Leitartikel von SummoningIsis (Küss mich bis zur Deadline) ================================================================================ Kapitel 9: Trittbrettfahrer --------------------------- SEBASTIAN/JADE Als er aufwachte, war es draußen bereits fast dunkel. Allmählich verschwand die Sonne in einem orange-rötlichen Ton hinter den grauen Betonklötzen der Stadt und Schatten legten sich auf die Gebäude und Straßen. Einige Minuten blieb der Schwarzhaarige einfach so liegen, starrte die Decke an, hörte Brummer beim ziemlich lauten Annagen seines hölzernen Schreibtisches zu und streckte sich leicht, versuchte den Schlaf vollkommen abzuschütteln. Falls er geträumt hatte, waren seine Erinnerungen bereits verblasst. Und vielleicht war dies auch besser so. Er drehte sich auf die Seite und lauschte. Aus dem Flur drang kein einziges Geräusch. Fast mit Sicherheit konnte er sagen, dass Torsten nicht da war. Im ersten Moment versetzte diese Tatsache dem Barista einen leichten Stich. Er wollte nicht allein sein, nicht in seiner momentanen Verfassung, in der er der Gefahr des Nachdenkens ausgeliefert war. Andererseits brauchte er Ruhe… Gemächlich erhob er sich, schlenderte durch sein Zimmer, prüfte seine Emails, sah auf seinem MySpace-Profil nach (diesmal ohne die Bilder von Mark und seinem Neuen anzustarren) und schlüpfte letztendlich, nachdem er Brummer etwas Heu auf den Fußboden geschmissen hatte (auf welches sich das Kaninchen stürzte, als hätte es in seinem ganzen Leben noch nie etwas gefressen), in eine graue, alte und unglaublich bequeme Jogginghose und ein ebenso verblasstes T-Shirt. Ebenso langsam und fast schon etwas müde wirkend schlürfte er durch den kleinen Flur direkt in Torstens leeres Zimmer, der Raum in dem der kleine Fernseher seinen Platz gefunden hatte. Sein Mitbewohner hatte es ihm erlaubt, sein Reich auch in seiner Abwesenheit zu betreten und zu nutzen, zum sinnlosen Berieseln lassen. Und genau das wollte Jade jetzt tun. Er kuschelte sich in das durcheinander gewühlte Bett von Torsten und schaltete die Glotze ein. Zwei Stunden später schnarchte er bereits wieder vor sich hin. Und er wurde auch erst wach, als Torsten ihn leicht an seiner Schulter schüttelte. „Hä... Was?“, rief der Schwarzhaarige abrupt und setzte sich auf, blickte in das grinsende Gesicht Torstens. „Darf ich vorstellen, das ist mein trotteliger Mitbewohner Jade“, sprach der Tontechniker und trat einen Schritt zur Seite. Erst jetzt fiel der Blick des Jüngeren auf die zweite anwesende Person im Zimmer. Dort stand sie, Jana. Eine um die 1,60 m große, leicht ründlichere, junge Frau mit einem Piercing in der Unterlippe. Sie strich sich grinsend durch das kinnlange, dicke, kastanienbraune Haar, welches sich fast zu 100 Prozent mit ihrer Augenfarbe deckte und gut zum schwarzen Outfit, welches sie trug, passte. Sie besaß einen leichten Schmollmund und glatte reine Haut. Jade mochte sie sofort. „Hi“, sagte sie, trat einen Schritt auf das Bett zu und streckte Jade die Hand aus. „Ich habe schon viel von dir gehört“, fügte sie dem hinzu. Der Barista griff nach der ihm angebotenen Handfläche, erhob sich im selben Augenblick, verneigte sich theatralisch und küsste Janas Handrücken leicht. „Es freut mich dich kennenzulernen, ich hoffe diese kleine Geste lässt dich ALLES vergessen, was Torsten dir auch erzählt haben mag.