Ein Russe im Dschungel von shibui (Yuriy x Kai) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war wie ein Feuer im Schnee. Yuriy starrte sekundenlang auf den kleinen Satz und wischte sich dann mit einem groben Tuch den Schweiß von der Stirn. Feuer? Ja! Schnee? Wo bitte? Die Hitze kombiniert mit einer viel zu hohen Luftfeuchtigkeit lag auf seinem Körper wie eine zweite, viel zu enge Haut und es fühlte sich an, als drücke ihn die schwere Luft direkt aufs Herz. Der klapprige Citroen C4 rumpelte durch ein Schlagloch – es war ganz sicher nicht das erste, soweit konnte Yuriy seinem gebeutelten Hintern vertrauen – und der blauhaarige Japaner an seiner Seite machte ein schmatzendes Geräusch im Schlaf. Wie der junge Mann bei dem Höllentrip überhaupt schlafen konnte, blieb ihm allerdings ein Rätsel. Er sah wieder auf das dünne Buch in seiner Hand. Ein Reisebericht, den Yuriy vor vielen Jahren, nicht älter als 14 dürfte er damals gewesen sein, gelesen hatte. Der Autor, Ivan Papov, hatte mit seiner Erzählung über den Dschungel Lateinamerikas, die schönen Wilden und diesem einem Satz etwas in Yuriy bewegt, was er damals nicht fassen, nicht greifen konnte und bis heute nicht verstand. Die vielfältigen, wenn auch zurückhaltenden Beschreibungen hatten ihn nie losgelassen und jetzt folgte er selbst auf dem Weg, den dieser Autor vor ihm eingeschlagen hatte. Nur bis jetzt war von dem Zauber und der Magie nichts zu spüren. Er saß in einem Citroen Viertürer, Baujahr 1929, rumpelte durch brasilianisches Staatsgebiet, einen japanischen Dolmetscher an seiner Seite und einen missgelaunten Polen namens Dunga am Steuer, der eine Kippe nach der anderen rauchte und ständig fluchte. Wie viele andere russische Familien, war auch seine 1917 aus Russland geflohen, über Deutschland nach Großbritannien und in die USA. Er war gerade mal zehn gewesen. Heute, vierzehn Jahre später und während sich in Europa ein Sturm erhob, feierte seine Familie in der prüden New Yorker Gesellschaft prüde Partys und diskutierte über oberflächliche Moden und arrangierte Heiraten. Die stickige Luft dieser bornierten, kulturlosen Welt hatte ihm keinen Raum mehr zum Atmen gelassen. Ein weiteres Schlagloch, so tief wie der Grand Canyon schien es seinem Hinterteil, und der Kopf seines japanischen Begleiters sackte auf seine Schulter. Wenigstens einer genoss offenbar die Reise. Yuriy sah seufzend aus dem halb offenen Fenster, wünschte sich die schwüle Luft, die ihm träge entgegen wabberte, wäre nur etwas kühler, nur so viel, dass sie wie eine Erfrischung wirkte. Der Dschungel, der sich am Rand des schmalen Holperweges drängte, hatte sich in bedrohlich dunkles Grün gekleidet und es schien, als warte er nur auf seine Gelegenheit diese Spur menschlichen Daseins mit seiner Undurchdringlichkeit zu verschlingen. Yuriy schauderte trotz der Hitze. Wie viele Leichen weißer Männer, die wie er das Abenteuer gesucht hatten, wohl dort drinnen, tief in den schwarzen Schluchten des Dschungels in Lianen und Sträucher verheddert vor sich hin moderten? Von Maden zerfressen und… ah, er hatte zu viel Dschungelluft geatmet. Die schweren, ungewohnten Gerüche vernebelten sein Gehirn und er wandte den Blick ab von Farnen und Orchideen, bunten, exotischen Blumen und seltsamen, erschreckend großen Insekten. Dunga fluchte wieder, als sie erneut durch ein Schlagloch holperten und steckte sich nebenbei eine Kippe an. Der Geruch von Zigaretten hatte ihn immer gestört, aber hier im menschenfeindlichen Urwald beruhigte ihn der beißende Geruch. Der Mensch war Zivilisation, er war der Bezwinger der Natur und er würde hier genauso heil wieder raus kommen wie er rein gekommen war. Er fasste das Buch mit den abgegriffenen Seiten und dem geklebten Buchrücken fester. Es war wie ein Feuer im Schnee. Was hoffte er nur hier zu finden? „Was stinkt denn so?“, murmelte der Japaner noch im Halbschlaf und in seinem nahezu perfekten Englisch. Yuriy fragte sich unwillkürlich, wie lange der jungen Mann bereits fern seiner Heimat leben musste, wenn er selbst im Halbschlaf nicht in seiner Muttersprache redete. Das Gewicht auf seiner Schulter verschwand und der Japaner räkelte sich gähnend. Feindselig starrte er zu Dunga und seinen Zigaretten und wandte sich dann im vertraulichen Flüsterton an Yuriy. „Wer soll bei dem Mief denn schlafen?“ „Wer soll bei dem Geholper schlafen?“, antwortete der Russe mit einem Hauch Ironie in der Stimme. „Alles eine Frage der Gewöhnung. Sie werden sich in den nächsten Tagen noch in den Luxus eines holprigen Autos mit Moskito-Netzen vor den Fenstern zurückwünschen.“ „Wie lange leben Sie eigentlich schon hier, Kinomiya?“ Yuriy war die Frage herausgerutscht. Es war nicht seine Art neugierig zu sein, doch wer hier in diesem Exil freiwillig lebte, war entweder auf der Flucht oder auf der Suche. Dunga wirkte wie ein Mann, der gerade so dem Henker entgangen war und Yuriy interessierte sich kein bisschen für den Hintergrund des muskulösen Polens. Aber dieser fröhliche, aufgeschlossene Japaner, der nach eigener Aussage neben Englisch, fließend Portugiesisch und die Sprache der Guarani, der Ureinwohner, in drei Dialekten sprach und den er etwa zwei Wochen zuvor in der Hafenstadt Belem als Dolmetscher engagiert hatte, passte so scheinbar gar nicht hierher. Ein Lächeln und eine Gegenfrage. Das war alles, was Yuriy als Antwort erhielt. „Und was wollen Sie hier finden?“ Der Russe verstand, wenn er keine Fragen stellte, würde man auch ihn nicht fragen. „Wir sind gleich da“, rief Dunga vom Fahrersitz nach hinten. Yuriy steckte das Buch in seine Tasche und blickte gespannt aus dem Fenster. Der Wald wich einer Lichtung, einer kleinen Siedlung. Die letzte, die sie passieren würden. Die letzte, bevor nichts mehr kam, als undurchdringlicher Dschungel. Bis hierhin waren die Ausläufer der Zivilisation vorgedrungen. Was sie danach erwartete, konnte Yuriy nicht mal ahnen. Das Dorf war klein, gerade ein Dutzend Hütten, die sich um ein größeres Gebäude mit Steinfundament scharrten. Kinder und Frauen kamen heran, als sie davor hielten und Yuriy betrachtete das flache, mit Panelen verkleidete Haus auf dessen Dach die portugiesische Fahne träge in der heißen Luft hing. Drei Holzstufen führten auf eine schmale Veranda auf der Korbsessel standen und ein Mann. „Zé Marques?