[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 58: Ad Rem ------------------ Ad Rem   „Das hätte ich tun können.“ Indem er dies einräumte, nickte L leicht. „Doch wie du schon einmal festgestellt hast, finde ich immer irgendeinen Weg, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Hast du denn gesehen, dass mein Name irgendwo eingetragen steht?“ „Das konnte ich nicht.“ Light begriff langsam gar nichts mehr. Sein Herz flatterte wirr, auf konfuse Weise genauso hoffnungsvoll wie unzufrieden, während sich seine Gedanken überschlugen. Was gab es denn sonst für eine Möglichkeit, der Wirksamkeit des Notizbuchs zu entgehen? „Rems Death Note war zerstört und das echte...“ In der nächsten Sekunde zeichnete sich Verstehen auf Lights Gesicht ab. „Rem“, sagte er finster. „Das war eine Finte.“ „Deine Schlussfolgerungen sind wie immer blitzschnell“, stellte L sachlich fest und fügte etwas lauter hinzu: „Nun, Rem?“ Ein scharfes Zischen von Flügeln, die durch die Luft schnitten, begleitete das Erscheinen der Todesgöttin, deren skelettartige Gestalt sich aus der Decke schälte. Mit bedrohlich ausgebreiteten Schwingen rauschte sie hinab und gesellte sich zu ihnen. Rem würdigte Light keines einzigen Blickes. Stattdessen inspizierte ihre katzenhafte Pupille unter dem vergilbten Weiß ihres Verbandes jenes blonde Mädchen, das hilflos, gefesselt und blind von den Polizisten festgehalten wurde. Trotz der Zweifel, die Rem verstimmten und sie unruhig werden ließen, informierte sie den Detektiv darüber, was ihr Augenlicht offenbaren sollte. „Unverändert.“ „Rem, nein!“, schrie Misa aufgebracht, als sie die Stimme ihrer Todesgöttin vernahm. Eine Welt schien für sie zusammenzubrechen. Sie hatte Rem vertraut. Sie hatte geglaubt, dass sich jemand für sie so aufgeopfert hatte, wie sie selbst bereit war, sich für ihren Liebsten zu opfern. Aber jetzt war das genaue Gegenteil geschehen. Jetzt war Misa indirekt für das Scheitern von Kira verantwortlich. Dabei war dieser Junge, in den sie sich verliebt hatte, ihr Licht, ihre Hoffnung, jener errettende Funke, der ihr einstmals den Lebenswillen zurückgegeben hatte. Obwohl sie ihm helfen und alles für ihn geben wollte, war sie ihm letztendlich zum Verhängnis geworden. Unter dem fest verknoteten Stoffband, das ihr die Sicht versperrte, füllten sich Misas Augen mit Tränen. „Warum hast du…?“ Sie versuchte zu sprechen, doch klang jedes Wort dünn und zitternd. „Ich dachte, du würdest mich...“ „...lieben, Misa?“, fragte Rem mit sanfter Rücksicht. „Das tue ich auch, obwohl ich nicht beurteilen kann, ob man die Empfindungen eines Shinigami mit denen eines Menschen vergleichen kann. Dennoch musste ich gerade aus diesem Grund so handeln. Misa... ich will nur das Beste für dich.“ Aus der normalerweise eintönigen Stimme der Todesgöttin war deutlich ihre Trauer zu vernehmen. „Mir wurde versichert, dass dir nichts geschieht, wenn du festgenommen wirst.“ Weinend brach Misa zwischen den Polizisten zusammen. Sie schüttelte vehement ihren Kopf, als könne sie nicht akzeptieren, was soeben geschah. Light betrachtete sie verständnislos. Die Gesamtsituation wirkte auf ihn zunehmend absurd und irreal. Indessen huschten, angesichts der Aufgelöstheit des blonden Mädchens, kurzfristig Besorgnis und Bedauern über Ls Miene, jedoch verflog dieser Eindruck rasch, als er sich mit seinen weiteren Ausführungen an Light wandte: „Was das Notizbuch anbelangt, das dein Vater bei sich hatte...