Missing von Shunya (Botschaften aus dem Totenreich) ================================================================================ Kapitel 1: Sechs Jahre später... -------------------------------- Plymouth, England: 4. April 2003, Morgens Es hatte gerade aufgehört zu regnen und nur noch wenige Regentropfen fielen vom Himmel herab und durchnässten den ohnehin schon nassen erdigen Trampelpfad, welcher sich durch den Wald hindurch schlängelte und den Weg auf ein unscheinbares Hotel auf einer kleinen Waldlichtung freigab. „Sieh mal! Da drüben!“, rief Emelie Walker aufgeregt und richtete ihre schmale Hand in die Richtung des Hotels. Sie warf stürmisch ihre, vom Regen durchnässten, kurzen schwarzen Haare zurück und drehte sich schwungvoll zu dem jungen Mann herum, welcher ihr langsam in einigem Abstand folgte. „Endlich!“, stöhnte dieser genervt und machte ein säuerliches Gesicht. Er nahm seine Sonnenbrille ab und betrachtete das von Ranken und Moos überwucherte Gebäude, welches sich nun genau vor ihnen befand. „Vom Parkplatz aus zu latschen ist echt kein Spaß!“ „Aber wir sind hier, stimmt's?“, meinte Emelie und lachte fröhlich über das ganze Gesicht. „Komm schon, Allen! Gehen wir!“ Die beiden setzten sich wieder in Bewegung und durchquerten langsam den schmalen Eingang, welcher direkt zum Anwesen führte. Rund um dem Haus herum, gab es nichts anderes als Bäume und Sträucher. Eine unheimliche Atmosphäre lag in der Luft, obwohl helllichter Tag war und die Sonne inzwischen wieder schien. Irgendwo zwitscherten kaum hörbar Vögel in der Finsternis des Waldes. Direkt am Eingang befand sich ein vom Wetter gegerbtes Schild, auf dem der Name des Hotels bereits größtenteils von grünem Moos überwuchert war. -Blutfinke- Vor dem Haus wartete bereits eine ältere grauhaarige Dame auf das junge Pärchen und winkte ihnen zu, als sie näher traten. „Willkommen! Ich habe euch bereits erwartet! Schön, dass ihr heil her gefunden habt. Man verläuft sich so leicht, wenn man nicht auf den Weg achtet.“, begrüßte die hagere kleine Gestalt die beiden. Die Frau hatte an einigen Stellen schon weiße Haare und auch in ihrem von Wind und Wetter gegerbtem Gesicht zeichnete sich das hohe Alter bereits ab. Emelie umarmte ihre Großmutter überschwänglich und wollte sie am Liebsten gar nicht mehr loslassen. Immerhin hatten sie sich schon seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Emelie ließ den schweren Koffer fallen, sobald sie in der großen Eingangshalle des alten Gebäudes angekommen waren und lief aufgeregt, wie ein kleines Kind, überall hin um sich alles genaustens anzusehen. In der Eingangshalle befand sich der Empfangstisch, welcher aber schon lange nicht mehr benutzt wurde und nun von einer sichtbaren dicken Staubschicht überzogen war. Davor standen zwei Bänke in einem dunklen rotem Stoff überzogen und dazwischen befand sich ein kleiner Abstelltisch. Darauf stand eine Lampe, sowie ein eingerahmtes Foto auf dem die alte Dame mit ihrem Mann zu sehen war. „Ich bin wirklich froh, dass ihr mich mal wieder besuchen kommt. Ich bin einfach schon zu alt, um zu verreisen.“, erzählte die Frau und lächelte freundlich. „Das Geschäft lief in letzter Zeit auch nicht mehr so gut.“ Die Drei befanden sich inzwischen auf dem Weg zu den Zimmern, welche das frisch verlobte Paar für die nächsten Tage beziehen wollte. In der Mitte der Treppe blieb Emelie stehen und sah erstaunt durch ein Fenster nach draußen. Hinter dem Haus befand sich ein riesiger See. Das glitzernde Wasser war klar und die Sonne wurde von der Wasseroberfläche reflektiert. „Was für eine Aussicht!“, schwärmte Emelie überwältigt und sah wie gebannt durch das Fenster. „Wir können später noch hingehen, Emelie.“, meinte der junge Mann an ihrer Seite und lächelte ihr gutmütig zu. Emelie starrte selig vor sich hin und betrachtete ihn unauffällig von der Seite. Allen war schon ein toller Mann, genau nach ihrem Geschmack. Er sah gut aus und hatte einen durch trainierten Körper, obwohl er sich kaum sportlich betätigte. Als Angestellter in der Handelsfirma, in der er arbeitete, verdiente er eher den Preis für den faulsten Mitarbeiter in der Firmengeschichte: Allen war fast nie pünktlich – dafür ging er nie später als 18 Uhr. Er schlief ausgiebigst während der Arbeit, feierte ständig krank und dehnte seine Kundenbesuche so lange aus, dass er von diesen aus direkt nach Hause fahren konnte. Überstunden waren für ihn ein Fremdwort – sehr zum Leidwesen seiner Kollegen. Emelie hatte inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass er sich vielleicht irgendwann noch einmal ändern würde. Man mochte es nicht glauben, aber er hatte tatsächlich ein paar gute Seiten. Er war ein guter Koch und überraschte Emelie des öfteren mit einem leckeren Abendessen, wenn sie von der Arbeit kam. Außerdem war er äußerst charmant und half ihr bei der Hausarbeit wo er nur konnte. Auch mit ihren Eltern verstand er sich sehr gut und brachte sie oft mit seinen Witzen zum Lachen. Erst einmal in ihrem Zimmer angekommen, stellte Emelie ihren Koffer auf dem Boden neben dem Bett ab und lief quer durch das große Zimmer, um die Türen zum Balkon zu öffnen und frische Luft in das stickige Zimmer zu lassen. Vom zweiten Stock aus war die Aussicht wirklich herrlich. Man hatte einen guten Blick auf den riesigen See, den Wald, der sich wie ein Kreis um die Lichtung zog und die Hügel, die man hinter dem dichten Wald nur erahnen konnte. Irgendwo dort musste sich auch die Hauptstraße befinden, welche zur Innenstadt von Plymouth führte. Wenn man genau hinsah, konnte man die Spitze der Charles Church im Herzen der Stadt erkennen, welche noch immer eine Ruine war und dadurch an den Schrecken des zweiten Weltkriegs und die vielen Toten mahnen und erinnern sollte. „Emelie!“ Das Mädchen erschrak und drehte sich überrascht um. „Allen?! Du hast mich erschreckt! Klopf gefälligst an, kapiert?!“, rief Emelie entrüstet und presste sich die Hand auf die Brust. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Das konnte nicht gesund sein. „Reg dich nicht auf!“, meinte Allen und grinste breit von einem Ohr zum Anderen. Er kam langsam näher und lehnte sich über das Balkongeländer. „Es war eine gute Idee hierher zukommen. Es ist ziemlich lange her, dass wir zusammen waren. Wir sind immer so beschäftigt.“ Emelie nickte, schloss die Augen und genoss die frische, salzige Meeresluft. Sie musste feststellen, dass sie genau in diesem Augenblick dasselbe gedacht hatte. Wie lange ist es her, dass ich Allen das erste Mal gesehen habe?, dachte Emelie. Schon damals hatte Allen bei der Handelsfirma gearbeitet und an dem Tag, an dem sie sich das erste Mal begegneten, hatte er an ihre Haustür geklopft. Emelie hatte an diesem Nachmittag einen fürchterlichen Streit mit ihrer Mutter gehabt. Beide waren sehr dickköpfig und vom Charakter her waren sie sich sehr ähnlich. Dadurch kam es oft zu Streitereien über die unwichtigsten Dinge. Allen schien damals sehr offenherzig zu sein, vielleicht ein wenig aufdringlich, aber Emelie fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Das hatte sie empfunden, als sie sich das erste Mal begegneten. Am Nachmittag hatte sich Emelie's Großmutter verabschiedet und war in die Stadt gefahren, um einzukaufen und zum Grab ihres Mannes zu fahren. Plymouth war seine Heimatstadt und hier hatte der, an Demenz leidende, alte Mann auch seine letzten Tage verbringen wollen. Emelie und Allen hatten ihre Zimmer soweit schon eingerichtet und hatten es sich in einem Zimmer mit einer großen Fensterfront und einem guten Blick auf den See gemütlich gemacht. Vor den Fenstern befand sich ein großer runder Tisch aus dunklem schwerem Holz. Um den Tisch herum befanden sich vier Stühle. Emelie hatte Tee zubereitet und nun spielten die beiden Karten, um sich die Zeit bis zum Abend zu vertreiben. „Oh, nein! Ich habe doch tatsächlich schon wieder verloren!“, rief Emelie entrüstet und warf ihre Karten enttäuscht und frustriert auf den Tisch. „Du bist wirklich die geborene Verliererin!“ Allen lachte herzlich, warf seine Karten auf den Tisch und stand auf. „Ich werde neuen Tee aufsetzen.“ Nachdem er den Raum verlassen hatte, betrachtete Emelie den Ring an ihrem Finger, den Allen ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Verträumt dachte Emelie an die letzten Monate zurück, zurück zu dem Tag, an dem Allen ihr den Antrag gemacht hatte. Sie musste ganze drei Jahre lang warten, bis er ihr den Antrag gemacht hatte. Aber sie hatte durchgehalten und das hatte sich nun bezahlt gemacht. Den Rest des Tages verbrachten die beiden damit den Rest des Anwesens zu erkunden und gemeinsam mit der Großmutter zu Mittag zu essen. Bis zum späten Abend lasen sie, in der umfangreichen Bibliothek des ersten Stockwerks, alte Bücher. Die Bibliothek war wirklich riesig. Überall standen bis an die Decke reichende Bücherregale. So gut wie jedes Genre war vertreten. Die Bibliothek selbst war in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten waren nur Bücherregale, im Zweiten war eine gemütliche Sitzecke