[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 48: Alter Ego --------------------- Alter Ego   „Lange nicht gesehen, Ryuk.“ Das todbringende Geschöpf mit dem immerwährenden Grinsen und dem von schwarzen Fetzen umhüllten Leib kicherte furchteinflößend. So trafen sie einander endlich wieder. Der Herrscher einer neuen Weltordnung und sein Todesgott, der ihm vom Schicksal selbst als Begleitung zur Seite gestellt worden war und der Kira mit der Kraft des Mordens das größte Geschenk seines Lebens gemacht hatte. „Es hat ein bisschen gedauert, aber es sieht so aus, als würden wir bald zu einem Abschluss kommen.“ „Light... es...“, begann Misa unsicher, während sie sich mit beiden Händen an ihrer Tasche festklammerte, „es tut mir leid.“ „Hm? Was ist denn, Misa?“ In Lights Stimme schwang sanfte Besorgnis mit, als ahnte er nicht, welches Geständnis ihr auf der Seele lag. Natürlich wusste er ganz genau, was sie ihm nun beichten würde. Laut den Anweisungen in seinem Brief hätte sie den echten Namen Hideki Ryugas längst aufschreiben müssen. Da der Detektiv nach wie vor lebte, war jener Fall eingetroffen, den Light mittlerweile insgeheim erhofft hatte. „Ich kann mich an Hideki Ryugas Namen nicht erinnern!“, platzte es aus Misa heraus. „Ich komme einfach nicht darauf... es tut mir leid.“ „Ach so“, reagierte Light mit Milde, obzwar ein wenig Betroffenheit vortäuschend, „das ist sehr schade.“ Gleich würde Misa ihm sicherlich erzählen, dass sie deshalb mit Ryuk einen erneuten Handel eingegangen war. „A... aber ich habe mit Ryuk das Augenlicht getauscht.“ „Was?! Das darfst du doch nicht“, rief Light in gespieltem Erschrecken, „dadurch verringert sich doch deine Lebenszeit!“ „Nein, ist schon in Ordnung.“ Das Mädchen schüttelte energisch die blonden Haare. „Ich möchte dir nützlich sein.“ „Misa, mehr noch als ich dich, die du den Tausch des Augenlichts für mich vorgenommen hast, für meine Zwecke verwenden möchte, fühle ich, dass es mir jetzt viel wichtiger ist, mit dir so lange wie möglich gemeinsam in einer idealen Welt zu leben.“ Besonders lang würde diese Zeit ohnehin nicht andauern, dachte Light amüsiert, zumindest nicht für Misa, schließlich hatte sich der Rest ihres Lebens schon zum zweiten Mal halbiert. „Light, ich bin ja so froh.“ Sie schmiegte sich vor Freude weinend in seine Arme, während Ryuk das Geschehen grinsend verfolgte. Ließ sich dieses Mädchen wirklich so leicht blenden? Oder kümmerte sie sich nicht darum, ob die Liebe ihres Erretters ernst gemeint war, solange er ihr nur das Gefühl gab, geliebt und gebraucht zu werden? „Es wäre bestimmt viel einfacher gewesen, wenn ich mich an den Namen erinnern könnte, nicht wahr? Es tut mir so leid!“ „Ist schon in Ordnung“, redete Light beruhigend auf sie ein und lächelte dabei verschlagen. Im Grunde genommen war es auf diese Weise besser. Die Ungewissheit, dass L in jeder Sekunde der letzten Tage hätte sterben können, sobald Misa dessen Namen in das Death Note eintrug, kam Light nun in aller nervenzerreißenden Deutlichkeit zu Bewusstsein. Warum hatte er diese Tatsache derart verdrängt? Schon am heutigen Morgen hätte Light beim Erwachen seinen geliebten Feind, erkaltet im ewigen Schlaf, in seinen Armen liegend vorfinden können. Doch nun brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Ls Tod würde nicht unerwartet geschehen. Noch hatten sie Zeit. Bei diesem Gedanken überflutete ihn, zusammen mit der zurückgewonnenen Kontrollmöglichkeit, unwillkürlich auch eine Welle der Erleichterung. Jeder Schritt, der den Meisterdetektiv fortan näher an sein Grab heranführte, würde ein Schritt sein, den Kira ihn sanft bei der Hand nehmend zu überwinden half. Er konnte L demnach so lange festhalten, wie er nicht bereit war, ihn gehen zu lassen. Nachdem Light seine Mitstreiterin weiter beschwichtigt hatte, erklärte er ihr, wie sie fürderhin vorgehen sollte. An diesem Abend noch würde der zweite Kira wieder zu morden anfangen. „Ich werde mich darum bemühen, dein Opfer nicht umsonst werden zu lassen, Misa.