Kristallherz von GeZ ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- „Der Befund der Gerichtsmedizin liegt jetzt vor. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Mechanisch spielte der Polizeibeamte seinen Text ab und lief voraus, wies mir den Weg in eines der vielen kargen Zimmer. Ich fragte mich, ob sie hier wohl auch Verbrecher verhörten? Ich kam mir fast wie einer vor, weil ich hier sitzen und auf einen anderen Beamten warten musste, der mir dann wahrscheinlich genauso monoton und kalt den forensischen Bericht vorlesen würde. Ich glaubte beinah, dass die hier arbeitenden Menschen nur wandelnde Schallplattenspieler waren. Immer wieder die gleiche Leier. Für sie. Nicht für mich. Für mich war es das erste Mal, dass ich überhaupt auf einer Polizeiwache war. Kapitel 1: Jähzorn ------------------ Dabei war ich nicht mal besonders gemäßigt, zumindest früher nicht. Ich war jähzornig gewesen. Wenn ich gereizt wurde, überfiel mich die kalte Wut und ich schlug zu. Einmal, als Sarah und ich alleine waren, weil unsere Eltern auf einer Feier waren und dann bei den gastgebenden Freunden übernachteten, hatte ich einen solchen Anfall von plötzlichem Grimm. Anfangs lief alles gut. Wir blieben natürlich länger auf als sonst, da keiner da war, der uns ins Bett hätte scheuchen können. Essen und Trinken hatten wir uns ins Wohnzimmer mitgenommen – was den Ansichten unsrer Eltern nach ein enormer Regelverstoß war – und wir sahen Fernsehen. Eine Dokumentation, soweit ich mich erinnere, denn ich hatte den Anspruch, auch wenn ich es nicht sein mochte, anderen als intelligenter Mensch zu erscheinen. Sarah, obwohl jünger, nahm das hin und hörte sogar aufmerksam zu, soweit ich das beurteilen konnte, doch dann bestand sie darauf, dass ich den Sender wechselte, weil sie einen Cartoon sehen wollte. Ich lehnte ab. Sie ließ nicht locker. Bestimmt über fünf Minuten lang blieb ich ruhig, dann riss der Geduldsfaden und sie bekam eine Ohrfeige, über die ich fast mehr erschrak als sie, denn diese war heftig genug gewesen, um sie von der Couch zu werfen. In ihren Augen lagen Schock, Angst, Schmerz und stummer Vorwurf einträchtig vereint. Sie weinte nicht, doch das tat nichts zur Sache. Tränen sind kein Indiz dafür, dass man jemanden verletzt hat. Ebenso wenig, wie das Fehlen von Tränen ein Zeichen dafür ist, dass man niemanden verletzt hat. Ich wusste auch so, dass ich ihre zarte kleine Seele geschunden hatte. In der Nacht schliefen wir zusammen. Ich streichelte ihre hellbraunen Locken und summte ein Lied, nach dem sie damals ganz verrückt gewesen war. Ihr Atem ging leise und ruhig und ich lauschte ihm meinerseits, wie sie meinem Summen, und es war mir, als wäre das ihr Lied für mich. Solange hörte ich ihr zu, bis mich die Müdigkeit übermannte und ich entschlief. Am Morgen lag ich allein im Bett, Sarah war schon auf und kam mir fröhlich entgegengehüpft, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich erwachte. Ihr kleines Gesicht war durch eine rote Wange verunstaltet und es machte mich traurig, das zu sehen. Sie war schön, doch in diesem Augenblick war sie hässlich, weil sie meine Tat spiegelte. Sarah bemerkte mein Unwohlsein nicht oder aber sie übersah es geflissentlich. Sie hielt mir stolz ein Bild entgegen, das sie gemalt hatte. Zwei mehr oder minder gelungene Menschen, die einander bei den Händen hielten, neben ihnen allerlei Blumen und im Hintergrund ein Regenbogen. In ihrer krakeligen Grundschulschrift standen unsere Namen, Pfeile führten von ihnen zu der jeweiligen Gestalt, die uns auf ihrem Bild repräsentierte. Dazu stand noch geschrieben: „Ich verzeie dir.