“, fragte Yuriy während er ausstieg und beobachtete erleichtert, wie sich die Schar Kinder um Kinomiya versammelte, der wie in jedem Dorf Geschenke und Süßigkeiten verteilte und sich in einem rasanten Kauderwelsch, einer Mischung aus Portugiesisch und Guarani, verständigte. „Yuriy Ivanov?“ Marques kam die Stufen herunter. Er war klein, mittleren Alters, mit wachen, braunen Augen und hellen Strähnen in dem dunkelbraunen Haar. „Ich bin froh, dass Sie es unversehrt hierher geschafft haben. Die Nachricht über Ihr Kommen, ist ja bereits vor einem Monat bei uns eingetroffen.“ Sie begrüßten sich mit festem Händedruck und Yuriy stellte Dunga vor, während er sich gleichzeitig nach Kinomiya umsah. Der verschwand gerade in einer der zahlreichen Hütten, dicht gefolgt von einigen Männern und Frauen. So schnell würde er den Japaner nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte bereits gemerkt, dass der Blauhaarige die Gesellschaft der Indios der der Portugiesen vorzog. Einmal hatte ihn Yuriy danach gefragt und der junge Mann hatte erstaunt geantwortet, dass es doch eine Frage der Höflichkeit sei, sich dem Dorfoberhaupt zuerst zu zeigen. In einer Gemeinschaft gab es Strukturen und Regeln, denen man sich unterordnen musste, wenn man die Unterstützung ihrer Mitglieder wollte. Die portugiesischen Verwalter konnten zwar befehlen, aber welcher Befehl schaffte einem das Vertrauen der Menschen? Ein weiser Gedanke. „Kommen Sie.“ Marques schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter und dirigierte ihn mit Nachdruck die Verandatreppe hinauf und in sein Haus. Dämmriges Zwielicht, nur von wenigen Lichtstreifen durchbrochen, tauchte den Raum in eine befremdliche Atmosphäre, die völlig im Kontrast zu der bunten Kleidung der Dorfbewohner und dem saftigen Grün der Vegetation stand. Die Luft war kühler, die Fensterläden geschlossen und Yuriy seufzte erleichtert. „Es dauert eine Weile, bis man sich an das Klima hier gewöhnt.“ Marques deutete auf eine Metallpritsche und ein abgenutztes Sofa. „Hier können Sie heute Abend schlafen. Ihr Begleiter hat sich ja schon anderweitig arrangiert.“ Yuriy ließ seine Tasche auf die dünne Matratze des Bettes fallen, das mit Abstand gemütlicher wirkte, als das Sofa, und streckte sich dann. „Wollen Sie sich ausruhen?“ „Nein. Um ehrlich zu sein, hab ich Hunger.“ Marques lächelte. „Wir können auf der Veranda zu Abend essen.“ Dann wandte er sich an Yuriys Begleiter. „Was ist mit Ihnen, Dunga? Leisten Sie uns Gesellschaft?“ „Nein, Sir. Ich leg mich gleich hin. Wenn Sie vielleicht noch ein Gläschen Whiskey oder Rum für mich hätten.“ Der Brasilianer sah zur Tür und schier im selben Moment schreckte Yuriy herum. Eine junge Frau stand hinter ihm und musterte ihn abschätzend aus honiggelben Augen. Der Rothaarige schauderte, er hatte sie weder gehört noch gespürt. „Mao.“ Marques trat auf die junge Frau zu, deren Haar, wie Yuriy jetzt feststellte in einem seltsamen Ton gefärbt war. Eine Mischung aus hellen und dunklen Rottönen, die sich zu einem leichten Rosa verwoben. „Holst du unserem Gast“, und hier deutete er auf Dunga, „eine Flasche Whiskey und bereitest dann für Herrn Ivanov und mich das Abendessen auf der Veranda?“ Keine lieb gemeinte Bitte, auch wenn es so klang, sondern ein klarer Befehl. Yuriy hatte schon bemerkt, auf welch gespaltene Art die Weißen mit den Indios sprachen. Die Frau nickte, durchquerte geräuschlos den Raum und verschwand in einem angrenzenden Zimmer. Wenig später saßen Yuriy und der Brasilianer auf der schmalen Veranda in gemütlichen Korbsesseln und wedelten sich die Moskitos aus dem Gesicht, während sie ein leichtes Abendessen und süßen Wein genossen. „Ich habe diesen Dschungel“, Marques machte eine Handbewegung, die die ganz Welt zu umfassen schien, „in den ganzen Jahren, die ich hier lebe, nie tiefer als 40 Fuß betreten. Was glauben Sie, darin zu finden, Ivanov?“ Yuriy lächelte bitter. Das fragte er sich auch. Was hatte Ivan Papov hier gefunden? Er wich der Frage aus und wechselte schlicht das Thema. „Ihre… Frau, Mao, sie hat gefärbte Haare. Das habe ich bisher in noch keinem Dorf gesehen.“ „Sie gehört zu einem der Volksstämme auf der anderen Seite des Yguazú und ist als junges Mädchen zu uns gekommen. Es passiert manchmal, dass die Stämme Frauen zum Zeichen des Friedens tauschen. Sie hat einige Traditionen aus ihrem Ursprungsdorf mitgenommen. So wie die gefärbten Haare. Frauen wie sie haben es schwer im Dorf.“ Er seufzte. „Die Stämme hinter dem Fluss sind die wahren Wilden. Man erzählt sich viel.“ Dann blitzte etwas auf in den braunen Augen und er lächelte Yuriy wissend an. „Aber das wollen Sie ja selbst herausfinden, nicht wahr?“ ~~~ Der Morgen war mild, nicht wirklich kühl, aber erfrischend genug um Yuriy ein positives Gefühl zu vermitteln. Der Himmel über dem Dorf war grau und rot durchzogen und außer Zé Marques und Rai, einem Dorfbewohner, der sie bis zum Fluss Yguazú begleiten sollte, waren nur die drei Abenteurer bereits auf den Beinen. Dunga wirkte müde und verkatert und grummelte fortwährend über die schwere Ausrüstung und Gott wusste, was noch. Kinomiya hingegen war das blühende Leben, frisch und gutgelaunt und in einer angeregten Unterhaltung mit Rai. Yuriy besah sich seine beiden Begleiter mit gemischten Gefühlen. „Wie fühlen Sie sich?“ Marques musterte ihn mit wachen Augen und Yuriy zuckte nur leicht die Schultern. „Ich weiß ja nicht, was mich erwartet.“ „Die Hölle oder das Paradies, Ivanov. Und beten Sie, dass es das Letztere ist.