“ Nachdenklich legte Light die Stirn in Falten. „Es ist schwierig, die Sicherheitsvorkehrungen bis zu L zu überwinden, darum habe ich mir bereits einen anderen Plan überlegt. Falls du dennoch die Gelegenheit bekommen solltest, musst du besonders vorsichtig sein. Womöglich sind in diesem Fall ein paar weitere Vorkehrungen nötig. Also hör mir genau zu.“ Er lächelte Misa aufmunternd an, hütete sich allerdings davor, ihr zu offenbaren, welche andere Möglichkeit er sich ausgedacht hatte, um L zur Strecke zu bringen. Sicher würde sie den Verlust von Rem für Light verschmerzen, aber es war besser, wenn sie ihre ritterliche Vorstellung von ihm behielt. Es war wie in einer Partie Schach oder Go. Um wirklich gewinnen zu können, durfte man nicht nur über den nächsten und übernächsten Zug nachdenken, man musste weit im Voraus planen und auch die möglichen Spielzüge seines Gegners einkalkulieren. Selbstverständlich würde Light diese zusätzliche Absicherung nicht benötigen. Er brauchte nur einen kleinen Rückhalt für den Notfall.   Auf dem größten der Überwachungsmonitore wurde ein Ausschnitt des innersten Stadtplans von Tokyo angezeigt, in dessen Zentrum jene in der Bucht künstlich aufgeschüttete Insel Odaiba lag, die vornehmlich als Gewerbegebiet diente. Daneben waren auf den kleineren Bildschirmen jeweils Übersichten der tödlichen Unfälle und Krankheiten aufgeführt, die sich vor einem Jahr ereignet hatten. Lediglich auf dem letzten Monitor in der rechten oberen Ecke konnte man beobachten, was sich im Erdgeschoss des Fahndungsgebäudes zutrug, wo die beiden einstigen Hauptverdächtigen dicht beieinander standen und sich bloß zu unterhalten schienen. L entging nicht, mit welch finsterem Blick Rem das Szenario verfolgte, ebenso wie er selbst es tat. Soeben nahm Light das blonde Mädchen liebevoll in die Arme, wobei diese, wenngleich älter als ihr fester Freund, durch ihre kleine Statur noch unschuldiger und kindlicher wirkte als sonst. Konnte Light tatsächlich so plötzlich seine Meinung geändert und Gefühle für Amane Misa entwickelt haben, obwohl er sie zwei Monate lang höflich abgewiesen hatte? In der Rolle Kiras gäbe sein Verhalten hingegen keinerlei Rätsel auf. Dann würden selbst die anderen Frauen, mit denen er sich getroffen hatte, eine nachvollziehbare Funktion erfüllen. Konnte die Behauptung, dies sei alles nur zum Vergnügen geschehen, mit seinem ernsthaften Charakter in Einklang gebracht werden? L musste sich davor hüten, voreilige Schlüsse zu ziehen, nur weil ihm Lights Erklärungen sowie zugegebenermaßen auch seine eigenen diesbezüglichen Beobachtungen, die er im Moment durch die Überwachungskamera anstellte, auf äußerst irrationale Weise missfielen. Was konnte zudem der Grund für die offensichtliche Abneigung des Todesgottes sein? Immerhin war L nicht der Einzige, der mit stechenden Pupillen auf die Kameraaufzeichnung starrte und das Beisammensein der zwei vermeintlich ersten Kiras missgestimmt beobachtete, leider ohne eine ausschließlich kalkulierte Rechtfertigung dafür vorweisen zu können. War es vielleicht sogar denkbar, dass sich in dieser Hinsicht die Motivation von Todesgott und Meisterdetektiv einander ähnelte? Als Light seine sogenannte Freundin vor die