[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 17: Achtung ------------------- Achtung Die morgendliche Sonne erhellte bereits ganz Tokyo, doch drang ihr Licht nicht bis in das Herz der Ermittlungszentrale. Der Hauptüberwachungsraum besaß keinerlei Fenster, sodass sich nur die Computerbildschirme in den Augen der Anwesenden widerspiegelten. Light reckte seine Arme in die Luft, um seinen Nacken zu entspannen. Manches Mal hallte noch die Frage in seinem Inneren nach, die ihm L am Abend zuvor mit leiser Stimme gestellt hatte. Warum diese Worte eher aufwühlend als beruhigend auf Light gewirkt hatten, konnte er sich selbst noch nicht erklären. „Die Zeitung“, sagte Mogi knapp, der soeben hereintrat und die Nachrichten des Tages auf den Tisch legte. Light griff danach und überflog die Anzeigen, während er sich neben L auf einen Drehstuhl setzte. Als er fündig geworden war, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hielt L die Zeitung entgegen. „Für den Text bist du verantwortlich, nehme ich an?“ Desinteressiert warf L einen Blick auf den Artikel, infolgedessen er gleichzeitig nickte und mit den Schultern zuckte. „Ich wette“, mutmaßte Light schmunzelnd, „wenn Matsuda das sieht, wird er die Meldung viel zu unscheinbar finden.“ Mogi kam erneut zu ihnen und stellte ein kleines Tablett zwischen die Tastaturen, bevor er sich schweigend an einen der Rechner setzte. „Er hat nicht begriffen, warum er hier ist“, meinte L in gelangweiltem Ton. Verwundert schaute Light zu seinem Partner hinüber und versuchte den Inhalt von dessen Aussage richtig zu interpretieren. „Sprichst du von Matsuda? Er kann uns sicher noch immer eine Hilfe sein, auch wenn er als Misas Manager am besten geeignet war.“ „Eben das hat er nicht begriffen.“ L tippte mit etwas ungelenken, aber verblüffend schnellen Bewegungen auf den Tasten seines Computers herum, während er weitersprach. „Er macht seine Leistung vom Vergleich mit den anderen Sonderermittlern abhängig, obwohl jede Rolle ihre Bewandtnis und Wichtigkeit hat. Selbst wenn er für keine einzige Arbeit geeignet wäre, würde allein seine damals getroffene Entscheidung ihn zu einem Mitglied dieses Teams machen.“ Light hörte der Erklärung des Detektivs zu und stellte in der Zwischenzeit die beiden Tassen Kaffee von dem Tablett herunter, bevor er Ls Gedankengang präzisierte. „Was du eigentlich damit sagen willst, Ryuzaki, ist doch die Tatsache, dass Matsuda nicht geringer geschätzt wird, nur weil er seiner Meinung nach weniger gebraucht wird oder weniger Leistung bringt.“ Light öffnete eine der Kondensmilchpackungen und kippte ihren Inhalt in jene Kaffeetasse, die nur halb gefüllt war. „Schließlich sollte jeder Mensch gleichermaßen anerkannt werden.“ L starrte weiterhin konzentriert auf den Computerbildschirm, doch seine Mimik nahm einen leicht genervten Ausdruck an. „Nichtsdestotrotz gehen viele davon aus“, sagte er monoton, während Light noch zwei weitere Milchpackungen in den Kaffee kippte, „dass es festgelegte Eigenschaften des Menschen gäbe, für die er geachtet werden müsste. Zum Beispiel seine Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, sich selbst Gesetze vorzugeben, oder die Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung, zur Vernunft, zum moralischen Handeln. Es zeugt schon fast von absichtlicher Blindheit, wie viele Menschen ständig vergessen, dass all diese Eigenschaften jedem in unterschiedlichem Grade zukommen.