Verbunden bis in die Ewigkeit von abgemeldet (Meine Seele lässt dich nicht gehen!) ================================================================================ Prolog: Regen ------------- „Anna?“ Die Braunhaarige sah nicht auf. Vielleicht spürte sie überhaupt nicht, wie jemand einen Regenschirm über sie hielt, vielleicht wollte sie auch nur nicht reagieren. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht und ihre Schuhe versanken tief im Schlamm. Noch immer war ihr Blick auf den schneeweißen Marmorgrabstein gerichtet, das Todesdatum, in geschwungenen schwarzen Lettern, die ihr so furchtbar albern vorkamen, so weltlich, lag gerade drei Tage zurück. Waren es tatsächlich nur drei? Jede Stunde kam ihr vor wie ein Traum, wie ein eigenes Leben. Ein alptraumhaftes Leben, ohne Konturen, eine Geschichte ohne Story... nur voll Schmerz... Es konnte nicht die Wahrheit sein, nicht er, nicht Yoh... verdammt... Sie hatte sich seit sie klein war mit dem Tod auseinander gesetzt, hatte sich so erhaben gefühlt, über das Unausweichlichste der Natur. Sie war sich so sicher gewesen stark genug zu sein... Und jetzt stand sie hier und alles kam ihr nur noch sinnlos vor. Warum ging das Leben jetzt weiter? Was sollte noch die Show, wo sie doch wusste, dass es nur eine Fassade war, die bei dem winzigsten Lufthauch zusammenbrach. Bei dem geringsten Wink des Schicksals... Warum?! Es sollte aufhören, das würde es sowieso, die Welt würde verschwinden, aber es sollte jetzt aufhören! Warum sollte sie noch leiden, wenn es doch alles am Ende im Nichts verschwand...? „Anna, kommst du nach Hause? Ryu hat Essen gemacht, du musst wieder essen, verstehst du? Du magst es doch so, wenn er kocht, bitte...?“ Anna machte eine unwillige Handbewegung... Diese gezwungene Freundlichkeit... als wäre nichts passiert. Als könnte sie einfach weitermachen, als könnte sie essen! Zeke war tot. Yoh war tot. Wo war der Sinn, warum musste sie weitermachen? Da war diese verdammte Angst vor dem was kommen sollte. Sie hatte sich über für so stark gehalten und jetzt... „Anna, komm nach Hause! Ich-... ich wollte doch auch nicht... ich meine.... ich...“ „Halt die Klappe“, zischte Anna und trat, ohne Tamara auch nur anzusehen, aus der relativen Sicherheit es Schirms in den strömenden Regen. Ja, das war ihr Leben. Kapitel 1: Tränen ----------------- Der Himmel über der Stadt war zu einem dunklen Schwarzblau abgekühlt, obwohl die helle Sonne immer noch am Horizont stand. Die Räume und Flure des Asakura- Anwesens waren wie leergefegt. Heute Nacht lag die Stille wie eine schwere Decke über dem Haus. Trotzdem hörte sie, wie Tamara und Trey sich weiter vor ihrem Zimmer herumdrückten. In der abgekapselten Einsamkeit kam ihr der Gedanke, dass Yoh gewusst hätte, dass sie Zeit für sich brauchte. Er hätte es ihnen gesagt. Es war unglaublich, wie sicher sie sich in dieser Beziehung war. Er hätte sie verstanden. Anna hatte keine Ahnung, wie lange sie in hier auf dem Boden lag. Es herrschte völlige Dunkelheit, und das machte es leichter zu glaube, dass alles nur ein Traum gewesen war. Sie hatte längst alle Tränen geweint. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Es war nicht nur Trauer, die sie hier fest kettete. Natürlich, es hatte längst festgestanden, dass Yoh der jenige war, der seinen Zwillingsbruder töten musste, aber das war nicht geplant gewesen. Das hatte niemand vorhergesehen. Das hätte niemand vorhersehen können. Aber was sollte sie jetzt machen? Wo waren alle ihre Perspektiven hin? Alle Pläne, was war mit ihrer Zukunft passiert? „Wie wäre es wenn du Licht machst? Ist es nicht unhöflich, den Besuch im Dunkeln zu lassen?“ Diese Stimme... Ohne, dass sie auch nur bewusst reagiert hätte, war Anna plötzlich auf den Beinen. Alles was sie sehen konnte, war ein düsterer Schatten neben ihrem Bett. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich keinen Zentimeter mehr bewegen zu können. Unter keinen Umständen. „B- bist du...“ „Anna?