“ Mit diesen Worten verneigte sich Jade ein weiteres Mal und Jana lachte. „Eigentlich macht das alles gerade viel schlimmer, als ich ursprünglich gedacht habe“, sagte sie immer noch lachend und blickte Torsten an. „Nein, ich will gar nicht wissen, was du ihr gesagt hast!“, kommentierte Jade die Situation und zwinkerte der Lady zu. „Ich lasse euch beiden auch schon allein...“ „Willst du nicht lieber mit uns zusammen Pizza backen?“, fiel Torsten ihm ins Wort, noch bevor der Barista es schaffte den Raum zu verlassen. „Wenn du schon so gut Kaffee kochen kannst, wie Torsten behauptet, dann kannst du doch auch sicherlich gut Pizza backen“, scherzte Jana und funkelte den Schwarzhaarigen spielerisch an. „Und dann gucken wir „300“. Na, was sagst du?“, fuhr der Tontechniker fort. „Eine Ladung fettiges Essen und eine Ladung halbnackter Kerle. Du kannst nicht NEIN sagen.“ Jade seufzte und blickte die beiden hilflos an. „Torsten sagte du kennst kein „nein“ und bist spontan. Überzeug mich!“, feixte Jana und blickte den Mitbewohner ihres Schwarms grinsend an. Verdammt. „Darf ich mir wenigstens etwas Vernünftiges anziehen, etwas, was euren Augen nicht all zu sehr wehtun wird?“, fragte er und kratzte sich dabei am Hinterkopf. Vielleicht war so eine gesellige Ablenkung gar nicht verkehrt, vielleicht sogar auch als „ein bisschen klug“ anzusehen. „Du siehst heiß genug für eine Gammelsession aus“, bemerkte Torsten und schlenderte gemütlich in die kleine Küche, in der bereits alle Zutaten, die die beiden wohl kurz zuvor eingekauft hatten mussten, bunt gestapelt auf dem Tisch warteten. „Na gut, mir soll’s egal sein…“, sagte Jade schulternzuckend und folgte seinem Mitbewohner. Natürlich nicht, ohne vorher Jana vorgehen zu lassen. Wow, er war wohl wirklich ein Gentleman. Wahrscheinlich ein kläglicher Verlust für die Frauenwelt… Während der Zankerei, wie der gute ALDI-Teig nun zu belegen war – Torsten und Jade bestanden auf einer dicken Schicht Salami, während Jana, die sich seit drei Jahren zu den Vegetariern zählte, strikt dagegen war und Rucolasalat auf dem heißen Stück sehen wollte, von dem Torsten aber „mit Sicherheit Magenkrämpfe bekommen würde“ und Jade sich nicht „zwischen die beiden“ bei der Rucolafrage stellen wollte; Jana bestand darauf rote Paprika dem Belag hinzuzufügen, während Jade auf der gelben Sorte beharrte und Torsten die Champignons als seine Favoriten gewählt hatte – während all diesem Gelächter und leichten Gequatsche, schaffte Jade es tatsächlich nicht ununterbrochen an Michael und die fatale Nacht zu denken… Sanfter Smalltalk über besuchte Parties, favorisiertes Essen, Lieblingsfilme und gelesene Bücher verschaffte ihm die Ablenkung, nach der er gesucht hatte. Jana äußerte positive Verwunderung über die WG-Situation der beiden Männer, mit denen sie in der engen Küche die immer intensiver werdenden Aromen des im Ofen wachsenden, italienischen Gerichts einatmete. Sie war überrascht, wie gut Torsten und Jade miteinander klarkamen, obwohl sie schon so lange auf engem Raum nebeneinander hausten. Die junge Frau selbst teilte sich eine viel größere Wohnung mit zwei weiteren Personen, Kathi und Martin, ebenfalls Studenten, und obwohl die drei eigentlich gut miteinander auskamen, krachte es doch des Öfteren zwischen ihnen. „Naja, bei uns fliegen auch mal die Fetzen“, bemerkte Torsten lachend und blickte Jade von der Seite an. „Aber ihr schreit euch doch nicht an, oder?