“ Das Gefühl der Unwirklichkeit und des Entsetzens verstärkte sich erneut, als Light bemerkte, wie der ergraute Herr im Anzug, steter Schatten des Meisterdetektivs, in gewohnt seriöser Haltung durch den Raum auf diesen zuschritt und ihm ein schwarzes Notizbuch, einige Akten sowie ein paar linierte Seiten Papier überreichte. „Danke, Watari.“ Leise setzte L fragend hinzu: „Alles in Ordnung?“ „Meine alten Knochen vertragen solch einen Sturz nicht sonderlich“, antwortete jener mit höflicher Kritik, „und der Stromschlag war gleichfalls nicht sehr angenehm.“ „Entschuldigen Sie bitte, dass ich immer zu solch drastischen Mitteln greife. Mir fiel auf die Schnelle nichts anderes ein, womit ich Ihnen vorhin ein Zeichen hätte geben können.“ „Keine Sorge, es geht mir gut“, beschwichtigte Watari seinen Schützling. Die linierten Blätter, die L mittlerweile zusammen mit den Akten und dem Notizbuch zum Tisch hinüber trug, hatte der alte Mann bereits am heutigen Morgen, erfüllt von Melancholie und Skepsis, in seinem persönlichen Überwachungsbereich betrachtet, nachdem er mit dem Kontrollieren der Videoaufzeichnung fertig und kurz bevor der Detektiv zu ihm gekommen war. Die vorige Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Aus seiner Erschöpfung heraus war Watari in jenen Minuten des ersten Ausruhens regelrecht versunken gewesen in die Betrachtung dieses vom Monitorlicht beschienenen Papiers, den echten Seiten des Death Notes. Schwermütig hatte er sich gewundert, wie etwas derart Unscheinbares der Auslöser für die nachfolgende Katastrophe sein konnte. „Aber Rems Überreste...“, raunte Light derweil und verfolgte L mit seinen Augen. „Ein Kübel Sand und Kaminasche“, antwortete dieser schlicht. „Wann hast du…?“ „Wir hatten genügend Zeit, etwas Derartiges vorzubereiten, während du mit deiner Familie telefoniert hast. Dass ein Todesgott sterben kann und was mit ihm geschieht, habe ich gestern von Rem erfahren. Ihr Death Note hingegen wurde von Watari nicht rekonstruiert. Darum konntest du es auch nicht finden.“ „Sollte ich deshalb mit meiner Mutter telefonieren?“, stellte Light nachdenklich die Frage in den Raum. „Und heißt das, du hast mich ebenfalls absichtlich weggelockt, als du... draußen im Regen...?“ Light stockte und fixierte in sich gekehrt die Bodenplatten zu seinen Füßen. Hierauf ließ L eine Pause verstreichen, ging mit seinen folgenden Worten jedoch nicht auf die These ein. „Du hast zweifelsohne mitbekommen, wie ich Rem unentwegt befragte. Ein Shinigami schreibt Menschen auf, obwohl die meisten dieser Wesen laut Rem sich nicht für unsere Welt interessieren. Warum machen sie es trotzdem? Um sich die Langeweile zu vertreiben oder um ihr Überleben zu sichern? Viele Dinge haben im Grunde ihrer Existenz einen an Naturgesetzen orientierten, kalkulierten Sinn, der sich empirisch deduzieren lässt, sonst hätten auch die Regeln der Shinigami keine Daseinsberechtigung. Sie können sterben, das habe ich, wie du weißt, herausgefunden. Rem erklärte außerdem, Todesgöttern sei es nicht gestattet, einem Menschen den Namen eines anderen zu verraten, um keine Verwirrung zu stiften. Ich habe mich gefragt, was wohl die Bestrafung dafür sein könnte, es trotzdem zu tun, was einen Shinigami denn davon abhielte. Ich vermutete, wenn Rem dir meinen Namen verraten sollte, dann würde er zur Strafe zu Sand zerfallen.