D.Gray-Man von Owl_of_the_Arcane (Die unbekannte Geschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Aufbruch ------------------- Aufbruch Ein böiger Wind trieb dunkle, schwere Regenwolken dicht aneinander gedrängt über die englische Insel. Wie ein schweres Leichentuch verhüllten sie die blasse Sonne, die zu dieser Jahreszeit sowieso schon nur spärlich am Himmel erstrahlte. Immer stärker riss der Wind an den Wolken, trieb sie unbarmherzig voran, bis diese ihre schwere Last auf das grüne Land und die grauen Städte abließ, damit sie schneller weitereilen konnten. Wütend prasselten die schweren Regentropfen auf die Schieferdächer der Häuser, wie sie es schon die letzten Tage getan hatten. Auch an die Fenster klopften sie beharrlich, vor allem da der Wind stark aus westlicher Richtung blies, dass der Wetterhahn auf der Zinne der ausgedehnten Klosteranlage nicht stillhalten wollte bzw. konnte. Das gotisch anmutende, kirchliche Gebäude, das im anfänglichen Blick unserer Geschichte steht, trotzte beharrlich der um sie herum wütenden Naturgewalt. Die mächtigen Steinquader, die auf der Nordseite verputzt waren, hatten schon viele Jahre diesem Regen getrotzt und würden es auch weiterhin tun. Wie selbstverständlich taten sie ihren Dienst, dienten treu dieser kirchlichen Einrichtung, die allerdings nicht mehr nur ein schlichtes Kloster war. Vor einem knappen Jahr hatte der schwarze Orden hier seine englische Abteilung untergebracht, nachdem die alte Behausung zerstört worden war. Seitdem schwärmten von diesem sicheren Hort die kleine Schar Auserwählter aus, um dem Grafen das Handwerk zu legen. Hoch oben, fast an der Spitze eines Turmes, der mit einem Zwillingsbruder das Südtor der weitläufigen Klosteranlage flankierte, war das Quartier eines dieser Auserwählten gelegen. Gelangweilt und deprimiert starrte sein Inhaber durch das dicke Bleiglas des kleinen Turmfensters hinaus in die regenverhangenen Welt. Sein ernstes Gesicht spiegelte sich im Halbdunkel seines Zimmers an der Fensterfront. Trostlos dreinblickende Augen starrten ihm von dort entgegen und spiegelten seinen Gemütszustand wieder, den ihm das lang anhaltende Regenwetter beschert hatte. Nein, nicht allein der Regen drückte ihm auf das Gemüt. Da war noch mehr, was den weißhaarigen Jungen beschäftigte und ihn älter erscheinen ließ, als er war. Gerade einmal 16 Jahre zählte er, doch das verhärmte Gesicht, das ihm da entgegenstarrte, war nicht das eines 16 Jährigen. Er seufzte, wie schon so oft die letzten Stunden über. So vieles schwirrte durch seinen Kopf, ohne dass er wirklich danach greifen und ihm Ordnung aufzwingen konnte. Es war einfach zu viel geschehen in der letzten Zeit, zu vieles, was ihn in seinen Grundfesten erschüttert hatte. //Mana….// dachte er und wandte den Blick von seinem trostlosen Spiegelbild ab, wandte seinen Blick von der regenverschleierten Welt ab, um seine eigenen kleine Welt in Augenschein zu nehmen. Das Zimmer, das er sich ausgesucht hatte, maß gerade einmal 6 mal 3 Meter, doch das war für seine Ansprüche vollkommen ausreichend, schließlich brauchte er es nur zum Schlafen. Die restliche Zeit war er auf Achse, entweder hier im Kloster, oder draußen, wenn er auf einer der unzähligen Missionen war. Ein weiteres Seufzen drang über seine trockenen Lippen und er ließ seinen Blick hinüber zu seinem Bett schweifen und dann ein Stück die Wand hinaufklettern, bis er das große Ölbild erfasste, das dort hing. Es war ein sehr expressionistisch bis surrealistisches Motiv, das einen Clown zeigte. Dieser Clown wanderte mit einem traurigen Lächeln einen geschwungenen Weg entlang. Wenn nicht schon dieses traurige Lächeln und die dunklen Farben mit den