“ Nach einer kurzen Verabschiedung, kehrten die vier Männer der Zivilisation den Rücken und Yuriy ahnte das erste Mal, auf was er sich hier eingelassen hatte. Sie brauchten fünf Tage, um den Yguazú zu erreichen und trotz der Anstrengung war Yuriy überrascht. Der Dschungel war weniger Furcht einflößend, als er von außen schien. Keine Wildkatzen, die sich auf sie stürzten, keine Kannibalen, sie mussten hauptsächlich auf Schlangen, Spinnen und Sümpfe achten. Rai gab ihnen Hinweise, wie sie vor allem die tödlichen Sümpfe erkennen und umgehen konnten. Als sie den Yguazú erreichten, war Yuriy alles andere als erschöpft. Er war erstaunt. Der Dschungel war heiß und der harte Fußmarsch hatte sie natürlich gefordert, aber auf seltsame Art und Weise fühlte er sich erfrischt und lebendig. Das erste Mal seit vielen Jahren. Vielleicht war dieses Gefühl schon ein Teil dessen, was er suchte. „Morgen überqueren wir den Fluss.“ Kinomiya hielt ihm einen Blechbecher mit lauwarmer Brühe hin und ließ sich neben Yuriy auf einem umgekippten Baumstamm nieder. Der Yguazú lag vor ihnen, ein breites grün-braunes Band, bis zu den Ufern dicht bewachsen und schlängelte sich träge in seinem Bett. Die Abenddämmerung tauchte ihn in rötliches Licht und über dieser Kulisse erhob sich der Lärm einer abstrakten, fremden Welt. Das Kreischen von Affen und Vögeln, das Summen und Singen von Insekten, das stete Rascheln in den Büschen und das Knacken von Holz. Nein, die Bedrohlichkeit dieser Wälder hatte nicht abgenommen und doch war es diese wilde Schönheit, die Yuriys Herz aufrührte und seine Sehnsucht anstachelte. „Rai kehrt dann in sein Dorf zurück und ich werde einige Regeln aufstellen, die Sie und Dunga beachten müssen.“ „Ich vertraue Ihnen da voll und ganz, Kinomiya.“ Und Yuriy meinte es ernst. Was blieb ihm auch anderes übrig? Gewissermaßen legte er sein Leben in die Hände des Japaners. Der Blauhaarige schmunzelte und nippte an seinem Becher. „Gefällt es Ihnen?“ Und der Russe musste nicht überlegen, was es war, oder was der Japaner meinte. „Ja“, murmelte er schlicht und ein Hauch Ehrfurcht schwang in seiner dunklen Stimme. „Das ist gut.“ ~~~ Sie überquerten den Fluss an einer schmalen Furt und Yuriy grübelte darüber, was Kinominya ihnen gesagt hatte. Wie sie zum Fluss zurückfinden konnten, sollte etwas schief gehen und sie würden getrennt. Und das sie dem Yguazú flussabwärts folgen sollten, statt ihn zu überqueren, um die Siedlung zu suchen. Doch was ihn wirklich beschäftigte war das Zeitfenster, das ihm Kinomiya gestellt hatte. Sie haben fünf Tage, um zu finden, was sie suchen. Wenn wir bis dahin nicht auf einen gastfreundlichen Stamm gestoßen sind, müssen wir umkehren. So sehr es ihn störte, wenn jemand ihm Vorschriften machte, so klar war ihm auch, dass der Japaner Recht hatte. Er wusste ja nicht mal selbst, was er hier am Ende der Welt suchte. Doch die Sehnsucht, das nagende Gefühl in ihm, das ihn schon sein halbes Leben begleitete, quälte ihn stärker denn je. Er glaubte daran, dass die Antwort auf all seine Fragen irgendwo in der grünen Undurchdringlichkeit dieses Waldes verborgen lag. Er suchte Papovs „Feuer im Schnee“ und er suchte sich selbst. Das Zeitlimit drängte ihn zur Eile, doch wie sollte er sich beeilen, wenn er nicht wusste, wo das Ziel lag? Er seufzte, schob sich die Blätter eines riesigen Farns aus dem Gesicht und lauschte Dunga beim Fluchen. Der strohblonde, hoch gewachsene Mann stolperte alle paar Meter über irgendwelche Wurzeln. Sie kamen langsam voran und am Abend des fünften Tages spürte Yuriy die Enttäuschung. Sie saßen um ein kleines Lagerfeuer und aßen von ihrem mager gewordenen Proviant. Dunga streckte sich ausgiebig. „Bin froh, wenn wir diesen Dschungel wieder verlassen“, nuschelte er zufrieden. Kinomiya verschluckte sich beim hastigen Essen und sah aus, als wolle er dringend etwas loswerden. Yuriy sah ihn abwartend an. „Wir–“ Ein kurzes Husten und der Japaner kippte einen Becher Wasser in einem Zug hinunter. „Wir werden morgen noch etwas weiter gehen.“ „Was?“, fuhr ihn Dunga an. „Ich dachte, wir kehren nach fünf Tagen um?“ „Es ist Ihnen beiden nicht aufgefallen, aber wir werden seit heute Mittag etwa beobachtet.“ Dunga sprang von seinem Platz auf, sah sich hektisch um und langte gleichzeitig nach seinem Gewehr. „Kannibalen?“, hörte Yuriy ihn murmeln und verdrehte die Augen. Sein Blick glitt über den nachtschwarzen Wald und blieb dann an Kinomiya hängen, dem die Belustigung angesichts Dungas Reaktion quer über das Gesicht geschrieben stand. Der Pole setzte sich wieder und Yuriy ergriff das Wort. „Wie viele?“ „Nur einer. Und er folgt uns in weitem Abstand.“ „Eine gute Nachricht?“ Der Russe war sich nicht wirklich sicher, doch Kinomiya nickte leicht. „Er scheint neugierig zu sein. Als wir uns heute an der kleinen Quelle ausruhten, kam er nah heran.“ „Haben Sie ihn gesehen?“ „Nein. Aber ich denke, er weiß, dass ich weiß, dass er da ist.“ Der Japaner kicherte. Offenbar machte ihm das Ganze riesigen Spaß. „Er wird sich uns morgen sicher zeigen und ich möchte Sie beide bitten“, dabei sah er hauptsächlich zu Dunga, „nicht unüberlegt mit Ihren Waffen umherzufuchteln. Die Menschen hier kennen die Macht von Feuerwaffen vermutlich noch gar nicht und dabei sollte es auch bleiben. Tun Sie auch sonst nichts, was aggressiv wirken könnte und überlassen Sie mir das Reden.“ „Sie sind ja auch der Einzige, der mit den Menschen hier kommunizieren kann, Kinomiya.“ Der Japaner lächelte bloß. „Kommunikation ist nicht aufs Reden beschränkt.“ Und verwunderte den Russen nicht zum ersten Mal mit ungeahnt tiefgründigen Worten. „Wenn alles gut läuft, nehmen sie uns als Gäste in ihren Stamm auf.