Contrasts von Seira-sempai (The difference between us) ================================================================================ Kapitel 1: Ein ganz normaler Tag -------------------------------- Ich schreckte auf. Zu meiner Überraschung befand ich mich in meinem Zimmer. Alles war nur ein Traum gewesen, zum Glück. Aber wer war der Junge gewesen, der mich am Ende beschützt hatte? Reflexartig griff ich nach meinen Haaren. Gott sei Dank, sie waren noch lang. Schon wieder hatte ich diesen seltsamen Traum gehabt, in dem zwei mir unbekannte Personen gegeneinander kämpften und ich keinen von beiden verlieren wollte. Was hatte ich da nur wieder für einen Mist zusammengesponnen... Es war Montagmorgen 6:32 Uhr. Mein Wecker klingelte gerade zum fünften Mal. Wenn ich jetzt nicht aufstünde, würde ich meinen Bus verpassen, welcher in genau 19 Minuten fuhr und zu spät zur Schule kommen. Doch das interessierte mich gerade herzlich wenig. Draußen lag Schnee, einen halben Meter hoch. Warum musste es in den Ferien auch immer so viel schneien? Zwar waren die Einfahrt und die Straßen schon wieder einigermaßen von dem Schnee befreit, aber ich mochte das trotzdem nicht. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf. Was konnte ich denn schon dafür, dass es so kuschelig warm im Bett war? Nach den Ferien war das immer am schlimmsten. Warum mussten die Ferien nur immer so kurz sein? Wären die Winterferien eine Woche länger gewesen, könnte ich noch eine Woche ausschlafen. Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Seira Ren Yamamoto. Da ich Seira nicht mag, nennen mich alle bei meinem zweiten Vornamen, mit Ausnahme einiger einzelner Personen, wie meine Großeltern oder einige Lehrer an der Schule. Ich bin 16 Jahre alt, weiblich und gehe in die 10. Klasse einer staatlichen Schule. Außerdem bin ich ein totaler Tollpatsch. Alles, was ich anfasse, geht kaputt. Hobbys habe ich keine. Zwar lese ich gerne, spiele unglaublich gerne Tischtennis, höre gern Musik und chatte den ganzen Nachmittag mit Freunden, aber als Hobbys würde ich das nicht bezeichnen. Ich bin ganz durchschnittlich. Meine Augenfarbe ist eine Mischung aus blau und grün und meine Haarfarbe ist dunkelbraun. Mein Blick fiel auf den Wecker. Es war 6:37 Uhr. Wenn ich nicht sofort aufstehen würde, käme ich wirklich noch zu spät. Schnell sprang ich auf, zog mir mein Nachthemd über den Kopf, sprang in Höchstgeschwindigkeit in meine Jeans, zog meine blauen Lieblingskniestrümpfe und meine Winterstiefel an und schlüpfte in den erstbesten Pullover. Zu meinem Leidwesen war er rosa. Ich hasste Rosa, doch leider hatte ich keine Zeit mehr, mich noch einmal umzuziehen. Ich kämmte schnell meine Haare. Sie reichten mir bis über die Hüfte. Dann packte ich meinen Ranzen. Wie immer hatte ich gestern dazu keine Lust gehabt. Genau 6:46 Uhr stürmte ich die Treppe zur Küche hinunter. Meine kleine Schwester, Saya Aoi, verließ gerade das Haus. Im Gegensatz zu mir bevorzugte sie ihren ersten Vornamen. Auf Aoi reagierte sie gewöhnlich nicht oder warf den nächstbesten Gegenstand, manchmal auch zwei oder drei, vielleicht auch ein paar mehr, nach der Person, die sie so nannte. Sie hatte dunkelbraunes Haar, was ihr bis über den Hintern reichte, keinen Pony, leuchtend blaue Augen und war 15 Jahre alt. Im Gegensatz zu mir war Saya früh immer pünktlich. Aber sie war auch um einiges verrückter als ich. Sie verließ das Haus nie, ohne mindestens ein Messer mit sich herumzuschleppen. Ihr Bus kam genau zwei Minuten früher. Sie musste in die entgegengesetzte Richtung fahren wie ich, da sie auf eine andere Schule ging. Das hatten unsere Eltern so entschieden, damit wir keinen Blödsinn anstellen