“ „Wenn man sich auf solche positiven Aspekte beruft, um die Anerkennung des Einzelnen zu rechtfertigen“, griff Light den Faden auf, „dann macht man den Einzelnen abstufbar, nicht wahr? Derart orientierte Theorien begründen also nicht, warum alle die gleiche Achtung verdienen, weil allein das Menschsein im Mittelpunkt stehen sollte.“ Mit einer Zuckerzange warf Light langsam und in seine Überlegungen vertieft Würfelzucker in den Kaffee. „Das ist vergleichbar mit der Strafmilderung bei Reue“, fügte er dann hinzu. „Ein Verbrecher erhält nicht deshalb ein Recht auf basale Anerkennung, da er die Fähigkeit besitzt, sich zu bessern. In diesem Fall würden wir einen Verbrecher nämlich nur deshalb nicht verachten, weil wir davon ausgehen müssten, dass er vielleicht seine Taten bereut und in Zukunft nichts Schlechtes mehr tut. So wäre ein richterlicher Beschluss und dessen Unumstößlichkeit aber völlig sinnlos.“ „Du hast Recht, damit könnte man das Ganze nämlich auch herumdrehen und anfangen, Menschen wegen ihrer Eigenschaften oder Möglichkeiten zu verurteilen. Überall lassen sich kriminelle Potenziale finden. Oft genug sind die Zeichen schon überdeutlich, bevor tatsächlich etwas passiert.“ Nachdem Light fünf Zuckerstücke in den Milchkaffee fallen gelassen hatte, schob er die Tasse wie stets zu L hinüber. „Danke, Light-kun. Gehen wir also davon aus, dass ein Mensch nicht wegen seiner Fähigkeiten geachtet werden soll, führt uns das ja nicht zwangsläufig zu einer nihilistischen Konklusion. Menschen haben einen Wert an sich, für den wir sie anerkennen, nicht aufgrund irgendwelcher Eigenschaften.“ „Das ist wie mit dem Geld“, klinkte sich plötzlich Aiber, der neben ihnen aufgetaucht war, in das Gespräch ein. „Es handelt sich nur um läppisches, unbedeutendes Papier oder Metall. Und dennoch ist es für den Menschen von unschätzbarem Wert.“ Der großgewachsene Mann lehnte sich grinsend gegen das Überwachungspult. „Das liegt aber nur an der nahezu uneingeschränkten Tauschbarkeit“, erwiderte Light. „Deshalb ist es kein passender Vergleich für das menschliche Individuum, gerade wegen der Unverrechenbarkeit des Einzelnen.“ „Sie denken mal wieder zu materialistisch“, setzte L ebenfalls dagegen. „So gesehen hat Geld nämlich gar keinen Wert an sich.“ „Es ist nur ein Schuldschein, den wir immer und immer wieder eintauschen können.“ „Darum kann es auch so schnell an Gehalt verlieren.“ „Weil Geld nur so viel Wert hat, wie wir ihm zuschreiben.“ „Schon gut, schon gut!“, unterbrach Aiber den Wortwechsel der beiden jungen Männer. Beschwichtigend hob er die Hände, wobei er charmant lächelte. „Gleich von zwei Seiten angegriffen zu werden, klärt die Fronten zwar schneller, löst den Konflikt aber nicht so ehrenvoll, ist es nicht so?“ Daraufhin trank L gleichgültig seinen Kaffee und überließ Light die Diskussion. „Ursprünglich entstand Papiergeld als Tauschschein für Gold“, richtete sich dieser nun mit seiner Ausführung an Aiber. „Doch heutzutage ließe sich das ganze Geld nicht mehr durch Gold tauschen, weil die Ressourcen dafür fehlen. Das geht sogar noch weiter. Wir könnten die Zahlen des angeblich verfügbaren Geldes niemals mit dem tatsächlich vorhandenen Geld in Einklang bringen.“ „Tja, es ist eben alles nur eine große, gut durchdachte Lüge“, meinte Aiber belustigt. „Wenn jeder Mensch zu seiner Bank laufen würde, um einzufordern, was ihm gebührt, dann stünden wir vor einem echten Problem.