Ohne Seele von ElarionEulenschwinge ================================================================================ Kapitel 1: Warmes Blut und kaltes Silber ---------------------------------------- Die Nacht war sternenklar, und dementsprechend kalt. Vesna zog ihren löchrigen Mantel enger um sich. Am liebsten wäre sie heimgegangen, aber Victor würde sie schlagen, wenn sie kein Geld mitbrachte. Dabei versoff er es doch eh nur…und ein Freier würde auch nicht kommen in dieser windigen Nacht. Dann schon eher…Vesna zuckte zusammen. Schritte. Und das Licht einer Laterne. Vielleicht war es die Nachtwache. Vielleicht aber auch ein Freier. Rennen, oder bleiben? Die meisten Freier kamen ohne Licht, wollten nicht gesehen werden…doch wer ging in so einer Nacht schon freiwillig nach draußen? Als sie sich endlich zur Flucht entschied, war es zu spät. „Du bist ohne Licht unterwegs. Du weißt, was das heißt“ Vesna nickte zitternd. Ein paar Tage im Turm. Freiwild für die Wachen, die wesentlich grober waren als ihre Freier. Und Victor würde wütend sein. „Ich könnte ein Auge zudrücken. Vielleicht ist dir deine Laterne ja nur aus der Hand gefallen…“ fuhr der Wächter fort, schob die Klappe an seiner Laterne vor, um das Licht zu verdecken. Jung war er, noch bartlos. Fast hübsch, wäre er nicht so bleich gewesen, seine Wangen nicht so eingefallen. „Es soll nicht zu deinem Schaden sein“ erwiderte Vesna langsam und öffnete ihren Mantel. Ihr Kleid war tief genug ausgeschnitten, um zu zeigen, welche Sorte Mädchen sie geworden war. Wozu Victor sie gemacht hatte. Nicht, dass es nötig gewesen wäre – jeder wusste, was er von einem Mädchen zu halten hatte, das nachts allein und ohne Licht unterwegs war. Der junge Wächter leckte sich über die Lippen, sah sie mit einem hungrigen Blick an. „Ich…ich möchte dir nicht wehtun“ murmelte er unsicher. Ah. Diese Art Freier. Gut. An das Gefühl, schmutzig zu sein, hatte sie sich längst gewöhnt. Nur Schmerz fühlte sie noch. „Ich weiß auch nicht, was es für Folgen haben wird…“ Sein Blick wirkte geradezu verzweifelt. Und plötzlich, ohne jede Ankündigung, zog er seinen Dolch. Die Klinge blitzte im fahlen Mondlicht. Der Junge hielt sie vor sich, musterte sie eingehend. „Was ist dir lieber? Der Dolch?“ Er bleckte die Zähne. „Oder die hier?“ Er nahm die Abdeckung von seiner Laterne, hob das Licht an sein Gesicht. Vesna wunderte sich selbst, dass sie so ruhig blieb – denn die Eckzähne des jungen Wächters waren lang. Lang, und spitz. Ein Wiedergänger. Eine wandelnde Leiche. Aber war sie selbst etwas anderes? Tot fühlte sie sich die meiste Zeit über. Leer…seelenlos. Warum also entsetzt sein? Hierfür würde sie nicht einmal ihre Röcke heben müssen. Und vielleicht…vielleicht würde sie so werden wie er. In einem Sarg würde sie in Ruhe schlafen können. Einen Sarg hätte sie für sich allein. Kein Victor, der sie schlug, oder ihr auf andere Art Gewalt antat. „Die Zähne“ Er steckte den Dolch weg, ergriff stattdessen Vesnas linke Hand. Drehte sie mit der Handfläche nach oben und beugte sich dann über sie, als wolle er sie küssen. Es tat nicht weh. Überhaupt nicht. Die Haut war nur leicht angeritzt worden. Trotzdem rann warmes Blut über Vesnas Handgelenk, in den geöffneten Mund des Vampirs, der jetzt vor ihr kniete. Sein dankbarer Blick füllte ihr Herz mit Wärme, die sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Fast meinte sie, sehen zu können, wie seine eingefallenen Wangen sich rundeten. Er trank ihr Blut, andächtiger als Vesna jemals jemanden das Blut Christi hatte trinken sehen…damals, als sie sich noch nicht geschämt hatte in die Kirche zu gehen. Doch irgendwann versiegte das dünne Rinnsal. Der Junge erhob sich, griff in seine Tasche und drückte ein Taschentuch auf Vesnas Unterarm. „Ich hoffe, es heilt gut.