“ „Todesgötter mischen sich nicht in unsere Belange ein“, wies Light entschieden ab und sah wieder zurück in Ls regloses Gesicht. „Wieso hätte Rem das tun sollen?“ „Ja, wieso hätte der Shinigami das wohl tun sollen...?“ Die Entgegnung klang, trotz der stimmlichen Monotonie, ein wenig ironisch. „Ich teilte ihm gestern mit, dass ich heute die beiden Kiras überführen würde und dass ich nicht beabsichtigte, den zweiten Kira seiner Taten für schuldig zu erklären, weil er vom ersten nur benutzt worden war. Um einen großen Fisch zu angeln, hängt man einen kleineren an den Haken und nimmt dabei in Kauf, den Köder zu verlieren.“ L wedelte unwirsch mit einer Hand in der Luft herum, als wollte er seine eigene Bemerkung beiseite wischen. „Was ich damit sagen will... es war quasi ein Deal, den man einem Kleinkriminellen unterbreitet, um an seinen Boss zu gelangen. In Rems Beisein habe ich beiläufig auch erwähnt, wir würden im Nebenraum aus Versehen einen Eimer Sand und Asche auskippen. Wenn ihm irgendwann danach sei, könne er sich das heute gern anschauen.“ Light ignorierte den spöttischen Tonfall seines Gegners und überlegte stattdessen, was er am gestrigen Abend vom Ermittlungszentrum wahrgenommen hatte. Keine Menschenseele war dort gewesen. Doch wie sah es mit einem überirdischen Wesen aus? Er war so sehr von Ls Fehlen in Beschlag genommen, dass er nicht darauf geachtet hatte, ob sich Rem oder das Death Note noch dort befunden hatten. „Ich nahm das Notizbuch an mich“, fuhr L gleichmütig fort, „woraufhin mir der Shinigami umgehend folgte, vielleicht nicht allein wegen der Gebundenheit an das Heft, sondern auch zur Bewachung meiner Handlungen. Es ist dir sicherlich bewusst, Light-kun, dass es in diesem Gebäude einige Zimmer gibt, zu denen nur Watari und ich Zugang haben. So hatte ich Gelegenheit, ein Gespräch mit dem Todesgott zu führen, das zwar wie stets zum größten Teil ein Monolog war, aber dennoch genügend Aufschluss gegeben haben sollte.“ „Warum?“, wollte Light wissen, wobei er sich ermahnte, mehr Kälte als Neugier an den Tag zu legen. „Was war dieses Mal anders als bei deinen anderen Befragungen?“ „Ein Todesgott ist genauso gut oder schlecht im Verstecken seiner Emotionen, wenn man sie denn als solche bezeichnen kann, wie ein Mensch.“ Als besäße seine Aussage inhaltlich einen doppelten Boden, durchdrang L den Jüngeren sowohl scharf als auch bitter. „Darüber hinaus gibt es sogar noch weitere Gemeinsamkeiten. Schon seit längerem hatte ich in dieser Richtung eine schwammige Vermutung, weil ich mich auf die Abweichungen konzentrierte, also auf all das, was keinen rechten Sinn ergab. Wie zum Beispiel konnte Kira Druck auf Higuchi ausüben, um ihn zu kontrollieren, sodass er Kriminelle tötete, obwohl er sich herzlich wenig um Gerechtigkeit zu kümmern schien? Erst recht, wenn Higuchi nur per Zufall in Besitz des Heftes kam, wie Rem dies behauptete? Wie sollte Kira ihm einen Befehl oder auch nur eine Nachricht zukommen lassen, damit dieser wusste, was zu tun war, und wieso hätte sich Higuchi überhaupt daran halten sollen? Die einzige Verbindung war der Todesgott, von dem Higuchi das Heft erhielt und der ihm offensichtlich klar machen musste, was Kira von ihm zu tun verlangte. Zum Zweiten...