Hasentage: Outtake 3 und 4 von jabba ================================================================================ Kapitel 1: Lukas und Isa - Oktober ------------------------------------ Lukas und Isa Der Wind pfiff Lukas scharf ins Gesicht. Er radelte durch die Straßen vom Friedhof zurück nach Haus. Wie so oft war er am Nachmittag noch rausgefahren und hatte seinen Vater besucht. Mit ihm konnte er einfach reden, der hörte ihm zu. Und Lukas wusste, wenn es ihm nicht reichte einfach nur zu reden dann antwortete sein Papa ihm auch. Da konnten die anderen ihm noch so viel er klären, dass Tote nicht reden. Es dämmerte schon leicht und ihm fröstelte. Lukas trat in die Pedale und sauste die Straßen entlang. Dem knallgebe Wagen, der ihm in einer Kurve gefährlich nahe kam, schenkte er keine Beachtung, dafür aber um so mehr dem Laub, das nass und rutschig unter seinen Reifen auf dem Bürgersteig überall herumlag. Die Toreinfahrt war offen und aus der guten Stube schien das Licht bis in den Garten hinein. Lukas wunderte sich ein wenig, seine Mutter war die letzten Monate Nachmittags immer weg gewesen und oft auch nach dem Abendessen wieder verschwunden. Doch er freute sich darauf, dass sie mal wieder einen Abend zusammen verbringen konnten. Brav wie er war brachte er sein Rad in die Garage, nestelte den Schlüssel unter Pulli und T-Shirt hervor und fegte dann durch die Tür. Erst vor dem gedeckten Esstisch viel sein Blick auf die Uhr, 20:35 Uhr. 'Scheiße, das gibt Ärger…' dachte er sich, als er auch das leicht angespannte Gesicht seiner Mutter sah. Doch seine Mutter sagte nicht. Sie schickte ihn Händewaschen und tat ihnen beiden das Abendessen auf die Teller. Gulaschsuppe. Nicht wirklich Lukas Lieblingsessen, aber doch essbar. Ein, zwei mal nahm Lukas Anlauf ein bisschen was vom heutigen Nachmittag zu erzählen, doch entmutigt durch die ständigen Ermahnungen dass man mit vollem Mund nicht aß und er de Teller ranziehen und mit dem Brötchen nicht so krümeln solle gab er bald auf. Es wurde ein Abendessen wie die meisten seit sein Vater tot war und Lukas konnte ihn dann doch gar nicht schnell genug hinter sich bringen um aus der unterkühlten Atmosphäre des Wohnzimmers zu flüchten. Beim allabendlichen Gute-Nacht-Wünschen hielt ihn seine Mutter dann doch noch auf. „Ach noch was, Lukas. Ich hab mittlerweile jemanden kennengelernt. Er wird morgen hier einziehen und seine Tochter wird das neue Gästezimmer bekommen. Vertragt euch bitte, ja?“ Wammm! Wie vom Zug überrollt blieb Lukas auf dem Flur vor seinem Zimmer stehen, auch als seine Mutter schon lange wieder ihm Wohnzimmer verschwunden war. Bewegen können hätte er sich nicht, und auch keinen einzigen Schritt tun. Woher sollte er denn wissen, dass da wirklich auch Boden unter seinen Füßen sein würde, da blieb er doch lieber stehen. Das Nächste woran Lukas sich wieder erinnerte war, dass er frierend und nur mit Schafanzug und Turnschuhen auf dem Friedhof saß und die Kälte vom Grabstein seinen Arsch hinauf kroch. Der bleiche Mond schien hoch über ihm und war verschleiert vor lauter Tränen. Tausend und kein Gedanke raste durch seinen Kopf, als er durch die nächtlichen Straßen zurückging. Einzig das Gefühl verraten worden zu sein war klar und eindeutig. Und er vermisste seinen Vater so sehr! An der Haustür griff er automatisch unter die Kleidung an seine Brust und tatsächlich, er hatte es geschafft sich seinen Schlüssel umzuhängen. Wieder schossen ihm die Tränen aus den Augen, weil er sich daran erinnerte, wie sein Vater ihm schon von früh an diesen Schlüssel am Bindfaden immer und immer wieder um den Hals gehangen hatte. Bei jeden noch so kleinen Spaziergang. 