Blue covered Christmas von Swaja (Weihnachtsliebe?) ================================================================================ Kapitel 1: Blue letters ----------------------- 1. Kapitel: Blue letters Weit weg vom Trubel der Innenstadt sass der junge Musiker in seiner kleinen Ein-Zimmerwohnung. Im Regal wechselten sich Biographien berühmter Rockmusiker mit Büchern über Musikwissenschaft und Notensammlungen ab. Über dem Bett hing eine E-Gitarre an der Wand, neben dem Bett lehnte eine blaue Akustikgitarre mit einem weißen Schwan darauf, zusammen mit einem Keyboard. Er stand an dem großen Fenster, von welchem aus er einen schönen Blick auf die Stadt hatte. „Yamato… bist du noch dran? Es tut mir wirklich leid, nach Sylvester komm ich bestimmt.“. Langsam legte er das Telefon wieder näher ans Ohr. „Ist schon gut, TK, ich komm klar. Grüß Mom von mir. Ja… bis dann.“. Ein leises, monotones Tuten drang aus dem Hörer. Genauso hohl und leer, wie er sich fühlte. Wieder würde er allein sein… wie immer. Am nächsten Morgen machte er sich auf in die Universität. Die UT, University Tokyo, war eine der renommiertesten Hochschulen in der riesigen Metropole. Sie vereinte zwar die verschiedensten Studiengänge, doch kamen hier nur die Leute mit dem besten Durchschnitt, einem Stipendium oder viel Geld und guten Beziehungen hierhin. Der Freigeist Yamato Ishida, seines Zeichens Musikwissenschaftsstudent, hatte von dem Direktor einer großen Eventfirma damals ein Stipendium bekommen, und der inzwischen allein und unabhängige Yamato wäre schön blöd gewesen, wenn er dieses großzügige Angebot in den Wind geschlagen hätte. Der einzige Haken an der Sache war, dass er sich damit verpflichtet hatte, wann immer es gewünscht wurde, Solo oder mit seiner Band auf den Events der Agentur aufzutreten. An sich ein auch kein Fakt, der den jungen Studenten nervte, immerhin bekam er so Auftrittspraxis, sein Bekanntheitsstatus wuchs und der zusätzliche Lohn war auch nicht zu verachten, doch manchmal… zum Beispiel, wenn er auf überfüllten Fressmärkten sinn- und klanglose Weihnachtslieder zum besten geben musste, dann verfluchte er diese Begebenheit. Er passierte die schneeweißen Flügeltore der Außenstelle für die Fakultät Musik, Kunst und Sport. Obwohl letztere meistens in den uni - eigenen Sporthallen trainierten hatten sie hier ihren theoretischen Unterricht. Diese beiden Welten der Künstler und Sportler waren schon einige Mal aneinander geraten. Immerhin konnten die Feingeister der Musik und Kunst nicht viel mit körperlicher Ertüchtigung anfangen. Auf ähnliche Weise verstanden die meist einfach gestrickten Gemüter des Sportes die Ästhetik der Kunst nicht. Matt, wie ihn seine Freunde nannten, waren die Sportler egal. Freunde… er hatte kaum welche. Die einzigen Menschen, die ihm nah und wichtig waren, konnten seine Bandkollegen sein und sein kleiner Bruder TK, der allerdings mit ihrer beider Mutter vor einem Jahr, gerade als Matt sein Studium begonnen hatte, nach Hokkaido gezogen war. Seitdem sahen sich die beiden Geschwister äußerst selten. Ein Umstand, der vor allem dem Älteren zu schaffen machte. Seufzend an das letzte enttäuschende Telefongespräch zurückdenkend öffnete er seinen Spind. Ja, an dieser Fakultät besaßen alle Spinde. Die Musiker der Instrumente wegen, die Künstler für ihre Utensilien, die Sportler für Geräte und Wechselsachen. Verdutzt blinzelte er, als ihm ein kleiner, blauer Briefumschlag entgegen fiel. Verwirrt sah er sich um. Hatte den jemand durch die Luftschlitze der Spindtür gesteckt? Er verstaute seine