“ Der Rothaarige spürte ein Kribbeln im Bauch, eine Spannung, die sich nicht lösen wollte und die den Russen noch einige Male an diesem Abend still schmunzeln ließ. So also fühlte sich Freiheit an. ~~~ Der Morgen hatte mit einem heftigen Schauer begonnen und jetzt gegen Mittag stapften sie durch den matschigen Boden. Bei der hohen Luftfeuchtigkeit trocknete trotz der Hitze ihre Kleidung nur langsam und schon zweimal hatte sich ein Blatt gefüllt mit Wasser und nicht mehr kräftig genug, das Gewicht zu tragen, über seinem Rücken ergossen. Yuriy musste sich schon fragen, wo in aller Welt der Wilde steckte, der sie ja angeblich seit gestern beobachtete. Eine lange Ranke schlang sich faul um sein Bein, gerade als sie einen langen Abhang hinab stiegen und Yuriy wollte sich losreißen. Doch das Biest war hartnäckig. Er zerrte kräftig und… rutschte, stolperte und fiel. Ein stärkeres Gefälle tat sich überraschend vor ihm auf und er landete auf dem Hosenboden, als er in erschreckendem Tempo durch einen grünen Tunnel und über schlammigen Boden den Hang hinuntersauste. Zweige und Blätter peitschten gegen seine Haut und während er Kinomiya mit leiser werdender Stimme hinter sich herbrüllen hörte, landete er laut fluchend in einer Schlammmulde. Na, toll! Ganz toll! Großartig! Jetzt war er nicht nur durchnässt bis auf die Unterwäsche, nein, er sah auch noch aus, wie ein Schwein. Er wollte gerade aus dem Dreck kriechen, da schreckte schnelles, lautes Rascheln ihn auf und ließ ihn zur Seite blicken. Irgendetwas kam auf ihn zu und es war schnell. Er tastete nach seinem Revolver, der Gott sei Dank nicht allzu viel von dem schlammigen Erlebnis abbekommen hatte und löste ihn vorsichtig aus seiner Halterung. Das Rascheln verstummte und einen Augenblick schien es unnatürlich still. Yuriy hielt die Luft an, Schweiß brach ihm aus und er fühlte seinen Adrenalinspiegel in die Höhe schnellen. Eine Raubkatze? Die eben noch erloschenen Geräusche des Waldes setzten nach und nach wieder ein und Yuriy war sich in der gewohnten Geräuschkulisse nicht mehr sicher, ob sich etwas anschlich. Er schluckte hart und entsicherte seine Waffe, den Blick starr auf die Büsche und Bäume gerichtet, hinter denen er seinen Jäger vermutete. Ganz ruhig. Ganz ruhig. Da knackte es direkt vor ihm und sein Herz sprang ihm beinah aus der Brust bis er erkannte, was vor ihm stand. Ein Mensch. Ihr stummer Begleiter des letztes Tages wahrscheinlich. Verdammt, er hätte sich fast in die Hosen gemacht. Vorsichtig und mit langsamen Bewegungen sicherte er seine Waffe und steckte sie weg. Dann erst wagte er einen ersten Blick zu dem Wilden. Füße und Beine waren bis zu den Knien in gegerbte Tierhäute eingewickelt. Kräftige Muskeln spannten sich unter der hellen, leicht karamellfarbenen Haut nackter, schlanker Oberschenkel und dann wurde Yuriy rot. Offenbar hielt man diesseits des Yguazú nicht viel von keuscher Bedecktheit. Der Mann war nackt und über schweren Hoden lag ein wohlgeformtes Geschlecht. Yuriy senkte betreten den Blick. Er konnte doch keinem Wildfremden auf den entblößten Körper starren. „Aya éga?“ Eine rauchige, samtige Stimme. Yuriy schauderte angenehm und seine eisblauen Augen fanden den Weg zurück auf den Körper des Wilden. Um die schlanke Taille war ein schmales Lederband geschnürt, an dem kleine Lederbeutelchen und ein Messer hingen. Der Oberkörper war leicht muskulös, genau wie die Arme. An den Handgelenken und um den Hals hingen Ketten mit Anhängern aus geschnitztem Holz, Knochen, Tierzähnen und Flussmuscheln. Um die Oberarme waren geflochtene Bänder gebunden und je zwei blaue Dreiecke waren auf die honigfarbene Haut auf jedem Arm gemalt. Yuriy zögerte, Kinomiya hatte sie gewarnt, kein aggressives Verhalten zu zeigen. Wer konnte schon wissen, ob nicht bereits Augenkontakt als Aggression galt? Trotzdem – er war zu neugierig. Er gab sich einen mentalen Ruck und sah auf… Sein Herz machte einen kleinen Satz und löste ein hauchfeines Kribbeln, ein Rieseln wie von Sand in seinem Bauch. Es waren nicht die seltsam gefärbten Haare – grau und blau – und nicht die blauen Dreiecke auf den Wangen, nicht die perfekte Linie der Wangenknochen oder die kleine Stupsnase, nicht die vollen, blassrosa Lippen oder die schmale, elegante Form der Augenbrauen, es waren die roten Augen, umrahmt von langen, schwarzen Wimpern, die ihm urplötzlich den Atem raubten. „Aya éga?“, fragte er wieder mit dieser rauchig-sanften Stimme, die Yuriys Körper mit einer Reihe kleiner heißer Schauer überzog. An seinen Ohren hingen blaue, grob geschliffene Steinchen, die im gebrochenen Licht des Waldes glitzerten, als er zögernd aber sichtbar neugierig auf Yuriy zutrat. Er beugte sich leicht, ein schmales Lächeln auf den schönen Lippen und Yuriy wusste nicht, was gerade mit ihm passierte, warum sein Herz so raste. Er wusste nur, er war der Antwort auf seine Frage so nah wie noch nie, als müsse er nur die Hand ausstrecken… Da knackte es im Gehölz und der nackte Indio wich rasch zurück, den Griff um seinen Speer – Yuriy hatte ihn vorher nicht mal bemerkt – festigend. „Ivanov, sind Sie hier – oh.“ Kinomiya stolperte aus dem Gebüsch, dicht gefolgt von Dunga und beide blieben wie angewurzelt stehen, angesichts ihrer neuen Bekanntschaft, während Yuriy endlich aus der Schlammmulde kroch. „Der ist ja nackt, dieser Affe“, hörte er Dunga in verächtlichem Ton spotten und bemerkte den feindseligen Blick, den Kinomiya dem Polen zuwarf. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für Auseinandersetzungen. Der Japaner begann in sanftem, freundlichem Ton mit dem Indio zu sprechen. Yuriy hörte seinen eigenen Namen und die seiner Begleiter. Nur die Vornamen. Der junge Mann antwortete und schließlich deutete Kinomiya auf ihn. Yuriy wurde heiß, als die roten Augen ihn erneut musterten. Ein langer, intensiver Blick, aber er hielt ihn. ~~~ Sie befanden sich auf dem Weg zum Dorf des Indios und sollten dort wohl dem Stammesoberhaupt vorgestellt werden. Aber Yuriys Kopf war voll mit anderen Dingen. Er wusste selbst nicht, warum er den Blick nicht abwenden konnte. Kai – so der Name ihres Führers – lief vor ihm her, auf den Schulterblättern ebenfalls je zwei blaue Dreiecke und Yuriys Augen flogen über den schönen Körper, bewunderten das Spiel von Muskeln und Sehnen unter der leicht gebräunten Haut und ja, während sein Blick zwischen Rücken und Oberschenkeln hin und her flog, verweilte er immer wieder sekundenlang