“. Ich streichelte ihr lächelnd über den Kopf und sagte ihr, dass man verzeihen mit h schriebe. Kapitel 2: Ignoranz ------------------- Ich war jedenfalls nie auf einer Polizeiwache. Obwohl mich in der Jugend doch öfter der Jähzorn lenkte, als mein Verstand, musste ich mich nie für Schläge verantworten. Ich war auch nie an einem solchen Ort, weil ich jemand anderen anzeigte oder etwas bezeugte. Ich hielt im Gegenteil nie viel von Menschen, die sich durch vermeintliche Zeugenschaft wichtig machen wollten, genauso wenig, wie ich Leute mochten, die alles zur Anzeige brachten. Den zu lauten Fernseher des Nachbarn. Den schrecklich bös knurrenden Hund des Grundstückes, an dem vorbei man zur Schule laufen musste. Die Kinder, die mit ihren mp3-Playern den Bus mit dieser unsittlichen Hip Hop Musik zudröhnten. Das war der eine Teil der Anzeigen. Die Sorte Mensch, die ich liebevoll Lärm-Weichlinge getauft hatte. Dann gab es noch die typischen Nachbarschaftszoff-Liebhaber, die sich über die Höhe von Gartenzäunen und Größe von Bäumen aufregten. Die Absperrung wäre gerade so hoch, dass sich das spielende Kind daran die Augen ausstechen könnte, vorausgesetzt, es würde einmal sein Zimmer verlassen, die Computerspiele und Foren ignorieren und hinaus ins Freie gehen. Der Baum des Nachbargrundstückes wäre so groß, dass er das gesamte eigene Anwesen andauernd in den Schatten stellen würde. Doch die Schlimmsten meiner Auffassung nach sind diejenigen, die Misshandlungen melden oder bestätigen wollen. Was soll das seien, eine ‚Misshandlung’? Eine Handlung, die nicht gebilligt werden kann, weil sie gegen Konventionen verstößt? Es gab genügend Dinge, die gesellschaftlich verpönt waren. War es also eine unrechtmäßige Handlung, wenn man dem Gottesdienst im Bikini beiwohnte? Wenn man während einer Familienfeier lieber stundenlang mit dem Handy telefonierte, um nicht den alten Geschichten, die bei solchen Anlässen mit Vorliebe ausgegraben werden, lauschen zu müssen? Wenn man im Unterricht quatschte oder Zeichnungen zu Papier brachte? Gleichfalls gab es genügend Dinge, die gesetzlich verboten waren. War es also eine Misshandlung, wenn man im Supermarkt Bier und Zigaretten mitgehen ließ? Wenn man ohne Führerschein fuhr? Wenn man Leute anrief und sie nach der Farbe ihrer Unterhose fragte? Wenn man Wände mit Graffiti besprühte? Wenn man ohne Ticket mit der Straßenbahn oder dem Bus fuhr? Wenn man bei Rot über die Ampel ging? Die Antwort ist nein. Misshandlungen werden enger aufgefasst. Nicht jede Tat, die nicht korrekt sein mag, gilt als solche. Eine „üble und unangemessene Behandlung eines anderen Menschen, die dessen körperliche Unversehrtheit oder das ‚körperliche Wohlbefinden’ beeinträchtigt“, gilt als Misshandlung. Doch was ist ‚übel’? Was ist ‚unangemessen’? Woher nehmen sich Menschen das Recht, andere anzuschwärzen, sie hätten jemanden misshandelt? Niemand kann nachvollziehen, warum Leute auf die ihnen eigene Art reagieren. Etwas, das nach außen übel und unangemessen erscheinen mag, kann doch in sich begründet sein und guten Absichten entspringen. Damals habe ich meine Schwester misshandelt. Ich schlug