Jacke, schnappte sich seine im Schrank verstauten Noten und machte sich auf den Weg. Es war nicht unbedingt ungewöhnlich, dass er Liebesbriefe oder ähnliches bekam, immerhin entsprach er mit seinen naturblonden Haaren, die wie Gold glänzten, und den karibikblauen Augen nicht unbedingt dem typischen Aussehen eines Japaners und erregte damit das Aufsehen und den Jagdtrieb der Mädchen und auch mancher Jungen. Er setzte sich, gerade stand Chor auf dem Programm, auf einen der Stühle, ordnete seinen Partituren und nahm dann das Briefchen zur Hand, wog es abschätzend und rang etwas mit sich. Sollte er es öffnen oder besser gleich entsorgen? Er entschied sich für eine Kombination, er würde es erst überfliegen und dann wegschmeißen. Schnell war das Couvert geöffnet und ein kleiner Zettel hervorgezogen. „In der kalten Zeit, in der Ruhe der Nacht, sei dein Herz befreit, so dass Friede erwacht.“, stand dort in etwas grober, aber dennoch irgendwie anmutiger Handschrift. Verdutzt sah der Blonde auf das kleine Stück Papier. Was sollte denn das bitte sein…? Mit dem festen Willen es gleich nach der Stunde wegzuschmeißen, knüllte er das Gedicht zusammen und steckte es in seine Jackentasche. Doch bei diesem einen Zettel sollte es nicht bleiben. Jeden Tag in der nun vergangenen Woche fand sich ein kleiner, blauer Briefumschlag in seinem Fach. Mal war es ein Gedicht, mal eine Liedzeile, mal nur ein weihnachtlicher Duft der dem Papier anhaftete. Matt war natürlich mehr als verwundert über diesen seltsamen Stalker. Auch seine Bandkollegen bemerkten bald die ungewöhnliche Post ihres Leaders und so wurden die blauen Briefe sehr schnell zum Gesprächsthema Nummer Eins. „Und, hast du wieder Post bekommen?“, überfiel Mano, der zweite Gitarrist der Band, den Blonden, noch bevor dieser überhaupt richtig eingetreten war. „Hallo, erstmal…“, meinte dieser daraufhin leicht murrend und hielt dann das kleine alltägliche Couvert hoch. Sofort stürzte sich sein gegenüber darauf. „’Wenn Schneeflocken wie kleine gefrorene Sterne sind, dann sollten wir Menschen ihnen fröhlich entgegen lachen, um ihrer Schönheit zu danken.’… wie poetisch!“, kommentierte Nishi zynisch, welcher über die Schulter seines Freundes mit- und vorgelesen hatte. „Und du hast keine Ahnung von wem das sein könnte?“, fragte der ruhige Bassist nach. Matt schüttelte nur seufzend den Kopf, während er seine Gitarrentasche abstellte. „Nein… ich dachte, wenn ich sie ignoriere und gar nicht darauf reagiere, würden sie von selbst aufhören, aber… nach wie vor, seit sieben Tagen bekomme ich diese Briefe.“. Ihr Drummer Toshi kratzte sich mit seinem Drumstick am Kinn, an dem ein rotgetönter Bart wuchs. „Ich hab mich mal bei den Mädels umgehört, die meinten, sie wüssten von nix. Im Gegenteil, sie waren regelrecht entrüstet, dass dir jemand einfach so Briefe schickt, ohne ihre Erlaubnis.“. Er grinste breit, doch Yamato verdrehte nur die Augen. Er hatte gedacht, die Uni wäre anders als die High School, doch auch hier hatte sich schnell ein Yamato-Ishida.Fanclub gebildet. Die anderen Wölfe, seine Band hatte sich von den damaligen Teen Age Wolves in City Wolves umbenannt, nahmen ihrem Blondschopf den Beliebtheitsgrad nicht übel. Dafür kannten sie sich zu lange und waren zu eng befreundet. Außerdem waren Mano und Nishi ein paar. Auch wenn sich immer noch alle fragten, wie es der ruhige und ernste Bassist Nishi mit dem quierligen und aufgedrehten Mano aushielt und wie sich diese beiden so gut ergänzen konnten. Und Toshi konnte selber genug Verehrerinnen sein eigen nennen. Ihr Keyboarder