“ Vesna griff an die Wunde, die jetzt doch etwas schmerzte, und berührte dabei für einen Moment die Hand des Vampirs, bevor er sie zurückzog. Eiskalt war sie. „Du bist dünn“ stellte er fest. „Hier“ Eine kühle Silbermünze in ihrer linken Hand. „Darf ich wiederkommen? Wo wohnst du?“ Sie sagte es ihm. „Komm am frühen Abend. Dann ist mein…“ ihr Geliebter war er schon lange nicht mehr. Die Liebe war gestorben, irgendwann. Unter den groben Händen eines der zahllosen, namenlosen Freier. „Victor. Victor ist dann nicht da“ Er wollte keinen anderen Mann in seinem Bett sehen. Seine Freunde nahmen Vesna stets mit zu sich, wenn er sie wieder einmal „verlieh“. „Dein Ehemann?“ „Er hat mich nie geheiratet“ Sie hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme. Ja, dieses Gefühl war noch da. Manchmal. Wenn sie daran dachte, was Victor ihr versprochen hatte. „Ich werde kommen, sobald die Sonne untergegangen ist.“ Das schwankende Licht der Laterne entschwand, begleitet von dem Geräusch leichter Schritte. Vesna machte sich auf den Heimweg, die Silbermünze in ihrer Hand fest umklammert. Kapitel 2: Mondblut ------------------- Die letzten Strahlen der Sonne vergoldeten die Dächer – die einzige Art von Gold, die man in diesem Teil der Stadt zu sehen bekam. Vesna stand am geöffneten Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Wann er wohl kommen würde? Kurz nach Sonnenuntergang konnte sie ihn wohl nicht erwarten, er musste ja erst aus seinem Grab steigen… Sie nahm den Kamm und fuhr fort, ihr Haar zu entwirren. Sie hatte es seit Tagen – oder waren es Wochen? – nicht gekämmt. Jetzt schämte sie sich dafür. Natürlich war es Unsinn. Er wollte nur ihr Blut, was scherte es ihn, wie sie aussah? Dennoch hatte sie noch einmal Wasser vom Brunnen geholt nachdem Victor fortgegangen war. Hatte sich gründlich von Kopf bis Fuß gewaschen, und ihr Nachthemd angezogen. Ihr einziges, halbwegs sauberes Kleidungsstück, denn Victor verbot ihr, im Bett etwas zu tragen. So war es noch recht ansehnlich, ein Andenken an bessere Zeiten. Vesna streichelte über die gestickten Rosenranken. Ihre Mutter hatte sie gefertigt, in mühevoller Kleinarbeit, „Damit du Glück in der Liebe hast“. Ob sie wohl manchmal noch an ihre Tochter dachte? An ihre dumme, ungehorsame Tochter, die nicht auf die Warnungen ihrer Eltern hatte hören wollen? Vesna hatte einmal versucht zu fliehen. Victor hatte sie zurückgeholt, und so verprügelt, dass sie tagelang bettlägerig gewesen war. Doch selbst wenn es ihr gelänge, was hatte es für einen Zweck? Wie sollte sie ihren Eltern ins Gesicht schauen? Es wäre nur zu verständlich, wenn Vater und Mutter sie in Schimpf und Schande wieder fortjagen würden. „Warum weinst du?“ Vesna blinzelte. Es war dunkel geworden, nur der volle Mond erhellte noch ihr Zimmer. Und Er war gekommen. Saß draußen auf dem Fensterbrett, als hätte er nie etwas anderes getan. Nackt. Er musste frieren. „Komm herein“ Er tat es, schloss das Fenster. „Es ist kalt hier.“ „Ich hatte nicht genug Geld für Kohlen“ Vesna sah schuldbewusst zum Ofen. „Die Silbermünze hat Victor genommen“ „Wo ist er jetzt?“ „Er trinkt sich wohl im „Brünstigen Eber“ einen an“ murmelte sie. „Warum willst du das wissen?“ Der Besucher wich ihrem Blick aus. „Nur so. Er ist dann wohl lange genug weg“ „Ja“ Eine Weile herrschte Schweigen. Vesna betrachtete den Körper des Jungen. Bleiche Haut spannte sich über die Knochen. Fast wie ein Skelett sah er aus. „Du hast Hunger.