auf dem festen Po. Einen Mann so anzusehen… war eine Sünde, ein Verbrechen vor dem Gesetz und den Menschen. Er war verwirrt und seine Gedanken ungreifbar. Er verstand sich nicht mehr und warum sein Herz so raste. Er schüttelte die Gedanken aus seinem Kopf und suchte krampfhaft nach der Rationalität hinter seinem Verhalten. Ihre faszinierende Schönheit zwang mich meine Augen auf sie zu legen, auch wenn es beschämend war. Ivan Papov hatte es so geschrieben und Yuriy hatte den Satz nie verstanden. Wie konnte es beschämend sein, etwas anzusehen, was schön war? Aber jetzt begann er zu begreifen. Und war das nicht die Logik dahinter? Es war keine Perversion seiner Natur, wenn er den jungen Mann ansah, es war lediglich die Faszination für das Unbekannte. Sicher ging es seinen Begleitern ebenso. Mit schwirrendem Kopf und fliegenden Gedanken merkte er erst, dass der Wald sich lichtete, als sich zu seinen Füßen in einem weiten Talkessel eine Siedlung offenbarte. Er sah nackte Menschen, hörte die Geräusche einer menschlichen Gemeinschaft und roch Lagerfeuer und gebratenes Fleisch. „Wunderschön“, murmelte Kinomiya an seiner Seite und betrachtete mit riesigen Augen die Szenerie vor ihnen. Kai begann bereits die Anhöhe hinab zu steigen. Es sah leichtfüßig und geschickt aus, während sie hinterher stolperten, als hätten sie nie richtig Gehen gelernt. Anders als in den Indio-Dörfern zuvor, kamen die Kinder und Frauen nicht heran gelaufen. Einige Männer traten hervor und die Schwächeren des Stammes hielten sich im Hintergrund. Trotz dieser Zurückhaltung wurden sie neugierig beäugt und scheinbar niemand sah in den weißen Männern eine Bedrohung. Yuriy schämte sich angesichts dieses grundsätzlichen Vertrauens, dass sie Gewehre und Revolver mitgebracht hatten, obwohl ihnen Kinomiya davon abgeraten hatte. Wie sein Großvater einmal sagte, Schusswaffen waren nicht geschaffen worden, um sich gegen wilde Tiere zu verteidigen, sondern um Menschen zu töten. Kai diskutierte gerade mit einer Gruppe von Männern und schien zu erklären, wo und wie er die Fremden gefunden hatte. Obwohl ihm die Menschen hier alle in ihrer nackten Exotik schön erschienen, wählten seine Augen Kai, um sich auf seinem schlanken, geschmeidigem Körper auszuruhen. Es fachte seine Sehnsucht an, ihn zu beobachten, aber auch seine Scham, weil er es tat. „Kommen Sie.“ Kinomiya bedeutete ihm, dass es weiterging und sie folgten einer Reihe Männern zwischen den Hütten entlang, gefolgt von einer Traube Frauen und Kindern. Die Hütte des Oberhauptes unterschied sich nicht wesentlich von den anderen des Dorfes. Ein Skelett von Bambusstäben, bespannt mit Tierhäuten, bedeckt mit Palmwedeln und ausgelegt mit Matten aus geflochtenem Schilf. Auf einer Anhäufung von Fellen saß der Häuptling und war wider Yuriys Erwarten kein alter Mann, sondern jung und ausgesprochen schön. Nackt, wie jeder hier saß er breitbeinig auf seinem Thron und wirkte dabei kein bisschen obszön, nur fremdartig. Eine große Anzahl Schmuck kleidete den schlanken Körper in ein mystisches Gewand und die langen, pechschwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten, durchzogen mit Federn und bunten Bändern. Einer der wenigen im Stamm wie es schien mit ungefärbten Haaren. Goldgelbe Katzenaugen erinnerten an die junge Frau Mao in Marques Dorf. „Knien Sie sich bitte hin. Wir dürfen ihn beim Sprechen nicht überragen“, wies Kinomiya sie flüsternd an und sank auf den Boden. „Ich knie doch nicht vor einem nackten Affen“, blaffte Dunga feindselig und Yuriy bemerkte die misstrauischen Blicke, die man ihnen sofort zuwarf. Dieser Idiot machte noch alles kaputt. „Dunga! Hinknien!“, fuhr er ihn eisig an, wusste, dass er sehr autoritär wirken konnte und tatsächlich der Pole zuckte zusammen und ließ sich schwerfällig auf die Knie nieder. Kinomiya sah ihn dankbar an. Schließlich knieten sie alle drei vor dem Häuptling, aufgereiht wie an einer Perlenkette, links und rechts flankiert von jungen und alten Männern, darunter auch Kai, wie Yuriy erfreut feststellte. Das Stammesoberhaupt wandte sich an einen Greis zu seiner Rechten, der das Wort an die Fremden richtete und so kommunizierte Kinomiya über einen Dritten mit dem Häuptling. Das Gespräch schien ewig zu dauern und in der ungewohnten Sitzhaltung taten dem Rothaarigen bald die Beine weh. Sein Name fiel häufig und einmal durfte auch Kai etwas sagen und endlich, endlich wandte sich sein japanischer Dolmetscher an ihn. „Sie nehmen uns als Gäste in ihren Stamm auf.“ Eine erfreuliche Nachricht. „Und weiter? Das kann ja nicht alles sein, was Sie gerade besprochen haben.“ Der Japaner schmunzelte. „Im Großen und Ganzen war es das wirklich schon. Wir sollen uns an die Dorfregeln halten und bekommen eine eigene Hütte. Und natürlich habe ich Sie auch wieder als unseren Anführer vorgestellt.“ Das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Sie wirken sehr beeindruckend auf die Menschen hier.“ „Inwiefern?“ „Ihre weiße Haut, die hellblauen Augen und haben Sie das Raunen vorhin gehört, das durch die Reihen ging?“ Yuriy nickte. „Das war, als ich erwähnte, dass Ihre Haare natürlich rot seien. Das verschafft Ihnen große Bewunderung, weil Sie so näher den Göttern sind.“ Eine junge Frau mit türkis gefärbten Haaren, zu zwei langen Pferdeschwänzen gebunden, führte sie zu ihrer Hütte. „Eine schönes Mädchen, nicht wahr?“, flüsterte Kinomiya ihm im Vertrauen zu, der ganz hingerissen war von dem Mädchen, das auf den Namen Ming hörte. Er flirtete mit ihr, während Yuriy die Hütte begutachtete. Diese war klein, aber erstaunlich einladend. Und nachdem er seinen Rucksack abgestellt hatte, war sein erster Gedanke aus den schlammigen Klamotten zu kommen und diese und sich selbst zu waschen. Er erklärte Kinomiya sein Anliegen. „Ich hole Ihnen jemanden, der Sie zu einer Quelle begleitet.