Kenji… der führte eine innige Beziehung mit seinem Computer, mit zeitweiliger Affäre zum Synthesizer. Trotz oder gerade wegen ihrer bunten Mischung waren die Stadtwölfe heiß begehrt. Neben Matt war es nur Toshi, der an der gleichen Fakultät studierte. Wahrscheinlich würde es niemand dem jungen Mann mit den knallroten Haaren, die zu einem winzigen Zopf geflochten und an den Seiten rasiert waren, den Punkerklamotten und den verschmitzt funkelnden Augen zutrauen, dass er Musikpädagogik studierte und neben den Drums auch noch perfekt Trompete, Saxophon und, jetzt wurde es bizarr, Cello spielte. Kenji studierte mit Leib und Seele Informatik, aber dank seiner überragenden Fähigkeiten am Klavier und auch Keyboard wirkte er als Mitglied der Wölfe dem Image vom verrückten Computerfreak entgegen. Nishi studierte Mikroelektronik und da er schon seit ihrer Schulzeit bei den Wölfen gespielt hatte und nun auch noch mit Mano zusammen war, blieb er der Band als typisch ruhiger Bassist erhalten. Mano war der einzige, der nicht studierte, Er machte eine Ausbildung zum Altenpfleger, ging darin gänzlich auf. „Es hat auch nie jemand gesehen, ob einer an deinem Spind war.“, fügte Toshi hinzu. Der Blonde zuckte nur die Schultern. „Es ist ja nun auch egal. Lasst uns loslegen!“. Als er die Uni nach diesem langen Tag verließ, machte er sich auf den Weg in die Innenstadt. Er musste noch einkaufen gehen, sonst würde er wahrscheinlich die nächsten Tage Hunger leiden. Gerade stieg er aus der Straßenbahn aus, als er wieder mal in jemanden hineinrannte. Gott, wurde das jetzt zur Gewohnheit? Er sah nur noch rot und weiß und wäre wahrscheinlich gen Boden gesegelt, wenn ihn nicht jemand am Arm festgehalten hätte. Keuchend sah er auf, direkt in zwei warme, freundliche Schokoladenaugen. „Hohoho, alles okay?“ „Oh nein…“, entfleuchte es dem Blonden. Schon wieder der Weihnachtsmann vom Markt damals. Hatte er das Unglück gepachtet? Murrend richtete er sich auf, warf dem anderen nur einen genervten Blick zu, bevor er sich wieder unter die Leute mischte. Der Weihnachtsmann sah ihm nach, unter dem weißen Rauschebart konnte man das Schmunzeln nur erahnen. „Ich knack dich schon noch, Matt…“ Einige Zeit ging das mit den Präsenten weiter, so dass sich Matt bald gar nicht mehr wunderte. Auch das Entlarven der geheimnisvollen Beschenkerin blieb erfolglos. Weihnachten kam immer näher und der Weihnachtsboom machte auch vor der Uni nicht halt. Überall sprossen Buden aus dem Boden, Plätzchengeruch wehte durch die Gänge, Tannenbäume standen herum. Wie die Stimmung mancher Leute stieg, so fiel die der anderen rapide ab. Normalerweise zählte sich der Musiker Yamato Ishida ebenfalls zu letzteren Kategorie, doch irgendwie war es dieses Jahr anders. Er war wesentlich entspannter, ruhiger, offener den Weihnachtsdingen gegenüber. „Adeste fideles, leati triumphanti, venite, venite in Bethlehem.“, sang er, dass sich die Stimme im ganzen Raum entfaltete und die Chorleiterin kurz genüsslich die Augen schließen liess, bevor sie dem Chor hinter Matt einen Einsatz gab und sich ihre Stimmen verwoben. Zu seinem Studium gehörte natürlich auch klassischer Gesang und Chor, und auch wenn er lieber ganz andere Töne anschlug, liebten die Professoren sein weites Tonspektrum, das locker zwischen hohem Tenor und warmen Bariton hin und her springen konnte. Und so war er, kaum zu glauben, auch zum großen städtischen Weihnachtskonzert eingesetzt. Nach der Stunde machte er sich leise summend auf dem Weg zu seinem Spind. Er hatte heute noch gar nicht reingeschaut, also