“ Vornübergebeugt, eine Hand erhoben, an der er in seiner Aufzählung bereits zwei Finger abgezogen hatte, blätterte L mit der anderen zügig durch die Akten, die er auf dem Tisch gestapelt hatte. „Wie konnte Misa-san damals, als sie Higuchi ein mehr oder minder nützliches Geständnis abrang, ihn von ihren Fähigkeiten überzeugen, damit er ihr abkaufte, sie sei der zweite Kira? Am Tag zuvor war sie bei Yotsuba vorstellig, musste dem Todesgott demnach sehr nahe gewesen sein. Bereits am Abend fiel mir eine Veränderung an ihr auf und am nächsten Tag befreite sie sich eigenmächtig aus Mogi-sans Aufsicht. Das waren verdächtig viele Zufälle auf einmal. Natürlich war Higuchi nicht gerade intelligent, doch selbst er hätte einen Beweis gefordert. Ich habe Watari die Zeit überprüfen lassen, in der Misa-san sich abgeseilt hat, und tatsächlich...“ L hob ein Aktenpapier hoch, mit der Fotografie eines korpulenten, glatzköpfigen Mannes. „Kaneboshi Ginzo, korrupt genug, um als verbrecherisch zu gelten, und genau die Art von Person, die Higuchi für einen Mord aussuchen würde. Kommt dir der Name bekannt vor, Misa-san?“ Das Mädchen presste die Lippen aufeinander und schwieg beharrlich. „Ich würde dir ja gern die Augenbinde abnehmen lassen, damit du dir das Foto anschauen kannst, aber ich fürchte, bei deinen jetzigen Fähigkeiten wäre das ein fataler Fehler. Der Genannte verstarb in der fraglichen Zeit von einigen Stunden an einem Herzinfarkt, doch sein Name“, erläuterte L und tippte dabei auf das Death Note, „steht nicht in dem Notizbuch von Higuchi. Das allein hätte ein Zufall sein können, aber ich habe Wedy neben dem Verwanzen der Autos darum gebeten, ein Backup seines medialen Bewegungsprofils zu erstellen. Er war mit Kaneboshi bekannt und hat dessen Leibwächter im entsprechenden Zeitraum sogar angerufen. Wozu hätte er das sonst tun sollen, wenn nicht zur Überprüfung seines Todes? Hätte Misa-san jedoch den Mord selbst ausgeführt, hätte sie ein Notizbuch des Todes besitzen müssen oder zumindest ein Stück daraus. Aber woher, wenn nicht von dem Shinigami selbst? Zudem, wenn der zweite Kira seine Erinnerungen und sein Death Note zurückerhalten hätte, wäre ihm sicher auch das Augenlicht erneut zugänglich gewesen, spätestens durch einen zweiten Handel, sollte die Wirkung des ersten aufgehoben worden sein. Misa-san war danach allerdings weiterhin in der Zentrale. Sie hätte meinen Namen sehen müssen. Nein, viel höher war die Wahrscheinlichkeit, dass nicht sie selbst, sondern wiederum der Todesgott den Mord für sie beging. Doch warum? Das war ein äußerst merkwürdiger Umstand, den ich lange nicht verstehen konnte.“ Zwischen seinen zusammengekniffenen Lidern starrte L ins Leere, als würde er seine eben beschriebene Irritation noch einmal durchleben. „Ich habe mir von da an“, fuhr er fort, indem er wiederum Light eindringlich musterte, „sobald du geschlafen oder mir keine Beachtung geschenkt hast, noch einmal die Videoaufzeichnung ihrer Gefangenschaft angesehen. Misa-san flehte uns an, getötet zu werden. Ich dachte damals, sie würde den Verstand verlieren, aber mit dem Gedanken daran, dass ihr Todesgott bei ihr war und sie nicht zu uns, sondern zu ihrem Todesgott sprach, ergab plötzlich auch das einen Sinn. Warum starb sie trotzdem nicht? Ein Shinigami tötet Menschen nach Gutdünken. Warum sollte er Skrupel haben, Misa-san zu töten? Ich schaute mir die Aufnahme Schritt für Schritt an, all die Stunden des Schweigens oder Flehens. Es war, als würde ich ein Telefongespräch vom Nebenraum aus belauschen, von dem ich nur die eine Hälfte hören konnte. Aber am Ende... verstand ich es.