'Gehe niemals, hörst du Lukas, niemals ohne diesen Schlüssel aus dem Haus. Dann kommst du immer wieder nach Hause.' Hörte er die Worte wieder in seinen Ohren. Lukas schlich durchs dunkle Haus in sein Zimmer. Die Heizung ganz groß gestellt verkroch er sich unter seine Decke und hasst zum wiederholten Mal seine Mutter, dass sie ihm an seinem siebten Geburtstag seinen Teddy weggenommen hatte. War doch egal dass er ein Schulkind war und nur Kindergartenkinder ein Stofftier brauchten. In seinem Zimmer unter der Bettdecke sah das doch keiner. Doch auch sein Vater hatte ihn damals nicht wider herbeizaubern können. Vor Kälte und Heulen erschöpft schlief Lukas dann doch recht bald ein und erst das Klopfen an seiner Tür weckte ihn. „Aufstehen Lukas!“ Es war der Hunger, der Lukas schlussendlich dazu veranlasste, dem Befehl Folge zu leisten. Zu seinem Glück hatte er das T-Shirt vom Vortag auf die Schnelle nicht finden können und sich ein frisches aus dem Schrank geholt, so traf ihn lediglich der kritische Blick seiner Mutter und die Kommentare blieben aus. Wohin der Rest des Vormittags verschwunden war konnte Lukas nicht sagen, denn auf einmal schellte es an der Türe. Der Besuch kam. Nein, nicht Besuch korrigierte sich Lukas, die würden jetzt für immer bleiben. Mit versteinerter Miene folgte er dem strengen Blick seiner Mutter und trat neben sie an die Haustür. Der knallgebe Kombi der in ihre Einfahrt stand kam ihm wage vertraut vor. Lukas erinnerte sich, ihn des Öfteren in den Straßen hatte parken gesehen, wenn er Nachmittags nach Hause gekommen war. Ein Mann wie es tausende gab kam auf sie zu, beachtete ihn kaum und nahm seine Mutter auch gleich in den Arm. Den Wortwechsel an Schnulzigkeiten überhörte Lukas, seine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das eindeutig in ein Sonntagskleid gestopft neben dem Auto stehen geblieben war. Ihrer beiden Blicke kreuzen sich, der von Lukas war hasserfüllt und der des Mädchens zeigte, dass sie am liebsten im Boden versinken würde. Doch die Erwachsenen durchbrachen den Moment und riefen die Kinder ins Haus. Die Kurzführung durchs Haus geschah wohl nur anstaltshalber und war anscheinend für dass Mädchen gedacht. Lukas merkte sofort, dass der Mann sich hier eindeutig auskannte und es gefiel ihm überhaupt nicht. Die Runde endete im Wohnzimmer wo Lukas neben das Mädchen auf die Couch gesetzt wurde. Der Mann setzte sich ihnen gegenüber auf einen Sessel und seine Mutter blieb sehen, wie so oft. „Isabelle, Lukas. Wir, eure Eltern, leben ab jetzt zusammen. Und das heißt für euch, dass ihr ab sofort Geschwister seid.“ „Wir möchten dass ihr euch vertragt und uns keinen Streit oder Kummer macht, habt ihr verstanden?“ Eingeschüchtert ob der strengen Worte konnten die beiden nur mit den Köpfen nicken. Dann wurden sie auch schon alleine gelassen, das frischgebackene Pärchen wollte in den Möbelmarkt und ihr Schlafzimmer neu einrichten. „In den Taschen und Kisten sind Isabelles Sachen, räumt die doch schon mal ins ehemalige Gästezimmer!