Eingangstür begleitete, um sie zu verabschieden, schob sich L frustriert einen Löffel seines mit Früchten garnierten Puddings in den Mund. Die Fingerspitzen seiner anderen Hand blätterten indes durch die Seiten des Death Notes, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Glastisch lag. Jenes nachweislich nicht aus der Menschenwelt stammende Material fühlte sich fast wie normales Papier an, von glatter Struktur, aber trotzdem ein wenig rau oder eher vergilbt. Wenn man über die Seiten fuhr, hatte man das Gefühl, ein leichter Staubfilm bliebe an der Haut haften. Auch die Tinte, in welcher die Regeln geschrieben worden waren, bestand aus chemisch unbekannten Elementen. „Rem“, gewann L die Aufmerksamkeit des Todesgottes zurück und tippte mit dem Löffel auf die unzähligen Namen im Death Note, „hierauf kann man vermutlich mit jedem Schreibwerkzeug einen Effekt erzielen, nehme ich an?“ „Ich verstehe nicht, wie die Frage gemeint ist.“ „Füllfederhalter, Bleistift, Kugelschreiber, das würde alles funktionieren, um einen Menschen zu töten?“ „Ja. Alles, womit man einen Namen schreiben kann.“ „Unsichtbare Tinte?“ „Das weiß ich nicht. So etwas habe ich noch nie probiert.“ „Blut?“ Rem musterte den Detektiv irritiert und wiederholte bloß: „Alles, womit man einen Namen schreiben kann.“ Nach einem weiteren Löffel Pudding und den nächsten umgeblätterten Seiten hielt L argwöhnisch inne. Im Hintergrund passierte Light gerade die Fahrstuhltüren, während L den Löffel beiseite legte, das Death Note an den Kanten zwischen den Fingerspitzen hochhob und es dem Todesgott zeigte. „Aus der Seite hier in diesem mörderischen Notizbuch ist eine Ecke herausgerissen. Kann es sein, dass ein Mensch, dessen Name auf den ausgerissenen Teil geschrieben wird, ebenfalls stirbt?“ Angespannt vernahm Light, wie der Meisterdetektiv in gewohnter Scharfsinnigkeit genau jene Fragen stellte, die ihm auf Dauer zum Verhängnis werden würden. Wirklich clever, L, räumte er seinem Gegner respektvoll ein, aber das wird dir nichts bringen, weil du nicht weißt, dass Rem auf meiner Seite ist und dichthalten wird. Und in der Tat antwortete die Todesgöttin schlicht: „Ich habe das noch nie versucht, deswegen weiß ich das auch nicht.“ Aus zusammengekniffenen Augen begutachtete L skeptisch zuerst das skelettierte Geschöpf, dann das Heft in seinen Händen. Es war offensichtlich, dass Rem ihm auswich. Lag es zweifellos an irgendwelchen überirdischen Regeln, wonach ein Shinigami sich nur demjenigen anvertrauen durfte, der das Death Note selbst benutzte? Was hatte ein Gott des Todes bei Zuwiderhandlungen denn schon zu befürchten? „Wie sieht es damit aus, dass Todesgötter nur Äpfel essen?“, forschte L weiter nach, wobei er das Buch zurück auf den Tisch fallen ließ und sich ein Stück Nashi einverleibte. „Das ist nicht wahr!“, verneinte Rem entschieden. „In unserer Welt hat man sich das Essen so ziemlich abgewöhnt. Es gibt kaum Nahrungsmittel und die Verdauungsorgane der Todesgötter sind degeneriert. Wir haben uns eben so weit entwickelt, dass wir es nicht mehr nötig haben, etwas zu essen.“ L nickte verstehend. Das stellte eine gar nicht so uninteressante Information dar. Der Detektiv fragte sich, ob es Zufall gewesen war, was Kira ihm damals zur Ablenkung vermittelt hatte. Auf einem Obststück kauend wandte er sich nun lauter, obzwar etwas undeutlich sprechend, an seinen jungen Partner, der in der Mitte des Raumes stehen geblieben war. „Du bist ja schon wieder da, Light-kun.