Die Geschichten um Landis von Kathey (Eine Vorgeschichte zu Final Fantasy XII) ================================================================================ Kapitel 1: "The time has come to tell you the truth of it." - Twins ------------------------------------------------------------------- „Noah, das ist keine gute Idee!“ Basch blickte seufzend hinauf zu seinem Bruder, der sich ungeschickt den Baum entlang hangelte. Ein paar Mal schien er beinahe den Halt zu verlieren und konnte sich gerade noch an den dünnen Ast klammern. „Ach“, hörte er Noah von oben meckern. „Steh’ einfach weiter Schmiere und sag’ mir Bescheid, wenn er zurück kommt, ja?“ Basch verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Baumstamm. Es missfiel ihm, hier zu sein. Wenn der Bauer die beiden bemerken würde, wie sie hier frisch und fromm Äpfel von seinem Baum stahlen, dann würde es eine gehörige Tracht Prügel setzen. „Das ist immer noch Diebstahl.“ Baschs Augen wanderten suchend umher. Niemand war zu sehen. „Das ist dir doch bewusst?“ „Ja, ja.“ Noah warf einen der Äpfel nach unten. Er landete direkt auf Baschs Kopf. „Du bist ein Spießer, Basch! Sieh’ es mal so: Wir nehmen es ja von keinem, der es ganz dringend braucht, oder? Schließlich klauen wir nur für die Armen und Bedürftigen!“ Basch verdrehte die Augen. „Du meinst also, dass wir arm, mittellos und hungrig sind?“ „Eben! Du bist echt clever!“ „Darum geht es doch gar nicht! Eigentlich geht es uns doch besser als anderen. Ich denke nicht, dass wir das tun sollten.“ „Ich denke das für dich mit“, sagte Noah und sah grinsend zu Basch hinunter. Es war immer wieder erstaunlich, dass sie sich im Aussehen überhaupt nicht voneinander unterschieden. Nicht jeder in Landis konnte mit einem eineiigen Zwilling prahlen. Dass die zwei dafür einen unterschiedlichen Charakter hatten, war völlig offensichtlich. Viele ihrer Freunde und Bekannten unterschieden Basch und Noah nicht nach dem Aussehen (was sowieso sehr schwierig war), sondern nach den Dingen, die sie sagten – und vor allem, wie sie diese sagten. Nicht immer hatten sie sich in ihrem Wesen so unterschieden. Vor ein paar Monaten – irgendwann im Winter, das wusste Basch noch – hatte bei Noah irgendeine Veränderung stattgefunden. Plötzlich war er mehr darauf bedacht, Unfug zu treiben und durch irgendwelche Rangeleien auf sich aufmerksam zu machen. Am Anfang hatte Basch das Verhalten seines Bruders noch irritiert, aber mittlerweile belächelte er es nur noch. Schließlich war Noah immer noch sein Bruder und es war Basch eigentlich egal, wenn er sich ab und an einmal daneben benahm. Das hier war wieder so eine Situation. Irgendwie hatte ihn Noah doch überreden können, mit ihm hierher zu kommen und gegen ein paar ungeschriebene Gesetze zu verstoßen. „Noah, der Beschützer von Witwen und Waisen“, meinte Basch lachend. Er konnte Noah aus der Baumspitze grummeln hören. „Machst du dich über mich lustig, Basch?“ „Ich? Ich doch nicht!