Wir von NeunMephistopheles ================================================================================ Kapitel 1: Du ------------- Ich hatte dir das erste Mal in die Augen gesehen, da war es auch schon um mich geschehen. Sie waren von fast unbestimmbarer Farbe, als schien diese immer zu wechseln, und von dichten Wimpern umrahmt. Schnell senkte ich den Blick und errötete, ich würde dich doch sowieso nicht wieder sehen, also was brachte Flirten? Meine Schritte wurden länger, ich eilte an dir vorbei, ohne mich noch einmal umzusehen, daher bemerkte ich nicht, wie du dich umdrehtest und mir hinterher blicktest. Ohne auf irgendetwas zu achten, floh ich fast durch die Menschenmenge, es tat einfach zu weh. Zu oft wurde ich einfach stehengelassen, ohne dass sie Rücksicht auf mich oder meine Gefühle genommen hatten. Ich wollte diese Schmerzen, die mich innerlich zerrissen, nicht, doch sie wurden mir ohne zu fragen zugefügt. Mit Tränen in den Augen rannte ich zum Fluss hinunter und ließ mich dort auf die Wiese fallen. Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem Rauschen des Wassers. Es wirkte beruhigend auf das Chaos meiner Gefühle und ließ meine Gedanken sich lösen, so entging mir, dass jemand zu mir trat und sich neben mir niederließ. Immer noch hielt ich die Augen geschlossen und achtete nur auf das fließende Wasser zu meiner Linken. Du summtest leise vor dich hin und beobachtetest mich einfach nur und wartetest auf etwas, das dir sicher noch nicht klar war. Nach einer langen Zeit erhob ich mich und sah dich auf einmal neben mir sitzen. Ich weiß nicht mehr, was es war, dass mich dazu veranlasste, mich wieder zu setzten, einfach nur der Schreck oder noch etwas anderes, aber ich setzte mich neben dich und begann ein Gespräch mit dir. Wir erkannten, dass wir uns ähnlicher waren, als man vom Äußeren her schließen konnte. Ich vertraute dir von Anfang an und konnte mit dir über alles reden. Oft trafen wir uns am Fluss oder in der Stadt und irgendwann ludest du mich zu dir nach Hause ein. Ich staunte, du wohntest nicht schlecht in einer Villa am Rande der Stadt, sie war groß und hell. Allein dein Wohnzimmer war fast so groß wie meine gesamte Zwei-Zimmer-Wohnung, doch ich beneidete dich nicht. Zwar besaßt du ein wunderschönes Haus und viele weitere Dinge, aber du warst wie ich immer allein. Im Gegensatz zu mir jedoch fühltest du dich verloren in diesem riesigen Haus, während ich mich in meiner kleinen Wohnung geborgen fühlte, aber das hinderte ich nicht daran, auf deinen Wunsch hin bei dir einzuziehen. Wir waren beide glücklich, doch dann musstest du aufgrund deiner Arbeit weg. So lebte ich alleine in deiner großen Villa und spürte den alten Schmerz und die Angst in mir aufsteigen. Bald darauf waren wir schon ein Jahr zusammen. Ich bestand darauf, dass du zu mir zurückkamst, also setztest du dich in den Zug, doch das war dein Verhängnis. Durch einen unglücklichen Vorfall entgleiste der Zug. Genau drei Menschen wurden dabei getötet, du warst einer von ihnen. Als ich dies durch langes Nachforschen und noch längeres Warten endlich Bestätigung bekam, brach es mir das Herz. Bei deinem Begräbnis stand ich noch bis spät in die Nacht auf dem Friedhof mit Tränen in den Augen. Du sagtest mir einmal, du verließest mich niemals, aber das war eine Lüge. Nun lebe ich alleine in deiner riesigen Villa nur mit der Erinnerung an dich, dem wundervollsten Menschen, den die Erde jemals gesehen hat. Kapitel 2: Ich -------------- Die Nacht war grau und trostlos. Wieder einmal hatte sich ein Teil meines Lebens verabschiedet. Wieder einmal war ich allein. Ich fragte mich, wie es weitergehen sollte. Seit Tagen hatte ich das Licht des Tages nicht mehr gesehen. Ich wollte es nicht mehr sehen, da es nur Schmerz brachte. Die Villa, die du mir hinterließest, sieht noch genauso aus, wie an jenem Tage, an dem ich dich verlor. Seit diesem Tage habe ich nichts mehr verändert. Es liegt noch dieselbe CD im