“, fragte Jana verwundert. „Oh, doch, Süße“, sagte Jade und automatisch machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Glaub mir, wir können schlimmer sein als Weiber. Mit Türenschlagen, Krallen ausfahren und fast aufeinander Losegehen.“ „Wobei Jade dabei natürlich lauter ist als ich“, fügte Torsten dem hinzu und räusperte sich gespielt theatralisch. Jana lachte. „Ich bin ja auch viel weiblicher als du! Deswegen bist du auch oft so neidisch, haha!“, feixte Jade und boxte seinem Mitbewohner leicht gegen die Schulter. „Ja, Frauen stöhnen im Normalfall immer lauter als Männer…“, sagte Jana und ihr Kichern zauberte ein kleines Grübchen in ihre rechte, seicht errötete Wange. Torsten zog die kleine Frau mit seinem Arm auf den Schoß und küsste sie leicht auf ihre Backe, was sie erneut dazu brachte leicht aufzukichern, leicht zu lächeln. „Da hast du aber Jade noch nicht gehört…“, kam es dann aus dem Mund des Tontechnikers. Janas Augen weiteten sich kurz und eine Sekunde später brach sie in schallendes Gelächter aus, welches sie umgehen zu bereuen schien. Spielerisch und nur leicht schlug sie Torstens Brust und sagte: „Du bist ja total gemein zu deinem Mitbewohner! Hör auf!“ Sie blickte Jade entschuldigend an. Kurz waren die Bilder vergangener Nacht im Gedächtnis des Schwarzhaarigen aufgetaucht, die er jedoch umgehend mit seiner gesammelten Kraft hinfort scheuchte, mit seinem so typisch, auf viele Menschen charmant wirkenden Grinsen überdeckte. „Ach, der wünscht sich einfach nur, dass er sich so gehen lassen könnte wie ich. Das ist purer Neid!“ „DIE PIZZA IST FERTIG!“, rief Torsten und schubste Jana spielerisch von seinem Schoß. Gemeinsam machten sie sich auf dem Bett des Tontechnikers gemütlich und schalteten die DVD ein. „Alter, Leonidas ist SOWAS von heiß…“, murmelte Jade inmitten des Films, während er ein kleines Stück der mittlerweile fast kalt gewordenen Pizza verdrückte. Jana und Torsten nickten stumm, starrten weiter gebannt auf den Bildschirm. Und irgendwann schwankte das Gespräch wieder zu den Mitbewohnerinnen der kleineren Frau zurück. „Ich glaube Kathi sagte, dass heute ein neuer Club eröffnet. Da wo früher das „Space“ war, da soll jetzt so ein Alternative-Laden rein, ich glaube der heißt „Notdienst“. Heute ist jedenfalls Eröffnungsparty mit freiem Eintritt und Happy Hour den ganzen Abend.“, erzählte die Braunhaarige, während der Abspann vor ihren Augen lief. „Hast du Lust auch hinzugehen?“, fragte Torsten sie. „Warum eigentlich nicht…“, antwortete Jana und lächelte den Tontechniker an. „So in einer Stunde los? Ich muss mich aber noch hübsch machen!“ „Na dann mach dich noch hübscher, wenn das überhaupt noch geht…“, entgegnete Torsten und als Jana sich erhob, strich sie ihm sanft durch das rötliche Haare und grinste Jade im Vorbeigehen kurz an. „Du kommst doch auch mit oder?