“ Noah erwiderte nichts und Basch dachte, die Unterhaltung sei beendet. Er starrte in die Pfütze zu seinen Füßen. Es hatte ziemlich viel geregnet in letzter Zeit, aber heute war der Tag sonnig und warm. Basch strich sich die blonden Haare zurück. Sie waren etwas länger als Noahs, weil sie es beide nach einer Weile leid gewesen waren, immer mit dem jeweils anderen verwechselt zu werden. Vor allem Basch wollte nicht andauernd für Noahs Untaten und Streiche zur Rechenschaft gezogen werden. Oft genug war es schon vorgekommen, dass man ihn zurechtgewiesen hatte, während sich sein Bruder irgendwo versteckt und prächtig amüsiert hatte. Jedes Mal hatte ihm Noah danach versprochen, nie wieder irgendwelchen Unfug anzustellen und jedes Mal hielt dieses Versprechen an die zehn bis zwölf Stunden, bevor Noah wieder knietief in irgendwelchem Ärger steckte, den er sich selbst zuzuschreiben hatte. Basch schwor sich immer, ihm irgendwann einmal nicht mehr aus der Patsche zu helfen, aber bis jetzt war er ihm doch bei jedem Ärgernis zu Hilfe gekommen. Und Basch war mit ihm hierher gekommen, um Essen zu stehlen, obwohl er das nie wieder tun wollte. Es waren schwierige Zeiten, in denen sie lebten und niemand sah es gerne, wenn zwei Gören sich an den wichtigen Essensvorräten zu schaffen machten. Nach einer Weile sah Basch wieder nach oben. Sein Bruder sammelte immer noch fleißig Äpfel ein. „Kein Grund, gleich den ganzen Baum kahl zu pflücken“, sagte Basch grinsend. „Komm schon, lass uns verschwinden.“ „Okay, das sollte wirklich erst mal reichen. Fang auf!“ Noah warf ihm den Beutel zu, in den er die Äpfel gesteckt hatte. Basch stolperte unter dem Gewicht des Sacks etwas unbeholfen nach hinten. Unterdessen kletterte Noah vorsichtig wieder nach unten. Doch auf dem letzten Meter verlor er schließlich doch den Halt und landete unsanft auf dem Hintern. Basch sah kurz besorgt zu Noah hinunter, aber dann musste er plötzlich anfangen zu lachen. „Ich habe es dir gesagt.“ Knirschend blickte Noah zu seinem Bruder hoch und rieb sich das schmerzende Gesäß. „Ja, du hast es gesagt. Zufrieden? Hauen wir ab!“ Mit einem zufriedenen Lächeln folgte Basch Noah zurück zu ihrem Dorf. „Au...Mein Hintern...Basch fon Ronsenburg! Da gibt es nichts zu lachen, du Mistkerl!“ „Warte, ich mache das!“ “Basch, das ist nicht nötig...“ „Ist es doch. Der Arzt sagte, du sollst dich nicht überanstrengen.“ Basch nahm seiner protestierenden Mutter den schweren Sack ab. Sie sah ihn zwar einen Moment lang eindringlich an, aber es war ihm gleich. Geschickt fing er an, das Futter an die Tiere im Stall zu verteilen, während seine Mutter an der Scheunentür stand und ihm dabei zusah. Fröstelnd wickelte sie sich enger in ihren Mantel. Es war schon fast Winter und die Temperaturen fielen unaufhaltsam in den Keller. Heute gingen sie schon gegen den Gefrierpunkt. „Geh doch wieder ins Haus, ich komme hier schon zurecht“, sagte Basch, ohne sich umzudrehen. „Wo ist Noah?“ Verdutzt drehte er sich zu ihr um. Sie stand immer noch an der Tür und der Blick ihrer dunkelblauen Augen verlor sich im Nichts. „Weiß ich nicht“, sagte Basch, während er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. „Ich hoffe, er ist nicht zu weit weg gegangen“, hörte er seine Mutter sagen. „Es sieht nach Regen aus. Er wird sich erkälten, wenn er nicht rechtzeitig zurück kommt.“ „Noah ist der letzte in Landis, der eine Erkältung bekommt, das weißt du doch. Aber wenn ich fertig bin, gehe ich ihn suchen.