Player wie an jenem Tage. Sie läuft pausenlos, wenn ich wache, genauso wie wenn ich schlafe. Sie ist eine der vielen Erinnerungen an dich, ohne die ich nicht mehr leben könnte. Dein Bruder kommt regelmäßig vorbei, damit ich auch körperlich am Leben bleibe, denn das rückte schon vor langer Zeit an zweite Stelle. Er versorgt mich mit Essen und versucht mich wieder mit anderen Menschen in Kontakt zu bringen. Bei meinen Eltern habe ich mich seit langem nicht mehr gemeldet. Für sie könnte ich genauso gut auch tot sein. Dem Telefon habe ich schon lange den Stecker herausgezogen. Mein Handy habe ich vor einiger Zeit auch aufgegeben. Mit wem sollte ich denn reden? Du bist ja nicht mehr da, dein Bruder ist zu beschäftigt. Die Vorhänge sind zugezogen. Kein Licht dringt mehr in deine schöne Villa. Der Strom ist auf meinen Wunsch hin abgeschaltet worden. Die einzige Gelegenheit aus deiner Villa herauszukommen sind die Besuche an deinem Grab. Jeden Tag findest du dort frische Blumen vor. Ich hoffe, dass du sie siehst und sie dir gefallen. Von meinem Arbeitgeber bin ich vor kurzem gefeuert worden. Der Grund war die andauernde Abwesenheit ohne Entschuldigung. Immer wieder frage ich mich, was mich davon abhält, mein Leben weiterzuleben, ich antworte mir ganz ehrlich, dass es deine Abwesenheit ist. Doch schon dein Bruder erklärte mir, dass dies nicht richtig sei. Du hättest es auch nicht so gewollt oder getan, nicht wahr? Aber ich kann einfach nicht anders. Ich will die Erinnerung an dich nicht verlieren. So viel habe ich schon verloren, weil ich weiterlebte. Doch nun existiere ich nur noch, denn was ich hier tue, kann man nicht mehr leben nennen. Schon vor langer Zeit habe ich beschlossen, dass wenn ich sterbe, auf meinem Grabstein das Datum stehen soll, an dem ich dich kennen lernte, denn da begann ich erst zu leben. Und das Datum meines Todes soll gleich dem deinen sein, denn da hörte ich auf zu leben. Auch bei diesem Punkt hatte mir dein Bruder erklärt, dass diese Gedanken lächerlich seien. Doch ich beharrte auf ihnen, weil ich sie als richtig empfand. Dann wurde es auch ihm zu viel, du kanntest ja dein Bruder, er war immer ein überaus verständlicher Mensch. In der gesamten Zeit, in der ich ihn kannte, hatte ich nicht einmal erlebt, dass er die Beherrschung verlor. Doch ich hatte ihn an diesen Punkt gebracht. Wir leisteten uns eine erbitterte Diskussion, die letztendlich dazu führte, dass er mir drohte, mich zu einem Psychologen zu bringen. Doch damit hatte er den einen wunden Punkt bei mir getroffen. Denn wenn er mich in diesem Zustand zu irgendeiner Psycho-Tante schleppte, dann war es sicher, dass ich vollkommen durchdrehen würde. Weil sie mich dann in irgendeiner Irrenanstalt gefangen halten würden, weitab von allen Erinnerungen an dich. So versprach ich deinem Bruder, etwas zu ändern. Ich begann mit den Fenstern. Das erste Mal seit deinem Begräbnis zog ich die Vorhänge beiseite, die mich von der Außenwelt abgeschnitten hatten. Ich öffnete jedes Fenster bis zum Anschlag und ließ frische Frühlingsluft in deine Villa. Da fiel es mir leichter, weiteres zu ändern, denn ich hatte den ersten Schritt getan. Zunächst schloss ich mein Handy an und nahm den Kontakt zu meinen Eltern wieder auf. Sie waren erleichtert, mich relativ gesund zu wissen. Als nächstes ließ ich den Strom wieder anstellen, sodass ich wieder Möglichkeiten zur Kommunikation anschließen konnte. Darüber war dein Bruder schon sehr erleichtert. Er half mir mit allen Mitteln, mich wieder mit der Gesellschaft vertraut zu machen. Als ich alles für die Villa geregelt hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem neuen Job. Ich begann auf einen Rat deines Bruders klein, ich spürte schon jetzt, wie ich mich wieder an das Leben gewöhnen musste. Diese Zeit war schwer und ohne die Unterstützung deines Bruders wäre mir dieser Schritt nicht gelungen. Seitdem ich auch wieder Strom habe, läuft unsere gemeinsame Lieblings-CD