückte sie sie herunter, Millimeter um Millimeter. Vorsichtig öffnete sie die Tür und war erleichtert, als sie ihren Meister erblickte, der alleine in seinem Sessel saß. Es war keine einzige Wache zu sehen und was noch besser war, die Zwilling waren auch nicht zugegen. Gleich schon änderte sich die Stimmung von Victoria schlagartig. Ein Lächeln stahl sich auf ihr makelloses Gesicht. Wie lange schon war sie nicht mehr alleine mit ihrem Meister in einen Raum gewesen. Sofort schritt sie elegant zu ihm hin und ließ sich zu seinen Füßen nieder. Mit einem wohligen Gefühl im Bauch schmiegte sie sich an ihn. Wie lange hatte sie nicht mehr diese Nähe gespürt? Es war viel zu lange her. Für einige Minuten genoss sie einfach, dass er für sie da war, spürte mit Freuden seine Hand, die auf ihrem Kopf ruhte. Dann blickte sie zu ihm empor. „Ich muss mit euch reden, Meister.“ „Ich weiß, meine Liebe. Du fühlst dich bestimmt von mir verraten, oder? Immerhin habe ich dir nichts von dieser Prophezeiung erzählt, dabei bist du doch mein kleines Mädchen.“ Er lächelte sie an und für Victoria brauchte es gar nicht mehr, um vor Freude in die Luft zu springen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich fühle mich nicht verraten. Ich verstehe es nur nicht. Vertraut ihr mir etwa nicht mehr? Bin ich nicht mehr gut genug?“ Sie blickte zu Boden, weil sie nicht sein Gesicht sehen wollte, wenn er genau diese Worte aussprach. Kurz musste sie an Seth denken, den er sofort freudig in die Arme geschlossen hatte, obwohl er ihn kaum kannte. Selbst bei Kryl hatte es einige Zeit gedauert, bis der Meister ihn akzeptiert hatte, aber Seth hatte wohl irgendetwas an sich, dass jeder ihn sofort mochte. „Nein, ganz im Gegenteil, Victoria.“ Er nahm ihr Kinn in die Hand und zwang sie sanft dazu, ihm in die Augen zu sehen. „Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Und trotzdem bleibst du mein kleines Mädchen, das ich nie unglücklich sehen will. Deshalb habe ich dir nichts erzählt. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Du denkst manchmal über so etwas viel zu lange nach. Ich werde nie diese traurigen Augen vergessen, als wir aus Griechenland zurückgekommen sind. Und noch heute sehe ich oft diesen Blick bei dir, der mir verrät, dass du schon wieder in irgendeiner traurigen Vergangenheit unterwegs bist. Darum habe ich es nicht übers Herz gebracht, dir von der Prophezeiung zu erzählen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“ Victoria nickte nur, zu mehr war sie nicht imstande. Sie war so überwältigt, dass sie nicht wusste, was sie darauf antworten konnte. Sie schmiegte sich einfach wieder an ihren Meister. Das musste genügen, um ihre Zuneigung auszudrücken. So blieb sie dort sitzen und vergaß völlig, warum sie eigentlich gekommen war, jedoch war dies auch kaum länger von Bedeutung. Bis der Meister dieses Thema ansprach: „Ich habe eben auch noch bemerkt, dass es dir wohl nicht gefällt, dass Rak’shir euer Anführer sein soll.“ Victoria blickte wieder zu ihm auf. Wenn sie eben noch gedacht hatte, dass sie ihm egal war, dann waren spätestens jetzt die letzten Zweifel verschwunden. Immerhin kannte er sie gut genug, um so etwas zu erkennen. „Ich weiß, dass du Rak’shir nicht besonders gut kennst, aber ich kann dir versichern, dass er ein ausgezeichneter Krieger ist. Und ich habe ihn als Anführer gewählt, weil er die Prophezeiung in und auswendig kennt. Außerdem war er schon fast in jedem Land, dass es hier auf dieser Welt gibt. Was für einen besseren Führer kann man sich denn vorstellen? Ich will doch nur, dass ihr alle wohlbehalten wieder zu mir zurückkommt.