“ Er beendete die Arbeit rasch und legte den leeren Sack zur Seite. Dann trat er mit seiner Mutter nach draußen. Es sah wirklich arg nach Regen aus. Hoffentlich würde er diesen Dummkopf rechtzeitig finden. „Ich werde ihn suchen“, meinte Basch und drehte sich zu seiner Mutter um. „Du musst nur auf uns warten, ja?“ Ein schwaches Lächeln legte sich auf das Gesicht seiner Mutter. Es hellte ihr blasses Gesicht merklich auf. „Danke, Basch. Du bist so ein vernünftiger Junge.“ „Ja, ich habe Noahs Ration an Vernunft dazu bekommen. Dafür hat er jetzt gar keine.“ „Findest du nicht, dass er sich in letzter Zeit merkwürdig verhält?“ „Er verhält sich eben wie Noah“, meinte Basch trocken. Seine Mutter sah ihn traurig an. „Vielleicht merkst du das nicht so sehr, weil du immer mit ihm zusammen bist.“ Basch sah eine gefühlte Ewigkeit zu seiner Mutter hin. Natürlich hatte er bemerkt, dass sich Noah verändert hatte. Immerhin war er wirklich immer mit ihm unterwegs. Wie sollte er es nicht mitbekommen haben? „Ich finde ihn und dann kommen wir zusammen zurück.“ „In Ordnung.“ Basch winkte ihr schnell zum Abschied und verließ den Hof, der seiner Familie gehörte. Ab dem Gartentor begann er zu rennen. Er wusste, dass sich Noah bestimmt wieder Ärger eingehandelt hatte. Es war gut, dass er die Eigenarten seines Bruders peinlich genau kannte. Deswegen wusste er sofort, wo er anfangen wollte zu suchen. Nach einer Weile begann es zu regnen. Basch blieb kurz stehen, blickte in den wolkenverhangenen Himmel und seufzte dann schwer. Noah war ein Dummkopf ohnegleichen, aber er wollte eigentlich nie, dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Wo bist du nur? Längst schon hatte Basch den Hof hinter sich gelassen und war durch den angrenzenden Wald gelaufen. Der Boden war aufgeweicht und ab und an rutschte er fast aus. Regen tropfte von den Bäumen und ein starker Wind fegte durch die wenigen Lichtungen. Erschöpft stützte Basch die Hände auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Ganz offensichtlich war Noah an keinem seiner Lieblingsplätze. Also würde er es im nächsten Dorf probieren. Es war seine letzte Idee. Ansonsten würde er nachhause gehen und warten müssen, dass Noah von allein zurück kam. Geschickt sprang er über umgestürzte Bäume und abgebrochene Äste. Ab und an musste er einen kleinen Bach überwinden, um weiter voran zu kommen. Irgendwann sah er die ersten Häuser am Ende einer Lichtung auftauchen. Kein Mensch war auf den Straßen, abgesehen von ein paar Wanderern, die sich auf durch den starken Regen nicht von ihrem Weg abbringen ließen. Die konnte Basch bestimmt nicht fragen, wo Noah war. Verloren stapfte er durch die verregneten Straßen. Seine Sachen waren komplett durchgeweicht und Wasser perlte von seinen Haaren. Inzwischen war der Regen zu einem regelrechten Gewitter angeschwollen. Von weit her konnte er bereits Donner grollen hören. „Oh, Hallo.“ Basch drehte sich irritiert um. Hinter ihm stand ein älterer Herr samt Regenschirm, der ihn aufmunternd anlächelte. „Lass mich kurz überlegen“, sagte der alte Mann freundlich. „Du bist einer der kleinen fon Ronsenburgs. Ähm... Basch, richtig?“ Basch nickte wortlos. „Rennst du immer bei so einem Wetter draußen herum, mein Junge?“ „Eigentlich nicht“, erwiderte Basch. „Aber ich suche meinen Bruder.“ „Hm, hm, Noah? Hieß er nicht so? Den habe ich eben noch gesehen.