sie. Ich handelte aus einer Laune heraus. Damals habe ich meine Schwester nicht misshandelt. Ich schlug sie. Ich verfolgte damit erzieherische Maßnahmen. Die Welt ist schwer zu deuten. Die Menschen noch schwerer. Ihre Handlungen sind gar nicht zu interpretieren. Darum zeige ich niemanden an. Darum bezeuge ich nichts. Kapitel 3: Trennung ------------------- Wie erwähnt, war dieser graue Herbsttag ein historischer für mich, bescherte er mir doch zum ersten Male den Aufenthalt auf einer Polizeiwache. Doch vermutlich zäume ich das Pferd beim Schwanz auf. Viel bedeutender als diese Ortpremiere ist der Grund, aus dem ich hier bin, auf meine kurzen, sauberen Fingernägel starre und warte. Letzteres tue ich im Übrigen äußerst ungern. Pünktlichkeit ist mir wichtig. Dass Aufgaben ordentlich, aber zügig bearbeitet werden, ebenfalls. Nein, ich warte wirklich nicht gerne. Einmal wollte ich mit Sarah ins Kino. Ich stand vor dem Eingang, es regnete. Einen Schirm hatte ich nicht. Vorher war es schön gewesen. Es hatte die Sonne geschienen, als wolle sie mir weismachen, dass es ein guter Tag werden würde. Ich hatte mein Abitur vor kurzem erfolgreich beendet. Meine Schwester hatte noch vier Jahre Zeit, bevor sie sich diesen Prüfungen stellen musste. Die meinen jedoch langen hinter mir, dachte ich bedauernswerter Tor, nicht ahnend, dass die ärgsten noch vor mir lagen. Ich stand da, sah auf meine Uhr, von steigender Nervosität und Unruhe erfüllt. Es war nicht weit vom Gymnasium zum Kino. Der Niederschlag hatte mich ganz durchdrungen, unangenehm klebten meine nassen Kleider an meiner Haut. Ich fühlte mich, als würde mit dem Wasser Traurigkeit in mich einlaufen. Ob Sarah etwas passiert war? Sie war ein vorsichtiges Mädchen, handelte bedacht, ohne abweisend oder zu ruhig auf andere zu wirken. Ich fraß ihr aus der Hand. Ich glaubte, alle müssten sie lieben. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gefühl. Schließlich trieb mich die Angst vorwärts, in unsteten, hastigen Schritten, immer schneller Richtung Schule. Sarah stand da. Neben ihr ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte. Er hielt einen Schirm über sich und meine Schwester. Sie war schön, doch in diesem Augenblick war sie hässlich, weil sie seine Führsorge spiegelte. Sarah bemerkte mich nicht oder aber sie übersah mich geflissentlich. Ich kehrte um und wartete weiter vor dem Eingang zum Kino. Der Film lief schon einige Minuten, als sie völlig aus der Puste ankam und sich verlegen lachend mehrmals entschuldigte, dass sie zu spät kam. Die Wellen ihrer Haare fielen wirr über ihren Rücken, doch der Regen hatte sie nicht in ein dunkleres Braun getaucht. In der einen Hand hielt sie seinen Schirm. Das war der Beginn unseres Auseinanderlebens. Ihre eigenen Freunde wurden wichtiger für sie, auch mit Jungen ging sie aus. An ihrem siebzehnten Geburtstag stellte sie unseren Eltern ihren ersten Freund vor. Ich kannte ihn schon. Sarah hatte mir viel früher von ihm erzählt, als irgendjemanden sonst. Womit ich diese Strafe verdient hatte, konnte ich mir nie ganz erklären. Ob es mit der Ohrfeige zusammenhing, die ich ihr vor Jahren gegeben hatte? Aber dies konnte nicht der Fall sein, würde das doch bedeuten, dass ihr Verzeihen geheuchelt gewesen wäre. Sarah verstellte sich nicht. Sie war offen und ehrlich. Wie kam sie zu dieser Grausamkeit? Die Schuld konnte nur bei ihrem Freund