konnten. Leider war das nicht so ganz aufgegangen, denn das konnten wir auch allein gut genug. Saya hatte das Chemielabor schon mindestens zwanzig mal in die Luft gejagt und oft genug die Schulküche unter Wasser gesetzt, beziehungsweise Kochtöpfe in die Luft gejagt. Ich war da nicht so schlimm. Für gewöhnlich fiel ich in der Schule nicht auf. Auch erinnerte ich die anderen meist an einen Streber. Nur, wer mich ziemlich gut kannte, wusste, dass das überhaupt nicht zutraf. Ich hatte nur ziemlich gute Zensuren, nicht mehr und auch nicht weniger. In absoluter Höchstgeschwindigkeit stürmte ich in den Keller und holte mir eine Flasche Mineralwasser. Diese stopfte ich schnell in den Ranzen. Dann flitzte ich zum Kühlschrank, holte eine Packung Salami heraus und knallte je eine Scheibe auf mein Pausenbrot. Dann rannte ich wieder zum Kühlschrank und stopfte die Packung Wurst wieder hinein. Ich stürmte zurück zu meinem Pausenbrot, zog mit dem Fuß den Kasten unter dem Backofen auf, wo sich die Silberfolie befand, die ich zum Verpacken des Brotes brauchte, griff mir die silbern glänzende Rolle, riss ein Stück ab und knüllte dieses irgendwie um meine belegten Brote. Jetzt stopfte ich diese zu der Flasche Mineralwasser, bevor ich in den Vorsaal rannte, mir meinen weißen Mantel überzog und gleichzeitig eine Mütze auf den Kopf setzte. Ich zog schnell den Busausweis aus dem vordersten Fach meines Ranzens, warf mir diesen über die Schulter und stürmte mit einem: „Tschüss, ich muss los!“ genau 6:50 Uhr aus dem Haus. Meine Eltern sahen mir kopfschüttelnd hinterher. Inzwischen hatten sie sich angewöhnt, mir früh einfach aus dem Weg zu gehen, wenn ich mal wieder in Eile war, also jeden Morgen. In weniger als einer Minute würde der Bus kommen. Ich beeilte mich, um nicht den Bus zu verpassen. Gerade hatte ich das Haus verlassen, als dieser auch schon um die Ecke gefahren kam. Jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Schnell rannte ich los. In zehn Sekunden würde der Bus die Haltestelle erreichen. Fast hätte ich meinen Kater über den Haufen gerannt, aber nur fast. Gleichzeitig mit dem Bus erreichte ich die Haltestelle. Völlig erschöpft hielt ich dem Busfahrer meinen Busausweis unter die Nase und stieg ein. Einer meiner Klassenkameraden lachte, als ich an ihm vorbei lief. Sein Name war Isamu Kawaguchi. Er hatte kurzes schwarzes Haar, immer einen frechen Gesichtsausdruck und blaubraune Augen. In der Schule saß er vor mir. Das war sehr praktisch, denn im Gegensatz zu mir hatte er eine Eins in Physik. So konnte ich ab und zu ein paar Fragen stellen. Und das machte ich auch, nämlich immer genau drei Minuten vor der nächsten Klassenarbeit. „Na Ren, heute war es aber ziemlich knapp.“ Er grinste mich frech an. Ich grinste zurück. „Ach was! Das war doch das perfekte Timing! Was du nur wieder hast!“ Der Bus fuhr los. Dadurch verlor ich mein Gleichgewicht. Wild ruderte ich mit den Armen in der Luft. Vergebens! Keine drei Sekunden lag ich der Länge nach auf dem Boden. Isamu lachte noch lauter. Nicht nur er lachte, sondern fast alle im Bus. Ich zog eine beleidigte Schnute und setzte mich neben meine beste Freundin. Wir waren schon seit fünf Jahren beste Freunde und so gut wie unzertrennlich. Sie hatte rotblondes Haar, welches kurz über der Schulter endete, einen schräg geschnittenen Pony, viele Sommersprossen im Gesicht und grau-blaue Augen. Ihr Name war Yayoi Nakamura und ihre Lieblingsfarbe war rosa. Fast immer trug sie rosa Klamotten. „Morgen!“, nuschelte ich, als sie mich ansah, dann wendete ich meinen Blick dem Fenster zu. Draußen war es noch dunkel, aber ein kleinwenig konnte man trotzdem erkennen. Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle. Einige Mitschüler stiegen zu und setzten sich auf noch freie Plätze. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder meiner besten Freundin zu. „Hatten wir Hausaufgaben auf?“ Sie nickte. „Darf ich die abschreiben?“ Wieder nickte Yayoi. Jetzt galt meine Aufmerksamkeit wieder der Welt außerhalb des Busses. Die Landschaft zog an mir vorbei, ohne das ich sie richtig wahrnahm. Gerade waren die letzten Leute zugestiegen und der Bus hatte den Ort verlassen. Jetzt konnte man die Felder der im Dorf lebenden Bauern sehen. Na ja, viel sah man von ihnen nicht, denn sie waren mit einer einen halben Meter dicken Schicht Schnee bedeckt, aber im Sommer konnte man sie sehen. Wir fuhren weiter. Die Bäume am Straßenrand konnte man in der Dunkelheit gar nicht richtig ausmachen. Nach etwa fünfzehn Minuten hatten wir den Ort, wo wir alle zur Schule gingen erreicht. Der Bus fuhr langsam auf den Marktplatz zu. Dort mussten wir aussteigen, aber kein Grund zur Hektik. Ausnahmslos alle, die in diesem Bus saßen, stiegen an dieser Haltestelle aus. Man musste also nur der Masse hinterherlaufen. Das tat ich auch. Als der Bus fast leer war, wurde das Gedränge weniger. Jetzt stand ich auf und verließ das Fahrzeug. Zielstrebig überquerte ich den Markt und lief in Richtung Schulgebäude. Normalerweise wartete ich auf dem Markt zusammen mit Yayoi auf meine anderen Freunde, aber an diesem Tag war es zu kalt draußen, weshalb ich beschloss, im Schulgebäude auf die anderen zu warten. So konnte ich noch einmal in den Hefter schauen und für die Mathearbeit, die wir in der vierten Stunde schrieben, lernen. Kaum hatte ich mich auf meinen Sitzplatz gesetzt, schlug ich auch schon den Mathehefter auf, las mir kurz die erste Überschrift durch und seufzte genervt auf. Ich hatte absolut keine Lust zu lernen. Also klappte ich den Hefter entschlossen wieder zu und kramte ein Manga aus dem Ranzen hervor. Ich begann, dieses zu lesen. Nach und nach füllte sich der Raum. Es wurde immer lauter, weshalb ich mich immer schlechter auf das Manga konzentrieren konnte. Genervt schlug ich besagten Gegenstand zu und packte ihn in den Ranzen. Wenige Augenblicke später klingelte es. Die Erste Stunde begann. Wir hatten jetzt Deutsch. Ich fand Deutsch langweilig. Nicht etwa, dass ich dieses Fach nicht mochte, aber ich konnte absolut nichts mit Romeo und Julia, Faust oder dem Vorleser anfangen. Warum mussten wir auch solche langweiligen Bücher lesen? Vielleicht lag meine Abneigung gegen dieses Fach aber auch einfach nur an einer viel zu dürren, blondhaarigen Frau, deren Haar bis zur Hüfte reichte, die absolut keine Ahnung von Mode hatte und sich unsere Lehrerin schimpfte. Meist, auch heute, trotz der niedrigen Temperaturen, trug sie einen viel zu kurzen Minirock, ein farblich absolut nicht dazu passendes Oberteil und eine kitschige, nicht zu übersehende Kette. Ihr Haar hatte sie wie üblich zu einem Haarknoten gebunden. Sie ähnelte also mehr einem magersüchtigen Clown als einem Lehrer. Wie sie das Studium geschafft hatte, war mir ein Rätsel. Nach etwa drei Sekunden Unterricht wanderte mein Blick zu meiner Banknachbarin und besten Freundin Yayoi. „Wie lange dauert es noch, bis es endlich klingelt?“ Sie grinste. „Etwa 44 Minuten und 57 Sekunden.“ Ich schnitt eine Grimasse. „Und jetzt?“ „Noch etwa 44 Minuten und 50 Sekunden.“ „Menno!