“ Sie schob ihren Ärmel zurück, bot ihm ihr Handgelenk dar. „Trink“ Er zögerte „Du hast nicht genug Blut“ flüsterte er, legte etwas aufs Fensterbrett. Eine weitere Silbermünze. „Ich hätte dir etwas zu Essen bringen sollen“ „Es ist egal. Trink“ Sie wollte es wieder sehen. Wie seine Wangen runder wurden, seine Haut rosiger. Diesen Blick in seinen grauen Augen. „Dann…“ er biss sich auf die Unterlippe, blickte Vesna zögernd an. „Lass mich das Blut trinken, das du ohnehin verlierst“ Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte. Er wusste es, musste es riechen können… Ihre Wangen wurden heiß. Albern musste sie aussehen, wie sie da errötete als wäre sie eine Jungfrau. „Ja“ wisperte sie mit gesenktem Blick. „Warte“ Sie nestelte an dem Gürtel, den sie immer trug, wenn sie doch einmal wieder blutete. Häufig geschah es nicht mehr, sie wusste auch nicht warum. Vielleicht war sie einmal zu oft bei der Engelmacherin gewesen. Endlich fiel der Gürtel, mitsamt dem blutigen Tuch das er hielt. „Danke…“ der Junge kniete nieder, ergriff den Saum ihres Nachthemds. „Sagst du mir deinen Namen? Es fühlt sich falsch an, sonst“ „Vesna“ „Ich bin…ich war einmal Liviu“ Die Härchen an ihrem Bein stellten sich auf, als er den Stoff ihres Nachthemds nach oben schob. Fast erwartete sie, dass sie wieder dieses taube Gefühl bekommen würde, das sie immer hatte, wenn ein Freier sich an ihr ergötzte. Aber es kam nicht. Natürlich nicht. Das hier war etwas völlig anderes. Liviu wollte nur ihr Blut. Nichts sonst. Seltsam fühlte es sich an, wie er mit seiner Zunge in ihr Inneres vordrang, um auch noch den letzten Tropfen Blut aufzulecken. Aber Liviu tat ihr nicht weh, wie die Engelmacherin mit ihren groben Händen es immer getan hatte, wenn sie Vesna untersuchte. Sie hatte noch nie einen Mann gesehen, der so abgemagert war. Jeder Wirbel auf seinem Rücken stach deutlich hervor. Sein dunkles Haar streichelte ihre Oberschenkel. Dann, viel zu früh, war er fertig. Blickte zu ihr hoch. „Danke“ Jetzt würde er wohl gehen. Schade. Vesna blickte auf den Gürtel und die Binde, die verlassen auf dem Boden lagen. Viel Blut war es nicht, das sie in ihren Tagen verlor. Ob es reichen würde? „Wann hast du das letzte Mal getrunken?“ fragte sie „Bevor du mir begegnet bist?“ Kapitel 3: Abschied ------------------- Liviu stand auf, trat einen Schritt von ihr zurück bevor er antwortete. „Noch nie vorher. Es ist wohl fünf Jahre her, dass…“ seine Stimme versiegte. Fünf Jahre. So lange, ungefähr, mochte es auch her sein, dass Vesna innerlich gestorben war. „Deswegen bist du so dürr“ Sie streckte eine Hand aus, berührte seine knochige Schulter. „Du kannst mehr trinken. Es macht mir nichts aus“ Er wich ihrem Blick aus. „Später. Ich habe Dienst.“ „Später könnte Victor da sein“ Er würde spüren, dass Liviu kein gewöhnlicher Freier war. Victor hatte einen Riecher für so etwas. Liviu ging zum Fenster, öffnete es. „Ich werde ans Fenster klopfen, falls du allein bist.“ Er kletterte aufs Fensterbrett, drehte sich noch einmal zu Vesna um. „Lass es nicht wieder offen.“ Dann war er weg. Vesna rannte zum Fenster, doch sie sah nur eine Fledermaus über die nahen Hausdächer flattern. Eine Weile sah sie dem kleinen Tier nach, dann schloss sie das Fenster sorgfältig. Vielleicht war es eine Warnung gewesen, seine Aufforderung, das Fenster nicht offen zu lassen? Liviu hatte besorgt ausgesehen. Vesna zog sich das Nachthemd über den Kopf und legte es ordentlich zusammen, bevor sie es wieder ganz unten in den Schrank legte, dorthin, wo Victor nie nachsah. Dann hob sie ihren Gürtel auf, betrachtete die Binde nachdenklich. Es ekelte sie plötzlich