“, fragte Torsten seinen Mitbewohner. Der Barista seufzte. Ihm war nicht nach Party. Die nette Ablenkung mit der Pizza und dem Film hatte ihm zwar gut getan, doch wenn er jetzt an einen gefüllten Club dachte, an all die lüsternen Blicke, die so üblich auf Tanzflächen waren, als er an all die potenziellen Pärchen dachte, die sich eng umschlungen zum Beat wiegten, wurde ihm leicht schlecht. Es war eigentlich schon schwer genug die angedeuteten Zärtlichkeiten zwischen Jana und Torsten nicht allzu ernst zu betrachten. Sie zu beobachten, ohne dabei an seine verzwickte Situation zu denken. Ohne daran erinnert zu werden, dass er Michael nie wieder küssen würde. Dass Michael ihn nie wieder beachten würde. Dass Michael ihn verachtete. „Ach, komm schon, mach nicht so ein Gesicht!“, riss Torsten den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken. „Das wird dir gut tun, Mann!“ „Ich weiß echt nicht…“, antwortete Jade. „Ich hab echt keinen Bock auf Party…“ „Der Eintritt ist doch eh frei! Komm doch einfach nur für ne Stunde mit. Und wenn’s richtig scheiße ist, kannst du auch gleich wieder gehen. Aber bleib hier nicht allein in der Bude. Mann, alleine rumzuheulen wie ein Emo bringt’s auch nicht!“, fuhr Torsten fort und brachte Jade mit seinen Ausführungen zum Lachen. Leichten Lachen. „Alter, ich hab echt keine Lust… Wenn ich jetzt an Party und Saufen denke wird mir gleich schlecht. Ich bin einfach nicht in Stimmung…“, sagte Jade und erhob sich vom Bett. „Geht einfach ohne mich, OK? Habt ne schöne Zeit, amüsiert euch, knutscht rum, was auch immer.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer seines Mitbewohners. Er streichelte Brummer kurz, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Monitor seines PCs ein. Was wollte er eigentlich im Netz? Nachdenklich, oder vielleicht auch gelangweilt, unschlüssig, starrte er die Google-Seite an. Wonach sollte er suchen? Womit wollte er sich die Zeit vertreiben? Vielleicht wäre es doch schlauer, wenn er ein Buch lesen würde… Drei Stunden später stand er an der überfüllten Bar neben Torsten mit dem vierten, vom Tontechniker ausgegebenen Cocktail (einem Mai-Tai) und betrachtete die von verschwitzten Körpern nur so strotzende Tanzfläche, auf der sich auch Jana mit ihrer Mitbewohnerin Kathi und zwei weiteren Kommilitoninnen befand, mit denen die beiden Männer schon ausgiebig getanzt und geschwatzt hatten. Jade wusste nicht, ob es daran lag, dass er von der Pizza nicht genügend verdrückt hatte, oder ob er im Allgemeinen an diesem Tag zu wenig gegessen hatte, oder ob es vielleicht an seiner momentanen Verfassung, seinem Wirrwarr von Gefühlen lag, dass die Welt sich um ihn herum bereits etwas drehte - wie ein Karussell auf Stufe Eins. Dass der Alkohol in seinem Blut seinen Verstand betäubte, dass sich so etwas wie gute Laune breit machte – eine Illusion, eine erzwungene Vorstellung, geprägt von Trotz. Ha, sieh her, Michael, ich kann jeden haben, ich brauch dich nicht! Und tatsächlich hatte er schon einige Kerle erspäht, die ganz sicherlich NICHT hetero waren… Die Frage, die er sich nun stellte, während er einen weiteren Schluck des alkoholischen Gemischs zu sich nahm, lautete: Wollte er sich schon wieder einen Fremden anlachen und ihm im Eifer des Gefechts erneut „Michael“ nennen? Wollte er sich selber Salz in die Wunden streuen? Und den Fremden am nächsten Morgen sinnlos anblöken… „Wenn du mich nicht bald stoppst, begehe ich wahrscheinlich auch so eine Dummheit wie Michael gestern...“, sagte er zu Torsten, während er sein Glas leerte und anfing mit den Eiswürfeln zu spielen. „Hör doch endlich auf, darüber nachzudenken!