“ „Das ist leider wahr. Womit wir handeln, sind nur Zahlen und Daten und unterschriebene Absprachen“, fasste Light mit einem Nicken zusammen. „Wirtschaft funktioniert allein durch gegenseitiges Vertrauen und die Unterstützung, die wir anderen aufgrund unserer eigenen Sorge ums Überleben zukommen lassen. So merkwürdig das auch klingt, aber wir haben unsere Wirklichkeit längst der materiellen Welt enthoben. Der tatsächliche Wert, die echte Bedeutung ist nicht greifbar.“ „Ist das nicht auch eine Art von Magie?“, fragte L rhetorisch und stellte hierbei seine geleerte Tasse zurück auf den Tisch. „Sich von etwas kontrollieren zu lassen, das eigentlich gar nicht existiert?“ Die ganze Zeit, in der Light mit Aiber gesprochen hatte, war Ls Blick nicht von seinem jungen Ermittlungspartner gewichen. Stets folgte er dessen Worten aufmerksam, häufig sogar mit bewusster Offensichtlichkeit. Es war L egal, ob Light seine Beobachtungen bemerkte. Er hatte es nicht nötig, sein Interesse an einem Verdächtigen zu verbergen, auch jetzt nicht, als dieser sich ihm zuwandte und ihn unbefangen musterte. L glaubte zu erkennen, welche Frage in den klaren braunen Augen lag: Was willst du wirklich mit deinen Worten und Taten andeuten? Zum Teil hatte der Meisterdetektiv mit dieser Vermutung Recht, da Light stets den doppelten Boden hinter Ls Aussagen erkannte. Allerdings lag er dieses Mal nicht zu hundert Prozent richtig. Was Light stattdessen durch den Kopf ging, war eine Frage, die er L nicht stellen konnte: Merkst du nicht, dass du vielleicht mehr sagst, als dir selbst bewusst ist? Nach einem einvernehmlichen Schweigen erkundigte sich Light schließlich unvermittelt: „Worüber sprachen wir eigentlich am Anfang?“ In diesem Moment kam Matsuda in den Überwachungsraum, begrüßte alle Anwesenden und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Mogi deutete auf die Zeitung, die noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Sofort griff Matsuda danach und starrte verblüfft auf die Meldung. „Die ist ja winzig.“ Nach der Profilaufstellung aller wichtigen Mitglieder der Yotsuba Group wusste man in der Sonderkommission nun, mit wem man es im weiteren Verlauf des Falles zu tun haben würde. Aiber sollte unter dem Deckmantel von Ls Pseudonym als Erald Coil mit einem Vertreter des Konzerns Kontakt aufnehmen. Derweil konnte Wedy die nächsten Tage nutzen, um das Firmengebäude unbemerkt zu infiltrieren. Der kommende Freitag würde ihnen Klarheit bringen. Light konnte kaum glauben, wie schnell die Entwicklungen zum jetzigen Zeitpunkt voranschritten, nachdem zuvor zwei Monate der Ziellosigkeit vorübergegangen waren. Während L gerade die Handschellen löste, damit sie sich für die Nacht fertig machen konnten, überlegte Light, ob ihr bisheriges systematisches und umsichtiges Vorgehen möglicherweise zu wenig Initiative für einen raschen Erfolg geboten hatte. Die waghalsige Aktion Matsudas hatte bewiesen, dass es auch anders ging. Allerdings war dessen Motivation nicht korrekt gewesen, sonst hätte er nicht riskiert, das gesamte Ermittlungsteam in Gefahr zu bringen. „Ich frage mich“, sagte Light langsam, während er sich umzog, „ob Matsuda die Anerkennung im Team wichtiger war als die Aussicht auf Erfolg oder Misserfolg seiner Handlung.“ „Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Antwort deine These bejahen, Light-kun.