“ „Mir schwirrt der Kopf“, flüsterte Matsuda seinen Kollegen zu. „Wie kann Ryuzaki nach so einer Gedankenkette noch irgendetwas verstanden haben?“ „Rems unübersehbares Aufschrecken gestern bei Misa-sans Erscheinen“, resümierte L, „nicht zuletzt die Aussage über ihre Lebenszeit, all dies gab mir schon fast Gewissheit, dass Todesgötter womöglich doch nicht so unbeteiligt sind, wie sie erscheinen. Erst ganz zum Schluss, bevor eine Veränderung mit Misa-san vorging, war ich in der Lage, in den Videoaufnahmen den letzten Hinweis zu erkennen.“ Nachdenklich senkte L sowohl Stimme als auch Blick. „Damals hielt ich es bloß für einen Lufthauch, der durch Misa-sans Haare strich. Doch in diesem Moment wurde mir alles klar.“ Er schaute auf und fixierte Rem in sanfter Überraschung. „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Und was ich sah, war keine Gleichgültigkeit. Higuchis Shinigami hatte erstaunlicherweise eine starke Bindung zum zweiten Kira, nicht zum ersten. Eine wesentlich stärkere Bindung, als man hätte annehmen können. Auch wenn Rem kaum ein Wort sagte, war er mir in dieser Hinsicht eine große Hilfe.“ „Sie“, mischte sich die Todesgöttin knapp ein. „Hm?“ L blinzelte irritiert. „Ich bin ein Weibchen.“ „So? Entschuldigung.“ Sich aufrichtend schob L die Hände zurück in die Hosentaschen und ging auf seinen jungen Delinquenten zu. In seine Ausführungen vertieft umkreiste er ihn, sodass sich Light klopfenden Herzens so vorkam, als wäre er eine vom Jäger in die Enge getriebene Beute. „Du hattest Recht, Light-kun. Rem ist sehr einfühlsam und weichherzig. Warum hatte sie uns alle aus dem Ermittlungsteam nicht schon längst aus dem Weg geräumt, obwohl sie unendlich viele Gelegenheiten dazu hatte? Was du wolltest, war Rem unbestritten egal. Es ging allein um Amane Misa. Du musstest Rem dazu antreiben, es zu tun. Darum hast du den Verdacht auf Misa-san mit Absicht verstärkt. Ein weiteres Indiz, mit dem ich Rem in der vergangenen Nacht eine Erkenntnis vermitteln konnte, nämlich dass du skrupellos genug bist, um Misa-san jederzeit für deine Zwecke über die Klinge springen zu lassen. Ich teilte ihr mit, du würdest vermutlich einen solchen Plan anstreben. Sollte Rem als Teil dieses Plans sogar draufgehen, indem sie dir zum Beispiel verbotenerweise meinen Namen verriet, hätte sie nicht einmal mehr die Möglichkeit, Misa-san weiterhin zu beschützen. Ich fragte sie, ob sie das verantworten könne, wenn Misa-san ihr doch so wichtig sein sollte. Dies alles würde sich für Rem aber erst anhand deines heutigen Vorgehens zeigen. Darum erhielt ich von ihr weder eine Versicherung noch irgendeine Antwort.“ „Warum, Rem?!“, rief Misa fast hysterisch, nachdem sie in den letzten Minuten lediglich stumm  geweint hatte. „Ich kann ohne Light nicht leben!“ „Doch, das kannst du“, widersprach Rem in gelinder Schwermut. „Ich bin mir jetzt sicher, dass du es kannst. Yagami Light war damals überzeugt, du würdest seinetwegen den Tod wählen, wenn du ihn verlierst, und ich habe mich von ihm blenden lassen. Aber er irrt sich, denn mir wurde eine Option eröffnet, dies zu überprüfen.