“, lautete Torstens Antwort, der Jade das leere Glas aus der Hand nahm und auf der Theke hinter ihnen platzierte. „Ha! Wenn das so einfach wäre, mein Liebster!“, entgegnete Jade und verschränkte die Arme vor seiner Brust, stierte fast wie verbissen auf die Tanzfläche. „Hör mal, ich weiß du bist echt verschossen in ihn, aber so wie diese beschissene Situation sich jetzt entwickelt hat, hast du null Chancen bei dem Kerl, OK? Find dich damit ab“, sagte der Tontechniker plötzlich und leerte auch sein massives Glas, welches er ebenfalls auf die Theke stellte. „Vielen Dank, dass du mir das so knallhart ins Gesicht schmetterst, bist du zu Jana auch immer so charmant?“, brummte Jade ohne seinen Mitbewohner anzusehen. „Jana heult nicht wegen irgendwelchen Fremden rum“, kam die Antwort. „Achso, ich heule also rum, ja?“, keifte Jade und blitzte den Rothaarigen kurz an. „Mein Gott, reagier doch nicht so weibisch. Ist doch klar, dass du rumheulst“, antwortete Torsten und seufzte laut. „Ja, ich sollte lieber männlicher sein, sonst springst du mich noch plötzlich an, wenn mir durch mein weibliches Verhalten Brüste wachsen! Aber wenn Jana ein „Johannes“ wachsen würde, würdest du sie auch anspringen, oder? Es ist so schwer sich zu entscheiden, was?!“, entgegnete Jade umgehend patzig. Sein Mitbewohner blickte ihn kalt an. „Manchmal bist du so ein unglaubliches Arschloch, Jade“, sagte er und wandte seinen Blick erneut der Masse vor ihnen zu, schüttelte leicht den Kopf. Der Schwarzhaarige seufzte. „Alter, tut mir Leid. Ich bin wirklich ein Arschloch. Verzeihst du mir, wenn ich dir nen kleinen Kuss geb’ und vergiss die dumme Scheiße, die ich eben gelabert hab?“, fragte er und stellte sich direkt vor den Tontechniker, der übertrieben die Augen verdrehte und den Barista danach angrinste, ihm seine Backe demonstrativ entgegenstreckte. Jade beugte sich leicht vor, umfasste Torstens Gesicht mit seinen warmen Händen und küsste die leicht stoppelige Wange des Tontechnikers. Doch danach ließ er das Gesicht, welches von den rötlichen Strähnen umrandet wurde, nicht los, drehte Torstens Kopf noch weiter zu sich und presste seine Lippen ebenso leicht auf die des Tontechnikers. Bereits nach einer Sekunde war alles vorbei und Jade grinste dämlich, drehte sich um und marschierte auf die Tanzfläche zu. Er hätte wirklich zu Hause bleiben sollen. Und er war froh, als sie sich endlich auf dem Nachhauseweg befanden. Jana und Kathi hatten sie sicher zu dem Taxistand eskortiert und dann aufgrund der warmen und klaren Nacht entschieden, selbst nach Hause zu laufen. Ein Spaziergang bei klarem Himmel bei nicht so klarem Kopf. Was gab es besseres? Während ihres Marsches erzählte Torsten von Jana, berichtete, dass sie noch nicht offiziell zusammen waren, dass die Kleine es langsam angehen wollte. Ihr Freund zuvor hätte sie wohl massiv unter Druck gesetzt, eingeschüchtert, ihr die Freude an der Beziehung genommen. Jana hatte sich geschworen eine lange Zeit Single zu bleiben - doch dann kam Torsten. Geküsst hatten sie sich auch schon. Aber nur ein Mal. Aber dann auch so richtig. Jade musste grinsen. Süß. Die beiden Männer stürzten sich auf den kalten Rest der Pizza und schlangen die verbliebenen Stücke gierig hinunter. Mit derselben Gier tranken sie die letzten Flaschen Mineralwasser. „Boah, ich geh jetzt erstmal duschen. Ich stinke nach Schweiß, Alkohol und Rauch. Das ist widerlich“, kündigte Jade an und stand vom Küchentisch auf. „Soll ich mitkommen und dir den Rücken schrubben?