und ganz hinten im Raum stand ein großer alter Schreibtisch, der sicher schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. An der Decke hingen mehrere Kronleuchter und auf dem Holzfußboden lag ein schwerer dunkelroter Teppich mit orientalischen Mustern. Es war schon weit nach Mitternacht. Die Lichter im Haus waren gelöscht. Es herrschte Stille. Um das Haus herum, legte sich ein dichter unheimlicher Schleier aus Nebel, so dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Allen lag wach im Bett. Er konnte nicht einschlafen. Ihm war, als wäre seine Kehle ausgetrocknet, also beschloss er sich aus der Küche ein Glas Wasser zu holen. Er trat auf den Flur und als er die Tür geschlossen hatte, drehte er sich überrascht um. „Allen?“ Vor ihm stand Emelie. Sie trug ihren weißen seidenen Morgenmantel über dem Pyjama und sah ein wenig durcheinander aus. Ihre Augen wanderten unruhig umher. „Emelie...! Was hast du? Es ist schon spät.“, fragte er überrascht. „Ich habe jemanden im Flur gehört und dann hat es an der Tür geklopft, aber es war niemand da. Und dann habe ich ein Geräusch auf der Treppe gehört.“ Allen sah sie erstaunt an. Außer ihnen befand sich niemand im Hotel. Er lief zur Treppe und sah runter in die Eingangshalle. „Da ist aber niemand.“, rief Allen dem verstörten Mädchen zu. Emelie sah ihn überrascht an. „Vielleicht habe ich es mir ja auch nur eingebildet... Ich gehe wieder schlafen. Gute Nacht!“ Kurz nachdem Emelie die Tür hinter sich verschlossen hatte und Allen sich zurück in sein Zimmer begeben wollte – das Wasser hatte er längst vergessen – war ihm, als hätte er einen Schatten auf der Treppe gesehen. Er hielt kurz inne, machte dann aber einen entschlossenen Gesichtsausdruck und lief schnellen Schrittes zur Treppe. In der Dunkelheit konnte er nichts ausmachen. „Wer ist da?!“, rief er. Er lief so schnell er konnte die Treppe hinunter. Das helle Mondlicht erleuchtete die Eingangshalle. Es war gerade mal so hell, dass man aber trotzdem noch jemanden hätte erkennen können. Und dann bemerkte Allen das Licht in der Küche. Er schlich auf Zehenspitzen die Eingangshalle entlang, bis er die Tür erreichte. Sie war einen Spalt geöffnet, so dass man noch gerade eben so durchsehen konnte. Hören konnte Allen jedoch nichts. Es kam kein Geräusch aus der Küche. War es Emelie's Großmutter oder ein Einbrecher? Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Eins..., zwei..., drei... Emelie lag wach in ihrem Bett. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Arme eng um den Oberkörper geschlungen, lag sie versteckt unter ihrer Bettdecke. Schweiß trat ihr auf die Stirn und ihr Herz pochte rasend schnell. Wie kam es, dass nur sie es hören konnte? Schon die ganze Zeit hörte sie merkwürdige Geräusche im Haus. Aber woher kamen sie? Bildete sie es sich einfach nur ein? Nein! Das konnte einfach nicht sein! Allen hatte doch auch nichts bemerkt. Ob es am Jetlag lag? Vielleicht war sie einfach nur mit der ganzen Situation überfordert?! Spielte ihr ihre Fantasie einen Streich?! Doch! Da war es schon wieder! Der klagende Schrei einer Frau. Hell und ohrenbetäubend klang es durch das ganze Haus. Es hörte sich an wie ein weit entferntes Echo. Ob es aus dem unteren Teil des Hauses kam? Emelie überfiel eine leichte Gänsehaut. Sie zog die Decke noch enger an ihren Körper. Wieso war es auf einmal so kalt im Zimmer? Das Fenster war doch geschlossen! Sie zitterte am ganzen Leib. Tränen traten ihr in die Augen. „Allen...“, schluchzte sie leise. Auf einmal lag sie ganz starr im Bett. Sie wagte es kaum zu atmen. Es war als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Sie wollte atmen, aber es ging einfach nicht. Und dann spürte sie wie langsam etwas auf das Bett kroch. Ganz langsam... Schritt für Schritt... Ihr kam es vor wie Minuten, dabei verstrichen gerade einmal wenige Sekunden. Die Matratze hob und senkte sich wieder. Dann spürte sie etwas am Bein. Die Decke schien plötzlich in der Luft zu schweben und sie merkte, wie etwas kurz, kaum spürbar, ihr Bein entlang strich. Ihr war, als würde jemand schwer und langsam atmen. War sie es selbst? Gespannt hielt sie den Atem an und konnte sich in ihrer Starre nicht vom Fleck bewegen. Waren da nicht gerade Haare über ihren Unterschenkel gestrichen?! Ja, sie hatte es wirklich gerade gefühlt. Einzelne Strähnen, die ganz langsam über ihr Bein strichen und sie nur kurz berührten. Sie bewegten sich weiter nach oben und dann kam es Emelie so vor, als würde sie eine Hand am Oberschenkel streifen. Nur