davor, den mit Blut und Staub verklebten Stoff an ihrem Körper zu haben. Also holte sie das nur ein wenig mit Blut befleckte Taschentuch von Liviu aus ihrer Tasche, befestigte den Gürtel wieder an Ort und Stelle und setzte sich aufs Bett. Irgendwann würde sie ihm das Taschentuch zurückgeben. Aber nicht jetzt. Der saubere Stoff fühlte sich angenehm an. Sie hatte keine Lust, sich ihr schmutziges Kleid wieder anzuziehen. Aber das musste sie auch gar nicht. Das Silber, das Liviu ihr gegeben hatte würde reichen damit Victor zufrieden war. Vesna stand vom Bett auf, nahm die Münze behutsam zwischen zwei Finger. Das Grau des Silbers erinnerte sie ein wenig an Livius Augen. Am liebsten hätte sie es behalten. Aber wenn Victor sie schlug, würde vielleicht wieder ihre Lippe aufplatzen. Bluten. Das wäre Verschwendung, wo Liviu doch so dünn war. Also ließ sie das Silberstück in die Tasche gleiten, die sie immer mitnahm wenn sie nachts auf die Straßen ging, und legte sich ins Bett. Ob Liviu wohl noch rechtzeitig kommen würde? Hoffentlich vergaß Victor wieder die Zeit. Ein Silberstück war allemal genug, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu besaufen. Warum hatte Liviu so lange kein Blut getrunken? Hatte er erst jetzt Durst bekommen? Dazu sah er zu dünn aus. Wählerisch konnte er nicht sein, sonst hätte er Vesnas Blut nicht gewollt. Die drallen Töchter des Bürgermeisters hatten sicher mehr Blut, und besseres. Aber die gingen natürlich nachts nicht auf die Straße. Nachts waren da nur Reisende. Oder Mädchen wie Vesna. Und natürlich die Freier. Kapitel 4: ----------- Ein Klopfen weckte sie aus ihrem leichten Dämmerschlaf. Victor klopfte nie an...mit einem Satz war Vesna aus dem Bett. Sie lief zum Fenster, öffnete, und sah nur ein in Tuch eingeschlagenes Bündel auf der Fensterbank liegen. Mit zitternden Fingern hob sie es auf, und bemerkte, dass ein kleines Tier darauf lag. Eine Fledermaus. „Liviu?“ Das Tierchen schlug mit den Flügeln, und kurz darauf stand Liviu neben Vesna, griff an ihr vorbei und schloss das Fenster. „Geh zurück ins Bett“ Er schob sie dorthin, legte ihr die Decke um die Schultern. „Und jetzt iss“ In dem Bündel waren Schinkenbrote. Mit Butter. Vesna konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Nicht, seit sie von zuhause weggegangen war jedenfalls. Liviu setzte sich neben sie aufs Bett, sah ihr beim Essen zu. „Victor lässt dir wohl nicht viel Geld um Essen zu kaufen?“ fragte er leise, als sie aufgegessen hatte und sich die Butter von den Fingern leckte. „Nein…“ murmelte Vesna. „Er…“ sie zuckte zusammen. Schritte auf der Treppe „Er kommt!“ Sie sprang auf, die Decke glitt von ihren Schultern. „Du musst weg!“ rief sie verzweifelt, doch es war schon zu spät. Victor war ins Zimmer getreten. Hatte sie gehört. „Das ist mein Mädchen“ knurrte er. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen wie Gewitterwolken. Was hatte sie Liviu auch gewarnt! Vielleicht hätte Victor ihn ja doch für irgendeinen Freier gehalten, einen, dem es draußen zu kalt gewesen war… „Keiner nimmt mir mein Mädchen weg!“ Plötzlich blitzte ein Messer auf. Momente später steckte es in Livius Brust. Blut tropfte auf den Boden. „Und jetzt zu dir, Schlampe“ Vesna schaute ihren Peiniger mit ausdruckslosen Augen an. Sie sah ihn nicht wirklich, alles was sie noch sehen konnte war Liviu. Seine hervorstehenden Rippen. Das Messer dazwischen. Die Faust flog auf ihr Gesicht zu. Vesna wich nicht aus. Es war egal. Kapitel 5: Tot -------------- „Nein!