“ Er schaute auf die gegenüberliegende Wand und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Victoria sah es wieder, die Sorge in seinen Augen. Er hatte wirklich Angst, dass dies der Anfang vom Ende sein könnte. Und Victoria musste zugeben, dass sie auch Angst hatte. Damals in Griechenland war der Meister zuversichtlich gewesen, hatte ihr Mut gemacht und dennoch hatte sie dieses Schreckensbild nie wieder vergessen können. Und nun war er selber voller Sorge. In was sollte Victoria denn dann ihre Hoffnungen setzten? Rak’shir schritt die lange, dunkle Wendeltreppe hinunter. Seine Gedanken waren immer noch in Ägypten. In diesem trostlosen Haus, das völlig ausgestorben war, als ob nie jemand dort gewohnt hätte. Nur noch ein wenig Staub zeugte von den einstigen Bewohnern. Und die vielen Katzen, die hungrig miauend auf den unangemeldeten Gast zurannten. Einige schnappten sogar nach Horus, was sie sonst nie gewagt hätten. Rak’shir untersuchte das ganze Haus, doch in allen Räumen sah es gleich aus. Leer und einsam. Er verspürte Trauer über den Verlust dieser gottlosen Geschöpfe, denn immerhin waren sie seine Freunde gewesen. Den Anführer kannte er schon seit mehreren Jahrhunderten, hatte viele Expeditionen gemeinsam mit ihm unternommen. Katesh hatte sich als Erster mit Rak’shir messen können, was sein Wissen anbelangte. Und das hatte ihn zu einer Person gemacht, die Rak’shir sehr respektierte und zu schätzen wusste. Vielleicht konnte man ihn sogar als einen besten Freund bezeichnen. Rak’shir hatte lange im Zimmer von Katesh gesessen. Vielleicht hatte er gehofft einen Anhaltspunkt zu finden, der diese Tragödie erklären würde. Doch auch in diesem Raum war nur der Staub auf dem Boden. Rak’shir nahm etwas davon und tat es in den Beutel, den er immer bei sich trug. Ein Andenken. Den Rest nahm er, trat zum Fenster und warf es hinaus. Nur eine Windböe und der Staub vermischte sich mit dem Sand und war nicht mehr zu sehen. Rak’shir lächelte traurig. Das hätte Katesh gefallen. Für immer in seiner geliebten Wüste. Die schwere Eisentür knarzte, als Rak’shir sie öffnete. Dahinter lag ein Raum, der fast nur aus Regalen bestand. Über und über waren sie mit Büchern gefüllt. Rak’shir war ein leidenschaftlicher Sammler. Doch nicht nur die alten Werke waren hier vertreten, sondern auch Bücher über die neuesten Techniken. Rak’shir war schon immer fasziniert gewesen von Wissen. Und er konnte immer noch etwas dazu lernen. Es gab immer etwas Neues zu entdecken. Rak’shir schritt zum Schreibtisch und legte seine Tasche darauf. Er pfiff kurz in einer Frequenz, die ein Mensch wohl nicht hätte hören können. Dabei zog er mit seiner Hand eine Kladde aus seiner Tasche. Sie war in Leder gebunden und vorne stand in verschnörkelter sauberer Schrift ‚2009’. Rak’shir blätterte kurz die Seiten durch. Bei der letzten beschriebenen Seite blieb er stehen. Die Schrift schien unsauberer zu sein als auf den anderen Seiten. Sie wirkte hektischer. Rak’shir konnte nicht anders und begann seinen eigenen Eintrag zu lesen. 