“, fragte Torsten und grinste seinen Mitbewohner keck an. „Leck mich“, entgegnete Jade und streckte dem Tontechniker den Mittelfinger lachend entgegen, wonach er eilig ins Bad huschte. In letzter Zeit gab Torsten ihm echt zu denken… Doch irgendwie wollte er sich jetzt, da das kalte Wasser auf seinen Körper prasselte, nicht weiter damit befassen. Der Geruch von Seife und Shampoo stieg in seine Nase. Das fühlte sich so gut an… Schnell schlüpfte er in eine frische Boxershorts und ein ebenso frisch duftendes Schlafshirt und warf sich schon fast wortwörtlich in sein Bett. Der Schlaf kam schnell. Und verließ ihn ebenso eilig. Erschöpft und von seinen Gedanken, die automatisch zu Michael gewandert waren, saß er in der dunklen Küche und trank gekühlten Apfelsaft. Er hatte so eine unglaubliche Scheiße gebaut. Er konnte es immer noch nicht fassen… Unentwegt stellte er sich dieselben Fragen, auf die es keine Antworten gab. Auf die er auch in Zukunft wahrscheinlich keine finden würde. Am liebsten würde er die Zeit zurückdrehen. Ha! Ein Standardspruch. Ein Spruch, über den er sich normalerweise aufregte. Den er nicht ausstehen konnte. Ein Spruch, der momentan seine Gefühle so vollkommen auf den Punkt brachte… Wieso war er nicht sofort nach Hause gegangen? Wieso hatte er sich diese beschissenen Sterne anglotzen müssen? Wieso hatte er nicht auf einem Taxi bestanden? Wieso musste er sich überhaupt in Michael verlieben?! Torsten hatte doch Recht. Jade hatte Null Chancen. Das wusste er doch eigentlich selber. Von Anfang an… Wieso konnte er es nicht einfach akzeptieren? Wieso konnte er seine auf dem Nichts aufgebauten Gefühle nicht einfach abstellen? Wo war bitte der OFF-Knopf? Plötzlich fiel Jades Blick auf die dunkle Silhouette, die er im Türrahmen leicht erkennen konnte und die sich nicht bewegte. Sein Mitbewohner hatte die Küche still betreten und blickte ihn nun schweigend an. Und auch Jades Lippen verließ kein einziger Satz. Der Schwarzhaarige sprach auch kein einziges Wort als Torsten die Distanz zwischen ihnen abbaute, ihn vorsichtig an der Hand nahm und ihn, immer noch stillschweigend, in sein Zimmer führte, in sein immer noch warmes Bett zog, Jade an seinen Körper drückte, die Arme um seinen jüngeren Mitbewohner legte und einen leichten Kuss auf dessen Haaren platzierte. Dann auf dessen Stirn. Auf der Wange. An der Nasenspitze. Und schließlich erlangten Torstens Lippen sein Ziel, vollends wanderten sie zu Jades Mund und nahmen diesen in Anspruch. Die heiße Zunge des Tontechnikers drang nur vorsichtig in die Mundhöhle des Baristas ein, der nur nach und nach verstand, was hier gerade passierte. Und als die Realisation vollzogen war, pressten beide Männer bereits ihre halbnackten Körper gegeneinander, küssten sich wild und ungestüm. Fast schon verzweifelt. „Wenn du nicht bald aufhörst, machen wir einen gewaltigen Fehler“, flüsterte Jade und drückte Torsten mit all seiner Kraft von sich weg. Wow. Er hatte anscheinend wirklich Talent Beziehungen zu zerstören. Oder angehende… Er war ein Arschloch. Michael