“ „Wirklich? Wo ist er?“ “Vor etwa zehn Minuten ist er wie der geölte Blitz höchstpersönlich an mir vorbei in Richtung Dorfplatz gerannt. Zu seltsam, euer Hof liegt doch genau in der entgegengesetzten Richtung.“ Vor zehn Minuten erst. Basch drehte sich atemlos in die Richtung um, in die der alte Mann deutete. „Vielen Dank“, sagte er mit einer angedeuteten Verbeugung. „Schon gut, mein Junge“, meinte der Mann beschwichtigend. „Jetzt beeilt euch aber, dass ihr aus dem Regen rauskommt.“ „Jawohl. Und nochmals vielen Dank.“ Schnell und ohne sich umzublicken rannte Basch in Richtung Dorfplatz. Keuchend blieb er im Regen stehen, kniff die Augen etwas zusammen und suchte den großen Platz nach Noah ab. Am Brunnen konnte er einige Passanten entdecken, die sich angeregt unterhielten und tuschelten. Er hatte keine Ahnung, was sie bei diesem Wetter hier draußen trieben, aber eigentlich interessierte es ihn auch herzlich wieder. Sein einziger Gedanke galt Noah, den er finden wollte, bevor sich das Gewitter vollends über der Stadt entlud. Seufzend schaute er zu den Leuten am Brunnen. Wenn er sich noch ein bisschen umhörte, dann würde er sicher noch ein paar Informationen erhalten können. Das Wasser tropfte ihm vom Gesicht und er musste sich über die Augen wischen, als er einige Tropfen ins Auge bekam. Wehe, wenn Noah jetzt schon wieder kehrt gemacht hatte und nach Hause gegangen war! „Entschuldigen sie bitte...“ Basch trat zu den Leuten unter den Regenschirmen, die ihn allesamt verwundert anstarrten. „Lieber Himmel, Junge, geh nach Hause!“ Eine alte Dame sah ihn mitledig an. „Du wirst dir hier noch den Tod holen!“ Basch nickte ungeduldig. Das hatte ihm doch schon mal jemand gesagt. „Aber ich-“ „Vielleicht hat er sich verlaufen?“ “Oh, das wäre schrecklich...“ Basch seufzte und ließ den Kopf sinken. Zuhören hätten sie ihm ja wenigstens schon können. Eine der Frauen, mit gütigen Augen und krausem grauen Haar, legte ihm die Hand auf den Rücken. „Was ist denn los, Junge?“ Basch holte tief Luft, bevor er ihr erklärte, wen genau er suchte. Seinen Zwillingsbruder eben, dieselbe Größe und Statur, nur mit kürzerem Haar. Und, das musste er noch erwähnen, es konnte durchaus sein, dass er ein bisschen unhöflicher war als er selbst. Die Dame lachte auf und fragte auch bei ihren Begleiterinnen nach, ob die jemanden gesehen hatten, der genauso ausgesehen hatte wie der Junge, der jetzt hier vor ihnen im Regen stand. „Eben ist doch eine Gruppe Kinder zum großen Acker gegangen. Aber ich weiß nicht, ob da ein blonder Junge dabei war.“ „Aber ich. Mit ganz kurzem Haar. Aus irgendeinem Grund schien er sich gerade fürchterlich aufzuregen.“ Basch schlug die Hände vors Gesicht. Das durfte doch nicht wahr sein. Er betete, dass seine Vermutung falsch war, aber momentan deutete alles darauf hin, dass sich Noah mal wieder sehr großen Ärger eingefangen hatte. „Vielen Dank“, sagte er schnell und drehte sich auf dem Absatz um. Eine der alten Damen bot ihm noch ihren Regenschirm an, aber er verneinte dankend. Er war ja sowieso schon komplett durchnässt, da machte das bisschen Regen jetzt auch nichts mehr aus. Die Damen sahen ihm besorgt hinterher, aber er hatte momentan nicht die Zeit, sich noch einmal zu ihnen umzudrehen. Der Acker lag ein kleines Stück außerhalb des Dorfs und wurde schon lange nicht mehr wirtschaftlich genutzt. Deswegen war schon längst alles überwachsen und hatte keinerlei Bedeutung mehr für die Umgebung. „Ha, schaut nur! Schon spuckt er keine großen Töne mehr!