“ wurden ihnen einige Taschen und Kartons in den Flur geräumt. Doch die Kinder blieben noch eine Weile sitzen, wie Statuen, fassungslos. Es war Isabelle, die das Schweigen brach. „Kann ich hier irgendwo aufs Klo gehen?“ fragte sie flüsternd. Mechanisch beschrieb Lukas ihr den Weg zum Gästeklo. Dann stand auch er auf und öffnete die Tür in den Garten. Nein, er würde jetzt nicht weinen! Nicht vor seiner Mutter und erst recht nicht vor diesen Fremden! Lukas wischte sich über die trockenen Augen und presste seine Kiefer fest aufeinander. Mit einem Blick, als würde er gleich auf irgendetwas einschlagen wollen trat er auf den Flur. Dort saß das fremde Mädchen auf einem der Kartons und sah schüchtern zu ihm auf. „Treppe rauf, hinten am Ende. Ich weiß ja nicht wie's bei euch zugeht, aber ich krieg ein gehöriges Donnerwetter, wenn der Krempel noch hier ist, wenn die zurückkommen, also pack an!“ Er griff sich wahllos eine Tasche und stapfte die Treppe hinauf. Hinter sich hörte Lukas, wie das Mädchen sich erhob und ihm hinterher kam. Schweigend brachten sie zuerst die kleineren Sachen hinauf, wobei jeder versuchte, dem anderen möglichst nicht zu nahe zu kommen. Bei den Kartons mussten sie dann aber doch zusammen anpacken. Was ein Erwachsener locker tragen kann ist für ein Kind halt eben doch viel zu schwer. Eigentlich ja auch für zwei Kinder, doch keiner der beiden gab sich vor dem anderen die Blöße. Schlimmer noch, dann hätte man ja Mama, beziehungsweise Papa erklären müssen warum die Sachen noch unten standen und unabhängig voneinander war ihnen beiden klar, das das Elternstück des anderen das bestimmt genauso wenig interessiert hätte wie das Eigene. Kaum war alles abgestellt macht Lukas auf dem Absatz kehrt und verzog sich in sein Zimmer. Fehlte noch, dass er diesem Etwas auch noch beim Einräumen helfen sollte. Das sollte die Mal ruhig alleine machen! Lukas schmiss sich auf sein Bett und unbemerkt rollte eine Träne seine Wange hinunter. Er sah aus dem Fenster. Die Bäume leuchteten strahlend bunt wie lange nicht und eigentlich hätte es ein wunderschöner Herbst werden können.... Erstaunlich schnell regelte sich ein neuer Tagesablauf in der neuen Familie ein. Seine Mutter scheuchte alle des Morgens aus dem Bett, und während eines Morgentoasts las Isabelles Vater die Zeitung und die Kinder machten sich ihre Schulbrote zurecht. Aus dem Haus gingen sie gemeinsam, doch dann trennten sich die Wege der Kinder. Lukas düste auf seinem Fahrrad zu Schule und kümmerte sich nicht mehr um Isabelle. Auf dem Heimweg überholte er sie oft, tat aber so als sähe er sie nicht. Auf ein gemeinsames Mittagessen bestanden sonderbarer Weise beide Erwachsenen. Wenngleich es keine Zeit am Tag gab, zu der mehr geschwiegen wurde als da. Doch das war nur die ersten paar Tage so, dann riss dass Mädchen die Konversation an sich. Naja, man sollte besser sagen, sie erzählte einfach so vor sich in. Eigentlich total unwichtiges und uninteressantes Zeug , wer will schon wissen wie sich die Farbe der Blätter über die Tage hinweg veränderte oder wo welche Pfützen auf dem Gehsteig waren, aber es war immer noch besser als die Stille der vorangegangenen Tage. Desinteressiert hörte Lukas also zwangsläufig zu und nach ein paar Tagen sah er dann