“ Der Klang ihres Namens riss Anna aus ihrer Erstarrung. Im nächsten Augenblick war der Schatten verschwunden. Trotzdem konnte sie den Blick nicht abwenden. Ihr Herz schlug immer noch wie rasend. Als nach ein paar Sekunden oder ein paar Minuten oder ein paar Stunden ein leises Klopfen an der Tür die Stille durchbrach, war sie sich zuerst ganz sicher, dass es nur Einbildung gewesen war. Erst als es sich wiederholte reagierte sie, anfangs nur mit einer unwilligen Handbewegung, dann mit einem „Herein“, dem man das Zittern in ihrer Stimme hoffentlich nicht anhörte. „Anna?“ Wieder die Stimme. Die Stimme, die sie seit damals schon viel zu oft gehört hatte. Das Licht griff mit gierigen Fingern ins Zimmer, konnte sie aber in den Schatten nicht erreichen. Wie hätte es auch, nichts konnte sie noch erreichen, nichts. Tamara hatte den Blick gehoben, wenn auch mit Mühe, und Anna glaubte Tränenspuren auf ihrem Gesicht zu sehen. War das nicht auch nur eine von denen, die nur redeten, und niemals etwas sagten? Wie konnte dieses Mädchen ein Recht haben zu weinen? Mit einem Mal wurde Anna von einer Welle alles überbordender Verachtung überwältigt, die aber fast im gleichen Moment wieder versiegte. Das war ein Gefühl das sie, auch wenn niemand es ihr glauben würde, kaum jemals gespürt hatte. Unter dem erschrockenen Blick aus schwarzen Augen wurde das Gesicht wieder abgewandt. Aber das Gefängnis war schon zerbrochen. Zersplittert. Explodiert. Auch sie hatte geweint. Natürlich hatte sie das, sie alle hatten das, aber Tamara weinte nicht mehr. Ja. Es reicht, und das ist die Wahrheit. Ohne der Rosahaarigen, die immer noch stumm im Türrahmen stand noch einen Blick zu gönnen, sah sie zuerst nur geistesabwesend über die Schulter und drehte sie dann mit Schlafwandlerischem Zeitlupentempo zu ihrem Bett um und sank wieder auf den Boden. Tamara beobachtete das alles mit großen Augen, in denen jetzt wieder Tränen standen. Sie war längst nicht wieder so gefasst, wie Anna vielleicht glaube mochte. Die hatte inzwischen eine rechteckige Schatulle hervorgezogen, die nun auf ihren Knien ruhte und öffnete sie mit geschickten Handgriffen. Trotz der relativen Dunkelheit, glitzerten die inzwischen nutzlosen Geisterperlen wie ein verlorener Schatz, als hätten sie ihren früheren Glanz noch nicht ganz aufgegeben. Als Anna Kyoyama sich aufrichtete, hatte sie die Resignation abgestreift wie ein zu enges Kleidungsstück und durch etwas anderes, etwas Beängstigendes ersetzt, das ihre Augen heller leuchten ließ, als die Kette um ihren Hals. Etwas Verbissenes. „Gibt es Essen?“ Tamara zuckte zusammen, als sie ihre Stimme hörte, schüttelte dann aber hastig den Kopf. „Was machst du dann hier? Ryu soll langsam mal anfangen, sag ihm aber er soll nicht den Reis wieder verkochen, wie das letzte Mal!“ Tamara nickte nur und machte sich auf den Weg zur Küche. Als sie die Tür schloss, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Aber es sah nicht sehr glücklich aus. Kapitel 2: Schweigen -------------------- Es herrschte Schweigen, als die Tür sich langsam öffnete und Anna zögernd stehen blieb. Dampfschwaden aus der Küche umspielten sie wie Trockeneis auf einer Bühne, und genau so fühlte sie sich jetzt, auch wenn keiner einen Scherz machte. Etwas wie 'Grabesstille' hatte sie schon erwartet. Hatte sich in dieser kurzen Zeit wirklich soviel geändert? "Anna...", brach Lyserg unsicher das Schweigen, was ihm so gar nicht ähnlich sah, dass er gleich wieder verstummte. Er wusste gar nicht, was es zu bereden gab. Vielleicht nichts. Anna schloss die Tür wieder und Tamara und Trey rückten eilig auseinander um ihr Platz zu machen. Nach einer kurzen Musterung entschied Anna, dass sie alle blass aussahen. Es war zweifellos richtig gewesen zurückzukommen, auch wenn sie sich immernoch ein wenig unsicher fühlte. Es kam ihr alles so falsch vor. "Du beehrst uns also wieder mit deiner Anwesenheit", stellte Ren fest, der sie- wie sie jetzt erst feststellte- die ganze Zeit gemustert hatte. Von der anderen Seite des Tisches warf Trey ihm einen bösen Blicks zu, aber er ließ sich nicht davon stören