ganz kurz. Es war eine flüchtige Bewegung. Sie hatte sie kaum wahr genommen. Emelie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Auf einmal war ihr so schrecklich kalt, obwohl die Fenster geschlossen waren und sie inzwischen am ganzen Körper vor Nervosität schwitzte. Ihre Tränen, welche ihr schon die ganze Zeit die Wangen herunter liefen, trockneten im Nu. Die Decke hob sich immer höher und Emelie wurde das ungute Gefühl nicht los, dass jemand auf ihren Körper kletterte. Allerdings traute sie sich einfach nicht unter der Decke nach zu sehen und hielt ihre Augen weiterhin geschlossen. Atme tief durch und dann ziehst du die Bettdecke weg, dachte das verschüchterte Mädchen sich. Du bildest dir das alles doch nur ein! Es ist die erste Nacht in einem völlig fremden großen Haus. Du bist nur eingeschüchtert. Das ist alles! Emelie holte tief Luft und atmete langsam aus. Dann ging alles sehr schnell. In Sekundenbruchteilen schnappte sie sich mit der linken Hand die Bettdecke, zog sie mit Wucht von sich herunter, so dass sie auf dem Boden landete und legte so den Blick frei. Frei auf Etwas, dass Emelie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Eine Frau beugte sich über sie. Sie trug ein weißes verwaschenes, ärmelloses und blutüberströmtes Kleid. Am ganzen Körper klebte Blut. Sie starrte Emelie mit weit aufgerissenen Augen an. Die Augen waren blutunterlaufen und die Pupillen wirkten wie seelenlose Spiegel. Der Glanz war gewichen und man sah nur eine dunkle, tiefschwarze Iris. Das Weiß der Augen war von vielen roten Adern durchlaufen. Blut lief ihr aus den Augen, der Nase und den Mundwinkeln heraus. Emelie war starr vor Schreck. Wie gelähmt sah sie auf den Menschen vor sich. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie wollte weg schauen, sich einfach umdrehen und aus dem Zimmer laufen. Doch sie konnte nicht. Sie wollte weglaufen, nur weg von hier. Langsam beugte sich die Frau zu ihr vor, die Haare fielen ihr ins Gesicht und streckte langsam ihren Arm aus. Ganz langsam näherte sich ihre knochige dürre Hand Emelie's Gesicht. Aber außer ihnen sollte sich doch niemand mehr in diesem Haus aufhalten?! Wo kam sie dann her? Sie drehte den Arm etwas seitlich und so konnte Emelie die tiefen Schnittstellen auf ihrem Unterarm erkennen. Es waren drei tiefe Risse. Sie schienen von einem Messer zu stammen. Zwei davon hätten sie eigentlich schon längst getötet. Wieso lebte sie dann noch? Wie konnte sie bei der Verletzung noch so vor ihr sitzen? Sie öffnete ihren Mund, schloss ihn aber daraufhin wieder. Dann öffnete sie ihn noch einmal. Emelie hörte ein unheimliches kratzendes rasselndes Keuchen. Ihr wurde schlecht vor Angst. Die blutigen rissigen Lippen bewegten sich. Ganz leise, dann immer klarer konnte Emelie die Stimme heraushören. Sie klang heiser und kratzig. „Sieh nur, das Blut, das ich vergieße...“, flüsterte die Frau heiser. Emelie konnte nichts erwidern. Sie musste schlucken. Die Haare hingen der Fremden aus dem Gesicht und gaben den Blick auf ihren Hals frei. Emelie konnte nicht wegsehen. Sie befürchtete sie müsste sich jeden Augenblick übergeben. Es lag nicht nur an diesem unheimlichen Anblick, der sich ihr nun bot, sondern auch an dem Geruch, den die Frau verströmte. Es roch widerlich! Es war ein ekelhafter übel riechender Geruch. Emelie roch verfaultes Fleisch und Müll und dazwischen den Geruch von Blut und Erbrochenem. „Wieso kann ich nicht sterben?!“ Emelie konnte ihren Blick nicht von dem Hals abwenden. In der Mitte klaffte ein riesiges Loch, als hätte man versucht ihr den Kopf abzutrennen. Die Wunde war riesig und Knochen waren zu erkennen. Unaufhörlich triefte das Blut aus der tiefen Stelle und lief ihr den Hals hinab. Emelie hatte die Augen weit aufgerissen. Sie konnte sich immer noch nicht bewegen. Die Fremde streckte ihr beide Arme entgegen und krächzte heiser: „Befreie mich!“ Mit Wucht trat Allen gegen die Tür, so dass diese quietschend weit aufflog und ihm den Blick über die gesamte Küche ermöglichte. Es war niemand dort. Allen sah sich überrascht um. Er hatte doch das Licht ausgeschaltet, wieso war es dann wieder an? Er konnte sich das einfach nicht erklären. Nach ihm war Emelie nicht mehr in der Küche gewesen. Sie hatten sich sofort zu Bett begeben. Und die alte Dame war schon vor ihnen zu Bett gegangen. Irritiert drehte Allen sich um und streckte den Arm aus, um das Licht auszuschalten. Leise schloss er die Tür hinter sich. Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fiel, donnerte es ohrenbetäubend laut. Ein Blitz erhellte den Eingangsbereich durch das große Fenster. Allen erschrak zutiefst und er hatte das Gefühl als hätte sein Herz einen großen Sprung gemacht. Vor dem ersten Treppenabsatz stand ein Mann. Er konnte nur seine Schemen erkennen. Der Fremde sah aus wie ein Geist. Allen musste mehrmals blinzeln, um zu erkennen, dass er wirklich wahrhaftig keinen realen Menschen vor sich stehen hatte. Er traute sich nicht auch nur einen Schritt zu machen und blieb geschockt stehen. Allen konnte seine Augen nicht von ihm abwenden. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm und als hätte er ihn bemerkt, drehte er sich ganz langsam um. Er sah wie ein Asiate aus. Er trug normale Alltagskleidung, bestehend aus einer Hose und einem Hemd. Die Kleidung war zerrissen und hing teilweise in Fetzen an seinem Körper herunter. Allen verschlug es die Sprache. Er öffnete den Mund um irgendetwas von sich zu geben, aber es kam kein Laut heraus. Er konnte nichts anderes tun, als diesen Mann einfach nur anzustarren. Dieses bleiche Gesicht, welches so unendlich traurig und irgendwie auch verängstigt auf ihn wirkte. Die dunklen Augen, welche wie tiefe seelenlose Spiegel wirkten. Der Mann deutete mit dem Zeigefinger auf die Tür zum Keller und öffnete den Mund. Es schien, als wollte er etwas sagen, aber genau in dem Moment kam von oben ein bestialischer Schrei, der Allen durch Mark und Bein fuhr. Er zuckte derart heftig zusammen, dass er befürchtete sein Herz könne jeden Moment zum Stillstand kommen. Allen wandte sein Gesicht nach oben, wo er ungefähr Emelie's Zimmer vermutete. Was konnte nur geschehen sein, dass sie solche unheimlichen Töne von sich gab?! Auf einmal hatte Allen ein ungutes Gefühl und er wollte nur noch zu seiner Verlobten. Als er sich wieder zur Treppe umdrehte, war der Mann verschwunden. Allen sah sich noch einmal nach ihm um, indem er sich einmal um die eigene Achse drehte, aber er war nicht mehr da. War es wirklich ein Geist den er gesehen hatte? Unmöglich! Er glaubte eigentlich nicht an Geister und hatte sich auch noch nie mit diesem okkultem Kram beschäftigt. Das konnte einfach nicht wahr sein! So schnell er konnte, gleich mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte Allen die Treppe hoch, bog nach rechts um die Ecke und zum Zimmer, welches sich direkt gegenüber von seinem befand. Er griff nach dem Türknauf, drehte ihn um und öffnete mit schwung die Tür. Er schaltete das Licht ein und hielt anschließend mitten in der Bewegung inne, denn das was er nun sah, verschlug ihm wirklich die Sprache. Seine geliebte Emelie saß in ihrem Bett. Die Augen apathisch im Raum herum irrend und das ganze Bett war voller Blut. Es war überall. Wo man auch hin sah. Auf Emelies Kleidung, der Bettdecke, dem Kopfkissen, auf dem Bettlaken und sogar auf dem Boden! Und dann war da dieser ekelhafte Geruch. Allen spürte wie ihm auf einmal speiübel wurde. Er hatte das Gefühl, als müsse er jeden Augenblick erbrechen. Er spürte schon, wie sein Abendessen langsam wieder hoch kam. Allen hielt sich die Hand vor den Mund und musste einige Male schlucken. Emelies Gesicht war ganz bleich und als sie ihn erblickte, sah sie ihn einfach nur sprachlos an. Was war nur in seiner Abwesenheit hier geschehen? Allen hatte das ungute Gefühl, dass mit diesem Haus etwas nicht stimmte. Er lief schnell zum Bett und untersuchte Emelie. Entsetzt musste er feststellen, dass das Blut gar nicht von ihr war. Ihr Körper schien unversehrt zu sein. Wo kam das Blut bloß her? Und wieso war es so viel? Hier ging wirklich Etwas nicht mit rechten Dingen vor sich. Aber wie sollte er sich das erklären?! Etwas, das noch nicht einmal existierte?! Emelie stand immer noch unter Schock. Im nächsten Augenblick fiel sie auch schon in Ohnmacht. Er trug das Mädchen durch den Flur in sein Zimmer und legte sie erst einmal in sein Bett. Haare raufend legte er seine Bettdecke über die inzwischen frisch eingekleidete Emelie, welche nun ein Hemd von ihm trug und zog sich einen Stuhl an das Bett. Er setzte sich darauf und überschlug die Beine, nachdem er die Arme vor der Brust verschränkt hatte und musterte die ohnmächtige Frau vor sich. Der Schock war so groß, dass sie augenblicklich in Ohnmacht gefallen war. Allen fand es merkwürdig. So etwas hatte er noch nie im Leben gesehen. Aber er beruhigte sich etwas, als er bemerkte, wie sich ihr Brustkorb langsam unter der Bettdecke hob und senkte. Als er sich streckte und die Hände in die Hosentaschen steckte, fiel sein Blick auf die vom Blut durchtränkten Kleider. Das Ganze war viel zu unverständlich für ihn. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf bilden. Ob das Haus verflucht war? Über die ganzen Überlegungen, schlief Allen nach einer Weile erschöpft ein... Mit Schweiß auf der Stirn kam Allen wieder zu sich. Zum Glück hatte er nur einen Albtraum gehabt. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und sah zu Emelie, welche noch friedlich in seinem Bett schlummerte. Sie schien noch immer in Ohnmacht zu sein. Leicht zitternd stützte sich Allen mit den Händen auf den Armlehnen ab und stand langsam auf. Seine Knie schienen nachgeben zu wollen, aber Allen riss sich zusammen und lief in das anschließende Bad, welches sich im selben Zimmer befand. Er schaltete das Licht an und setzte sich für einen Moment auf den Rand der Badewanne. Er atmete flach und versuchte sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte seinen Kopf in die Hände. Dann atmete er ein paar Mal flach ein und aus. Nachdem er sich wieder gefasst hatte, stand er auf und beugte sich über das Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn auf und hielt seinen Kopf unter das fließende kalte Wasser. Nur wenige Sekunden verharrte er in dieser Stellung, dann hob er den Kopf und sah mitgenommen in den Spiegel. Überrascht riss er die Augen weit auf. Im ersten Augenblick hatte er es gar nicht bemerkt! Im Spiegel erkannte er eine Person, welche hinter ihm stand. Viel war nicht zu erkennen, der Frau hingen die Haare im Gesicht und sie war dunkel gekleidet. Emelie konnte es nicht sein, das sah er auf den ersten Blick, aber wer war es dann? Allen drehte sich zu der Frau herum. Ihm fuhr der Schrecken durch die Glieder, denn nur wenige Zentimeter entfernt befand sich das Gesicht der Fremden. Ganz langsam hob sie ihren Kopf und das Haar fiel sachte an den Seiten herunter. Unheimlich grinste die grauenvolle Fratze ihn an. Allen schrie, taumelte mit gummiweichen Beinen durch den Raum und verlor das Gleichgewicht. Er rutschte aus, fiel zu Boden und knallte mit voller Wucht mit dem Kopf gegen den Badewannenrand. Allen verdrehte die Augen und sank auf den kalten Fliesen des Badezimmers in sich zusammen. „Allen! Allen! Wach auf! Komm zu dir!!“ Nur leise, kaum hörbar, aber dann immer deutlicher vernahm Allen eine ihm nur allzu bekannte Stimme. Mit einem tiefen Stöhnen, kam er langsam wieder zu sich. Sein Kopf schmerzte höllisch, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, was passiert war. Langsam öffnete er die Augen. Nur schemenhaft konnte er seine Verlobte Emelie erkennen. Sie hockte besorgt über ihm, hielt seine Hand und sprach auf ihn ein. Nach einigen Sekunden hatte sich seine Sicht wieder normalisiert. Vorsichtig stützte er sich mit den Händen auf dem Boden ab und versuchte mit Emelies Hilfe aufzustehen. Sie stützte ihn so gut sie konnte und führte mit Mühe den doch recht schweren Mann zu dem Stuhl, auf welchem er noch kurz zuvor gesessen hatte. Schwerfällig ließ er sich darauf sinken. „Wie lange war ich ohnmächtig?!“, fragte er etwas benommen. Emelie setzte sich ihm gegenüber auf das Bett. „Ich weiß es nicht. Ich bin erst vor kurzem wieder zu mir gekommen. Und dann habe ich dich auf dem Boden zwischen dem Türrahmen liegen gesehen. Zum Glück hast du dich nicht schwer verletzt.“ Allen beugte sich vor und griff besorgt nach Emelies Händen. „Und wie geht es dir?“, fragte er sie. Emelie lächelte. „Ich denke ganz gut.“ „Was ist überhaupt passiert? Du warst von oben bis unten voller Blut. Woher kam es?“, Allen sprach energisch auf seine Verlobte ein. Emelie schüttelte fassungslos den Kopf. „Also scheint es doch wirklich passiert zu sein...“ Allen sah sie fragend an. „Ich hatte gehofft, es war nur ein Traum... Sie war am ganzen Körper voller Blut! Sie war einfach aufgetaucht. Ich habe sie nicht kommen hören und dann hat sie auch noch mit mir gesprochen. Und dann diese grauenvollen Verletzungen!!!“ Zum Schluss erzählte Emelie immer schneller und sah Allen nervös an. „Sie?!“ „Ich weiß nicht. Sie war jünger als ich. Ich habe sie hier bei unserer Ankunft nicht im Haus gesehen. Sie sah aus wie eine Asiatin. Ganz sicher bin ich mir nicht.“, erklärte Emelie. „Aber meinte deine Großmutter nicht, dass in der Umgebung niemand wohnt?“, murmelte Allen gedankenversunken. Emelie sah benommen auf den Boden. „Ich habe Angst. Vielleicht ist dieses Haus verflucht!“ Allen sah sie erst überrascht an, doch dann begann er laut zu lachen. Hielt dann aber inne, weil sich die Schmerzen in seinem Kopf plötzlich wieder bemerkbar machten. „Du glaubst doch nicht wirklich an so einen Unfug?!