dicken, schwarzen Umrandungen eine düstere Atmosphäre heraufbeschworen, dann aber der schwarze Sarg, den der Clown trug. Dieses Bild passte zu ihm. Es verkörperte seine momentane Situation nur zu gut. Der Clown, das war er, er als Exorzist, wenn er seine Innocence heraufbeschwor. //Crowned Clown…// erinnerte er sich an den Namen, den seine Innocence erhalten hatte, nachdem diese endlich ihre wahre Form angenommen hatte. Der Junge hob die rechte, behandschuhte Hand und berührte mit seinen Fingern ganz sachte sein gemaltes und gefühltes Ebenbild. Der schwarze Sarg. Er verkörperte all seine Last, die er mit sich führte. All seine Zweifel, seine Ängste, seine Sorgen, seine Verantwortung, seine Aufgabe. Die Finger rollten sich ein, als die Hand sich zur Faust umformte und er den Kopf senkte, dass das mittellange, weiße Haar sein Gesicht verdeckte und den Schmerz, der sich darauf wiederspiegelte. Ein-, zweimal atmete er schwer ein und aus, die Lippen fest aufeinander gepresst. Ja, der Schmerz saß tief und er war frisch, doch er war auch stark. Trotzig hob er den Kopf wieder an und fokussierte seinen Leidensbruder auf dem Ölbild, bevor der geschlungene Weg seine Aufmerksamkeit in Beschlag nahm. //Das ist mein Weg. Der Weg, den ich gewählt habe, ich allein. Es ist der Weg, den ich gehen werde, weil ich mich dazu entschieden habe ihn zu gehen. Ich werde nicht zurücksehen und auch nicht stehen bleiben. So habe ich es versprochen. Dir versprochen, Mana…// dachte er und in seine Gedanken klangen diese Worte trotzig, aufsässig, doch sie besaßen eine innere Kraft, die ihn vorwärts bewegte. Immer weiter auf seinem Weg, bis er sein Ziel erreicht hatte, welches dies auch konkret war, oder bis der Tod ihn würde holen kommen. Ein Geräusch ließ den Jungen aus seiner dunklen Gedankenwelt aufschrecken. Wieder ertönte es, diesmal etwas lauter. Es war ein Klopfen an seiner Tür. Das schwere Holt dämpfte den Ton stark ab, sodass er es nur dank der fast völligen Stille gehört hatte. Den Regen hatte er schon lange als Hintergrundgeräusch ausgeblendet. Wieder ein Seufzen seinerseits, doch dann riss er sich zusammen, strafte die Schultern und versuchte die dunkle Stimmung, die ihn umgab, zu vertreiben. Nur ein paar Schritte braucht er bis zur Tür. Die Klinge war frisch geölt worden, sodass sie sich leicht herabdrücken ließ und er die Tür nach Innen öffnen konnte, um zu sehen, wer ihn um die noch frühe Morgenzeit aufsuchte. „Guten Morgen, Allen. Komui erwartet uns in seinem Büro…“, begrüßte ihn eine muntere, weibliche Stimme, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Vor seiner Tür stand ein japanisches Mädchen von fast gleicher Größe. Ihr grünschwarzes Haar, das so langsam wieder nachwuchs, schimmerte im diffusen Licht der Korridorlampen. Sie trug einen langen, dicken Reiseumhang mit Kapuze, den Allen kurz prüfend betrachtete. Sachte schloss er die Tür seines Zimmers hinter sich und trat zu seiner Kollegin auf den Flur, wobei er ihr freundliches Lächeln, in einer etwas abgemilderten Version erwiederte. „Was gibt es denn, Linalee? Eine neue Mission…?“ erkundigte er sich und räusperte sich kurz darauf, da seine Stimme noch heiser von seiner depressiven Stimmung klang. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen wegen ihm machte. Linalee schien keine Notiz von der etwas angekratzten Stimme zu nehmen und bestätigte seine Frage mit einem Nicken. „Ja, allerdings weiß ich auch noch nichts Genaueres. Ich habe auch erst gerade davon erfahren…“, erklärte sie, als sie zügig durch die Korridore und über Treppen durch das noch fast leere Gebäude schritten. Es war noch zu früh, als dass man ernsthaft jemandem auf den Fluren begegnen würde. Sie kamen an eine Kreuzung, die Allen irgendwie vertraut, aber doch auch fremd erschien. Trotz der Zeit, die sie bereits hier verbrachten, verlief er sich immer noch in den Gängen des Klosters, da sie alle recht ähnlich aufgebaut waren. Zu seinem Glück hatte er Linalee an seiner Seite, die immer irgendwie zu wissen schien, wo man abbiegen musste. Allen war in diesem Sinne wohl ein hoffnungsloser Fall. Dank Linalee’s professioneller Führung erreichten die Beiden rasch ihr Ziel, das Büro von Komui Lee, dem Leiter der englischen Abteilung des schwarzen Ordens. Das erste, was man an Komui’s heimlichen Reich bemerkte, wenn man es betrat, war der einzigartige Fußbodenbelag. Unzählige Datenblätter und Akten bedeckten in einem chaotischen Durcheinander den altrömischen Mosaikfußboden. Es war fast unmöglich durch dieses Zettelmeer zu waten, ohne eines dieser durchaus wichtigen Dokumente zu berühren oder gar zu beschädigen. Auf dem eleganten, alten Holztisch des Supervisors sah es nicht viel besser aus, auch wenn dort wenigstens ein Hauch von Ordnung Einzug gehalten hatte. Den größten Teil der ausladenden Arbeitsfläche nahmen gewaltige Papiertürme ein, die wie drohende Wächter ihren Bearbeiter von seiner Außenwelt abriegelten und ob ihrer doch recht beachtlichen, vielleicht auch beängstigenden Größe dazu neigten auf besagte Peson niederzustürzen und ihn dabei lebendig unter sich zu begraben. Häufig genug mussten seine engsten Mitarbeiter ihn unter solch einen Trümmerhaufen hervorziehen, sofern sie es überhaupt schafften diesen Mann ans Arbeiten zu bekommen. Er war ein Mann mit unterschiedlichen Persönlichkeiten. Das war die beste Beschreibung für Komui Lee. Tief in seinem Herzen war er ein verantwortungsvoller Mensch, der seine Position sehr ernst nahm und sein möglichstes tat, um die Exorzisten zu unterstützen, wo es nur möglich war. Nur schweren Herzens schickte er sie auf die gefährlichen Missionen, bangte um ihre sichere Heimkehr und plagte sich mit den Verlusten, die sie nichtsdestotrotz immer häufiger erlitten. Neben diesem ernsthaften Charakter, der hauptsächlich durch seine Arbeit geprägt worden war, war der gebürtige Japaner auch ein Tunichtgut, der sich nur zu oft vor seiner Arbeit zu drücken pflegte und seine jüngere Schwester, Linalee, abgöttisch liebte. Er hatte einen wahren Schwester-Komplex entwickelt, von dem Tag an, als Mitglieder des schwarzen Ordens zu ihnen nach Hause gekommen waren und seine Schwester fortgebracht hatten, da sie ein kompatibler Träger für eine Innocence war. Verzweifelt hatte er ihren Namen geschrieen und sich gegen die Arme gewehrt, die ihn fest- und zurückgehalten hatten. Linalee, seine jüngere Schwester und einzigstes verbliebenes Familiemitglied, war von dem Tag an aus seinem Leben verschwunden. Seine kleine Linalee war ihm genommen worden. Trotz all seiner Bemühungen hatte es drei Jahre gedauert, drei lange Jahre, bis er es selber in den schwarzen Orden geschafft hatte. Als brillanter Kopf hatte er schnell eine höhere Position erreich und hatte bald den Posten des Supervisors der englischen Abteilung erhalten. Es war sein persönliches Opfer, das er bringen musste und auch freiwillig brachte, um wieder mit seiner geliebten Schwester vereint zu sein. Für jeden Tag, den er zusammen mit ihr verbringen konnte, war er unendlich dankbar. So erhellte auch jetzt ein strahlendes Lächeln sein müdes, überarbeitetes Gesicht. Mit einer erstaunlich schwungvollen Bewegung schob er den hohen Lehnenstuhl zurück, als er sich leicht streckend erhob, den Tisch umrundete und zur Begrüßung seine Schwester kurz aber kräftig in die Arme schloss. Dieser kurze, familiäre Kontakt gab ihm Kraft weiterzumachen. „Guten