6. Juni 2009 Es hat begonnen! Der Clan von Katesh ist von der Erde getilgt worden. Die Waffe scheint aufgetaucht zu sein. Es waren keine Anzeichen eines Kampfes zu sehen gewesen. Eigentlich war da nichts außer dieser bedrückenden Stille. Es hat sie wohl in einem Schlag vernichtet. Anders kann ich es mir nicht erklären. Aber wer bedient diese Waffe? Dämonenjäger waren es nicht, wie ich glaube. Zumindest konnte ich keine Gerüche von Menschen wahrnehmen. Immerhin eine gute Nachricht. Das heißt, dass der Täter vielleicht nicht mit einer bestimmten Taktik vorgeht, sondern einfach wahllos tötet. Das könnte jedoch sowohl ein Vorteil als auch einen Nachteil bedeuten. Ein Täter, der wahllos tötet, ist manchmal schwerer zu verfolgen als jemand, der einen Plan hat. Ich hoffe nur, dass wir rechtzeitig etwas unternehmen können. Auch wenn diese Kreaturen anders sind, haben sie es nicht verdient, alle zu sterben. Vielleicht ist die Prophezeiung wirklich war und er kann uns alle retten. Rak’shir blickte auf. Es war seltsam. Es schien so weit weg zu sein, dabei waren nur ein paar Tage vergangen. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen. Der Krieg hatte begonnen und wer wusste schon, wie er ausgehen würde? Normalerweise hätte Rak’shir gesagt, dass man Vampire nur schwer töten konnte, aber diese Waffe war wohl etwas, das man bisher noch nicht kannte. Es gab immer noch so viel, was er nicht kannte. Was er nicht wusste und es machte ihn rasend. Vielleicht hätte er dieses Leben schon längst beenden sollen, doch er war einfach zu schwach. Sein Wunsch war stärker als seine Reue. Er war nicht besser als jeder wertlose Mörder. In eben diesem Moment kam Horus hereingeflogen. Er landete sanft auf der Schulter seines Herren und krächzte ihm leise ins Ohr. Es klang, als ob der Falke ihm tröstliche Worte zuflüstern würde. Rak’shir klappte daraufhin sein Notizbuch zu. „Wills du selber jagen oder soll ich dir eine Maus fangen?“ Rak’shirs Bibliothek wimmelte nur so vor Mäusen. Immer wieder huschten sie über den kalten Steinboden. Hin und her. Doch Rak’shir störte sich nicht dran. Er fütterte sie sogar. Solange sie seine Bücher nicht anrührten, war alles in bester Ordnung. Und für Horus waren sie eine ideale Mahlzeit für zwischendurch. Rak’shir wunderte sich manchmal, wie der Falke in einem Raum voller Regale jagen konnte, doch Horus kam fast immer erfolgreich mit einer Maus im Schnabel zurück. So auch dieses Mal ließ er sich nicht von seiner Jagd abringen und breitete die Flügel aus. Rak’shir schaute seinem Gefährten kurz nach. Schon seit fünf Jahren begleitete Horus ihn nun auf seinen Reisen. Er war ein treuer Gefährte geworden. Ein Freund, den er nicht mehr missen wollte. Er war klüger als so mancher Vampir oder Mensch, dem er begegnet war. Zumindest klüger als Kryl. „Lass es dir schmecken“, meinte er, als er hörte, wie Horus gerade eine Maus totbiss. Rak’shir hingegen ging zum Regal, was neben seinem Schreibtisch stand. Es sah aus wie alle anderen Regale in diesem Raum, doch waren die Bücher anders. Waren die Bücher sonst total ungeordnet, kleine neben großen, alte neben neuen, A neben K, so waren sie hier einheitlich. Alle waren sie große lederne Kladden, die nach Jahren sortiert waren. Es waren bestimmt hunderte. Er schritt am Regal entlang, strich mit seinen Fingern über die Einbände, bis er das Jahr gefunden hatte, das er gesucht hatte: 1832. Vorsichtig zog er das Buch heraus. Er setzte sich auf seinen Sessel und tauchte in die über hundert Jahre vergangenen Erlebnisse ein. November 1832, Nigeria Seit mehreren Monaten verweile ich nun schon in Nigeria. Die Aufstände in Europa, besonders in Paris, interessieren mich nicht wirklich. Die Vampire haben sowieso keine Chance. Es gibt einfach zu viele Menschen. Und die sich immer weiter aufbauende Gemeinde von Jägern wird immer besser. Sie kennen nun bereits unsere Schwachstellen. Viele