doch mal verwundert auf. Das hatte er doch gestern schon mal gehört und davor bestimmt auch schon mal. Verwundert schaute er auf und musterte die Fremde am Küchentisch zum ersten Mal genauer. Irgendwie schien die wohl auch überhaupt nicht einverstanden mit der Situation und konnte die Stille anscheinend noch weniger ertragen wie er. Ein ganz leichtes unmerkliches Grinsen huschte einen Moment über sein Gesicht. Dann warf er einen prüfenden Blick auf ihre Eltern. Gedanklich merkte er sich den heutigen Tag und nahm vor die Mittage weiter zu beobachten. Wann würde wohl die anderen beiden bemerken, dass Isabelle sich eigentlich ständig nur wiederholte? Ein wenig fasziniert ihn, wie man bloß so viel plappern konnte, ohne wirklich was zu sagen. Doch je mehr er zuhörte, desto mehr bekam er mit, das Isabell eigentlich nur zwei Themen anschnitt. Das eine war typischer Small-Talk, meist über das Wetter. Doch das andere war Ballett. Sie machte das wohl schon seit dem Kindergarten und trainierte immer noch zwei Mal in der Woche. Und das obwohl das jetzt am anderen Ende der Stadt war. Und sie hatten am ersten Advent ihre alljährliche Weihnachtsaufführung wo sie eine der Hauptrollen tanzte! Sie musste wohl ziemlich gut sein. Lukas fragte sich, wie sie das wohl hingekommen sollte, Wochenends fuhren von hier keine Busse und Isabelle Vater machte keine Anstalten irgendwie zu verstehen zu geben, dass er davon mitbekommen hätte, geschweige denn, dass er sie bringen oder abholen wollte. Doch mehr Gedanken machte Lukas sich nicht. Was gingen ihn die beiden an, die einfach so in sein Leben und in das Haus seines Vaters eingedrungen waren. Das einzig Positive war, dass seine Mutter ihn nicht mehr so hinterher kontrollierte wie zu den Zeiten, seit sein Vater tot war. Und das nutzte er redlich aus. Zu den 'offiziellen Familienzeiten' zeigte er sich als anwesend, die Schulstunden saß er brav ab, doch den Rest des Tages stromerte er draußen rum, bloß weit weg von allem. Oft war er auf dem Friedhof, bei seinem Vater, da hatte er in der alten Eiche in der Nähe des Grabes eine breite Astgabel gefunden, die auch beim stärksten Regen noch trocken blieb. Und der Küster sah eh nicht, was oberhalb seines Kopfes war, also konnte der ihn auch nicht wegscheuchen. Fortsetzung im November… Kapitel 2: Isa und Lukas - November ----------------------------------- Isa und Lukas Es war nicht das erste Mal, seit sie in dem fremden Haus lebte, dass sie mit dem Jungen, Isabelle berichtigte sich, ihrem neuen Bruder, alleine am Abendtisch saß und was Aufgewärmtes aus der Tiefkühltruhe aß. Er schien genau wie sie viel weg und draußen zu sein und sich ebenfalls über was Warmes am Abend zu freuen. Naja, wenn sie ehrlich war zeigte er überhaupt keine Regung. Und dass ihm die ganze Situation gehörig gegen den Strich ging war nur am ersten Tag deutlich sichtbar gewesen. Da hatte sie dann doch Angst gehabt, dass er sie verprügeln würde oder so, aber er hatte nur grimmig mit ihr ihre Sachen in ihr neues Zimmer getragen. Mittlerweile hatte sie auch rausbekommen, dass sie das alte Arbeitszimmer von Lukas Vater bewohnte, der vor noch gar nicht langer Zeit gestorben war. Dass Lukas sie und ihren Vater nicht leiden konnte, konnte sie sonderbarer Weise sogar verstehen, und so versuchte sie gar nicht erst sich