“ Aufmerkend reagierte der Angesprochene lediglich mit einem schweigenden Blick. „Da hast du nun endlich deine Freiheit zurückerlangt und bewegst dich trotzdem nicht aus der Zentrale heraus. Selbst wenn Misa-san dich besuchen kommt, stehst du nur einige Minuten mit ihr in der Eingangshalle herum. Dabei kannst du doch im wahrsten Sinne des Wortes draußen die freie Liebe praktizieren.“ Einen Moment sein Schweigen wahrend registrierte Light den unverhohlenen Sarkasmus in Ls Stimme. „Mir steht der Sinn noch nicht so recht nach Liebe“, formulierte er dann gleichfalls einen Seitenhieb auf ihre vorangegangene nächtliche Diskussion, indem er die Worte des Anderen benutzte. „Ich würde lieber warten, bis der Fall gelöst ist.“ Ein lautlos spöttisches Schmunzeln von sich gebend versenkte L seinen Löffel erneut in der weichen Puddingmasse. So viel zu der Aussage, Light habe seine Kontrolle längst aufgegeben. Es konnte sich doch unmöglich allein um eine Maßnahme handeln, mit welcher der Meisterdetektiv daran gehindert werden sollte, die Funktionalität des Notizbuchs zu verifizieren. L war nicht bewusst, dass er auf der Basis seiner unzureichenden Informationen gar nicht in der Lage war, den Grund hierfür in der Anwesenheit der Todesgöttin zu erahnen, die dem derzeitigen Besitzer des Death Notes hätte folgen müssen, sollte dieser sich zu weit entfernen. Nichtsdestotrotz durfte Light, unabhängig davon, dass er noch so viel Zeit wie möglich mit seinem Freund verbringen wollte, diesen darüber hinaus als Feind keine Sekunde aus den Augen verlieren. Aber war das überhaupt machbar? Grübelnd setzte er sich an eines der Datenverarbeitungsgeräte und betätigte mit raschen Bewegungen die Silbenzeichen der Tastatur. Vor wenigen Minuten noch hatte er Zeit mit Misa verbracht und generell konnten die beiden Gegner, seitdem sie nicht mehr mit Handschellen verbunden waren, gar nicht unentwegt beisammen sein. Außerdem hatte Light bewiesen, dass man selbst dann in der Lage war, einen Mord zu begehen. Woher sollte er die Sicherheit nehmen, dass L weder der Polizei noch Aiber oder Wedy Anweisungen erteilt hatte? „Es war also Zufall, als Higuchi dieses Heft aufhob“, sprach der Detektiv soeben auf Rems zuvor geäußerte Erklärung an. „Wieso sollte ein Todesgott überhaupt so ein Notizbuch in der Menschenwelt fallen lassen?“ Während er an einem Stück Netzmelone herumknabberte, das er mit seinen Fingerspitzen an den Enden festhielt, überlegte Rem. „Das hat keine besondere Bewandtnis“, antwortete sie schließlich langsam. „Einfach so. Aus Neugier. Oder zum Beispiel aus Langeweile.“ „Langeweile?“, mischte sich Herr Yagami empört ein, der bis eben noch von seinen Mitarbeitern dazu beglückwünscht wurde, zum stellvertretenden Direktor vorgeschlagen worden zu sein. „Unerhört! Unsere Welt soll in Angst und Schrecken geraten, weil jemand Langeweile hat?!“ Stumm lauschte Light der Unterhaltung, ohne sich dabei umzudrehen. „Daran ist nichts Oberflächliches, Yagami-san“, hörte er L mit ruhiger Stimme sagen. „Ganz im Gegenteil verbirgt sich darin eine starke Trieb- und Hemmkraft. Langeweile resultiert aus dem Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins. Was könnte schlimmer sein? Unterschätzen Sie das nicht.