liegen, das war mir schon damals klar. Kapitel 4: Schauspiel --------------------- Meine Fingernägel sind sauber und kurz. Immer noch betrachte ich sie. Gerne würde ich mit der Faust auf den Tisch schlagen, an dem ich sitze. Die Tür des kleinen Raumes, in den sie mich geführt hatten, stand offen. Auf dem Gang liefen die Beamten geschäftig umher, aus jeder Ecke drangen Gesprächsfetzen an mein Ohr. Vandalismus, Diebstahl, ein flüchtiger Straftäter. Wie ging es der Frau, was machte man am Abend, wie war der letzte Urlaub. Die Tür stand offen, hielt nicht fest, lud zum Gehen ein. „Hallo?“ rief ich erbost auf den Flur hinaus. Eine kleine blonde Frau, die ihre Körpergröße durch widerlich pinkfarbene Stöckelschuhe zu kaschieren suchte, steckte kurz den Kopf herein und bat ‚um noch ein klein wenig Geduld.’ Bald würde jemand kommen, der sich um mich kümmere. Als ob ich alt und klapprig, ein Pflegefall wäre. Einmal war ich das beinahe. Ich hatte mir im Skiurlaub das Bein gebrochen. Die Fraktur war nicht so kompliziert, dass ich operiert werden musste, aber eine Weile konnte ich die Welt nur auf einem Bein und zwei Stützen durchqueren. Damals zog Sarah zu mir. Ich wohnte schon einige Zeit allein. Sicher hätte ich noch nicht ausziehen müssen. Oft kam Sarahs Freund zu uns nach Hause. Alle waren so unverschämt glücklich, dass man einfach zwangsläufig schlechte Laune bekommen musste. Jedenfalls wollte ich selbstständig sein. Es war die richtige Entscheidung. Alleine in meiner Wohnung fand ich Ruhe. Nach dem Unfall waren die kleineren alltäglichen Arbeiten allerdings lästig. Ich bin ein ordentlicher Mensch. Manche mögen penibel sagen, aber wer nicht im Schweinestall geboren ist, sollte auch nicht so leben. Täglich aufwaschen und Staubsaugen. Wöchentlich Fenster putzen, Staub wischen, Wäsche waschen und Blumen gießen. Sarah wollte mit ihrem Freund zusammenziehen. Unsere Eltern klammerten. Das zweite Kind zu verlieren, konnten sie mit ihrem Ego noch nicht vereinbaren. Zu Sarah meinten sie, Sorge triebe dazu, ihr von diesem Schritt abzuraten. Sie wäre nicht in der Lage, alleine zu leben. Ich war ihr Prüfstein. Früher hätte ich nie geglaubt, dass Sarah Menschen ausnutzen würde. Nicht sie. Doch die Zeit ändert Meinungen. Vielleicht heilt sie auch Wunden. Ich weiß es nicht. Darüber habe ich noch keine Dokumentation gesehen. Schließlich würde sie mit ihrem Freund und nicht allein leben. Dass sie dies könne, wollte sie unseren Eltern demonstrieren. Bei mir zu sein, dass war fast wie zu Hause. Es war Familie. Darum war es ein idealer Versuchsort. Sarah konnte überzeugend sein. Sie zog zu mir. Wenn alles glatt gehen würde, solle sie danach mit ihrem Freund unter einem Dach leben. Ich hatte gerade meine Ausbildung zum Bürokaufmann beendet, hockte auf der Arbeit viel am Schreibtisch, sodass nur das Hin- und Zurückkommen problematischer war. Abends erwartete mich Sarah. Sie hielt die Wohnung sauber und kochte überraschend gut. Einmal gab sie mir sogar lachend einen Kuss auf die Stirn. Sie müsse ja trainieren, um dann das Super-Heimchen für ihren Freund zu sein. Ich küsste sie auf den Mund. Wenn Training, dann richtig. Sarah stieß mich weg und schaute mich entsetzt an, wie damals, als ich sie geschlagen hatte. Ich lachte nur und ignorierte sie. Das ganze war nur ein Scherz. Kein Grund, es ernst zu nehmen. Das war genauso witzig wie die