Vampire sind gefallen, wie ich gehört habe. Aber es ist mir gleichgültig. Ich wusste von vornherein, dass daraus nichts werden würde. Auch der Meister hat die Einmischung unseres Clans schlichtweg untersagt. Also hört er immer noch auf meinen Rat. Vermutlich haben die Zwillinge auch ihren Beitrag dazu geleistet. Kryl hat sich darüber geärgert, ist mir zu Ohren gekommen. Er war schon immer viel zu heißblütig. Ich bin froh mich nicht in die Sache eingemischt zu haben, denn hier habe ich etwas sehr interessantes entdeckt. Erst wollte ich nur zur Entspannnung durch das Land reisen. Mir einfach mal eine Pause gönnen. Doch es hat sich etwas ergeben, was ich nicht vorhergesehen habe. Kaly hat eine Höhle entdeckt. Sie hat wirklich eine gute Nase. Mir war die Höhle nicht aufgefallen. Aber erst hielt ich sie für nichts Besonderes. Immerhin war es nur eine ganz normale Höhle. Die kann man überall finden. Zumindest dachte ich das. Doch je tiefer ich in das Dunkel hineingelangte, desto vertrauter wurde es. Ich konnte nicht genau bestimmen, was diese Vertrautheit in mir auslöste. Es war so, als ob ich schon mal hier gewesen war. Aber nicht die Wände und Tunnel schien ich schon mal gesehen zu haben, sondern das Gefühl, das mich dabei beschlich. Irgendetwas Eigenartiges. Mehrere Tage erkundete ich die Höhle. Sie war weit verzweigt. So weit verzweigt, dass es sogar für mich etwas dauern würde, alles zu sehen. Manchmal stellte ich mir die Frage, warum ich überhaupt hier war. Was mich dazu verleitete, immer tiefer vorzudringen? Mittlerweile glaube ich, dass es die Energie der Höhle war. Es erinnerte mich an etwas. Sie war ähnlich wie damals. Damals in der Höhle, wo alles begonnen hat. Hier war etwas Übernatürliches am Werk. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Und ich lag richtig. Nach vier Tagen, wo ich schon beinahe aufgeben wollte, entdeckte ich mitten im Gestein ein Tor. es waren seltsame Schriftzeichen darauf zu erkennen. Schriftzeichen, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es störte mich, dass ich sie nicht kannte. Das es etwas gab, wovon ich noch nie gehört hatte. Zuerst beschäftigte ich mich damit, diese Zeichen ordnungsgemäß zu dokumentieren. Ich würde mich später damit näher beschäftigen. Ich werde sie bestimmt übersetzten können. Dann machte ich mich daran, das Tor zu öffnen. Es ging nicht ganz, ohne es zu zerstören. Kaly saß die ganze Zeit neben mir und betrachtete mich desinteressiert. Wahrscheinlich fragte sie sich, was wir hier eigentlich suchten. Und in meinen schwachen Momenten fragte ich mich das auch. Immerhin war es so ähnlich wie damals. Und ich habe diese Erfahrung mein Leben lang bereut. Aber es war richtig zu bleiben trotz meiner Bedenken. Etwas Unglaubliches habe ich entdeckt. Etwas, was uns in der Zukunft von Vorteil sein könnte. Es scheint eine Art von Prophezeiung zu sein. Und seine Aura, die es ausstrahlt, lässt keine Sekunde an deren Wahrheit zweifeln. Es ist eine Rede von einer Waffe. Einer Waffe, die dazu in der Lage ist, Vampire zu töten. Das ist natürlich nicht sehr erfreulich. Doch es ist auch von einem Mann die Rede. Einem Mann, der das Licht aufhalten kann. Ich bin mir nicht ganz sicher, was das bedeuten soll, jedoch werde ich das noch herausfinden. Wahrscheinlich war es vorherbestimmt, dass ich diese Prophezeiung finden soll. Als erstes werde ich zum Meister gehen und ihm davon berichten. Vielleicht wissen die Zwillinge etwas dazu. Wahrscheinlich kennen sie sogar schon den Ausgang dieser