“ Daraufhin schwieg der Chefinspektor. Light starrte nachdenklich auf die Buchstaben und Hiragana der Tasten zwischen seinen reglosen Fingern. Am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, wie L weiterhin auf Rem eindrang, erwartungsgemäß derart präzise und unnachgiebig, wie es für ihn typisch war, sogar bei der Befragung eines todbringend göttlichen Wesens. Dennoch würde der Meisterdetektiv keine Chance haben gegen die Übermacht seiner Gegner. Ein Lächeln, das den restlichen Anwesenden verborgen blieb, schlich sich auf Lights Lippen, verschwand allerdings sogleich wieder, während sich seine Augenbrauen ernst senkten. Eine Übermacht? Würde Kira auf diese Weise von Angesicht zu Angesicht gegen L gewinnen? Light sträubte sich gegen den unterschwelligen Wunsch, seinem Widerpart durch mehr Fairness den nötigen Respekt zu zollen. Das war doch Unsinn. Alles geschah nach Kiras Plan und somit nach seinem Willen und Wirken. Wen auch immer er zur Umsetzung dieses Plans verwendete, jeder war nicht mehr als ein Medium, eine Waffe oder ein Werkzeug seines eigenen Handelns. Es war eine unumstößliche Tatsache, dass trotz ihrer mentalen Verbundenheit auch L mit einer erfolgreichen Lösung des Falles Kira ans Messer liefern musste. Einer der beiden Kämpfer würde wohl oder übel sterben müssen, und zwar durch die Hand des anderen. „Wenn ihr Menschen tötet“, wollte L nun in teilnahmsloser Stimmlage von Rem wissen, „tut ihr das dann auch aus Langeweile?“ „Manchmal schon.“ Sie überlegte, ob diverse Offenbarungen über die Welt der Todesgötter schädlich sein konnten, doch eigentlich hatte keine Information in dieser Richtung etwas mit Misa zu tun. Außerdem lenkte eine solche Thematik womöglich diesen merkwürdig aufdringlichen Mann von weiteren, tatsächlich heiklen Fragen ab. Aus diesem Grund erläuterte Rem ausführlicher: „Das Interesse an euch ist unter uns mittlerweile sehr gering ausgeprägt. Zwar ist es nötig, ab und zu jemanden zu töten, aber es verschafft uns nicht zwangsläufig Genugtuung oder etwas Ähnliches. In den meisten Fällen fehlt uns der Bezug zu unserem Opfer. Deshalb kann es so gut wie ausgeschlossen werden, dass wir vorsätzlich und nicht völlig willkürlich morden.“ „So gut wie?“, wiederholte L fragend, doch Rem blieb desinteressiert und war nicht gewillt, weiter darauf einzugehen. Genervt kniff der Detektiv die Augen zusammen. „Du sagst, es sei nötig, dass ihr Menschen ermordet. Warum?“ Die schlitzförmige Pupille durchbohrte L scharf. Dieser ließ sich davon nicht abschrecken, während er abwartend den Rest seines Puddings auflöffelte. „Wir sind Todesgötter“, antwortete Rem schlicht. „Wir morden nicht, wir töten. Das liegt in unserer Natur.“ „Das heißt dann wohl, das Töten ist die Voraussetzung für eure Existenz“, stellte L gleichmütig fest. „Könntet ihr etwa nicht existieren, wenn ihr keine Menschen umbringt?“ Er ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen, legte den Löffel beiseite und biss stattdessen nachdenklich auf seinen Daumennagel. Murmelnd kombinierte er die eben vernommenen Fakten. „Wie Raubtiere, die zum Überleben ihre Beute erlegen. Shinigami besitzen degenerierte Verdauungsorgane. Obwohl sie Nahrung zu sich nehmen können, sichert das nicht ihren körperlichen Haushalt. Zwar handelt es sich um übernatürliche Gegebenheiten, doch wenn man den Energieerhaltungssatz auf diese irrealen Sachverhalte ausdehnt, könnte man davon ausgehen, dass selbst ein Shinigami nicht ohne die Zufuhr von Energie auskommt. Energie, extrahiert aus einem Menschenleben.“ Rem reagierte nicht auf die Spekulationen des Meisterdetektivs. Sie stritt sie allerdings auch nicht ab. Ein neugieriges Lächeln legte sich auf Ls Lippen, als er fragte: „Wenn ein Shinigami keine Menschen mehr tötet, verhungert er dann?“ Die Formulierung kam Rem seltsam vor, dennoch traf jene Vermutung genau ins Schwarze. Anhand ihrer Mimik konnte L erkennen, dass er richtig lag. Es war spannend, zu beobachten, wie man mit Verhörstrategien sogar einem tödlichen Monster Informationen entlocken konnte. L war auf seiner Laufbahn schon einigen Vertretern dieser Spezies begegnet, auch wenn sie sich normalerweise in einem Menschenkostüm versteckten. „Das heißt, selbst Todesgötter können sterben?