“ Einige Sekunden verstrichen. „Darf ich jetzt abschreiben?” Yayoi nickte und gab mir ihren Biologiehefter. Also hatten wir nur in Biologie Hausaufgaben auf. Etwa zehn Minuten vor dem Klingelzeichen hatte ich das letzte Wort abgeschrieben. Vom Deutschunterricht hatte ich, wie immer, nicht viel mitbekommen, aber das war mir auch egal. Ich sah mich in der Klasse um. Isamu schaute in der Weltgeschichte umher. Sein Banknachbar Naoki Takahashi schlief seelenruhig im Sitzen. Er hatte einen ähnlichen Charakter wie Isamu, dunkelbraunes, lockiges Haar und braune Augen. Die meiste Zeit des Unterrichtes verbrachte er mit schlafen. Man hörte ihn gleichmäßig atmen. Ob seine Augen geöffnet waren, konnte ich nicht sagen, ich saß hinter ihm. Erst jetzt fiel mir auf, dass unsere Deutschlehrerin ihn wütend anschaute. Sie ging auf die Tafel zu und griff nach einem Stück Kreide, welches sie kurze Zeit später auf Naoki warf. Kurz vor seinem Gesicht fing er besagtes Stück Kreide zwischen zwei Fingern auf. Naoki hatte gute Reflexe. Jetzt schaute er schlaftrunken durch die Gegend. Gleich würde er weiterschlafen. Ihm fielen schon wieder die Augen zu. Die Deutschlehrerin wurde noch wütender. Sie griff nach ihrer Handtasche und schleuderte diese auf den so eben wieder eingeschlafenen Schüler. Naoki bekam den mit Krempel gefüllten Stofffetzen gegen den Kopf, fiel geräuschvoll mit dem Stuhl um und landete auf dem Boden. Etwas verwirrt rieb er sich den Kopf. Dann stand er wortlos auf, legte die Handtasche wieder auf den Tisch der Lehrerin und verließ den Raum. Etwa zwei Minuten später klingelte es. Jetzt galt es erst einmal die Pause zu genießen. Die Klasse trennte sich. Einige hatten jetzt zwei Stunden Kunst und andere genauso lange Musik. Diejenigen, die Kunst hatten, verließen das Zimmer. Yayoi, ich und einige andere blieben im Zimmer. Nur wenige hatten sich für Musik entschieden. Isamu stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Er hatte jetzt auch Kunst. Die Bank vor mir wurde leer. Etwas später setzten sich drei Schüler aus meiner Klasse, die in Musik gingen auf die soeben frei gewordenen Plätze. Ganz links saß Daisuke Yamaha. Vor etwa einem Jahr war er hierher umgezogen. Er hatte etwas längeres schwarzes Haar und war oft ziemlich schwer von Begriff. Seine Zensuren waren mittelmäßig bis schlecht, außer in Sport. Genau wie ich, erledigte er nie seine Hausaufgaben, doch ich war so clever und schrieb diese ab, bevor man mich erwischte. So ziemlich jeden Nachmittag verbrachte er in der Schule mit dem Nachholen der nicht erledigten Hausaufgaben. Danach traf er sich mit anderen Idioten an der Bushaltestelle. Ich packte mein in Eile zubereitetes Pausenbrot aus und biss hinein. Zwar knurrte mein Magen, aber ich wollte absolut nichts essen. Früh bekam ich einfach keinen Bissen hinunter. Nachdem ich einmal abgebissen hatte, packte ich den Rest wieder ein und widmete mich wieder meinem Manga. Auch als es zum Unterricht klingelte, packte ich es nicht weg. Von der ersten Hälfte des Musikunterrichtes bekam ich genau so viel mit, wie vom Deutschunterricht, nämlich gar nichts. Im zweiten Teil gab es einen mündlichen Test. Daisuke musste an die Tafel. Die Musiklehrerin stellte ihm einige Fragen über Beethoven. „Welches sind die wichtigsten Werke, Beethovens?“ Er warf einen flehenden Blick in die Klasse, hoffend, jemand würde ihm helfen. Doch die Klasse hatte ebenfalls keine Ahnung. Die Musiklehrerin stellte die nächste Frage. „In welcher Epoche lebte er?“ „In der Romantik?“ Daisuke verzweifelte immer mehr. Bis jetzt hatte er noch keine Frage richtig beantwortet. „In der Wiener Klassik.“, meinte die Musiklehrerin, „Setz dich wieder hin!