wieder. Ich habe begriffen, dass die Erinnerung an dich niemals verblassen wird, wenn ich es so will. Deshalb rufe ich mir oft alle Erinnerungen an dich ins Gedächtnis. Nun bin ich oft an den Lieblingsplätzen von dir und mir. Ich lebe wieder und danke dir für die schöne Zeit, die wir gemeinsam hatten. Kapitel 3: Er ------------- Einige Zeit hatte ich gebraucht, bis ich in das Leben zurückgefunden hatte. Es war nicht mein altes Leben, in das ich zurückkehrte, nein, es war ein neues, das ich mithilfe Deines Bruders angefangen hatte. Jeden Abend liege ich in dem großen Himmelbett in deiner Villa. Manchmal bin ich einsam. Ich denke oft an die schönen Momente in unserer gemeinsamen Zeit und denke mir, sie war viel zu kurz. Oft frage ich mich, wieso du mir entrissen wurdest. Aber ich hatte das Gefühl, dass du nun wie ein Engel über mich wachst. Der Gedanke gefiel mir sehr. Ich brachte oft Blumen an dein Grab. Es sah immer sehr gepflegt aus, mit einer kleinen Statue eines Engels. Du hast immer gesagt, ich sei wie ein Engel. Jetzt bist du einer. Vor ein paar Tagen kam dann eine unglaubliche Nachricht. Ich war schwanger, im vierten Monat. Ich konnte es kaum fassen. Sofort erzählte ich meinen Eltern davon, doch sie verstanden mich nicht. Im Gegenteil, sie wollten, dass ich das Kind abtreibe. Doch ich wusste, es war Dein Kind, das würde ich niemals hergeben. Auch deinem Bruder brachte ich die Nachricht. Jeder von fragte, wie ich denn in meinem Zustand ein Kind großziehen wolle. Ich war enttäuscht. Dieses Kind war das Letzte, das du mir auf Erden von dir zurückgelassen hast. Es war schon längst zu spät, das Kind abzutreiben, daher mussten sie sich damit arrangieren. In meiner Schwangerschaft blühte ich auf und mir ging es immer besser. Nach und nach glaubten auch meine Familie und Dein Bruder daran, dass ich mein Leben wieder in den Griff bekam. Ich richtete Deine Villa ein wenig neu ein, dass auch unser Sohn einen Platz darin bekam. Viel Hilfe bekam ich von außen, was mich erleichterte. Von überall her bekam ich Kindersachen geschenkt. Winzig kleine Anziehsachen mit Bärchen und anderen niedlichen Tieren. Eine Wiege fand auch Platz in unserem Schlafzimmer. Gemeinsam mit Deinem Bruder besuchte ich einen Schwangerschaftskurs. Es war sehr amüsant. Diese neun Monate meines Lebens waren wunderschön, Dein Kind in mir wachsen zu spüren war überwältigend. Ich konnte es kaum erwarten, es in den Armen zu halten. Dann kam der Tag der Geburt. Er war schon einige Tage über dem Termin. Die Wehen begannen mitten in der Nacht. Ich rief Deinen Bruder an und er fuhr mich ins Krankenhaus. Die Geburt war nicht leicht, doch Dein Bruder stand mir bei und hielt anstatt Deiner meine Hand. Dein Sohn ist ein kleines, kräftiges Kerlchen, das dir zum verwechseln ähnlich sieht. Ich wünschte, Du wärest auch bei der Geburt gewesen und hättest ihn in den Armen halten können. Kapitel 4: Wir -------------- Die Jahre vergingen. Manchmal wie zähes Gummi, manchmal wie im Flug. Dein Sohn wuchs heran und er wurde Dir mit den Jahren immer ähnlicher. An schlechten Abenden war es wie ein Stich in mein Herz, wenn ich ihn ansah. Deine Augen blickten mich an. Eine an den Nerven zerrende Sehnsucht ergriff mich immer wieder. An guten Abenden lachten und spielten wir beide in deiner großen Villa Verstecken. Einiges hatte ich nun verändert, da es mich zu sehr an Dich erinnerte. Doch Dein Andenken bewahrte ich immer noch sorgsam auf. Überall hingen Bilder von Dir und Dein Sohn fragte oft danach, wie Du gewesen bist. Immer muss ich die Tränen zurückhalten, wenn ich ihm von Dir erzähle. Seit der Geburt Deines Sohnes habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben. Jeder kostbare Moment mit Deinem Sohn wird darin festgehalten. Ich denke oft, dass Du mitliest, wenn ich abends am Schreibtisch sitze und mit feiner, sauberer Schrift die Seiten fülle. Von meinen Schultern wird dann eine Last genommen. Wenn ich in das große