“ Victor, die Hand noch zum Schlag erhoben, sackte leblos zusammen und blieb mit seltsam verdrehtem Hals am Boden liegen. Hinter ihm stand Liviu. Die Klinge steckte noch in seiner Brust. „Er…“ Liviu zog sich das Messer aus der Wunde, betrachtete es nachdenklich. „Er könnte auf der Straße ausgerutscht sein und sich das Genick gebrochen haben. Glatt genug wäre es.“ Vesna streckte eine Hand nach Liviu aus, berührte ihn vorsichtig. Er fühlte sich kalt an „Du lebst?“ „Ich lebe seit fünf Jahren nicht mehr“, murmelte er. „Aber wirklich tot bin ich auch nicht. Victor schon.“ „Er könnte wirklich ausgerutscht sein“, sagte Vesna langsam. „Aber das Messer…warte...“ Sie zog das Taschentuch aus ihrem Gürtel, wischte damit das Blut vom Messer. „Es würde auffallen, wenn das Messer hier bliebe“, sie steckte es zurück in die Scheide an Victors Gürtel. „Er geht nie ohne es weg.“ Nachdenklich betrachtete sie die Leiche. Es war wie in einem Traum. Victor tot…das hatte sie sich oft gewünscht, obwohl sie wusste, es war nicht richtig jemandem den Tod zu wünschen. „Könntest du sein Blut trinken?“ „Nein.“ Liviu sah Victors Leiche an, erstaunt, als hätte er selbst nicht gewusst, welche Kraft in seinem mageren Körper steckte. Dass er einem Mann mit einem Schlag das Genick brechen konnte. „Es ist tot.“ Er hob den Blick „Irgendetwas ist an seinem Blut anders. Jetzt jedenfalls. So, als hätte er gar keines. Dein Blut dagegen…es macht mich sogar dann hungrig, wenn es schon älter ist.“ „Möchtest du dein Taschentuch zurück?“ Sie hatte bemerkt, dass er es hungrig ansah. Liviu lächelte. „Ja. Gern. Ich…es tut mir Leid. Ich habe dich gestern erpresst.“ „Du hast dich nur bestechen lassen.“ Vesna drückte ihm das Taschentuch in die Hand. „Es macht wirklich nichts. Warum warst du allein unterwegs?“ „Dimitri war krank. Ich wollte keinen von den anderen wecken. Mir kann ja nichts passieren…und ich war so hungrig. Dann habe ich dich da stehen sehen, und…“ Liviu drückte das Taschentuch mit dem immer noch feucht schimmernden Blut darauf an seine Lippen. „Ich wusste, du würdest schweigen. Aus Angst vor dem Turm.“ Deswegen also…Vesna fühlte sich aus irgendeinem Grund enttäuscht. Als hätte sie gehofft, etwas Besonderes zu sein. Liviu hob Victors Leiche über seine Schulter. „Die anderen im Haus schlafen schon?“ Kapitel 6: Nacht ---------------- Er kehrte bald zurück, blieb mitten im Zimmer stehen. „Ich hatte mir überlegt, ob ich es tue“ sagte er leise. „Ihn umbringen, meine ich. Aber…“ er senkte den Blick. „Es hätte nicht so leicht sein dürfen. Es tut mir nicht einmal Leid. Ich bin ein kaltblütiger Mörder“ „Nein“ Vesna nahm die Decke vom Bett, legte sie um Livius Schultern. „Du denkst doch darüber nach…du hast ein schlechtes Gewissen.“ Und sie selbst bedauerte Victors Tod auch nicht. Seltsam. Sie hatte ihn einmal geliebt…und jetzt? Es fühlte sich komisch an, dass er für immer weg war. Dass sie ihn nie wieder sehen würde. Aber traurig war sie nicht. „Es ist nur Gewohnheit. Ich habe ja keine Seele mehr, wie sollte ich ein Gewissen haben?“ Liviu starrte durch das staubige Fenster in die Nacht hinaus. „Irgendwann werde ich vergessen haben wie es ist, ein Mensch zu sein“ Er nahm die Decke von seinen Schultern, hielt sie Vesna hin. „Ich friere nicht mehr. Du schon“ „Komm“ Sie nahm ihn mit ins Bett, deckte ihn genauso zu wie sich selbst. Es schien ihr richtiger so, obwohl sie jetzt wusste, dass er nicht fror. „Wie bist du so geworden?“ fragte sie nach einer Weile. „Untot?“ „Mein Vater ist gestorben…meine Mutter hat wieder geheiratet…der Mann war seltsam, ging nur bei Nacht aus, aß kaum etwas…aber sie wollte kein böses Wort über ihn hören.