ihm irgendwie aufzudrängen. Und wirklich Zeit hätte sie eh nicht gehabt. Sie hatte doch wieder die Hauptrolle in ihrer Ballett-Gruppe. Sie würde den Prinzen im Schwanensee tanzen dürfen! Nur dass ihre Ballett-Schule jetzt am anderen Ende der Stadt war, war gelinde ausgedrückt, Megascheiße. Fast 3 Stunden gurkte sie jetzt 2 mal die Woche dahin und zurück, und dass, obwohl ihr Vater nicht weit weg arbeitet und sie wenigstens mit zurück nehmen konnte. Aber nein, er hatte nur gesagt, Ballett ist jetzt gestrichen, zu weit weg. 'Such dir doch was anderes!' Ha ha, guter Witz. Nicht wenn man zum 4. Mal in Folge die Hauptrolle angeboten bekam. Manchmal wurde Isabelle von einer Mutter ihrer Freundinnen ein Stück mitgenommen, dann kam sie noch im hellen Heim, doch meistens war es Abends, wenn sie an dem fremden Haus, ihrem neuen Zuhause ankam. Ihr Vater merkte nie, dass sie nicht da war wenn er Nachmittags heim kam. Der war doch ständig mit dieser Mutter von dem Jungen irgendwo unterwegs. Und diesem… Lukas… war sie eh egal. Doch das waren alles Sachen, mit denen kam sie irgendwie noch klar, sie hatte ihre Freundinnen beim Ballett, die mochten sie, da fühlte sie sich zu Hause. Das einzige, was wirklich nervte, waren diese Mittagessen. Ihr Vater und die Frau bestanden darauf, dass sie alle family-like am Mittagstisch saßen. Doch dazu hätten sie sie auch mit ihnen unterhalten müssen, Interesse an ihnen zeigen müssen, meinetwegen auch nur vorheucheln, und nicht so schnell es geht das Essen in sich hineinschaufeln um dann abzuhauen und ihr und Lukas den Abwasch zu überlassen. Einige Tage lies Isabelle diese Mittage über sich ergehen, dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie begann zu reden, nur um des Redens willen. Scheiß egal was, es hörte ja doch keinen zu. Das Wetter war grad ein super Thema, jeden Tag waren die Bäume bunter und ihr fiel was ein, was man so rumlabern konnte. Und wenn ihr nichts mehr einfiel redete sie halt übers Ballett. Vielleicht, vielleicht bekam ihr Vater ja doch mit, dass am ersten Advent ihr großer Tag war. Isabelle hoffte es doch so sehr, schließlich war er ja immer noch das einzige bisschen Familie, dass sie hatte. Nach ein paar Wochen spürte sie eines Mittags ein kritischen Augenpaar sie mustern. Als sie hochsah blickte Lukas weg, zu ihren Eltern und musterte die genauso. Dann huschte ein leichtes Grinsen über sein Gesicht, doch sagen tat er nichts. Erst jetzt viel Isabelle auf, dass sie wohl schon zum tausendsten Mal erklärt hatte, dass sie den Sigfried im Schwanensee tanzen würde. Ach ne… der Bengel hörte ja doch zu! Und hatte sehr wohl bemerkt, dass sie sich andauernd wiederholte... Die Tage vergingen und Novemberende rückte bedrohlich näher. Isabelle hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass sie sich am Sonntag wohl alleine durch die Stadt schlagen musste. Nach einem Mittagessen stürmte sie nicht gleich in ihr Zimmer um ihre Sporttasche zu holen sondern blieb noch kurz bei Lukas. „Du, eine Frage….“ Den abwartenden Blick, den Lukas ihr darauf hin zuwarf deutete sich einfach mal als Aufforderung weiter zu reden. „Wenn ich Sonntags auf 12 Uhr in Palenburg sein muss, wann muss ich dann hier weg und auf welchem Weg?“ Lukas antwortete nicht. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam kurz darauf mit einer Karte des Verkehrsverbundes zurück. Diese breitete er vor ihr auf dem Küchentisch aus. „Hier sind wir…“ er zeigte auf die Karte. „Du musst bis hier hin laufen…“ sein Finger rutschte über die Häuserzeilen „…da steigst du ein in die 352. Die kommt aber verdammt selten und unregelmäßig, dafür aber auch am Wochenende. Damit fährst du dann bis ins Industriegebiet Neustett, und den Rest musst du wieder laufen. Plan mal 2 bis 2,5 Stunden ein für einen Weg.“ Und damit lies er sie alleine, den großen Busplaner bereits auf der richtigen Seite aufgeschlagen. Resignierend lies Isabelle die Schultern hängen. Ein Mal, ein einziges Mal könnte ihr Vater sie doch wenigstens fahren, doch als sie ihn heute Mittag direkt gebeten hatte, hatte er nur wissen wollen, warum sie denn jetzt, nach 2 Monaten auf einmal wieder bei ihrem Ballett aufkreuzen wolle. Es wurde Sonntag und um kurz nach acht verließ Isabelle voll beladen und im Wanderoutfit das Haus. Wechselkeidung und Schuhe waren zu unters im Rucksack, Kostüm und Ballerinas weiter oben, damit nichts zerknittert. Das Duschzeug musste heute halt in ne extra Tasche. Dass sie beim Mittagessen fehlen würde war ihr egal. Mehr als den Flyer der Aufführung, auf dem sie namentlich in der Hauptrolle erwähnt war, auf den Küchentisch zu legen und das Datum einzukringeln konnte sie jetzt wirklich nicht mehr machen. Ihr war völlig klar, dass ihr wesentlich mehr als nur Hausarrest drohte, wenn sie heute Abend irgendwann wieder zurückkommen würde. Pünktlich 20 Minuten bevor sie alle zur Generalprobe dazusein hatten stapfte Isabelle in die Garderobe des Theaters. Die lieben Spötteleien von wegen ob sie umziehen wollte und so überging sie einfach. Und ein Gutes hatte der Marsch dann doch gehabt, sie war als einzige richtig aufgewärmt, als sie in der noch eiskalten Halle die letzte Probe absolvierten. Ein paar Pannen passierten, das war gut, dann würde die Aufführung nämlich perfekt werden. Dann kamen langsam die ersten Eltern und auch Isabelle wurde gefragt, wo denn ihr Vater bliebe. Eine einsame Träne lief ihre Wange entlang, als sie ihrer Freundin zugeben musste, dass er nicht kommen würde. Auch ihre Trainerin kam jetzt dazu und Isabelle konnte es nicht mehr verheimlichen. Sie gestand, dass ihr Vater ihr bereits seit dem Umzug nicht mehr das Ballett erlaubt, weil‘s ja so weit weg seie. Und dass die die 3 Monate Kündigungsfrist einfach gnadenlos ausgenutzt hatte und heimlich gekommen war. Doch viel Zeit zum Heulen und Jammer blieb keinem. Die Vorstellung begann! Es war inmitten des 3. Akts, Isabelle musste gerade dekorativ am Rande der Bühne herumstehen, als sie in einer der vorderen Reihen einen Jungen bemerkte, der ihr seltsam bekannt vorkam. Dieser schaute absolut desinteressiert dem Treiben auf der Bühne zu. Als sein Blick über die Kulisse schweifte und auch sie berührte erkannte Isabelle den Jungen. Es war Lukas! Und wenn Lukas da war, dann hieß das, dass auch ihr Vater da sein musste. Ihr Herz tat einen Hüpfer. Doch Isabelle kam nicht mehr dazu, sich besser im dunklen Saal umzusehen, sie war wieder dran. Und bis zum Ende des Stückes war sie auch zu gefordert, als dass sie Zeit für solche Ablenkungen wie im Publikum herumgucken gehabt hätte. Sie wollte ihre Rolle doch perfekt machen. Denn dass das das letzte Mal