Tatsache, dass uns die anderen Mieter im Haus für ein Paar hielten, wie ich zufällig aufgeschnappt hatte. Gewissermaßen stimmte dies. Spielten wir denn nicht eines? Zur Generalprobe, beim echten Auftritt allerdings mit einer anderen Besetzung der männlichen Hauptrolle. Ich mochte Sarahs Freund nicht. Kapitel 5: Tod -------------- Ich schlug nicht auf den Tisch. Aufgebracht trommelten meine Fingerkuppen auf ihm. Ich war keineswegs zornig, wie man vielleicht aufgrund des Rhythmus‘ und der Tonlage annehmen könnte. Ich war unruhig. Wie schon erwähnt, mochte ich es nicht, zu warten. Ich wurde dann automatisch nervös. Dennoch saß ich weiter unverrichteter Dinge in diesem nüchternen Zimmer. Sarah war ebenfalls noch hier. Wir waren gefangen in diesem Gebäude. Polizeiwachen mag ich nicht, so scheint es mir. Sarah dagegen schon. Seit ihrer Geburt war sie für mich der Inbegriff eines Engels. Sanft. Sie tat niemand weh. Sorgend. Sie half jedem. Schützend. Sie setzte sich für jeden ein, der nicht im Unrecht war. Schön. Niemand war annähernd so atemberaubend. Menschen sterben. Engel auch, so scheint es mir. Sarah ist gestorben. Langsam, aber ohne Schmerzen. Zumindest für sie. Nicht für mich. Ich denke oft an diesen Tag im Regen. Vor dem Kino. Ich wartete, ich wurde unruhig, ich sah nach, was geschehen sein mochte. Dieser Tag war der Beginn einer Krankheit, der Sarah erlag. Doch ich konnte noch bei ihr sein. Ich konnte ihr beistehen. Zu Hause, wo wir Ruhe hatten. Bis ihr Freund kam. Ich konnte nicht mehr da sein. Sarah starb. Mit meinem Auszug war ihr Leben beendet. Mein Engel war tot. Warum? Weil ich nicht mehr existent war. Nicht in der Form, in der ich es wollte. Die Tage, als sie bei mir lebte, waren glücklich. Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, glaube ich an Wunder. Mein Bein war gebrochen. Wie oft habe ich mich seitdem selbst verletzt, darauf hoffend, dass es wieder eine Reanimation meines Engels bewirken würde? Eine Zeit lang funktionierte es. Sarah war für mich da, wenn immer es mir schlecht ging. Doch mit jedem neuen Aufenthalt bei mir wurde sie reservierter. Sicher lag das an ihrem Freund. Wer weiß, was er ihr für Unsinn erzählt hatte. Letztendlich kam sie nicht mehr. Nicht mehr bei einer Grippe, einer Schnittwunde am Fuß, weil ich in Scherben getreten war, nicht mehr, nachdem ich mir einen Finger gebrochen hatte. Ich mag schon das Knacken von Gelenken nicht, das manchmal entsteht, wenn man sich dehnt. Es kostete mich Überwindung, das Geräusch meines eigenen brechenden Knochens zu hören. Anders als bei dem Beinbruch war ich nicht abgelenkt, denn meine Konzentration galt dem Vorgang des Verletzens, nicht dem Ausüben eines Wintersports. Doch diese Fraktur brachte meinen Engel nicht kurzzeitig zum Leben zurück, brachte Sarah nicht zu mir. Sie lebte mit ihm. Wenn ich ehrlich bin, war sie wirklich tot nach dem Kuss. Nie war sie in meiner Gegenwart mehr unbefangen. Ihre späteren Besuche waren wohl nur Nachwehen. Nervenzucken, wie bei Hähnen, die nach ihrem Tod kopflos umherlaufen. Sie wandelte zwar mit Kopf, aber ohne Herz weiter. Sie ignorierte mich. Der Engel war nicht mehr. Konnte ein Mensch ohne Herz leben? Kapitel 6: Laster ----------------- Endlich betrat ein schlampig gekleideter Mann den Raum. Als wolle er das Klischee des zerstreuten, aber genialen Kommissars bedienen, hing in seinem Mundwinkel zudem noch