würde ihm bestimmt gleich ein Briefchen entgegen fallen. Er hielt schon mal eine Hand auf, um den Brief aufzufangen. Bestimmt eine halbe Minute stand er unbeweglich so da, bis die ungewöhnliche Begebenheit seine Hirnzellen erreicht hatte und eine Reaktion hervorrief. Da war kein Brief… Verwirrt stellte er seine Gitarrentasche ab und wühlte sich durch die Notenpakete, blätterte alles durch, in der Annahme der Brief sei irgendwo dazwischen gerutscht. Er musste doch da sein, er bekam doch jeden Tag eine Nachricht von Unbekannt! Doch hier war kein blauer Brief. Das war doch vollkommen unmöglich! Sein Kopf ruckte in die Höhe als ihm klar wurde, wie kindisch er sich gerade verhielt. Verfiel bald in Panik, nur weil so ein blöder Brief nicht da war. Er rief sich selber zur Ordnung und verstaute dann seine Tasche im Spind. Es war sicher Zufall, dass heute kein Brief da war. Morgen lag bestimmt wieder einer an Ort und Stelle, da war er sich sicher. Doch auch am nächsten und übernächsten Tag war kein in blaues Couvert eingebetteter Brief in dem grauen Spind zu finden. Auf ihm selbst unerklärliche Weise mürrisch sass der Blonde kurz darauf in der Bandprobe. „Welche Laus hat dir denn die Leber aufgefressen?“, fragte Mano verdutzt, doch bevor ihr Leadsänger ihm überhaupt antworten konnte, hatte er bereits einen Ellebogen des Bassisten Nishi in der Seite- „Es heißt: ‚Laus über die Leber gelaufen.’“, meinte er augenrollend. Mano stöhnte übertrieben auf. „Na und? Es ist doch egal, ob sie sie frisst oder mit ihren dreckigen Füssen darüber läuft. Was macht die Laus überhaupt im Körper? Oder ist die Leber draussen?“, plapperte der Brünette vor sich hin, doch der bereits genervte Nishi funkte ihm dazwischen. „Das ist doch egal! Es geht doch nur um das richtige Sprichwort. Du kannst das nicht einfach verdrehen!“ Toshi liess einen kurzen Trommelwirbel erklingen, der die beiden aufmerken liess. „Wie ein altes Ehepaar. Muss Liebe schön sein…“, während die beiden peinlich berührt zur Seite sahen, sprach Toshi ungerührt weiter. „Egal, was wo auch immer drüber gelaufen ist, Matt geht es nicht gut. Also, Alter, spucks aus, was ist los?“. Der blonde Sänger seufzte tief, strich sich eine vorwitzige Strähne aus dem Gesicht und atmete tief durch. Verheimlichen hatte vor dieser Meute eh keinen Sinn, die kamen noch auf die Idee und versuchten den Grund seiner anscheinend viel zu offensichtlichen Sorgen auf eigene Faust zu erforschen. „Ich… es kommen keine Briefe mehr…“. Ein allgemein entsetztes Raunen ging durch die Wölfe, doch der Bemitleidete winkte nur ab. „Ach, das ist nicht so tragisch. Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, kein lästiger Papiermüll mehr.“, meinte Yamato wie beiläufig. Klimperte auf seiner Gitarre ein leises Lied. Toshi schüttelte seufzend den Kopf, während er sich auf sein Drumset lehnte und dem anderen direkt in die Augen sah. „probier erst gar nicht es herunter zu spielen, Mattie-boy. Dazu kennen wir dich zu lange. Wenn es dir wirklich egal oder lästig gewesen wäre, warum bist du nach jeder Stunde an deinen Spind gegangen? Wenn es dir wirklich so gleich wäre, warum wurde dein Gesicht jedes Mal enttäuscht und traurig, als in den letzten Tagen kein Brief vorhanden war? Du brauchst bei uns nicht den coolen, geheimnisvollen Wolf spielen, Yamato. Sei du selbst und gesteh dir endlich ein, dass dir die Briefe wichtig sind und sie dir deinen Tag erhellt haben.