und trank unbeeindruckt einen Schluck Tee. "Hast du ein Problem damit?" Jetzt wo sie wieder da war- sie war zumindest davon überzeugt- hatte Anna wirklich nicht vor sich von irgendjemandem beschützen zu lassen. Damit hätte sie rechnen sollen, und das hätte sie auch, wenn sie nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre. Sie war der Fels in der Brandung, nach allem was passiert war, jetzt, am Ende, hatten sie fest damit gerechnet. Die Chancen standen gut, dass Ren nichts anderes tat, als der allgemeinen Enttäuschung Luft zu machen-aber musste sie ihm das deswegen durchgehen lassen? Sicher nicht. "Ich habe ein Problem damit, dass es dir völlig egal zu sein scheint, dass alle hier sich Sorgen gemacht haben. Und jetzt tauchst du einfach wieder aus der Versenkung auf und vergisst völlig-" "Ren..." Der sanfte Einspruch von Tamara kam so überraschend, dass der Tao sie einen Moment lang anstarrte bevor er endete: "...dass sie dich gebraucht hätten." "Sie?" Wieder starrten alle verwundert das Mädchen an, das im Moment geradezu über sich hinauswuchs. Insbesondere Anna, der gerade fast das Gleiche auf der Zunge gelegen hatte- schließlich war Ren immernoch nicht die Heilsarmee, auch wenn er längst nicht so böse war wie er sich benahm. "Ja... alle hier. Oder stimmt das etwa nicht? Ich war nicht der, der die Wahrheit nicht vertragen hat." Daraufhin schwiegen alle wohlweißlich, aber es musste auch niemand sagen, dass hier ein Fehler vorlag, immerhin war Yoh für Ren wahrscheinlich wichtiger gewesen als für alle anderen. Sein bester Freund, wenn nicht sogar sein einziger. Als diesmal die Tür aufging und Ryu mit Tellern und Schüsseln jonglierend ins Zimmer kam, zuckten sie alle zusammen und Anna schluckte die Worte die sie schon zur Hälfte artikuliert hatte - dabei hatte sie gerade zur Sache kommen wollen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, soviel war ihr klar. Sie musste sich endlich dazu entschließen das einzig Richtige zu tun - aber konnte sie das? Eine Woche später, als sie längst wieder allein war, wusste sie, dass sie es nicht konnte. Und noch weniger konnte sie jemandem davon erzählen. Sie konnte zwar nicht genau sagen warum, aber der Gedanke daran verletzte ihren Stolz und war irgendwie reine Blasphemie. Sie konnte Yohs Geist nicht zu sich holen; nicht ganz gewöhnlich und schon gar nicht für immer. Die Idee war genauso falsch wie alles andere an dem Gedanken falsch war, das Yoh tot sein könnte. Noch immer, obwohl er längst unter der Erde lag. Wie war es nur möglich, dass sie beide tot waren? Wie war es möglich, dass es vorbei war? Hätte damit nicht die Welt untergehen müssen? Und das Shamanen Turnier war wieder angelaufen. Und die Schule hatte wieder angefangen. Und alle waren nach Hause geflohen. Und sie war allein mit den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit. Wie konnte das bloß sein? Sie verbot sich den Gedanken daran und stempelte ihn als schlichte Melancholie ab, bevor sie sich eine Jacke nahm und sich mit leisem Seufzen auf den Temperaturumschwung einstellte. Es war früh kalt geworden dieses Jahr. Sie hatte gerade nach draußen gehen wollen, als sie hinter sich eine Stimme hörte und heftig zusammenfuhr. Ohne sich Zeit zum tief Durchatmen zu nehmen drehte Anna sich auf dem Absatz um. "Amidamaru", begrüßte sie den durchscheinenden Samurai nachdenklich."Du bist noch hier?" Er nickte und sah sich um. "Ich wusste nicht ob du damit zurecht kommst, wenn plötzlich alle weg sind." Ohne länger als eine Sekunde nachzudenken imitierte sie sein Nicken und hasste sich im nächsten Augenblick schon dafür. "Ja... Ja, mit mir ist alles in Ordnung, es ist einfach nur alles anders. Du kannst ruhig gehen. Dein Platz ist nicht mehr hier." "Er würde nicht kommen, Anna." Langsam hob sie den Blick und es schien einen Moment als wolle sie etwas sagen, dann drehte sie sich um und legte eine Hand auf die Türklinke. "Das werden wir sehen." Kapitel 3: Intermezzo: Nightwalk -------------------------------- Die Nacht hatte sich wie ein schwerer