“ „Die Augen eines Shinigami“, bestätigte L mit einem Nicken, „das bedeutet, ein Mensch kann sehen wie ein Shinigami. Kennt er das Gesicht, kennt er auch den Namen der Person. Allerdings ist das nicht das Einzige. Rem sagte etwas davon, Misa-sans Lebenszeit habe sich erneut halbiert.“ „Wegen der Namen, die sie eingetragen hat?“, fragte Matsuda im vermeintlichen Begreifen, worauf Light unmerklich die Augen verdrehte. „Damit könnten die Verbrecher gemeint sein, die gestern an Herzversagen starben, indem allgemein der Besitz des Heftes die Lebenszeit durch jeden Eintrag eines Namens verringert.“ „Bei der Masse an Opfern?“, entkräftete Aizawa unwirsch die Argumentation seines Kollegen. „Falls Amanes Lebenszeit sich aus einem solchen Grund bereits mehr als einmal um die Hälfte verkürzte, hätte Kira selbst schon längst tot sein müssen!“ „Oh, ja stimmt.“ Kurzzeitig ließ Matsuda seine Waffe ein wenig sinken. „Außerdem passt es nicht zu Kiras Persönlichkeit, sich selbst derart ins Aus zu befördern“, ergänzte L und blieb vor Light stehen, um dessen ernsten und unnahbaren Blickkontakt zu erwidern, den die beiden Kontrahenten im Zuge der folgenden Erklärung kein einziges Mal trennten. „Erstens glaube ich, dass Kira, ähnlich wie ich, an seinem Leben hängt und es nicht sinnlos aufs Spiel setzt. Und zweitens braucht die Umsetzung seines Plans zur Verbesserung oder Vollendung der Menschheit oder der Kreation einer neuen Weltordnung unbestreitbar Zeit, die Kira nicht hätte, wenn er mit dem Notieren der Namen sein eigenes Leben vermindert.“ „Nun gut“, willigte Matsuda ein. Er wirkte ungewöhnlich introvertiert, als wollte er sich mental von der Situation distanzieren, um sich emotional nicht davon angreifen zu lassen. „Es gibt eine weitere Variante, die berücksichtigt, dass genau die Hälfte der Lebenszeit betroffen ist. Sobald man Eigentümer eines solchen Notizbuchs wird, könnte sich die Lebenszeit halbieren, quasi als Preis, den man zu Beginn bezahlen muss.“ „Das würde Sinn ergeben“, gestand L dem Polizisten zu, „wenn Misa-san einstmals ihr Besitzrecht aufgegeben und das Death Note danach wiedererlangt hat. Aber auch dieser Schluss stößt mich ab. So etwas hätte durchaus in den Regeln stehen können und Kira hätte das Buch mit dem Wissen darum vermutlich nicht verwendet. Nein, es ist etwas anderes.“ L sprach zügig und ohne Betonung, während er ungebrochen in die braunen Augen seines Partners schaute, selbst dann noch, als er sich im Folgenden an die Todesgöttin wandte. „Rem, du bist meinen Fragen bezüglich des Handels aus dem Weg gegangen. Du meintest, du könntest mir nicht sagen, welchen Preis er fordert. Warum sollte Kira auf eine solch machtvolle Waffe verzichten, wenn ihm der Preis dafür nicht zu hoch erschien? Warum hat Higuchi so lange gewartet und den Handel erst abgeschlossen, als er kaum noch eine Wahl hatte? Der zweite Kira besaß das Augenlicht, weil er für den ursprünglichen Kira alles getan hätte. Amane Misa würde ohne Zweifel ihr Leben für Yagami Light geben. Oder auch nur...“ L machte eine bedeutungsschwere Pause, die seinen nächsten Worten mehr Nachdruck verlieh. „...die Hälfte davon. Und das sicherlich auch ein zweites Mal.