war ein Arschloch. Torsten war ein Arschloch. Alle waren Arschlöcher. Aber er war das schlimmste von allen. Er hasste sich. Michael Waren Sonntage normalerweise wunderschöne Tage, an denen er sich von seiner ermüdenden Tätigkeit als Chefredakteur distanzieren konnte, Tage, an denen er tief Luft holen konnte, seine Energiereserven neu aufladen konnte und genüsslich seinen Freizeitbeschäftigungen nachgehen konnte, so hasste er diesen Sonntag mehr als alle anderen Tage zu einem Bündel zusammengeschnürt. Sinnlosigkeit. Dieses Wort war momentan das einzige, welches er für die Beschreibung seines Lebens, seines Daseins finden konnte. Wo immer er auch hinblickte, alles schrie immer noch lauthals nach Tim. Diese imaginären Schreie toter Objekte wollten nicht verstummen. Sie wollten noch nicht einmal leiser werden. Vielleicht wollte Michael aber auch einfach seine Ohren nicht zuhalten. Vielleicht wollte er sie hören, sich an sie klammern. Denn diese naive Hoffnung, dass sie Tim zurückholen würden, war immer noch präsent. Und diese abzuschütteln war eine viel zu schwere Unternehmung, an die Michael sich nicht heranzugehen wagte. Das Frühstück schmeckte nicht. Die Radiomoderatoren hatten eklige, gute Laune. Im Fernsehen wurden nur Filme der dritten Klasse ausgestrahlt, sein Buch langweilte ihn. Vor allem aber halfen all dieser Dinge nicht, nicht an Tim denken zu müssen. Gegen Mittag schnappte der Journalist sich kurzerhand seine Jacke und marschierte hinaus. Er würde spazieren gehen. Eine neue Route. Nein, ganz sicherlich nicht die Strecke, die er mit Tim diskutierend, lachend und manchmal auch leicht zankend, so oft entlang gegangen war. Am besten würde er in einen völlig anderen Stadtteil fahren. Und so gut diese Idee ihm auch zunächst vorkam, so bitter war doch deren Umsetzung. Der Spaziergang durch die fremde Gegend verschaffte ihm keine Genugtuung, half überhaupt nicht. Sein Leben fühlte sich momentan zu fremd an, er war ein Fremder in seiner Wohnung. Ein neues Element, welches ihm nicht bekannt war, machte seine Situation nur umso klarer. Michael flüchtete. Er versuchte sich mit Kochen abzulenken. Und sein Herz machte einen riesigen Sprung, als er nach dem Brettchen, welches Tim ihm doch geschenkt hatte, griff. Es fiel mit einem lauten Knall zu Boden. Und Michael war es danach es in kleinste Einzelteile zu zertreten… Doch er tat es nicht. Er wusste, dass er es bereuen würde… Morgen, ja, Morgen war schon Montag. Am Montag könnte er sich endlich wieder in die Arbeit stürzen, die ihm Ersatz bot. Er würde alles gründlich machen. Er würde schon um 8 Uhr in der Redaktion eintreffen, alle Emails sorgfältig bearbeiten und Florian ausrichten, er könne sich einen Tag frei nehmen, damit all diese Aufträge auf ihn fallen würden. Und dann würde er einen großen Kaffee genießen und… Nein. Das Bild von Jade tauchte in seinem Kopf auf. Jade, wie er sich keck grinsend über die Theke lehnte, ihn mit seinen dunklen Augen anfunkelte, wie er ihm den Kaffee reichte, ihm zuzwinkerte. Jade, wie er seinen Kopf nach hinten riss, die Augen zusammenkniff und lauthals stöhnte, sich an der Bettdecke festkrallte und Michael sein Becken entgegenstreckte… Nein. Er konnte nicht mehr zu Starbucks gehen. Definitiv nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)