in ihrem Leben sein würde, wo sie in einen Aufführung auf der Bühne stehen würde, das war ihr klar. Es gab Dinge, die ließ ihr Vater einfach nicht durchgehen, und das hier war eines davon. So lange die ganze Vorbereitung und Aufregung auch gedauert hatte, so plötzlich war die Aufführung vorbei und hinter dem roten Vorhang verschwand der applaudierende Saal zum letzten Mal. Flink rannte sie mit den anderen in die Umkleide wo jede von ihnen von Mama oder Papa in die Arme genommen wurde. Nur ihr Vater lies sich nicht blicken. Naja, er hatte sich ja auch schon lange nicht mehr in ihrem Zimmer blicken lassen. Nur bis zur Türe aber nicht weiter, Privatsphäre war ihm sehr wichtig. Schneller als alle anderen war Isabelle geduscht und hatte ihre Sieben-Sachen zusammengepackt. „Ich bin dann weg, ich werd doch abgeholt!“ rief sie in die Runde und rannte aus der Garderobe in den Gang hinein. Eine Ecke weiter wurde sie von Lukas aufgehalten. „Brauchst dich nicht zu hetzten. Die sind eh nicht da.“ Kam es spröde von im. Er nahm ihm den schweren Rucksack ab und hielt ihr eine Öljacke hin. „Zieh die noch drüber, es pisst wie Sau.“ Er selber schlüpfte in ein ebenso hässliches, gelbes Exemplar, das nur ein bisschen kleiner war als die die sie mechanisch angezogen hatte. „Pass gut drauf auf, die gehörte meinem Vater.“ Isabelle Tasche mit dem Duschzeug stopfte er in seinen eigenen, jetzt freien Rucksack. Wie paralysiert sah Isabelle ihm zu. Was wollte Lukas? Was tat er hier? Und wo war denn bloß ihr Vater? „Wo ist Papa?“ fragte sie leise, ungläubig. „Keine Ahnung, die sind um 4 mit dem Wagen abgedüst. Ich solle ordentlich abschließen, es könnte spät werden, war alles was Ma gesagt hat. Und jetzt komm, der Weg ist echt weit im Dunkeln.“ Willenlos folgte Isabelle dem Zug an ihrer Hand. Im Freien angekommen hatte Lukas von irgendwo her einen großen Regenschirm, den er über sie beide hielt. Lukas führte sie zu seinem Fahrrad, seinen Rucksack klemmte er auf dem Gepäckträger. „Steig auf und halt den Schirm, ich schiebe. Du hast dir ne Pause verdient. Aber wir wechseln ab!“ Das Theaterhaus war schon lange nicht mehr zusehen als Isabelle wieder in der kalt-nassen Realität angekommen war. „Aber warum bist du dann hier?“ fragte sie zögerlich. „Weil du ne Hauptrollen in nem gar nicht so unbekannte Kinderballet gespielt hast.“ antwortet Lukas sofort und blieb stehen. „Absteigen! Wechseln, du bist schwer!“ Isabelle kletterte vom Rad und übergab Lukas den Schirm. Jetzt wo sie das Rad schob merkte sie, wie doll es tatsächlich regnete und sie war um die Öljacke mehr als dankbar. Da hatte sie ja echtes Glück gehabt, dass es am Morgen noch trocken gewesen war. Nach zwei Laternen hieß Lukas sie dann anzuhalten und forderte den Rucksack, den sie immer noch trug zu sich. Und sie musste ihm Recht geben, so schob es sich viel besser. Es kam Isabelle vor, als wäre sie grade eben erst weitergelaufen, da bestimmte Lukas wieder nen Wechsel. Sie bekam den Rucksack zurück und nun durfte sie wieder den Schirm über sie beide halten. Und hatte jetzt auch wieder genug Atem um Lukas weiter zu fragen, was sie noch immer beschäftigte. „Das wir so gut sind, woher weist du das? Interessierst du dich etwa für Ballett?