“ Wieder erfolgte keine Reaktion, doch L störte sich nicht daran, denn glücklicherweise gehörte Rem zu jener Kategorie von Persönlichkeiten, die bei einer Vernehmung auf scheinbar bewiesene Indizien hereinfielen, wenn man sie nur mit genügend suggestiver und provozierender Selbstverständlichkeit vortrug. „Wie geschieht das?“, wollte L auf enervierende Art wissen. „Sobald eure Zeit gekommen ist, was geschieht dann mit einem Shinigami?“ Light hätte eingreifen können. Er starrte auf den Computerbildschirm, ohne ihm wirklich Beachtung zu schenken, während er aufmerksam der Befragung lauschte. Was Rem über die Welt der Todesgötter verriet, konnte ihm sicher nicht gefährlich werden. Mit dieser Entschuldigung tröstete er sich darüber hinweg, dass er seinem Partner nicht dazwischenfunken wollte, weil er ebenfalls gespannt war, ob L es schaffte, Rem zu knacken. „Ihr seid doch auf Menschen angewiesen, nicht wahr? Was würde passieren, wenn euch die Leute ausgehen, die ihr über die Klinge springen lasst? Geht ihr in Flammen auf?“ L begleitete seine Aussage mit einer übertriebenen pantomimischen Untermalung. „Oder verabschiedet ihr euch mit einem großen Knall?“ „Wir zerfallen“, antwortete Rem endlich mit schneidender Stimme. „Wir zerfallen zu Staub.“ Mitten in seiner Geste hielt L inne. Er betrachtete mit weit geöffneten Augen das grauenerregende Geschöpf und meinte dann: „Das klingt betrüblich.“ Seine Arme senkend langte er nach der von seinem Pudding gepflückten Kirsche, die als Letztes auf dem fast leeren Dessertteller lag. „Zum Töten von Menschen können Todesgötter auf unsere Welt herabschauen“, fasste er zusammen, wobei er die Kirsche am Stiel in der Luft baumeln ließ. „Das Augenlicht zu besitzen heißt, den Namen eines Menschen bloß anhand seines Gesichtes zu kennen. Verstehe ich das richtig, Rem, dass du zum Beispiel von mir den wahren Namen weißt?“ Bei diesen Worten hatte Light das Gefühl, sein Herz würde ins Straucheln geraten. Er drehte sich auf dem Stuhl herum und konnte gerade noch sehen, wie Rem bedächtig nickte. „Und du könntest meinen Namen einfach laut aussprechen?“, fragte L unbekümmert weiter. „Du könntest ihn zum Beispiel ihm dort verraten?“ Er deutete mit seiner hängenden Kirsche auf Light. „Oder dem Mädchen, das vorhin noch hier war?“ „Nein!“, entgegnete Rem entschieden. Böse starrte sie den Detektiv an, der mit seinen Fragen offensiv auf Misa abzielte. „Todesgöttern ist es nicht gestattet, den Namen oder die Lebenszeit von Menschen zu verraten. Das würde unter euch nur Verwirrung stiften.“ „Lebenszeit?“, bohrte L aufhorchend nach. „Ihr wisst auch über unsere Lebenszeit Bescheid?“ Einen kurzen Moment schloss Light in Selbstironie die Augen. L war echt unglaublich. Würde man ihm genügend Zeit zur Verfügung stellen, brächte er wahrscheinlich auch noch das letzte Detail aus Rem heraus, die seinen Fragen hilflos ausgeliefert zu sein schien. Obwohl es ihm selbst an den Kragen gehen konnte, waren es diese Fähigkeiten, für die Light den Meisterdetektiv bereits bewundert hatte, als er ihn lediglich aus den Erzählungen seines Vaters kannte. Nachdem er wie erwartet keine Antwort erhalten hatte, fuhr L fort: „Ein Shinigami benötigt demzufolge, ebenso wie ein menschlicher Benutzer, Gesicht und Namen einer Person.“ „Das ist korrekt“, gab Rem nach kurzem Zögern zu. „Du meintest, die Regeln seien überall dieselben, auch jene, die für die Menschen verfasst wurden. Das bedeutet, die Death Notes sind ursprünglich zum Gebrauch für die Todesgötter bestimmt, richtig?