“ „Dann sind wir wohl selbst daran schuld, dass das passiert ist.“ Nachdenklich setzte sich Light an den Rand des Bettes und massierte sich mit einer Hand seine Schultern, wobei er hinzufügte: „Anerkennung ist reziprok. Wenn Matsuda sich gewünscht hat, eine größere Rolle bei den Ermittlungen zu spielen, dann sicherlich nur deshalb, weil wir ihm bisher nicht die Beachtung zukommen ließen, die er eigentlich verdient.“ „Für solche Kindereien haben wir keine Zeit“, meinte L knapp und stieg hinter ihm ins Bett. Ohne sich umzuwenden sprach Light weiter. „Aber Anerkennung ist etwas, wonach ein Mensch strebt, weil er eine Berechtigung und einen Sinn für sein Leben erhalten will. Dabei geht es nicht bloß um die grundlegende Anerkennung als Person, über die wir vorhin geredet haben, sondern um eine Achtung, die durch Leistungen erwirkt wird. Werden diese Anstrengungen ignoriert, kann das eine größere Belastung darstellen als offensive Abwertung. Einen anderen zu verleugnen setzt voraus, dass man ihn vorher wahrgenommen hat.“ Plötzlich spürte Light die Hände seines Partners an seinen Schultern und erschrak leicht. L hatte sich hinter ihn gehockt und begann nun damit, dessen Nacken zu massieren. Seine Handgriffe waren geübt, als würde er das nicht zum ersten Mal tun. Indes entgegnete er gleichgültig: „Wir hätten es kommen sehen müssen. Gerade wegen Matsudas Charakter hätte ich ihn nicht aus den Augen verlieren dürfen. Er hat oft mehr Glück als Verstand, was diesmal unser Vorteil war.“ L fuhr mit einigem Druck über Lights Schulterblätter, sodass dieser seinen Rücken straffte. „Er fühlt sich von uns vermutlich einfach übersehen, Ryuzaki.“ „Unsinn. Wenn er mal ein bisschen nachgedacht hätte, wäre ihm bewusst geworden, dass wir ihn gar nicht übersehen können. Er ist ein Mensch und als solchen nehmen wir ihn auch wahr. Das ist keine Entscheidung unseres Willens, sonst hätte ich ihm nicht die Aufgabe zugeteilt, die er letztendlich so ungehemmt ignoriert hat.“ „Eben das ist das Problem. Da Matsuda davon ausgehen muss, dass wir ihn als Mitglied des Teams anerkennen, wird er glauben, seine vermeintlich untergeordnete Rolle wäre von unserer Seite aus beabsichtigt.“ „Warum interessiert dich das überhaupt?“ Ls Stimme wurde ein wenig missmutig. Mit seinem festen Griff schaffte er es, genau die Stellen in Lights Nacken zu treffen, die diesem am meisten wehtaten. Seine Hände waren unnachgiebig, aber dennoch nicht grob, sondern agierten vielmehr in gefühlvoller Gewalt. Light fragte sich, ob L wütend war. „Aus Höflichkeit willst du zum Beispiel Amane Misa nicht für unsere Zwecke missbrauchen, ist es nicht so? Trotzdem fällt es dir nicht schwer, sie die meiste Zeit schlichtweg links liegen zu lassen.“ „Das ist doch etwas völlig anderes.“ „Wenn du meinst... Entspann dich, Light-kun. Du bist viel zu verkrampft.“ Der Angesprochene atmete hörbar aus und konzentrierte sich darauf, den Schmerz oder das Gefühl von Ls Händen auf seinen Schultern auszublenden oder deutlicher wahrzunehmen, vielleicht auch beides gleichzeitig. Er fühlte sich unwohl, obgleich er die Berührungen mochte und die Gefälligkeit trotz seiner Anspannung genoss. „Es ist bloß so...“, versuchte Light zu erklären, „ich habe mich gefragt, wenn die meisten Menschen nach Anerkennung streben, die nicht basal, sondern individuell ist... wonach strebst du dann? Welchen Sinn verfolgt das Leben von L, dem weltbesten Detektiv, der seine wahre Persönlichkeit im Verborgenen hält und darum kaum die Anerkennung erhalten wird, die ihm eigentlich zusteht?