eine Zigarette. Ich hätte schwören können, dass Rauchverbot herrschte, aber diese Regeln galten anscheinend nur für die Besucher dieser Einrichtung. Es wäre sicher auch zu viel verlangt, dass einem zugestanden würde, sich auf die Weise Linderung zu verschaffen. Ich verstehe nicht, wie es Menschen geben kann, die gegen das Rauchen wettern. Jeder Mensch hat Laster. Zigaretten, Alkohol, Sex. Geld, Ruhm, Religion. Was auch immer. Vielleicht hätte ich die Zeit zum Beten nutzen sollen? Mein Gegenüber – ich nannte ihn in Gedanken schon ‚Columbo‘, denn er schien es nicht für nötig zu halten, sich vorstellen – räusperte sich und warf mir einen Blick zu, als wäre er ein lebendes Röntgengerät und wolle in mich hineinsehen. War ich ein Angeklagter hier? Dazu war es zu früh. Dies war kein Gericht. Auf einem Gericht war ich noch nie. Auf einer Polizeiwache bisher auch noch nicht. Die Dinge änderten sich im Leben. Meine Beziehung zu Sarah hatte sich geändert. War sie mein Fels in der Brandung gewesen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Warum blieb nichts, wie es war? Der Fels wurde von der Brandung abgetragen. Ich war allein. Ich wurde ignoriert. Ich fand das nie störend oder gar bedauernswert. Doch dass Sarah mich ignorierte, dass sie mich allein ließ, das war bedauerlich für mich. Das schlimmste passierte gestern. Sie kam zu Besuch, lud mich zu ihrer Hochzeit ein. Ich lachte. Ich lachte schallend und laut. Aber ich freute mich keineswegs. Dieser Mann war falsch. Er gehörte nicht zu Sarah. Obgleich sie kein Engel mehr war, ein guter Mensch war sie noch, irgendwo tief in ihrem Inneren. Möglicherweise hatte ich mich geirrt und es gab noch einen Weg, ihr Herz zurückzuholen. Wenn ihr Freund nicht mehr wäre. Sie schüttelte den Kopf, ihr Gesicht sah angespannt aus. Sie war diesem Teufel treu, ließ ihn sich nicht ausreden, austreiben. Ihre Augen wanderten von mir zu dem Bild an der Wand. Eingerahmt in Gold, ein Stück bemaltes Papier aus alten Tagen. Darauf zwei Menschen, die einander bei den Händen hielten, neben ihnen allerlei Blumen und im Hintergrund ein Regenbogen. Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht, lag nur einen Augenblick auf ihren roten Mund. „Du hast es immer noch?“ Ich nickte. „Ich liebe es.“ antwortete ich schlicht. Es war das beste Bild der Welt. Fehlendes H hin oder her, es war perfekt, so wie es war. Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Sarah. Sie war perfekt, so wie sie war. Selbst mit ihren Fehlern war sie immer noch mein Engel. Ich setzte mich neben sie, schlang den Arm um ihre Schultern, zog sie an mich. „Ich verzeihe dir.“ verkündete ich mit feierlichen Pathos in der Stimme, immerhin war das ein historischer Moment. Ihre Augen waren traurig. Zuvor schien sie ebenfalls zu einer Einsicht gelangt zu sein, allerdings gingen ihre Folgerungen daraus in eine andere Richtung. Ich solle das Bild wegwerfen. Wir bräuchten keine glorifizierten Fragmente der Kindheit, sondern klare Worte in der Gegenwart. Sie würde für mich da sein. Immer. Denn sie liebe mich. Aber sie liebe ihren Freund auf eine andere Art und Weise und ich solle lernen, dass zu akzeptieren, den Unterschied zu verstehen. Ich glaube nicht mehr an Wunder. Kapitel 7: Erlösung ------------------- Patsch. Der Mann in dem schäbigen, burgundfarbenen Pullover warf den Autopsiebericht auf den Tisch und ich zuckte