Morgen, ihr zwei. Gut, dass ihr so schnell gekommen seid. Ich möchte, dass ihr euch umgehend nach Lyon begebt und dort Lavi und Bookman bei der Suche nach einer Innocence assistiert. Wie es scheint brauchen sie dringen Unterstützung. Näheres könnt ihr dem Missionsbericht entnehmen. Bei Unklarheiten wendet euch am besten an die beiden. Seid vorsichtig“, gab Komui schließlich Einsicht in die bevorstehenden Mission und entließ die beiden Exorzisten aus seinem Büro, nachdem er innen den entsprechenden Missionsbericht ausgehändigt hatte. „Ich hoffe es geht ihnen gut…“, murmelte Linalee besorgt, die Stirn leicht gerunzelt. Die junge Japanerin war ein herzensguter Mensch von angenehmen Charakter. Zu ihren Freunden, die sie nicht als reine Arbeitskollegen betrachtete, wie manch andere, hatte sie ein besonders enges Verhältnis, vor allem zu Allen und Lavi. Dementsprechend machte sie sich aber auch Sorgen, wenn sie irgendwelche schlechten Nachrichten vernahm. „Mach dir bitte keine Sorgen, Linalee. Die beiden können gut auf sich selber aufpassen. Sie erkennen früh genug, wann sie Hilfe brauchen. Deshalb sind wir ja auch unterwegs, um sie bei ihrer Arbeit zu entlasten“, versuchte der weißhaarige Exorzist das Mädchen zu beruhigen. Sie waren bereits wieder in dem Flügel, der zusammen mit Allen’s Turm die Exorzistenquartiere beherbergte. „Ja, du hast vermutlich Recht. Lavi langweilt sich sicherlich nur übermäßig“, stimmte sie leicht lachend zu, doch ihr scheinbar fröhliches Lachen klang angespannt. Es war ihr nicht zu verdenken angesichts der gefährlichen Arbeit, der sie nachgingen. Schon zu viele unschuldige Opfer hatte sie gefordert. Auch sie beide wären beinahe dieser Gefahr zum Opfer gefallen. Das gerade mal kinnlange, etwas strubbelige haar der Japanerin war nur ein Indiz für den Kampf, den sie ausgefochten hatte. Sie hatte alles in die Waagschale geworfen gehabt, all ihre Kraft, all ihren Mut, all ihre Hoffnung, doch am Ende hätte sie mit ihrem Leben büßen müssen. Sie hatte ihre Innocence über das Maximum hinaus aktiviert, ihr und sich selbst das letzte bisschen Kraft abverlangt, ein Unterfangen, das die Lebenskraft des Trägers aufzehrte. Ihr Leben hätte verlöschen müssen, wie eine ausgebrannte Kerze, doch das Schicksal hatte den glimmenden Docht ihrer Existenz neues Leben eingehaucht. Anstatt sie zu verzehren, hatte ihre Innocence sie beschützt. Eingeschlossen in einen riesigen, grünen Kristall hatte sie Linalee konserviert, wie Baumharz ein Insekt. Der Preis für ihr Überleben war ein Großteil ihrer Haarpracht, die durch die freigesetzte Energie der maximalen Aktivierung konsumiert worden war. Doch auch an ihrer Innocence war dieser Kraftakt nicht spurlos vorbeigegangen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Linalee wieder in der Lage gewesen war, Kontakt zu ihrer Innocence aufzunehmen. Sie beide hatten sich verändert, körperlich wie geistig, sodass ihre Annäherung an einander etwas Zeit gebraucht hatte und einen tiefen Entschluss. //Bitte, Innocence. Schenk mir Kraft, Kraft zum Kämpfen. Aber wenn die Zeit gekommen ist, lass mich bitte zu meinem Bruder zurückkehren….// „Ich pack schnell meinen Sachen zusammen. Wir sehen uns dann unten in der Eingangshalle“, drifteten Allens Worte in ihre abdriftenden Gedanken. Schuldbewusst blickte sie zu ihrem Freund auf, der allerdings schon die nächste Treppe in Angriff nahm, die ihn weiter hinauf in sein Turmzimmer leiten würde. Linalee schaute ihm noch kurz nach, bis er hinter einer Biegung verschwunden war und machte sich dann selber eiligst auf den Weg, um alle nötigen Vorbereitungen für einen zügigen Aufbruch zu treffen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)