“ Ls Hände kamen zur Ruhe. Eine Antwort blieb er seinem Partner allerdings schuldig. Stattdessen spürte Light, wie L kurzentschlossen nach dem Saum seines Hemdes griff und es ihm über den Kopf streifte. Bevor Light dazu kam, seiner Überraschung Ausdruck zu verleihen, wurde er bereits an den Schultern gepackt und fand sich auf dem Bett liegend wieder. Für einen Moment wurde ihm schwindlig. Atem und Herzschlag beschleunigten sich. „Solange du dich nicht entspannst, bringt das gar nichts“, wies L ihn zurecht und schaute von oben auf ihn herab. Seine nächste Forderung klang, angesichts der Lage seines jungen Partners, eher paradox. „Leg dich bitte hin, Light-kun.“ „Du musst das nicht tun.“ „Leg dich hin“, wiederholte L ungerührt. Seufzend kam Light der Bitte nach, die eher wie ein Befehl geklungen hatte. Er drehte sich um und bettete den Kopf auf das Kissen, woraufhin L mit geschickten Fingern Lights Rückgrat hinabfuhr. Auf der nackten Haut fühlten sich seine Hände eiskalt an, was vielleicht der Grund dafür war, dass Light kurz erschauderte. Mit dem Druck seiner Fingerspitzen zeichnete L die einzelnen Rippenbögen nach und räumte dabei emotionslos ein: „Ich verstehe, was du mir sagen willst.“ Das bezweifelte Light. Zumindest war es eindeutig, dass L nicht darauf eingehen wollte, falls er tatsächlich begriff, worum es hier ging; nämlich nicht um irgendjemanden, sondern um ihn selbst. L würde es mit Sicherheit verleugnen. Und die folgenden Worte gaben Light in dieser Vermutung Recht, da L lediglich sagte: „Es stimmt, Matsuda kann durchaus von uns erwarten, trotz seiner unbedachten Vorgehensweise, für das Mitwirken im Team respektiert zu werden. Seine Andersartigkeit ist manchmal sogar von Vorteil.“ „Das war es nicht, was ich meinte.“ Lights Stimme war so leise, dass er kaum glauben konnte, verstanden worden zu sein. Etwas lauter fügte er hinzu: „Ich wollte dir keinen Vorwurf machen und auch nicht dein Verhalten verurteilen, immerhin habe ich mich als Urheber nicht ausgeschlossen. Wir alle hätten mehr aufpassen müssen.“ „Damit wir die Gefahr sehen und uns in Acht nehmen?“, fragte L zynisch. „Damit wir bemerken, was in Matsuda vorgeht?“ „Um ihn geht es doch gar nicht!“ Auf die Ellenbogen gestützt hatte sich Light halb aufgerichtet und den Kopf zur Seite gewandt. „Die ganze Zeit sprichst du von Matsuda, dabei weißt du genau, dass ich das nicht meine.“ „Du tust es selbst“, erwiderte L trocken und begegnete dem ernsten Blick aus den braunen Augen mit Kühle. „Ich habe nur auf deine Aussagen reagiert. Also halte mir das nicht vor, wenn du solche Beispiele als Vorwand benutzt, obwohl du auf etwas völlig anderes hinauswillst.“ „Weil du, sobald ich direkt bin, sowieso ausweichst!“ „Dann lass es sein.“ Mit der Handkante schlug L auf einen Punkt im Rücken seines Partners, sodass jener für einen Moment das Gefühl hatte, sämtliche Luft würde aus seinen Lungen gepresst werden. Light sackte zusammen und ließ zu, dass L die Massage schweigend fortsetzte. Zuerst war Light wütend. Doch langsam verblasste die Wut und Einsicht trat an ihre Stelle. Warum war ihm eine Klarheit über die tatsächlichen Beweggründe mittlerweile so wichtig, obwohl er diesen Fragen vor einiger Zeit noch mit Gleichmut begegnet war, ihnen später