Katastrophe. Bei den Beiden ist alles möglich. Damit endete der Eintrag. Rak’shir schaute auf. Seit diesem Tag war einige Zeit vergangen. Er hatte viel gesehen und einiges war geschehen. Heute wusste er nicht mehr so Recht, ob er diese Prophezeiung immer noch als nützlich ansehen sollte. Sie wussten zwar davor, dass irgendwann diese Waffe auftauchen würde, doch sie wussten weder wo noch wann. Und nun war es geschehen. Sie hatten es nicht verhindern können und sie wussten immer noch nicht genau, womit sie es zu tun hatten. Sie wussten nur, dass sie es irgendwie aufhalten mussten. Rak’shir hoffte nur, dass der Mann, von dem die Rede war, auch wirklich dazu in der Lage wäre, diesen Schrecken aufzuhalten. Sonst würden sie alle vernichtet werden. Jeder einzelne Vampir. „Warum vertraust du ihm so sehr?“, fragte Victoria geistesabwesend. Eigentlich hatte das in ihrem Kopf bleiben sollen und sie hatte es nur ungewollt ausgesprochen. Sie ärgerte sich über sich selbst, denn das klang, als ob sie ein kleines eifersüchtige Gör wäre. Und das war sie sicher nicht! „Ach, mein kleiner Liebling, ich kenne Rak’shir schon so lange. Er ist ein guter Mann. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen.“ Der Meister klang immer so verständnisvoll. Er hatte sie noch nie angeschrieen oder gar ermahnt. Sie durfte alles tun oder sagen, was sie wollte. Aber manchmal war er einfach stur und hörte nicht auf ihren Rat. Als Seth hier ankam, hatte sie sich sofort gegen ihn ausgesprochen. Es war ungewöhnlich, dass der Meister ihn direkt ohne einen Test in seinen Clan aufgenommen hatte. Doch er wollte seinen Fehler nicht sehen. Und das nagte immer noch an Victoria. Er hörte nicht auf sie, aber auf Rak’shir. Ein kleines Wort von ihm und schon änderte er seine Meinung. Nur weil Rak’shir gebildet war, war sein Wort doch nicht mehr wert als ihres. Aber in gewisser Weise verstand sie ihren Meister. Rak’shir konnte man nichts abschlagen. Das ging überhaupt nicht. Deshalb hatte sich ihr Gedanke zu Anfang auch auf Seth bezogen. Sie konnte selbst nach diesen dreißig Jahren immer noch nicht verstehen, warum ihr Vater ihn so mochte. Er war ein nerviges, ungehobeltes Arschloch. Sie hätte es dabei belassen können, dem Meister in dem Glauben lassen können, das es um Rak’shir ging. Doch irgendetwas verleitete sie dazu, es richtig zu stellen. „Nein, Meister, ich meinte eigentlich Seth. Er ist respektlos und unerfahren. Außerdem ist er nicht mal annähernd so stark wie wir Anderen. Er würde uns vermutlich nur im Wege stehen.“ Victoria konnte es kaum glauben, dass sie das wirklich gesagt hatte. Alle ihre Bedenken auszusprechen tat wirklich gut, aber sie hatte Angst, dass der Meister das falsch verstehen könnte. „Es wird kein Fehler sein, dass er euch begleitet, das verspreche ich dir.“ Ein weiteres Mal streichelte er ihr sanft über die Haare. „Ich würde nichts tun, das euch gefährdet.“ Victoria konnte es nicht mehr hören. Immer zu nahm er ihn in Schutz und versprach ihr Sachen, die er nicht kontrollieren konnte. Er wollte nicht, dass ihnen etwas geschah. Vielleicht stimmte das sogar, aber er war manchmal wirklich naiv. „Du willst also nicht, dass uns was zustößt? Trotzdem schickst du uns geradewegs nach Prag. Zu dieser Waffe, die es schafft, Vampire zu töten, ohne dass sie eine Hauch von Chance haben. Wieso tust du das, wieso wir?