Mantel über der Stadt ausgebreitet. Selbst die bunten Lichter der Hauptverkehrsstraßen wirkten heute Nacht gedrückt und der kalte bleiche Mond schimmerte gleichgültig von seinem sternklaren Firmament. Noch immer wollte der Tao sich keinen Millimeter bewegen. Nie wieder. Es war einfach genug, es reichte inzwischen, schon so lange, und niemand hatte eine Ahnung… Als wäre nichts passiert… Und in gewisser Hinsicht war ja auch nichts passiert, oder? Nichts hatte sich geändert, oder? Die Welt drehte sich weiter, oder? … Oder? Es spielte keine Rolle. Und das war alles. Es spielte keine Rolle, ob er sich wünschte die Welt möge tatsächlich stehen bleiben, ob er auf ewig unter diesem Baum sitzen bleiben wollte. Es würde nicht mal eine Rolle spielen wenn er es tatsächlich tat. Es war egal, ob ein völlig fremder damals, an diesem Tag gestorben war, oder… Schließlich würde niemand jemals davon erfahren, nicht wahr? Das war nach wie vor das Wichtigste. Sicher, Yoh hatte immer gepredigt man müsse seine Gefühle zeigen und so weiter, aber Yoh… hätte ihn trotzdem verstanden. Yoh hatte alles und jeden verstanden. Wie komisch. Ren hätte einmal jeden Eid geschworen, dass es das war, was ihn eines Tages umbringen würde. Pech gehabt. Hätte irgendjemand erfahren wie es in ihm aussah, dass er tatsächlich trauerte, dass er manchmal das Gefühl hatte fast durchzudrehen, weil all das, worauf er sein Leben lang hingearbeitet hatte auf einen Schlag geendet hatte, weil er nur Leere vor sich sah, und dass er verdammt noch mal doch angst hatte… Ja doch, Yoh war der einzige, der das je hatte verstehen können. Und deshalb konnte er nicht tot sein. All die Lügen, all die unausgesprochenen Fragen und all die Kämpfe, die Schmerzen… umsonst? Sicher, klar, Yoh hatte sich geopfert, für die Welt, für die ganze Menschheit im Grunde – Weil er geglaubt hatte. Daran geglaubt hatte, dass die Menschen doch gut waren, trotz all dem, was sie diesem Planeten angetan hatten, so fest und unerschütterlich geglaubt hatte, wie nur er das konnte. Aber wer dachte an ihn? Ren war schon lange der Ansicht, dass es nicht die Toten waren, die man betrauern musste: Es waren die Lebenden, die Hinterbliebenen, die Verzweifelten, Verängstigten. Bis vor kurzem war das noch nicht mehr gewesen, als eine schwache Ahnung irgendwo in seinem Hinterkopf, nicht weiter interessant, nicht weiter spannend, einfach überhaupt nicht relevant. Angehörige verstarben anderen Leuten, einem Tao konnte so was gar nicht passieren, wie auch, und was interessierten ihn anderer Leute Probleme? Der Tod hatte ihn niemals weiter beschäftigt, so etwas hätte ihm nie passieren können, wäre Yoh nicht aufgetaucht und hätte sein altes Leben zerstört, in Scherben liegend zurückgelassen. Es hatte niemanden gegeben, der so wichtig gewesen wäre, dessen Leben eine Rolle gespielt hatte, und dessen Tod ihn derart erschüttert hätte. Genauer gesagt war Tod für ihn immer nur Mittel zum Zweck gewesen, ein willkommener Ausweg und das letzte Ass, wenn alles andere versagte. Die Stille, die durch die leeren Räume hallte, war ohrenbetäubend. Vermutlich hatte es keinen Sinn. Seit er wieder hier war, fühlte er dieses Vakuum auch in sich, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, wie die Ruhe vor dem Sturm. Oder wie nach dem Sturm, wenn alles in Trümmern lag vielleicht. Das einzige, was die völlige Reglosigkeit störte, war das ständige penetrante Blinken des Anrufbeantworters. Lächelnd überbrückte Ren die letzten Schritte von der Tür bis zum Telefon und ließ das Lämpchen auf Knopfdruck erlöschen. Nicht heute, Schwesterchen. Aber womöglich… Womöglich war Yoh doch nicht der Einzige, der verstand, nicht wahr? Man würde es herausfinden müssen… Vielleicht. Und vielleicht war dieses Vakuum ja eine eigene Art Frieden. Unter Umständen. Und Frieden war gut, nicht wahr? Ja, das war er. Eine Art Waffenstillstand. Vielleicht, Schwesterherz, vielleicht. …Und Frieden war schließlich gut, nicht? Ruhe in Frieden. Bitte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)