“ L ließ die Kirsche über dem Notizbuch kreisen wie ein Wahrsager sein Pendel über einer geografischen Karte. „Ähnlich einem ganz normalen Menschen braucht ihr zum Töten ein solches Heft hier.“ „Und ich dachte ja“, warf Matsuda erstaunt ein, „so ein Todesgott könnte jemanden einfach mit einem bösen Blick zur Strecke bringen.“ Als Rem den jungen Polizisten mit einem ebensolchen Blick bedachte, duckte dieser sich ängstlich hinter seine Kollegen. Ihr grimmiges Schweigen indes war dem Meisterdetektiv Antwort genug. „Nein, Matsuda-san.“ L steckte sich die Kirsche mitsamt Stiel in den Mund und redete nuschelnd weiter. „Ich bin mir sicher, dass meine Vermutung zutrifft.“ „Warum gerade auf diese Weise?“ Herr Yagami rückte nachdenklich seine Brille zurecht. „Wozu ein Name?“ Ein unverständliches Brummen von sich gebend schien L noch auf etwas herumzukauen. Er beugte sich über seinen Dessertteller und spuckte die Überreste der Kirsche darauf. Irgendwie hatte er es geschafft, den Stiel der roten Frucht um ihren Kern zu knoten. Sofort wandte Light seinen Blick ab. Er drehte sich auf dem Stuhl herum, starrte angespannt auf den Desktop seines Computers und auf irgendein Programm, das dort geöffnet war. Derweil erhob sich L abrupt, nahm das Death Note an einer Ecke hoch und trug es mit schleppenden Schritten zu einem freien Computer hinüber, während er erklärte: „Ein Name kann von höchster Bedeutung sein, Yagami-san. Da wir in erster Linie kommunikative, das heißt sprachliche Existenzen sind, verleiht in diesem Sinne erst die Bezeichnung einem Subjekt Wirklichkeit. Ohne Namen besitzt nichts eine Substanz.“ L hockte sich unweit des Studenten auf einen Drehstuhl und tippte im Sprechen einige Male scheinbar wahllos gegen das Mikrofon neben der Tastatur. Aus dem Augenwinkel schaute Light verstohlen zu ihm hinüber. Dessen Aussagen hatten ihn unwillkürlich an eines ihrer Gespräche erinnert, das sie vor mehreren Wochen geführt hatten, eine der zahlreichen Unterhaltungen ihres einvernehmlichen Verstehens. Damals hatte Light in seiner Wut, die er angesichts der Tatenlosigkeit des Meisterdetektivs empfand, die Kontrolle verloren und ihn aufgebracht im Badezimmer unter kaltes Wasser gestellt. Es war das erste Mal, dass er seinen Freund umarmte. Jetzt schien das alles schon Ewigkeiten her zu sein. Doch hatte sich seitdem in einiger Hinsicht nichts geändert. „Nun zu der Verwendung eines derartigen Notizbuches...“, fuhr L teilnahmslos fort, „oft ist das Wort die stärkste und grausamste Waffe des Menschen. Was ein einzelnes Buch anrichten kann, ist für uns unbegreiflich. Allein religiöse Schriften wie die Bibel haben es geschafft, in ihrem Namen Tausende dahinzuraffen. Das Einzige, was man dafür benötigt, ist die Macht einer solchen Waffe und eine einfache Rechtfertigung. Derweil steht ein Todesgott über all dem wie der Herr der Fliegen und schaut zu, was selbst aus Kindern werden kann, wenn man ihnen das Steuer überlässt. Erst dann offenbart sich die Grausamkeit und Verzweiflung des Menschen.“ L wedelte mit dem Heft zwischen seinen Fingern in der Luft herum, bis er es achtlos neben sich auf den Tisch fallen ließ, um nach seiner Kaffeetasse zu greifen. „Dieses Notizbuch ist die wohl tödlichste Waffe der Welt. Und sie zerstört am meisten denjenigen, der sie sich zunutze machen will.“ Schweigend vernahm Light die Worte des Meisterdetektivs. Abgesehen von einem leichten Lächeln zeigte er hierbei eine fast vollkommen ausdruckslose Miene. Du irrst dich, L. Nicht das Death Note zerstört mich, dachte er voll bitterer Ironie. Du tust es. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)