“ Emelie war beleidigt. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah Allen direkt in die Augen. „Und wie erklärst du dir dann diese komischen Vorfälle im Haus?“ Allen schwieg betreten. Für einen Moment hatte er immerhin ebenfalls geglaubt einen Geist gesehen zu haben. „Ich hatte vorhin einen Traum.“, begann er zu erzählen. Emelie horchte auf. „Ein Traum?“ Allen nickte. Er erzählte ihr von einem unheimlichen Haus und dem Zimmer, in dem er sich befand. „Ich habe die Schiebetür des Schranks zurückgeschoben und dann habe ich einen jungen Mann dort drinnen liegen gesehen. Er war kaum zu erkennen. Es war alles voller Blut. Es war wirklich grauenvoll. Irgendjemand muss ihn umgebracht haben...“ „Denkst du die beiden gehörten zusammen?“, fragte Emelie. Allen nickte. „Gut möglich. Hier muss etwas Furchtbares geschehen sein!“ Der nächste Morgen war verregnet und graue Nebelschwaden zogen vorüber. Der Himmel war wolkenverhangen und der Wald um das ausgediente Hotel wirkte unheimlich und bedrohlich. Allen und Emelie hatten bereits gefrühstückt, als Lynn, Emelie's Großmutter, die Küche betrat und nach dem Wohlergehen der beiden fragte. Die beiden hatten zwar vorgehabt, ihr nichts von den Ereignissen zu erzählen, aber irgendwie ließ es sie auch nicht los. Lynn lachte nur gutmütig, als das Paar ihr berichtete was sie erlebt hatten. „Ich war schon immer der Ansicht, dass dies ein Spukhaus ist.“ „Großmutter, weißt du ob hier eine Asiatin Urlaub gemacht hat?“, fragte Emelie die alte Frau. Lynn's Blick verdunkelte sich augenblicklich. Erst vermutete Emelie, sie würde ihnen nichts sagen, aber dann hellte sich ihre Miene auf und ein schwermütiger Schimmer lag in Lynn's Augen. „Die kleine Hae-In. Keine 20 Jahre alt, als sie starb. Das arme Kind.“ Allen und Emelie sahen sich besorgt an. „Was ist mit ihr geschehen, wieso ist sie gestorben?“, wollte Allen wissen. Emelie nickte zustimmend. Lynn sah beide aufmerksam an. „Sie ist verschwunden.“ Allen zog verärgert die Augenbrauen zusammen. „Wenn sie verschwunden ist, wie willst du dir dann sicher sein, dass sie Tod ist?! Hat man ihre Leiche gefunden?“ Lynn schüttelte traurig den Kopf. „Sie hat es mir mitgeteilt.“ Den beiden jungen Menschen verschlug es die Sprache. Hatten sie gerade richtig gehört?! Lynn bemerkte die ungläubigen Blicke. „Ihr Geist lebt weiter in diesem Haus. Ihr seid nicht die Einzigen, die sie schon zu Gesicht bekommen haben.“, erklärte die alte Frau. „War sie denn allein hier?“, hackte Emelie nach. „Sie war in Begleitung eines jungen Mannes.“ Lynn schüttelte betrübt den Kopf. „Er verschwand noch am selben Tag. Wir haben die beiden seitdem nie wieder gesehen. Das war... am... 21. Dezember 1998. So liebe Menschen... Wie konnte ihnen nur so ein schreckliches Unglück widerfahren?!“ Alle schwiegen bedrückt. Lynn trank noch einen Schluck aus ihrer Tasse und wendete sich an Emelie. „Magst du mich in die Stadt begleiten? Ich muss noch ein paar Lebensmittel für das Mittagessen kaufen. Gestern hatte ich keine Zeit alles zu besorgen.“ Emelie sah unsicher zu Allen. Dieser nickte ihr nur unbekümmert zu. „Geh nur. Ich finde schon eine Beschäftigung, bis ihr zurückkommt.“ „Also gut.“ Nachdem Emelie und Lynn das Haus verlassen hatten, blieb Allen noch eine Weile nachdenklich im Eingangsbereich des Hotels stehen. Er sah sich um, bis sein Blick an der Tür zum Keller hängen blieb. Sollte er oder sollte er nicht? Eigentlich gehörte es sich ja nicht in fremden Häusern herum zu schnüffeln. Aber wie immer siegte seine Neugier über die Vernunft und so ging er langsam auf die Tür zu. Unschlüssig blieb er davor stehen, schien zu überlegen, aber dann nahm er doch allen Mut zusammen und griff nach der rostigen Türklinke. Er drückte sie herunter und öffnete die Tür. Dunkelheit lag vor ihm. Er tastete nach einem Lichtschalter, aber anscheinend gab es keinen. Allen sah sich um. Er lief zum Empfangstresen und durchwühlte die Schubladen. Er fand tatsächlich eine funktionierende Taschenlampe und lief zurück. Er leuchtete in die Dunkelheit hinein. Die hölzerne Treppe führte nach unten, aber leider ermöglichte das fahle Licht ihm nicht die Sicht bis ganz nach unten. Er legte die Hand auf das Geländer, hielt sich fest und stieg vorsichtig die knarrenden Stufen hinab. Ein oder zweimal hatte er das Gefühl, als würde die Stufe unter ihm zusammen brechen, aber er hatte Glück. Nichts dergleichen geschah. Als er unten