“ Das ‚Neee‘ kam so verächtlich, wie schnell und machte Lukas Meinung mehr als deutlich. Jetzt erst recht verwundert musste Isabelle diese letzte Frage einfach stellen: „Aber warum bist du dann gekommen?“ Lukas hielt an und schaute ihr, wohl zum ersten Mal, direkt in die Augen. „Weil es dir wirklich wichtig war.“ Kam die Antwort kurz und nüchtern. Klappernd fiel der Schirm zu Boden. Diese Bengel hatte geschafft, was selbst ihr Vater über Jahre hinweg nicht erkannte hatte. Er hatte mitbekommen, was sie wirklich bewegte. Er hatte sie verstanden! Auch wenn er immer so abweisend getan hatte. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals, als Lukas sie bat sich grad mal am Zaun festzuhalten. Er bückte sich und hob den Schirm wieder auf. „Also ich hab keinen Bock darauf, mehr als nötig nass zu werden…“ Er hielt der Schirm wieder über sie und sah sie auffordernd an. Langsam griff sie danach und ihre klammen Finger striffen leicht über Lukas heißen Handrücken. Ein paar Tränen liefen unbemerkt zwischen dem Wasser aus ihren Haaren über ihre Wangen. „Weist du, wie du grad aussiehst?“ hörte sie Lukas dann fragen. Isabelle schüttelte den Kopf. 'Wie ein begossenen Pudel? Verheult?' fragte sie sich spöttisch selber. Die Antwort wollte sie eigentlich gar nicht wissen. „So als ob du schon ewig nicht mehr in den Arm genommen wurdest…“ Lukas legte den Kopf schief und griff vorsorglich noch Mal nach dem Schirmgriff. Wie machte der das bloß? Erst wochenlang nichts, und dann innerhalb von ein paar Minuten war ihr so, als würde er in ihr Innerstes sehen. Das Bild von Lukas Gesicht verschwamm vor ihren Augen. Nur die warme Hand auf der ihren war deutlich zu spüren. Das Fahrrad neigte sich leicht und ein Arm legte sich sanft um ihren Oberkörper. Auch Isabelle legte ihren freien Arm um Lukas und jetzt konnte sie nicht mehr. Sie war doch nicht so stark, wie sie sich die letzten Monate immer eingeredet hatte. Sie war einsam und verletzt und hatte nie wegziehen wollen und erst recht keine neue Familie, die sie nicht mochte. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf Lukas Öljacke. Wie lange sie so standen hätte keiner von ihnen sagen können. Als Isabelle sich langsam wider aufrichtete spürte sie zu ihrer Verwunderung ein paar Regentropfen ihren Hals entlang laufen. Aber dabei hatte sie doch die Kapuze noch aufgehabt. Sie hatte doch nur Lukas im Arm ge… Er musste auch geweint haben! Lukas war wohl genau so allein wie sie. Isabelle streckte den Rücken durch. Ne, das war wirklich nichts, sich so von nem Fahrrad runterzubeugen. „Du bist klein!“ kommentierte sie. „Na komm lass uns heim, da ist’s wenigstens trocken und warm.“ Noch im Losschieben knurrte Lukas zurück „Ich bin nicht klein, nur noch ein bisschen kurz, ...Isa!“ Isa! So hatte man sie noch nie gerufen. Ihr Vater hatte allen immer klargemacht dass seine Tochter Isabelle hieß und das Abkürzungen nicht schicklich wären. Isabelle grinste. „OK, Kurzer!“ In schönster Kleinkindmanier bekam sie die Zunge von Lukas zu sehen. „Isa!“ „Kurzer!“ „Isa!“ „Kurzer!“ „Isa!“ „Kurzer!“ „Kannst du eigentlich Kochen? Hä? Was sollte den diese Frage jetzt? „Nö, du etwa?“ fragte sie Lukas zurück. „Scheiße! Die ham uns nämlich nichts im Tiefkühler dagelassen.“ Lukas sah sie an und Isabelle schaute zurück. Und musste anfangen zu lachen. Und Lukas stimmte mit ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)