“ Liviu drückte sein Gesicht ins Laken, sprach leise weiter. „Manchmal, wenn ich nachts aufwachte, sah ich ihn an meinem Bett stehen…und ich hatte morgens Verletzungen, ohne zu wissen woher. Mutter wollte nichts davon hören. Aber dann wurden wir krank, Mutter und ich. Die Kinder von Nachbarn verschwanden. Irgendwann fand ich seinen Vorratskeller…“ Eine Weile lagen sie schweigend da. Vesna berührte Liviu zaghaft an der Schulter. „Wie…ist es ausgegangen?“ „Er hat mich erwischt, wie ich die kleine Tochter unserer Nachbarn aus dem Kellerfenster gehoben habe…hat mich gepackt, und dann…mein Hals hat so wehgetan…irgendwann ist alles schwarz geworden.“ Vesna ließ ihre Hand auf seiner Schulter liegen. Ihn schien es nicht zu stören. „Als ich wieder aufgewacht bin lag ich unter der Erde. Er hatte mich vergraben, im Keller. Meine Mutter und ihn habe ich dann oben im Haus gefunden, aufgebahrt und…enthauptet. Das ist meine letzte Erinnerung an meine Mutter.“ Unvermittelt hob Liviu das Taschentuch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte an seine Lippen und begann daran zu saugen. „Trink doch das frische Blut“ sagte Vesna ihn nach einer Weile. „Es fließt schon aufs Laken“ „Danke“ Kapitel 7: Wohin ---------------- In der frühen Morgendämmerung stand Vesna auf, und zog sich widerwillig das schmutzige Kleid über, in dem sie stets „arbeiten“ ging. Sobald die Sonne aufgegangen war, war es nur eine Frage der Zeit bis jemand Victor fand. Liviu wachte auf, gerade als Vesna ihn wecken wollte. „Die Sonne…“ murmelte er. „Hast du keine Vorhänge?“ „Nein“ Victor war so etwas nicht wichtig. Nicht so wichtig, wie betrunken zu sein. „Das ist schlecht…“ Er kam nicht mehr dazu, zu sagen, warum es schlecht war, denn in diesem Moment waren Schritte zu hören. Liviu versteckte sich unter der Bettdecke, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Es war Marcel, einer von Victors Saufkumpanen. „Victor ist tot“ teilte er Vesna mit. „Pack deine Sachen, du lebst ab jetzt bei mir“ „Tot?“ wiederholte Vesna tonlos. Sie schaffte es nicht, Entsetzen in ihre Stimme zu legen, und Marcel hätte es ihr wohl sowieso nicht abgenommen. „Liegt auf der Straße“ Marcel zuckte mit den Schultern. „Hat wohl im Suff die Tür nicht mehr gefunden.“ „Dann gehe ich zurück zu meinen Eltern“ sagte Vesna, und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen. „Red kein Unsinn Mädchen“ erwiderte der rotgesichtige Mann. „Du hast keine Eltern mehr. Hat Victor mir erzählt.“ Vesna taumelte zurück, als hätte er sie geschlagen. War das wahr? Waren ihre Eltern tot? Victor bekam mehr von der Welt mit als sie, er traf Reisende…andere Tagelöhner vielleicht… „Du kannst froh sein, dass ich so großzügig bin“ fuhr Marcel fort. „Ist gefährlich für ein Mädchen, so allein zu leben“ er drehte sich um, sah noch einmal zurück. „Wenn ich und die Jungs Victor zum Friedhof geschafft haben, hast du deine Sachen gepackt, verstanden?“ Dann ging er. Vesna setzte sich aufs Bett. Ihre Eltern – tot? Die Hoffnung, dass alles irgendwann wieder gut sein würde, war das einzige gewesen, das sie am Leben erhalten hatte. Was hatte es jetzt noch für einen Sinn? Worauf konnte sie jetzt noch hoffen? „Willst du zu ihm ziehen?“ Livius Stimme klang gedämpft durch die Bettdecke. „Nein. Aber wo soll ich sonst hin?“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Zu mir.“ Ende An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die Kommentare geschrieben und bis hierher mitgelesen haben. Eine Fortsetzung würde die Gefahr beinhalten, die geneigte Leserschaft zu langweilen, da es im Grunde genommen nichts weiter zu erzählen gibt. Daher habe ich mich für ein offenes Ende entschieden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)