“. Während Toshi seinen ernsten Appell beendete, starrten in die anderen ehrfürchtig an. Sie wussten zwar, dass man von Toshis Äußerem nicht auf seinen Intellekt schließen sollte, dennoch war es jedes Mal beeindruckend, wenn der sonst eher lässig sprechende Drummer sein Menschenverständnis so philosophisch zum Ausdruck brachte. Matt war wie versteinert. Wie konnte das sein? Waren seine Gefühle so offensichtlich? Klar, vor den Jungs musste er sich nicht verstecken, doch normalerweise vertraute er sein tiefstes Inneres auch ihnen selten an. Er wollte einfach kein mitleid, keine Hilfe, wollte niemandem zeigen, wie verwundbar er doch eigentlich war. Und wieder siegte sein antrainierter Selbstschutzmechanismus und liess ihn halbherzig lachend abwinken. „Sag mal, bestalkst du mich? Lass uns den unwichtigen Kram vergessen und endlich mit dem Proben beginnen, hm?“. Und bevor irgendjemand was anderes erwidern konnte, hatte er schon die Saiten seiner Gitarre angeschlagen und begann ihr erstes Stück. Doch so abgedroschen, wie der Sänger tat, war er nicht. Und so begab er sich nach der Probe doch wieder zu seinem Schliessfach. Irgendwie schien es ihn magisch anzuziehen. Seine Gedanken kreisten nur noch um die kleinen Schriftstücke. Es war extrem nervig… und auf eine seltsame Weise schön. Dieses Kribbeln bei jedem Lesen, die heimliche Vorfreude beim Öffnen der Tür… es fühlte sich wie Leben an. Ja, das erste Mal seit langem lebte der Blonde wieder. Als sei er ganz neu in seinen Körper, in seine Seele, in sein Ich eingetaucht. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Diese Aufregung, Spannung hatte er das letzte Mal erlebt, als er einen Adventskalender besessen und ihn jeden Morgen mit leuchtenden Augen geöffnet hatte. Das war vor zehn Jahren gewesen… Seine Hand schob sich in seine Jackentasche, eigentlich um den Spindschlüssel zu fischen, den er an diesem Morgen in der Eile und ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten einfach in der Jackentasche hatte verschwinden lassen. Doch statt des kühlen Metalls spürte er plötzlich ein Knistern unter seinen Fingern. Papier? Verdutzt zog er den zusammengeknüllten Papierball aus der Tasche, zog ihn vorsichtig auseinander und glättete ihn. Das so stark bewunderte Karibikblau seiner Augen nahm einen melancholischen Ausdruck an. Der erste Brief, den er damals noch unachtsam zerknüllt hatte… Seufzend las er die Zeilen nochmals. Wie nebenbei öffnete er nun den Spind, sah in Gedanken auf und blinzelte verdutzt. Da lag tatsächlich ein Brief… zitternd streckte er die Finger nach dem schönen Couvert aus, schob die Lasche vorsichtig auf, als könnte er etwas Kostbares zerstören. Er nestelte das Papier heraus und las voller Spannung. „Genug des gespannten Wartens, der himmlischen Vorfreude. Morgen, am Nikolaustag möchte ich mit dir einen weihnachtlichen 6. Dezember verbringen. Wirfst du die Scheu in den Schnee und lässt dich frei? Komm morgen Nachmittag ins Café Cariano. 17.00 Uhr warte ich auf dich. Weihnachtswichtel.“. Verwirrt runzelte er die Stirn. Ein Treffen? Tagelang gar nichts und nun wurde er nach einem Treffen gefragt? Den Kopf schüttelnd steckte er den Zettel weg. Hatte er nicht am Vortag noch mit dem Kopf geschüttelt? Trotz vorheriger Abneigungen stand er nun doch vor dem Café in der Innenstadt. Was hatte ihn nur geritten? Er mochte Weihnachten und den ganzen Kitsch darum doch eigentlich gar nicht. Und doch hatte er sich hier zu dem bunt geschmückten Café gezwungen. Viel zu neugierig, das war sein Gefühl momentan. Er wollte wissen, wer ihm die Briefe geschrieben hatte. Vielleicht ein Fangirl? Ein Bewunderer? Vielleicht ein psychopathischer Musiker, der neidisch auf