zusammen. Mit einem nervtötenden Knarren zog er sich den Stuhl, der mir gegenüber gelegen war, heraus und ließ sich nieder. Erkundigte sich nach meinem Namen, Alter, Beziehung zum Opfer. Als würde er all dies nicht schon längst wissen, irgendwelchen Akten oder Papieren entnommen haben. Manchmal kommt es mir so vor, als wären Menschen heute nichts anderes mehr. Nur Zahlen und Buchstaben, als Karteikarten in Büroschränken nach diffusen Vorschriften kategorisiert. Die Augen des Mannes ruhten jetzt auf ein paar Zetteln, die er in der Hand hielt. Es erleichterte mich, nicht mehr angestarrt zu werden wie die Jahrmarktsattraktion einer Kleinstadt. Lange blieb ich nicht verschont. Der Blick des Mannes glitt zu mir, wie widerlicher Schleim und er drückte sein herzliches Beileid genauso monoton aus, wie die Beamten vor ihm. Ich musste wieder daran denken, dass die hier arbeitenden Menschen nur wie wandelnde Schallplattenspieler waren. Das Thema dieser Platte war Sarah. Oder besser, diese Scheibe behandelte die Beschreibung ihres Körpers und ihrer Verletzungen. Stumpfe Gewalteinwirkung am Schädel. Tödlicher Schlag auf den Kopf als vermutliche Todesursache, aber auch Herzkontusion. Nun folgende Ermittlungen in alle Richtungen. Ich nickte stumpf. Ob ich noch etwas zu sagen hätte? Nein, das hatte ich nicht. Gestern Abend gab es nichts mehr, dass ein weiteres Wort erfordert hätte. Ich hatte das Bild abgenommen und ihr an den Kopf geschlagen. Meine Faust mit voller Wucht gegen ihre Brust gelenkt, gegen das Herz des toten Engels. Ob er wiedergeboren wurde, wenn diese schmutzige Hülle vernichtet war? Ich kicherte. Ich sollte mich beim Vatikan bewerben. Als Exorzist war ich sicher gut. Epilog: Epilog -------------- „Diese doofe Lampe.“ schimpfte der junge Kollege und trat gegen die Wand. Das Flackern wurde nur stärker. ‚Columbo‘ schalt ihn nicht, wusste er doch, dass dies dessen ihm eigene Art war, sein Unwohlsein, das ihn an diesem Ort befiel, zu vertreiben. So war das in der Gerichtsmedizin. Einige weinten, andere übergaben sich. Sein Partner meckerte. Nur hier im Gang vor dem eigentlichen Untersuchungsraum wollte das Licht nicht, wie sie wollten. Drinnen funktionierte alles tadellos. Menschen wurden gesäubert, geöffnet, wieder geschlossen. Man sah ihr Äußeres, man sah ihr Inneres. Man sah ihren Tod, nicht ihr Leben. Die Frau war noch jung gewesen, zu jung, um hier zu liegen. Hatte gerade ihr Studium beendet und ihren langjährigen Freund heiraten wollen. Nicht ihre Gedärme hatten ihm das gesagt, aus ihnen hatte er das nicht herauslesen können. Aktenlesen war das probate Mittel, das einen über das Leben der Toten aufklärte. „Was hat der Kerl sich nur dabei gedacht?“ beschwerte sich der junge Kollege, ruhiger nun, seine Aufgebrachtheit war nunmehr moralische Entrüstung. ‚Columbo‘ zuckte mit den Schultern. Es spielte letztendlich keine Rolle für ihn. Das Resultat war es, das zählte. Das, was wirklich offensichtlich war. Obwohl der Bruder des Opfers ein Geständnis abgelegt hatte, blieb sein Motiv undurchsichtig, denn dazu hatte er sich nicht geäußert. Er müsse kein Herz gehabt haben, sowas zu tun, meinte der junge Kollege. „Wer weiß, wer weiß.“ murmelte ‚Columbo‘ schlicht, alles und nichtssagend, bevor er sich verabschiedete, bis morgen, zu einem Tag, zu neuen Aufgaben, zu neuen Tragödien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)