“ Basch hatte Mühe, auf dem unebenen und durchnässten Boden den Halt zu behalten, als er mit einem Mal stoppen musste. Mitten auf dem Feld hatte sich ein kleiner Kreis gebildet, in dessen Mitte sich Noah und ein Junge befanden, den Basch nur vom Sehen her kannte. „Noah!“ Sein Bruder schaute verwundert zu ihm hinüber. In seinem Gesicht zeichnete sich ein blauer Fleck rund um sein rechtes Auge herum ab, und seine Unterlippe war aufgeplatzt. Aber Noah schien das im Moment recht wenig zu kümmern. Wütend machte Basch einige Schritte auf die Meute zu, drängte sich an den dicht stehenden Jungs vorbei und packte Noahs Arm. „Wir gehen.“ Knurrend schüttelte Noah den festen Griff ab. „Lass mich in Ruhe!“ Bevor Basch darauf reagieren konnte, hatten ihn schon einige andere zurück gestoßen. Als er wieder festen Stand hatte, startete er einen neuen Versuch wieder zu Noah zu kommen. „Nichts da!“ Ein rothaariger Junge baute sich mit einem überheblichen Grinsen vor Basch auf. „Noah hat gerade damit zu tun, vom Chef verprügelt zu werden.“ Wie aufs Stichwort begannen die beiden Kontrahenten im Kreis, aufeinander zuzustürmen und sich zu raufen. Basch war drauf und dran, sich auf jeden einzelnen dieser Mistkerle zu stürzen. Auch, wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, worum es hier überhaupt ging. Aber sie hatten seinen Bruder verletzt und bis jetzt war damit noch keiner einfach so durchgekommen. „Lass mich durch.“ So sehr er es auch versuchte, seine Stimme wollte nicht so ruhig klingen wie üblich. Als die Antworten darauf ein lautes Lachen und ein „Nein“ waren, stieß Basch den Kerl kurzerhand zur Seite. Was zwangsläufig dazu führte, dass sich der Kreis auflöste und nunmehr drei Kerle gleichzeitig auf Basch einstürmten. Es wurde gerangelt, um sich getreten, geschlagen und vielleicht auch etwas gebissen, bis en knallender Schuss sie alle zur Räson brachte. Basch schob einen halb ohnmächtigen Jungen von sich herunter und setzte sich auf. Am Ende des Felds stand ein griesgrämig aussehender Mann, die rauchende Flinte noch in der Hand. Er schaute sie nacheinander prüfend an. „Verschwindet“, bellte er dann wütend. „Ich fasse es ja nicht, dass ihr euch hier alle im Regen prügelt! Wisst ihr nichts Besseres mit eurer Zeit anzufangen? Ganze Felder sollte man euch umpflügen lassen!“ Im Moment konnte Basch nicht sagen, ob er eher erleichtert oder besorgt war, als sich die anderen still und heimlich vom Acker machten. Es war aber schon beruhigend zu wissen, dass es wenigstens für den Moment vorüber war. Schnell brachte er sich auf die Füße und ging zu Noah hinüber, der sich gerade aus dem nassen Grab hochzustemmen versuchte. Basch war ihm dabei nur zu gerne behilflich. Innerhalb einer Sekunde hatte er Noah zu sich hoch gezogen, die Hand fest in das Hemd seines Bruders gekrallt. „Was sollte der Mist?“ Seine Stimme hatte letztendlich doch jeden ruhigen Ton verloren. Noah schaute unbeteiligt zur Seite, so, als ginge ihn das alles hier nichts an. Dieses Verhalten trug aber auch nicht gerade dazu bei, dass Basch sich beruhigen konnte. „Noah!