“ Es war Kai, dem er gleich darauf, bepackt mit Kleidung zum Wechseln, einem Handtuch und einem Stück Kernseife in den Wald folgte. „Er hat angeboten, sich in den nächsten Tagen um Sie zu kümmern“, hatte Kinomiya ihm gesagt und dabei einigermaßen überrascht geklungen. Was daran so überraschend war, wusste Yuriy nicht, aber was der Japaner noch mit einem Grinsen ergänzte, störte ihn weitaus mehr. „Offenbar hält er Sie seit Ihrem Auftritt im Wald für tollpatschig.“ Gerade jetzt stand er allerdings vor einem ganz anderen Problem. Er musste sich entkleiden, um zu baden, doch Kai ließ ihn nicht wie erwartet allein, sondern hockte sich abwartend auf einen Stein. „Nui“, sagte er. Dabei zeigte er auf Yuriys Kleidung und machte eine Geste, die andeutete, er solle sich ausziehen. Der Russe seufzte. Wie sollte er jemanden, der weder seine Sprache sprach, noch selbst so etwas wie Kleidung am Leib trug, erklären, dass er aus einer Welt kam, in der es Scham gab? Wie hätte er überhaupt beschreiben können, was Scham war? Zögerlich und mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch begann er sein Hemd aufzuknöpfen und sich zu entkleiden. Die roten Augen ließen ihn keinen Augenblick los und seine Ohren glühten, als er sich auch die Unterhose abstreifte. Wie peinlich. „Kaya né.“ Yuriy prägte sich die Worte ein. Er wollte Kinomiya danach fragen. Schließlich, Kai immer den Rücken zukehrend und sein Geschlecht mit der Hand verdeckend, begann er umständlich sich zu waschen. Genauso umständlich trocknete er sich auch ab und erleichtert und ebenfalls umständlich kroch er in seine frische Kleidung. Als er begann die schlammigen Klamotten im Bach einzuweichen, hockte Kai sich neben ihn. Nah neben ihn, um genau zu sein, denn bei jeder Bewegung berührten sich ihre Arme. Neugierig wurde er beäugt und nachdem der Indio gesehen hatte, wie Yuriy mit der Kernseife über seine Hose rieb, griff er nach dem Seifenstück. Praktisch im gleichen Augenblick flutschte es ihm aus den Händen und mit einem überraschten „Ayá“ stürzte er sich im Reflex hinter her. Yuriy lachte leise und wunderte sich über die seltsamen Gedanken, die in seinem Kopf kreisten, über das warme, angenehme Gefühl und das wahnsinnige Flattern in seinem Bauch, als ihm Kai mit stolzem Lächeln sein Stück Seife wiedergab. Was passierte gerade mit ihm? Warum fühlte er sich so wohl? Und wieso hatte er keine Angst? Hatte er nicht immer Angst gehabt? ~~~ „Kaya né? Das hat er zu Ihnen gesagt?“ Yuriy nickte und sah Kinomiya auffordernd an. „Ähm… na ja…“ Der Japaner errötete unter seinem strengen Blick und leckte sich nervös die Lippen. „Er findet Sie schön.“ Yuriys Herz machte unerwartet einen kleinen Satz und es kribbelte sanft in seinen Eingeweiden. „Ich hoffe, Sie sind ihm nicht böse“, beeilte sich sein Dolmetscher zu ergänzen. „Warum sollte ich?“ „Hier sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht verboten. Bitte verachten Sie die Menschen hier nicht, weil sie andere Werte und Maßstäbe haben… W-Wenn Sie wollen, kann ich Kai bitten, sich Ihnen nicht mehr auf diese Weise zu nähern.“ „Ich weiß nicht, von was Sie reden, Kinomiya. Also halten Sie sich da raus.“ Überraschtes Schweigen und während Yuriy demonstrativ seine eisigste Miene zur Schau stellte, sah er so etwas wie ein vorsichtiges Lächeln auf dem Gesicht des Japaners. „Natürlich.“ ~~~ Fünf Wochen gingen ins Land und während Dunga immer schlechtere Laune bekam und immer häufiger mit ihm und Takao aneinander geriet, erschien es Yuriy immer mehr wie ein Wunder. Was hatte Marques gesagt? Hölle oder Paradies? Er hatte das Paradies gefunden. Die meiste Zeit verbrachte er mit Kai, der wie er mittlerweile erfahren hatte, der Sohn und Nachfolger des Dorfschamanen war. Eine wichtige Position im Dorf und genau deshalb war Takao damals so überrascht gewesen, dass ausgerechnet er Yuriy zum Baden begleiten wollte. Yuriy jedenfalls ging ganz in seinem neuen Leben auf, kein Stück vermisste er New York oder seine Familie, stattdessen versuchte er sich an der neuen Sprache. Guarani. Seltsamerweise konnte er sich die Worte leichter merken, wenn Kai sie ihm sagte und dabei auf irgendein Objekt deutete oder die dazugehörige Bewegung nachahmte, als wenn Takao ihn unterrichtete. Takao, ja, sie waren beim Vornamen angekommen. Es waren gegenseitiger Respekt und die Faszination für die gleiche Sache, die die Distanz zwischen Ihnen merklich hatte schrumpfen lassen. Yuriy wurde aus seinen Gedanken gerissen, als zarte Finger seine Hand berührten und sanft seinen Arm hinauf streichelten. Kai, der neben ihm stand, zeigte auf einen Baum, an dem einige Affen hingen und sich um Früchte stritten. „Saru“, erklärte er ihm und Yuriy wiederholte brav das neue Wort. Seine Haut brannte leicht von der flüchtigen Berührung. Kai fasste ihn immer so an, weich und vorsichtig, wenn er ihn auf sich aufmerksam machen wollte und gerade so, als wolle er ihn nicht verletzen. Es lag so viel Zärtlichkeit in den sanften Fingern, Yuriy würde keine Worte finden es zu beschreiben. Er folgte Kai, der wie immer voranging, um ihm den Weg zu zeigen. Er vertraute dem jungen Schamanen, wie er noch nie einem Menschen vertraut hatte und seine Augen flogen wie so oft über den schlanken Körper. Er hatte sich an die Nacktheit gewöhnt, fühlte sich wohl umgeben von der Natürlichkeit der Menschen hier, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, jemals selbst so herumzulaufen. Kai blieb an einem schmalen Bach stehen. Er hockte sich an den seichten Lauf und schöpfte mit den Händen Wasser, trank und sah Yuriy dann an. „Guquata.“ Wasser? Yuriy deutete auf den Bach und wiederholte, doch Kai schüttelte den Kopf. Wieder schöpfte er Wasser, wieder trank er, dann zeigte er auf seinen Mund. „Guquata.“ Trinken! Yuriy hockte sich neben ihn und ahmte die Bewegung nach. Er wiederholte das Wort und Kai nickte. „Gut.