sogar selbst auswich und sie unter einem Mantel aus analytischen Begriffen versteckte? Wozu versuchte er Antworten zu erzwingen, wenn er sich nicht einmal sicher war, was er überhaupt wissen wollte? Am Rande registrierte Light, wie sich Ls Hände, die mit Bedacht über seine Haut fuhren, an seine eigene Temperatur angeglichen hatten und nicht mehr kalt waren. „Wenn man dich noch nicht kennt, Ryuzaki, könnte man dein Verhalten leicht missverstehen“, meinte Light und bemühte sich, in seinen Worten Mut zu fassen. „Darf ich offen sprechen?“ „Bitte.“ Mit sanftem Druck rieb L über die Partien zwischen Schulterblättern und Wirbelsäule, bevor er beide Handflächen vollständig auflegte und über Lights Nacken strich. Seufzend schloss dieser die Augen, löste die Spannung in seinen Gliedern und hoffte, L würde seine Erläuterung wenigstens anhören. „Du drückst dich oft höflich aus, Ryuzaki, aber im Widerspruch dazu auch sehr resolut und direkt, woran man leicht Anstoß nehmen könnte. Zumindest verstößt es mitunter gegen die japanische Etikette. Dein ganzes Verhalten ist nicht an Akzeptanz und Konformität orientiert, du wirkst abweisend, manchmal verletzend oder gar überheblich. Doch jede Überheblichkeit stellt an den Menschen die Frage, ob er denn selbst mehr wert ist als ein anderer. Niemand ist fehlerfrei. Kann man über den Schmutz an den Händen anderer Menschen urteilen, weil man glaubt, dass die eigenen Hände unbefleckt wären? Wer kann das schon von sich behaupten? Wir tragen doch alle einen dunklen Fleck in unserem Inneren.“ „Nur weil deine Hände rein sind“, wiederholte L monoton, „nimmst du dir heraus, über jemanden zu urteilen, dessen Hände, vom Graben im tiefsten Dreck, schmutzig sind?“ Irritiert nahm Light einen Tonfall in der Stimme seines Freundes wahr, den dieser selten an den Tag legte. Um L nicht in seinem Gedankengang zu unterbrechen, schwieg Light. Es klang bitter, als dieser schließlich meinte: „Wir sollten dankbar für den Unterschied zwischen den Menschen sein, sonst gäbe es am Ende niemanden mehr, den wir als schlechter im Vergleich mit uns selbst bezeichnen könnten. Nur die Gegenüberstellung bringt uns die Illusion, dass wir etwas Besseres wären.“ „Das ist es wahrscheinlich, was du von dir nach außen hin zeigen willst, aber nicht, was du wirklich denkst. Überheblichkeit ist ein Mittel zur Abgrenzung und Selbstdarstellung. Doch diese Grenze hast du nicht gezogen, um Achtung für deine Person zu erwirtschaften. Dein Auftreten verlangt nicht nach Anerkennung. Ich weiß das, weil ich mich, ehrlich gesagt, auf diesem Gebiet ziemlich gut auskenne.“ Verhalten gab L ein tiefes ruhiges Lachen von sich, das Light lächeln ließ. Es stimmte, dass sie manches nur vorschoben und als Ersatz benutzten, als Tauschmittel gegen eine verschwiegene Wahrheit. Gern wäre Light ehrlicher gewesen und hätte egoistisch zugegeben, dass er selbst es war, der über seine aufgezwungenen Rollen hinaus von seinem Freund nicht missachtet werden wollte. Und er wollte, dass L sich selbst nicht missachtete. Wenngleich sie diese Wahrheit vermutlich beide kannten, war mit ihrer Offenbarung eine unaussprechliche Gefahr verbunden. L löste die Hände von Lights Rücken, nachdem er ein letztes Mal ohne jeglichen Druck über dessen Haut geglitten war. Dann griff er nach den Handschellen und sagte: „Zieh dich an. Es ist schon spät.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)