“ Lights Mimik ermöglichte keinerlei Aufschluss darüber, inwieweit L mit seinen Mutmaßungen richtig lag. Natürlich war dem jungen Mörder so nicht beizukommen. Den Bruchteil einer Sekunde umspielte ein leichtes Lächeln die Mundwinkel des Meisterdetektivs. „Wie auch immer“, redete L scheinbar teilnahmslos weiter, „allein aufgrund einer kopflos geäußerten Aussage konnte ich meine Hypothese nur auf Vermutungen bauen. Was aber die viel wichtigere Erkenntnis war, die ich aus meinen Überlegungen und später sogar aus meinen Befragungen gewinnen konnte, ist die Tatsache, dass Todesgötter über die Lebenszeit eines Menschen Bescheid wissen. Genau das ist es, was ich Rem gestern näherzubringen versuchte, damit sie stillhielt, sobald es ernst wurde und sich bewahrheitete, dass Kira sie benutzen will, um mich zu töten.“ „Es stimmt“, pflichtete diese ihm bei, „ich weiß, wie viel Zeit Misa noch bleibt.“ Jetzt endlich löste L die leer wirkenden Augen von seinem Delinquenten und richtete sie stattdessen auf die Todesgöttin. „Wenn ich dich anlüge, Rem, oder wenn es nicht stimmen sollte, dass Misa-san es verkraftet, Yagami Light zu verlieren, dann wirst du es anhand ihrer Lebenszeit überprüfen können. Sogar einen Selbstmord müsstest du erkennen können. Und wenn das so ist, dann kannst du es noch immer aufhalten, indem du alle tötest, die Misa-san Schaden zufügen wollen, einschließlich mir selbst.“ „Das ist nicht möglich“, verneinte Rem. „Du denkst zwar auf selber Ebene wie Yagami Light, aber du hättest ni...“ „Wie konntest du dir sicher sein, dass Rem dich nicht tötet?“, fuhr Light ihr dazwischen. „Das konnte ich nicht“, antwortete L sofort. Er trat näher an Light heran, starrte ihm unverwandt in die Augen und senkte seine ungewohnt sanft klingende Stimme. „Ich konnte nicht darauf vertrauen, Rem überzeugt zu haben. Diesmal habe ich nicht gelogen, Light-kun. Ich wusste es wirklich nicht.“ Nach wie vor wirkte das Geschehen auf ihn schwer greifbar, doch was Light hätte greifen können, befand sich direkt vor ihm, in seiner Reichweite. Er hätte nur seine Hand ausstrecken müssen, um L zu berühren und sich zu vergewissern, dass dieser tatsächlich kein Trugbild war. Light versuchte sein Herz zur Raison zu rufen und sich daran zu erinnern, in welch misslicher Lage er sich eigentlich befand. „Mit Rem zu sprechen“, erklärte L verhalten, „ihr Zugeständnisse zu machen und sie davon zu überzeugen, was für Misa-san das Beste sein würde, war der einzige Ansatz, den ich hatte, um an sie heranzukommen. Sollten meine Schlussfolgerungen nämlich stimmen, dann stand nur Rem der Umsetzung meines Plans im Weg.“ „Der zweite Kira muss nicht zwangsläufig mit der Todesstrafe belegt werden“, entgegnete Light etwas lauter, damit auch die Todesgöttin es hören konnte. „Es kann genauso gut sein, dass Misa lebenslang im Knast landet. Was soll das für ein Leben sein? Das ist nicht besser als der Tod. Hast du daran nicht gedacht, Rem? Du könntest schlichtweg übers Ohr gehauen worden sein.“ „Bestimmt nicht“, versicherte L scharf, „denn um Misa-san zu schützen, kann Rem völlig unberechenbar handeln. Wenigstens mich könnte sie aus Rache töten, wenn Misa-san inhaftiert werden sollte. Ich habe auch jetzt noch Angst, dass sie außer dir und Misa-san alle hier Anwesenden umbringt. Darum bleibt mir gar keine andere Wahl, als Misa-san zu verschonen, zumal sie, sobald dieser Fall vollständig abgeschlossen ist, keine wissentliche Verantwortung mehr für ihre Verbrechen übernehmen kann. Auch diesen Sachverhalt ließ ich vorher Watari mit den Polizisten besprechen und meinen Vorschlag diesbezüglich von ihnen absegnen.