“ Der Unterricht ging weiter. Viel bekam ich nicht mit. Ich war die ganze Zeit so tief in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal das Klingeln am Ende der Stunde hörte. Yayoi hatte eine ganze Minute gebraucht, um mich in die Realität zurückzuholen. Schnell wechselten wir das Zimmer. Jetzt hatten wir Mathe. Da würde ich nicht vor mich hinträumen können. Ich hatte mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Seufzend warf ich meinen Ranzen neben meinen Sitzplatz. Kaum hatte ich mein Pausenbrot und die Flasche Mineralwasser ausgepackt, merkte ich, dass Yayoi sich wieder mit Azarni unterhielt. Azarni Sano war eine Zicke. Sie versuchte mit aller Macht sämtliche Freundschaften zu zerstören, indem sie Lügen verbreitete, welche die Freunde dazu brachte, sich zu streiten. Sie hatte blondes, kurzes Haar und saß in fast allen Fächern neben Yayoi. Meiner Meinung nach schminkte sie sich viel zu viel. Ich ignorierte die beiden und ging zu Isamu und Naoki. Sie gehörten auch zu meinen Freunden. „Hey!“, grüßte ich, als ich mich zu ihnen stellte. „Und, habt ihr für Mathe gelernt?“ „Ein bisschen.“, antwortete Isamu. Naoki ignorierte mich entweder völlig oder schlief schon wieder im stehen. „Du?“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich hab es nicht einmal geschafft, die erste Überschrift zu Ende zu lesen.“ Isamu lachte. „Und das von dem Klassenstreber...“ „Wen nennst du hier einen Streber?“ Obwohl wir erst seit kurzer Zeit befreundet waren, kam ich gut mit den beiden aus, meistens sogar noch besser, wie mit Yayoi. Während des Gespräches mit den beiden, oder eher nur mit Isamu, Naoki schlief tatsächlich im Stehen, war ich gedanklich ganz wo anderes. Irgendwie wollte mein Geist heute einfach nicht in der Realität bleiben. Das Klingeln riss mich wieder zurück in die Wirklichkeit. Ich setzte mich auf meinen Platz, ohne Yayoi zu beachten, wie immer, wenn sie mit Azarni geredet hatte. Ich konnte Azarni halt einfach nicht ausstehen. Meistens brachte sie Yayoi dazu, sich mit anderen zu streiten und da ich momentan absolut keine Lust auf Streit hatte, ignorierte ich sie eben einfach. Der Unterricht begann und der Mathelehrer teilte die Arbeiten aus. Dieses Mal benötigten wir keinen Extrazettel. Ich warf einen kurzen Blick auf die Arbeit. Sie bestand aus drei Zetteln sah leicht aus, also konnte ich mir Zeit lassen. Es ging um Winkelberechnungen in Dreiecken und Vierecken. Das konnte ich selbst im Schlaf. Ich warf einen Blick in die Klasse. Einige starrten verzweifelt auf die Zettel. Dann wanderte mein Blick aus dem Fenster. Ich beobachtete, wie die Wolken am Fenster vorbeiflogen. Nur zu gern würde ich jetzt mit ihnen tauschen. Die Mathearbeit rückte immer mehr in den Hintergrund. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr so genau. Auf einmal sah ich einen alten, halb verfallenen Bauernhof vor mir. Die Scheune stand kurz vor dem Zusammenbruch. Ich kannte diesen Ort. Seit meinem ersten Schultag, das war vor fast zehn Jahren, war ich nicht mehr dort gewesen, um mit den Katzen eines alten Ehepaares zu spielen. Ein alter Mann kam aus der Scheune. Ich ging neugierig auf ihn zu. Irgendwie kam mir das alles so bekannt vor. Ich kannte das, wusste, was als nächstes passieren würde, aber woher? Jetzt sah ich mich um. Einige Katzen kamen auf mich zugerannt. Ich suchte nach einer bestimmten Katze, meinem Lieblingskater, konnte ihn aber nicht finden. Der alte Bauer schien meinen Blick bemerkt zu haben. „Tora brauchst du nicht zu suchen, der ist seit letztem Monat verschwunden und wird auch nicht wiederkommen.“ Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, was er meinte. Der Bauer ging wieder in die Scheune. Etwa eine Dreiviertelstunde irrte ich planlos auf dem Bauernhof umher, streichelte ab und zu eine Katze, die auf mich zukam und setzte mich mal hier hin und mal da hin. Irgendwie war ich auf einmal nur noch eine leere Hülle. Ich fühlte mich nicht traurig, sondern einfach nur leer, als ob ein Teil von mir fehlen würde, ein großer. Damals konnte ich nicht glauben, was ein paar Worte alles auslösen konnten. Momentan saß ich auf dem Fußboden und lehnte mich an einen Heuballen. Es war mir egal, ob ich danach Heu in den Haaren und an der Kleidung hängen hatte. Ich zog mein Armband vom Arm und spielte etwas damit. Nach einer Weile steckte ich es wieder an meinen Arm. Dann kamen meine kleine Schwester Saya und ihre beste Freundin und unsere gleichzeitige Nachbarin Ayaka Morita. Ayaka war genauso alt wie und die beste Freundin meiner Schwester. Sie hatte langes blondes Haar, welches ihr bis zum Hintern reichte, keinen Pony und leuchtend blaue Augen. Fast immer band sie ihr Haar zu zwei Zöpfen. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten. Es war schließlich schwer, sich zu übersehen, wenn man direkt nebeneinander wohnte. Die beiden kamen auf mich zu und setzten sich zu mir. Nach einer Weile sah sich Ayaka suchend um. „Wo ist eigentlich Tora?“ Bei diesen Worten zuckte ich zusammen. „Er ist verschwunden und wird nicht wiederkommen.“ Meine Stimme klang seltsam fern, fast so, als ob sie kilometerweit entfernt wäre. Warum? Er war ja nur weggelaufen und nicht tot. Das hieß, ich könnte ihn vielleicht wiedersehen. Oder doch nicht? „Oh...“ Mehr brachte Ayaka nicht heraus. Plötzlich hörte ich eine Stimme. „Seira Ren Yamamoto?“ Ich erschrak und zuckte zusammen. Auf einmal befand ich mich wieder im Klassenzimmer. Der Mathelehrer sammelte gerade die Arbeiten ein. Er stand direkt vor mir und wollte meine haben. Ich warf einen Blick auf die besagte Arbeit. Alles leer! Nicht einmal der Name stand darauf. Das schien jetzt auch der Lehrer bemerkt zu haben. Fragend sah er mich an. „Ups...“, nuschelte ich, „Ich hab glatt vergessen, die Arbeit auszufüllen.“ Naoki und Isamu drehten sich als Erstes um. Zuerst warfen die beiden einen eher neutralen Blick auf die Arbeit. Doch schon nach einigen Sekunden hatten sie Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Inzwischen hatten auch andere aus der Klasse den Blick zu mir gewendet. Alle fingen an, zu tuscheln. Yayoi nahm meine leere Arbeit und sah sich jeden Zettel genau an. „Da steht ja echt nichts drauf. Du hast nicht einmal den Namen drauf geschrieben.“ Ich warf ihr einen grimmigen Blick zu. Sie hatte das sicher schon vorher gewusst. Immerhin schrieb sie fast immer von mir ab. Jetzt gab sie die Arbeit dem Lehrer. Auch dieser blätterte die besagten Zettel durch, bevor er mich kopfschüttelnd ansah. Da hatte ich ja wieder etwas Großartiges geleistet. Das würden mir die anderen in zehn Jahren noch vorhalten. „Ren, du bleibst heute nach der sechsten Stunde hier und schreibst die Arbeit nach.“ Mit diesen Worten drehte sich der Lehrer um und sammelte die restlichen Exemplare ein. Ich ließ einen Blick durch die Klasse schweifen. Immer noch starrten mich alle an. Mir war das ganze peinlich. Am liebsten wäre ich sofort im Boden versunken. Hatte hier denn keiner eine Schaufel? Das Loch, in dem ich verschwinden wollte, könnte ich mir im Notfall auch noch selber buddeln! Endlich klingelte es. Nach zwei versäumten Stunden Mathe hatte ich jetzt nur noch Biologie zu überstehen, dann musste ich nur noch schnell die Arbeit nachschreiben und konnte nach Hause. Die Klasse wechselte das Zimmer. Im Biologiezimmer angekommen knallte ich meinen Ranzen wütend auf den Boden neben meinen Sitzplatz. So etwas war mir noch nie passiert! Zwar hatte ich schon einmal fast vergessen, die Biologiearbeit auszufüllen, aber da hatte ich es irgendwie wieder in die Realität geschafft, bevor es zu spät war. Ich konnte es einfach nicht fassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)