“ „-los.“ „Was?“ „Lass mich los.“ Der verletzte Unterton, mit dem Noah sprach, brachte Basch dazu, ihn wirklich sofort wieder loszulassen. Kaum einen Augenblick später hatte sich Noah wieder ins nasse Gras fallen lassen, die Knie herangezogen und die Augen mit den Händen verdeckt. Jetzt machte sich Basch erst recht Sorgen. „Was ist passiert?“ Basch hätte sich schwören können, dass er in diesem schier ewig anmutenden Moment den Regen auf den Boden aufschlagen hören konnte. Nach einer Weile hockte er sich zu Noah ins Gras. Es war nass, kalt und unbequem, aber anscheinend notwendig. Wenigstens drehte Noah jetzt den Kopf zu ihm. „Ich habe dir was verschwiegen“, brachte er schließlich mit brüchiger Stimme hervor. Schweigend sah Basch zu ihm hinüber. Das war neu, denn sonst hatte Noah ihm immer alles erzählt, wenn auch mit etwas Druck von Basch selbst. „Und... diese Kerle von eben, die haben sich über uns lustig gemacht. Erst hab ich versucht, das zu ignorieren, aber es ging nicht. Dann bin ich richtig ausgerastet und... du hast ja gesehen...“ Ja. Was dabei herausgekommen ist, hatte Basch wirklich allzu deutlich vorgeführt bekommen. „Noah“, sagte er etwas ruhiger. „Ich sagte doch, du sollst auf solches Gerede nichts geben. Lass sie doch sagen, was sie wollen. Wir wissen es doch besser.“ „Nein.“ Noahs Stimme war voller Bitterkeit. „Du weißt es nicht besser. Mutter auch nicht. Nur ich.“ “Ich verstehe dich nicht...“ Als Noah wieder sprach, klang er noch trauriger, aber ob er weinte, konnte Basch nicht feststellen, da Noahs Gesicht vom Regen ohnehin schon nass war. „Sie haben gesagt, dass ein Hof ohne Mann nichts wert sei.“ Baschs Augen weiteten sich vor Entsetzen. Wenn dieser Satz so gemeint war, wie er dachte... „Das habe ich euch verschwiegen!“ Noah legte beide Hände vor sein Gesicht. „Ich habe Mutter und dir verschwiegen, dass Vater tot ist und ich es wusste!“ Basch wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er konnte gar keinen klaren Gedanken fassen, kein Wort sagen, nicht einmal weinen. Die ganze Zeit über hatten sie nicht gewusst, was mit ihrem Vater war, der als Soldat an der Krisenfront gedient hatte. Sie hatten gehofft, gebetet und doch keine Nachricht erhalten. „W-wann?“ Baschs Stimme war so dünn, dass er sich selbst kaum reden hörte. Wahrscheinlich hatte ihn Noah nicht einmal verstanden. „Vor drei Tagen. Du warst mit Mutter beim Arzt.“ Noah sah in den Himmel hinauf und rieb sich über die brennenden Augen. „Ich hab mich nicht getraut, irgendwas zu sagen... Nicht nach der Diagnose des Arztes... Ich konnte das nicht...“ Endlich sah Noah ihn an. Basch blickte zurück in die Augen, die seinen so vollkommen zu gleichen schienen. Sein Bruder schluckte schwer, bevor er wieder etwas sagen konnte. „Basch.“ Unaufhörlich trommelte der Regen auf die Umgebung ein. „Ich wollte ihnen nur beweisen, dass sie Unrecht haben. Ich wollte nur...“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Basch Noah zu sich heran und hielt ihn fest. Mehr konnte er in diesem Moment nicht tun, mehr wusste er nicht zu tun. Aber er war sich sicher, dass jetzt unter all dem Regen auch Tränen waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)