“ Und Yuriy musste schmunzeln. ‚Gut’ war eines der wenigen Worte, die er Kai beigebracht hatte und offenbar gefiel es dem Schamanensohn, sie möglichst oft in den Mund zu nehmen. Sie schwiegen, angenehm und beruhigend und Yuriy genoss das Gefühl von Vertrautheit. Irgendwann wandte Kai sich zu ihm um, kniete sich unmittelbar vor ihn und griff nach seinem Arm. Mit einer Hand hielt er Yuriys Handgelenk, den Arm nach innen gedreht und mit der anderen begann er federleicht über die blasse Haut zu streifen. Sie schien dem Russen unnatürlich empfindlich. Es brannte unter der leichten Berührung und heiße Wellen fluteten nach und nach Yuriys Körper, schossen durch sein Blut und verwirrten ihm die Sinne. „Schön“, murmelte Kai in andächtigem Ton wieder eines der Wörter, die er von Yuriy gelernt hatte. Dann erhob er sich halb und die Finger, die gerade noch seinen Arm gestreichelt hatten, berührten jetzt ehrfürchtig sein rotes Haar. Er spürte, wie sie mit einigen Strähnen spielten und wie sie durch seine roten Fransen fuhren. Kai war ihm so nah, dass seine Körperwärme auf ihn übersprang, ihn entflammte und schwindlig machte. Er könnte ihn so leicht berühren und seine Finger zuckten aufgebracht. Er genoss das zarte Streicheln seiner Haare und als Kai ihm schließlich ins Gesicht sah, hielt er die Luft an. Ein einzelner Finger zeichnete die Linie seiner Augenbrauen nach, schwebte über seinen Nasenrücken und geisterte zärtlich unter seinen Augen entlang. „Yuriy ist schön.“ Er war so voller Bewunderung. Yuriy wusste nicht wirklich, was er tat. Seine Hände ruhten auf Kais Oberarmen – wie waren sie bloß dahin gekommen? – strichen über die weiche, glatte Haut hinauf zu den Schultern, über den Hals und in Kais Gesicht. Er erwiderte die Geste mit den Augen. „Kaya“, hauchte er atemlos. Schön. Er strich hinab auf die Lippen, die sich öffneten unter seiner Berührung und warmer Atem kitzelte seine Fingerspitzen. Wie weich sie waren, wie warm… „Kaya.“ Er klang heiser und sein Herz wummerte schmerzhaft in seiner Brust. Sie zerriss ihn fast, seine Sehnsucht. Und es war als stände er vor einer offenen Tür. Nur ein Schritt und er wäre angekommen. Doch etwas hielt ihn zurück. Die Fesseln seiner Erziehung, die Konventionen seiner Welt… Es war so falsch. In einem Anfall eisiger Ernüchterung zuckte er zurück, brachte Abstand zwischen sich und Kai und sah die Frage, die Verwirrung in den roten Augen. Das Unverständnis. Vage zeigte er in die Richtung, in der er das Dorf vermutete. „Keyake?“ Gehen? Kai starrte ihn an, stand aber schließlich auf und ging an ihm vorbei. „Zhagi é.“ Komm. Yuriy wusste, er hatte einen unglaublich intimen Moment zerstört, aber er hatte nicht mehr weiter gewusst. Was hatte Kai von ihm erwartet? Was hatte er selbst von sich erwartet? Er war erleichtert und enttäuscht zugleich und umso näher sie dem Dorf kamen, umso mehr wünschte er sich zurück an den kleinen Bach. ~~~ Einige Tage waren vergangen seit dem Ereignis am Bach. Wider Erwarten hatte sich Kais Verhalten ihm gegenüber nicht gewandelt. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass der junge Schamane immer häufiger seine Nähe suchte. Der Gedanke brachte ihn zum lächeln und zufrieden schob er das Tierfell am Eingang seiner Hütte beiseite. Im Halbschatten sich gegenüber saßen Takao und Kai und schienen in ein ernstes Gespräch verwickelt. Beide sahen sie zu ihm auf und der Japaner lief bei seinem Anblick rot an. „Y-Yuriy! Äh… Ich soll Ihnen sagen… Kai möchte… Also…“ Ihm versagte die Stimme, dann wandte er sich wieder an den Indio, redete hastig auf ihn ein und es entbrannte eine heftige Diskussion. Yuriy verstand praktisch gar nichts und neugierig auf das Ergebnis ließ er sich neben den beiden jungen Männern auf der Schilfmatte nieder. Dunga war wie so oft nicht da. Sicher lungerte er im Dorf herum, genoss die Rauschmittel, die der Stamm zu Zeremonien und Festen nutze und pflegte seine schlechte Laune. Auf beunruhigende Weise entwickelte er sich immer mehr zum Störfaktor ihrer kleinen Idylle. Aber genau deshalb wollte Yuriy ihm die Rauschmittel nicht verbieten. Er war so schon unleidlich genug. Die Diskussion verstummte ein weiteres Mal und Takao sah ihn durchdringend und fest entschlossen an. „Kai möchte sie mit zu einem See nehmen… Eine heilige Stätte…“ Ein neuerliches Zögern und dann sprang der Blauhaarige eilig auf. „Ich kann es Ihnen nicht sagen, Yuriy. Es geht mich nichts an. Finden Sie es bitte selbst heraus und… ich hoffe, es ist das, was Sie suchen.“ Damit schoss der Japaner förmlich aus der Hütte und ließ Yuriy irritiert zurück. Er sah fragend zu Kai, doch der lächelte nur. Und Yuriy konnte nicht anders, er lächelte zurück. Es war ganz offenbar die Antwort, die Kai wollte. „Zhagi é.“ Komm mit. ~~~ Sie liefen fast drei Stunden. Kai hatte einen Lederbeutel dabei, in dem er Lebensmittel und ein weiches Jaguarfell verstaut hatte. Es mutete arg wie ein Picknick an und die Vorstellung mit Kai auf dem Fell zu sitzen, zu essen und Worte ihrer Sprachen auszutauschen, gefiel Yuriy ungemein. Der Wald wich einer Lichtung und jetzt wusste Yuriy auch, warum sie so weit gelaufen waren. Eingerahmt von Felsen und Vorsprüngen, umgeben von einem schmalen Streifen Wiese und unter einem kleinen, keine drei Meter hohen Wasserfall lag ein See und glitzerte in der Sonne. Es wirkte andächtig und idyllisch und das Plätschern des Wassers bildete den Hintergrund vor dem sich die Geräusche des Waldes, das Zirpen und Singen der Insekten und das stete unermüdliche Knacken und Rascheln im Gehölz wie ein Lied zusammenfügten. Kai legte seinen Beutel ab und sah Yuriy an. „Nui.