“ Victoria war wütend. Eigentlich hatte sie nicht so schreien wollen, doch irgendetwas in ihr musste raus. Diese ganze Heuchelei ihres Meisters ging ihr auf die Nerven. Er war nicht besser als ihr richtiger Vater. „Victoria … ich …“ Zum ersten Mal schien der Meister sprachlos zu sein. Victoria hatte noch nie derart mit ihm gesprochen. Vielleicht sollte er ihr einfach alles erzählen. „Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir früher oder später sowieso sterben. Es ist eine Notwendigkeit jetzt zu kämpfen.“ Victoria schüttelte fassungslos den Kopf. „Wenn es dir wirklich so viel bedeuten würde, würdest du mitkommen. Du würdest uns beschützen. Und jetzt erzähle mir nicht, dass du alt bist. Du bist wahrscheinlich stärker als alle anderen Vampire in diesem Clan. Du bist nicht umsonst immer noch der Meister hier.“ Victoria hatte noch nie so mit ihrem Meister gesprochen, eigentlich respektierte sie ihn viel zu sehr, als ihn so anzufahren. Aber irgendwie war sie heute nicht sie selbst. Sie hatte Angst. Angst, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es war. Wer sollte sie vor dieser Katastrophe beschützen, wenn selbst der Meister keinen Ausweg sah? „Ich bedaure es sehr, dass ich euch nicht begleiten kann. Aber Seth ist etwas ganz Besonderes. Du wirst es noch verstehen, Victoria. Ich würde euch nicht alleine lassen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass ihr – dass du zu mir zurückkommen wirst. Denn ich liebe dich, Victoria. Ich liebe dich seit dem Tag, als ich dich in meine Familie aufgenommen habe.“ Er war nicht wütend oder sauer. Er versuchte nur wieder, sie zu beruhigen. Eine kleine Träne stahl sich über ihre Wange. Sie hatte ihn angeschrieen, obwohl er es gar nicht verdient hatte. „Es tut mir leid, Vater.“ Mehr war sie nicht imstande zu sagen, aber sie war fest davon überzeugt, dass es reichen würde. Sie konnte sich zwar immer noch nicht so recht vorstellen, was an Seth so besonders sein sollte, aber das war jetzt nebensächlich. Sie war hier alleine mit ihrem Meister und das war alles, was zählte. „Ihr werdet einen von eurer Gruppe verlieren“, kam eine glockenhelle Stimme vom hinteren Teil des Raumes. Nekra leckte sich die Lippen ab, um die letzten Blutreste zu beseitigen. Neben ihr betrat Loima den Raum, ihre Schwester an der Hand haltend. Victoria sah geschockt zu den Zwillingen. Zum Einen, über die gerade ausgesprochene Vorhersage, zum Anderen, weil sie gerade in diesem Moment hereinplatzen mussten. Der Meister dagegen erhob sich. „Nekra! Wieso sagst du so etwas?“ Er schien wütend zu sein, aber Victoria sah auch Bestürzung in seinen Augen. Bisher war alles, was die Zwillinge von sich gegeben haben, auch eingetroffen. Also konnte man auch jetzt davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sprachen. „Wir wissen nicht, wer es ist. Wir fühlen nur, dass Victoria eine unglaubliche Trauer empfinden wird über den Verlust einer geliebten Person.“ Loimas Stimme klang sachlich. Keinerlei Gefühl schwang darin mit. Victoria fragte sich manchmal, ob die beiden wirklich dazu imstande waren, irgendetwas zu empfinden oder ob es wirklich Kinder des Teufels waren. „Victoria, sie wissen nicht, was sie sagen, wenn sie in Trance sind“, versuchte der Meister zu erklären, doch Victoria hatte sich bereits erhoben und war dabei den Raum zu verlassen. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um und schenkte ihrem Meister ein aufmunterndes Lächeln. „Diesmal müssen sich die Zwillinge irren, denn ich würde keinen von den Dreien wirklich vermissen.“ Damit war sie verschwunden und behielt ihre eigentlichen Gedanken für sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)