ankam, sah er sich um. Zu seiner Rechten befand sich nur eine Wand aus Stein, auf der anderen Seite war ein aufgehäufter Turm mit Gerümpel. Er konnte einige Kisten und einen rostigen Drahtesel ausmachen. Vor ihm war eine Tür. Sie war verschlossen. Mit einem mulmigen Gefühl schlich er leise zur Tür und griff wie in Zeitlupe danach. Er öffnete sie vorsichtig und tastete mit der Hand nach einem Lichtschalter. Er fand einen und betätigte ihn. Augenblicklich wurde das Innere des Raumes in ein düsteres Licht gehüllt. Das große Fenster, gegenüber der Tür, war mit schweren Vorhängen versehen. Die Wände waren weiß gestrichen. Gleich neben der Tür befand sich ein einfacher Schreibtisch mit einem Drehstuhl. Daneben stand eine Kommode mit einem Fernseher. Inmitten des Raumes befand sich ein Couchtisch, er stand gegenüber des Bettes. Außerdem war da noch ein Wandschrank mit Schiebetüren. Allen wusste nicht warum, aber seine innere Stimme sagte ihm, er müsse einen Blick in den Wandschrank werfen. Vor lauter Aufregung kribbelte es am ganzen Körper und Allen durchfuhr eine leichte Gänsehaut. Er fröstelte. Was würde sich wohl hinter diesen Türen befinden? Nur zaghaft schlich Allen auf Zehenspitzen zum Schrank. Die Türen waren aus normalem Holz angefertigt worden. Allen schluckte mehrmals. Es schien als hätte er einen Kloß im Hals, aber dann streckte er doch noch die Hand aus und griff nach einer der beiden Schiebetüren. Langsam und bedächtig schob der junge Mann die Tür zur Seite. Sie gab ihm den Blick in eine Art Kleiderschrank frei. Es sah alles ganz normal aus. Nichts ungewöhnliches. Es befanden sich mehrere Decken dort drinnen und einige Laken. Allen hielt inne. Die andere Schiebetür war einen kleinen Spalt geöffnet. Er rang einige Sekunden mit sich. Doch dann griff er beherzt zur Tür und schob sie mit einem Ruck zur Seite. Erstarrt ließ er die Hand sinken. Als Emelie und ihre Großmutter vom Einkauf zurück kamen, regnete es bereits in Strömen. Sie hielten sich ihre Jacken über den Kopf und rannten so schnell wie möglich mit den schweren Einkaufstüten die letzten Meter zum Haus. „Allen, wir sind wieder zurück!“, rief Emelie völlig außer Atem. Nur wenige Sekunden verstrichen, aber nichts Tat sich. Emelie vernahm keinen einzigen Laut in dem großen Haus. Verwundert legte sie ihre Einkäufe auf einem Stuhl ab. „Wo könnte er sein?“, fragte Emelie. „Vielleicht ist er in seinem Zimmer und schläft.“, meinte Lynn. Emelie wollte gerade nach oben laufen, als sie die Tür zum Keller bemerkte. Sie war geöffnet. Sie drehte sich zu ihrer Großmutter um und fragte: „War die Tür nicht zu, als wir das Haus verlassen haben?“ Lynn nickte. „Ob er in den Keller gegangen ist?“, unsicher ging Emelie ein paar Schritte auf die bedrohlich wirkende Finsternis zu. „Ich sehe nur kurz nach. Vielleicht hat er sich verletzt.“, murmelte Emelie besorgt. Völlig in Gedanken versunken lief sie zur Kellertür und verschwand in der Dunkelheit. Lynn vernahm die leisen knarrenden Stufen, die Schritte von Emelie und dann Stille. Sie sah mit einem mulmigen Gefühl in den dunklen Raum hinein. Irgendetwas in ihr regte sich. Die alte Frau setzte einen Fuß vor den Anderen, bis sie vor der Tür stand. Vor ihr nichts als Schwärze. Lynn streckte den Arm aus und griff nach der Türklinke. Langsam, fast in Zeitlupe, schloss sie die Tür, welche mit einem leichten Ächzen nachgab. Sie zog die Augenbrauen zusammen und machte einen schwermütigen Gesichtsausdruck. Aber so schnell wie dieser aufgetaucht war, verschwand er auch schon wieder. Entschlossen ging Lynn zum Empfangstresen. Sie öffnete eine der oberen Schubladen und nahm ein vergilbtes Buch heraus. Sie legte es auf den staubigen Tisch vor sich und blätterte eine Weile darin herum. Als sie die Seite fand, nach der sie suchte, nahm sie einen Bleistift und hob den Kopf zur Treppe. Die Dielen des zweiten Stockwerks über dem Empfangstresen knarrten leise. Dumpfe Schritte bewegten sich langsam und schwerfällig über den alten Holzboden. Das Knarren wurde lauter als die Schritte näher kamen. Sie verhallten auf dem mittleren Treppenabsatz, welcher von einem dicken roten Teppich bedeckt war und erklangen erst wieder, als sie die große Holztreppe herunter in die Eingangshalle kamen und vor dem Empfangstresen stoppten. Lynn blickte in zwei freundlich wirkende Gesichter und fragte: „Möchten sie auschecken? Hae-In und Jong-Il nehme ich an.“ Die Zwei nickten ihr bestätigend zu, wandten sich um und gingen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)