“ Ausziehen. Der Russe erinnerte sich noch zu genau an dieses Wort. Sie wollten also hier baden. Mit Takao als Dolmetscher hatte er nach dem ersten Badeerlebnis Kai klar machen können, dass er bei der Reinigung seines Körpers allein gelassen werden wollte. Kai hatte sich danach stets daran gehalten. Wirklich verstanden, warum das so sei, hatte er aber scheinbar nicht und Yuriy sah sich einer ähnlich peinlichen Situation wie am ersten Tag gegenüber. Kai begann seine Beinbedeckung abzuschnüren und legte nach und nach seinen Schmuck ab. Selbst die Ohrringe wurden sorgfältig auf einer Felsplatte aufgereiht. Schließlich kramte er eine aus Holz geschnitzte Schüssel aus seinem Beutel und schöpfte sich Wasser aus dem See, um gleich darauf die blauen Dreiecke von seinem Körper zu waschen. Yuriy errötete unwillkürlich. Sicher, er sah Kai jeden Tag unbekleidet, doch jetzt so ganz ohne Schmuck und Farbe schien es ihm, als würde er ihn das erste Mal wirklich nackt sehen. Kais Gesicht ohne die Dreiecke wirkte weicher und jünger. Er war atemberaubend schön. Die roten Augen sahen zu ihm herüber und Kai winkte ihn herbei und deutete auf seinen Rücken. Yuriy verstand. Zögernd ließ er sich hinter dem Indio nieder und wusch die blaue Farbe von seinen Schultern. Kaum fertig damit, drehte sich Kai zu ihm um und zupfte nachdrücklich an seinem Hemd. „Nui.“ Und Yuriy gab nach. Was hätte er auch anderes tun sollen? Während der Indio es sich auf einem der flachen Felsen gemütlich machte, um ihm zuzusehen, streifte sich der Rothaarige nacheinander Hemd, Hose und Unterwäsche vom Körper. Diesmal verdeckte er weder sein Geschlecht noch drehte er Kai den Rücken zu. Es war seltsam, so intensiv gemustert zu werden, aber scheinbar gefiel seinem Begleiter, was er sah, denn er nickte, rutschte dann von seinem Felsen ins Wasser und winkte ihm zu folgen. Das Wasser war angenehm kühl und so klar, dass er den Grund sehen konnte. Der Boden bestand aus einer großen Felsplatte, nicht schmierig von Algen, sondern unbewachsen und rau unter seinen Füßen. Ein Schwarm kleiner, silbriger Fische stob auseinander und das Wasser selbst reichte ihm gerade bis unter die Brust. Kai tauchte und schwamm und Yuriy tat es ihm nach. Es war herrlich entspannend. Dann allerdings änderte sich die Stimmung. In der Mitte des seichten Gewässers kam der Indio auf ihn zu und Yuriy begriff sofort, dass etwas zwischen ihnen passieren würde. Sein Puls beschleunigte einige Takte und Kai legte eine Hand auf seine Brust, direkt über sein Herz, als ahnte er wie aufgeregt es darunter schlug. Zärtliche Finger begannen über seine Haut zu streifen, malten Muster, zogen die Linie seines Schlüsselbeins nach und umkreisten spielerisch seine Brustwarzen, neckten darüber bis sie hart wurden. Yuriy schauderte, wurde unruhig und seine Hände bewegten sich rastlos an seiner Seite. „Was?“, stammelte er und wusste doch, dass Kai ihn nicht verstand. Die feuerroten Augen sahen bittend zu ihm auf, forderten ihn auf die Liebkosungen zu erwidern und Yuriy begann hektisch über den geöffneten Mund zu atmen. Kai sah so schön aus, so erregend, so ergeben und schutzlos. Sein Blick glitt über den nackten Körper und blieb an dunkelrosa Brustwarzen hängen, die sich ihm sehnsuchtsvoll entgegenstreckten und gegen die in langsamen Rhythmus winzige Wasserwellen spülten. Er zitterte und bebte und stupste sie doch mit seinen Fingern an. Kai zuckte und deutlich sichtbar beschleunigte sein Atem. Der Indio sagte etwas, das Yuriy nicht verstand, sich aber anhörte wie ein Flehen nach mehr. Er bemerkte den Kontrast ihrer Haut, als er sacht über Kais Brust streichelte. Zartbraun und milchig weiß. In seinem Kopf kreisten die Gedanken, wurden schwammig und unklar. Kais Finger tauchten unter die Wasseroberfläche geisterten ruhelos über seinen Bauch und legten sich zärtlich in seinen Schoß. Er stöhnte, biss sich auf die Lippen und war nicht mehr Herr seiner Sinne. Falsch. Das ist falsch, brüllte sein Verstand. Ich will es so sehr, schrie seine Seele. Es war eine Sünde, nicht wahr? Ein Verbrechen. Wie konnte sich etwas für das ihn das Gesetz verurteilen würde, nur so gut anfühlen? So richtig? Sein Körper pulsierte vor Verlangen, vor ungestillter Sehnsucht und während er leise murmelte wie falsch es war, beugte er sich zu Kai, um ihn zu küssen. Es war nur eine Berührung von Lippen auf Lippen, bis Kai sie zu mehr machte, in ihn tauchte, ihn streichelte und anstachelte und der Russe konnte nicht anders, als sich diesem Kuss hinzugeben. Und da, ganz plötzlich verstand er! Kai war das Feuer, was er gesucht hatte und das den Schnee schmolz, der solange seine Seele bedeckt hatte. Seine Wünsche und Sehnsüchte, eingeschneit, im ewigen Winterschlaf. Kai hatte sie geweckt. Er schlang seine Arme um die schlanke Taille, um den berauschenden Körper und der zärtliche Kuss wurde gierig und wild. Blut rauschte in seinen Ohren, in seinem Schoß und er stand in Flammen, verbrannte im kühlen Wasser mit all der Sehnsucht, die ihn sein Leben lang gequält hatte. Er musste aussehen, wie ein wildes Tier, als er den Kuss löste und Kai anstarrte, als wolle er ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Der Schamane lachte leise, führte ihn aus dem Wasser und breitete das Jaguarfell auf dem Streifen Wiese neben dem See. Mit einladend ausgestreckten Armen ließ er sich darauf nieder und wartete auf ihn. In der Hitze der Nachmittagssonne, in schwüler, träger Luft, eingehüllt vom Lärm des Waldes und dem Plätschern des Wassers, stillte Yuriy seine Sehnsucht an ihm. Er hatte gefunden, was er gesucht hatte, hatte akzeptiert, was er selbst war. Und was sich so echt und gut anfühlte, konnte niemals ein Verbrechen sein. ~~~ „Ein Partnerschaftsritual?“ „Ja“, Takao nickte verlegen, „das war es, was ich Ihnen an dem Morgen sagen sollte. Dieser See ist eine heilige Stätte, an der zwei Menschen eine Partnerschaft eingehen. Kai hat es mir einfach so erzählt, aber ich konnte es nicht über die Lippen bringen.“ Yuriy lächelte ein wenig, sein hübscher Schamane hatte ihn also ohne sein Wissen zu seinem Mann gemacht. Er wollte ihren Bund so lange er konnte bewahren. ---The End--- ---- so, hoffe, es ist niemand bis hierhin eingeschlafen *gg* war schon sehr langatmig, aber ich wollte auch so ein wenig den schreibtechnischen Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts einfangen O.o Was ich hier ansonsten auf einen OS zusammengefasst hab, müßte eigentlich ein Mehrteiler sein, deswegen wirkt auch alles etwas gerafft. Kleines Quiz: wer war der Häuptling von Kais Stamm? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)