Regal im Schlafzimmer sehe, dann wird es immer voller. Das macht mich glücklich. Der erste Tag im Kindergarten, Geburtstage, die Einschulung, der erste Liebeskummer, Klassenfahrten, Ausflüge, Erlebnisse, der erste Tag auf dem Gymnasium, die erste Freundin, Abitur, Abschlussball. Überall in den Büchern sind Bilder zu finden, die den Weg Deines Sohnes begleiten, doch auch ich habe Fortschritte gemacht. Neuer Beruf, neue Kollegen, mein eigenes, unabhängiges Leben, Beförderung. Vor kurzem habe ich jemanden kennen gelernt, der mir sehr ans Herz wächst. Doch ich kann noch immer nicht ohne Zweifel gehen. Er ist ein Gentleman, das erste Abendessen gemeinsam fand auf der Terrasse seines Strandhauses statt. Es war sehr schön, ich konnte mich aber nicht entspannen. In meinem Kopf warst du. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und bin früher gegangen, als ich geplant hatte. Am nächsten Morgen fand ich in der Post einen Brief. Er war von dir. Mein Herz setzte Momente lang aus. Ich lehnte mich gegen die Wand und rutschte an ihr hinab, so schwach wurden meine Knie. Mit zitternden Fingern hielt ich den Brief, wie eine Kostbarkeit, die nicht zerstört werden durfte. Aber ich fand in dem Augenblick auch nicht den Moment, ihn zu öffnen. Lange saß ich so dort. Zitternd. Tränen liefen mir über das Gesicht. Mein Herz drohte abermals zu zerspringen. Wieso kam dieser Brief erst jetzt? Jahre nach deinem Tod? Doch meine Sehnsucht siegte über meine Angst und ich riss den Brief mit unruhigen Fingern auf. Heraus fiel ein kleinerer Umschlag und ein beschriebener Bogen Papier. Als erstes las ich mir den Brief mehrmals durch, sog jedes einzelne Wort in mich auf. „Meine Liebe, es schmerzt mich, Dir diesen Brief schreiben zu müssen. Etwas sagt mir, dass ich nicht mehr lange leben werde. Hab keine Angst, ich werde immer über Dich wachen, egal, was passiert. Nun, meine Pläne sind klar, sie nie umzusetzen bricht mir jedoch das Herz. In dem kleinen Umschlag wird Dich eine Überraschung erwarten. Es tut mir unendlich leid, dass ich sie Dir niemals persönlich überreichen kann. Denke immer an die wunderschönen Tage und Nächte, die wir gemeinsam verbracht haben. Bitte vergiss mich nicht. Doch höre nicht auf zu leben. Beginne einen neuen Anfang, aus eigener Kraft. Ich werde Dich beobachten und auf Dich aufpassen. Schau nach vorn, das Leben bietet unendlich viele Möglichkeiten. Verwirkliche Deine Träume, bevor es zu spät ist. Ich liebe Dich über alles, mein Herz.“ Ich konnte mich nicht zusammen reißen und brach in Tränen aus. Die Sehnsucht nach dir wurde wieder unermesslich stark. Durch einen Tränenschleier öffnete ich den kleinen Umschlag und heraus fiel ein Ring. Zierlich und golden, mit einem winzigen Diamanten, der direkt in den Ring eingelassen worden war. Ich zog eine kleine Karte heraus. „Du bist meine Traumfrau. Dies sollte unser Verlobungsring werden.“ Nun war es um mich geschehen. Ein kompletter Zusammenbruch erfolgte. So fand mich Dein Sohn. Er nahm mich schweigend in den Arm. Tröstete mich, bis ich mich wieder gefasst hatte. Gerade sitze ich in dem kleinen Café an der Ecke, in dem wir das erste Mal gemeinsam Kuchen gegessen hatten. Mir gegenüber sitzt meine neue Bekanntschaft. Nach Deinem Brief habe ich mir ans Herz gefasst und wage nun einen Neuanfang. Deinen Ring trage ich an einer Kette um den Hals, ich werde Dich niemals vergessen. Doch ich werde auf Dich hören. Und mein eigenes Leben neu beginnen. Er weiß über Dich Bescheid und akzeptiert Dich. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Ich weiß noch nicht genau, wie ich es aufnehmen soll. Und wieder ist ein Jahr vergangen. Vor kurzer Zeit haben wir geheiratet. Ich bin abermals schwanger, Dein Sohn freut sich, großer Bruder zu werden. Glück bestimmt mein Leben. Dein Ring hängt immer noch an der Kette um meinen Hals. So werde ich niemals vergessen, dass Wir eine Familie sind. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)