“ Während Rem dem Schlagabtausch der beiden Männer beiwohnte, grub sie sich verärgert ihre knochigen Krallen in die kreidebleichen Handteller. Ohne Respekt wagten es diese zwei schwächlichen Menschen, die Todesgöttin zu benutzen und sie auf irgendeinem absurden, imaginären Kriegsschauplatz wie eine Spielfigur hin- und herzuschieben, um sie gegeneinander ins Feld zu führen. Am liebsten hätte Rem auf der Stelle ihrer beider Namen in das Death Note eingetragen. Nach dem, was die Todesgöttin bisher von der diesseitigen Welt zu sehen bekam, bestand die größte Macht und das stärkste Band zwischen den Menschen offenbar allein aus Lügen. „Du solltest aufpassen, Light-kun“, ermahnte L seinen Partner mit einem flüchtigen Seitenblick auf das bedrohliche Geschöpf, „dieser Argumentation zufolge kann es genauso gut sein, dass Rem nur dich aus Eifersucht oder Wut tötet.“ „Ich hasse dich genug, Yagami Light“, ergriff die Genannte nun die Initiative, „um es wirklich zu tun. Aber ich weiß nicht, ob das einen Effekt auf Misas Lebenszeit haben würde.“ „Also verändert tatsächlich nur der Eingriff eines Shinigami respektive Death Notes die natürliche Lebensspanne eines Menschen“, fiel L verstehend ein. „Interessant.“ „Yagami Light.“ Die Todesgöttin baute sich vor dem jungen Mann auf, der kürzlich vorgehabt hatte, sie durch seine hintertriebenen Manipulationen zu vernichten. Zu ihrem Missfallen brachte dieser ihr jedoch keine Furcht, sondern nur seine übliche Arroganz entgegen. „Du wirst Misa niemals lieben. Und wenn ich sehe, wie sehr du hasst und zerstörst, was du liebst, dann ist das auch gut so. Aber ich werde Misa nicht aus den Augen lassen. Es war mein Fehler, dir damals zu offenbaren, dass ich mein Leben für sie opfern würde.“ „Opfern?“, fragte L neugierig. „Ich verstehe... deshalb wäre es dir nicht möglich, alle Leute hier umzubringen, weil du dafür gar keine Zeit hättest. Wie ich es vermutet habe, ist das die Konsequenz eines Regelverstoßes, die Auslöschung eines Shinigami, habe ich Recht? Aber warum? In Higuchis Wagen konntest du doch auch für Misa-san töten, nicht wahr?“ „Ja, das war ich.“ Rems Halswirbel gaben ein leises Knacken von sich, als sie in einer Geste der Bagatellisierung ihre Schultern nach oben bewegte. „Ein unbedeutender, wahlloser Tod, der nichts mit Misas Überleben zu tun hatte.“ „Mit ihrem Überleben...?“ Die schwarzen Augen des Detektivs weiteten sich interessiert. „Im Gegensatz dazu habe ich anscheinend Misa-sans Leben bedroht, zumindest sollte dir das suggeriert werden. Dennoch funktionierte das nicht, weil ich dir bereits versprach, Misa-san nichts zu tun, wenngleich du mir gestern noch kein Vertrauen schenktest. Heute hast du dich offenbar für das kleinere Übel entschieden, mit der besseren Aussicht für Misa-san.“ Die Todesgöttin deutete ein schwaches Nicken an. L musterte sie eine Weile mit aufgerissenen Augen, bis er sich wieder seinem Delinquenten zuwandte und beinahe verblüfft sagte: „Nicht viele Menschen würden sich trauen, den Tod auszutricksen, indem sie versuchen, ihn umzubringen. Kluger Schachzug, Light-kun. In diesem Fall haben dich die Todesgötter allerdings hintergangen. Denn am besten begegnet man dem Tod, indem man sich mit ihm anfreundet.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)