ihn war und ihn nun umbringen wollte…? Oh Gott, vielleicht war das hier alles eine Falle! Er schluckte leicht, doch schüttelte dann innerlich den kopf. Sein Gedankenkarussell fuhr mal wieder Amok. Nach schier endlosen Sekunden rang er sich dazu durch die Tür zu öffnen. Ein leichter Zimtgeruch, wohlige Wärme und eine leise Weihnachtsmelodie begrüßten ihn. Nein, halt, Weihnachtsmuffel-Empfinden aktivieren! Ekliger Zimtgestank, bullige Hitze und nerviges Gedudel schlugen ihm entgegen. Leicht musste er schmunzeln. Gut, jetzt hatte er sich einigermaßen gefangen. Er sah sich um. Niemand hier sah aus wie jemand der blaue Briefe in anderer Leute Spind steckte. Noch bevor er sich fragen konnte, ob das Ganze nicht doch ein Bluff oder gar eine Falle war, trat ein Kellner auf ihn zu. „Sind Sie Yamato Ishida? Bitte folgen Sie mir.“. Der Blonde sah verdutzt drein und nickte. Was sollte denn das? Dem Beschürzten folgend gingen sie durch das Kaffeehaus. Matt sah auf, als sie einen etwas abgetrennten Bereich des Cafés erreichten. Die blauen Augen wurden tellergroß und sanftes Kerzenlicht spiegelte sich in seinen Pupillen. Dort stand ein Tisch mit zwei Stühlen. An sich nicht ungewöhnlich für ein Café, gut. Doch der Tisch war wunderschön gedeckt. Eine weiße Tischdecke, auf ihr blaue, runde Kerzen, kleine weiße Kristalle, welche die Form von Schneeflocken hatten. Eine tolle Weihnachtsdekoration, die aber alles andere als kitschig war. Mit staunendem Mund schaute er auf den Tisch wie ein kleines Kind auf den Weihnachtsbaum. So bemerkte er nicht ml, dass der Kellner sich leise entfernte. „Hohoho… fröhlichen Nikolaus!“, sagte plötzlich eine warme Stimme hinter ihm. Vollkommen überrumpelt, mit der unerwarteten Stimme nicht rechnend, schrak der Blonde zusammen, drehte sich herum. „Du?!“, beinahe sofort erkannte er den verkleideten Weihnachtsmann vom Markt wieder. Warum er genau diesen unter all den gefälschten Rauschebärten erkannte, wusste er nicht, ein seltenes, nicht erklärungswürdiges Phänomen. Mehr als verwirrt starrte er den anderen an, die Fragezeichen um seinen Kopf waren beinahe offensichtlich. Der Weihnachtsmann lächelte ihm zu und legte den braunen Jutesack ab. „Setzen wir uns doch. Was möchtest du trinken?“. Immer noch völlig baff setzte sich der Blonde sogar brav und stiess schließlich ein leises „Kaffee“ hervor. Als sie sassen fiel die blaue Serviette sofort Matts Fingern zum Opfer. Wie immer, wenn er nervös war, begann er Dinge zu zerzupfen. „Ich hab nur zwei Fragen: Was? Und warum?“, meinte er schließlich seufzend und sah auf. Sein Gegenüber grinste leicht, was man unter dem Bart kaum sah. „Ich hab dich auf dem Weihnachtsmarkt gesehen und es hat mich traurig gemacht, dass du so weihnachtsmuffelig bist, obwohl du die Lieder dieser Zeit so schön und voller Gefühl gesungen hast.“. Matt nahm einen Schluck des Kaffees, was ihn wärmte und runterkommen liess. „Na und? Viele mögen keine Weihnachten. Und zum Singen gehört auch Schauspielerei. Der Auftritt auf den Weihnachtsmärkten bringt Auftrittserfahrung, Publicity und Geld. Da muss man mal in den sauren Apfel beissen.“. „Ich hatte aber eher das Gefühl, dass du Weihnachten an sich nicht hasst…“, doch bevor der Weißbärtige weiter reden konnte, winkte Yamato ab und wechselte schnell das Thema. Er wollte nicht darüber reden, warum er Weihnachten nicht mochte. Er musste seine Seele schützen. Und diesem Fremden würde er garantiert nichts erzählen. Obwohl… so fremd wirkte der andere gar nicht. Ungewöhnlicherweise fühlte sich der Student, als würde er den anderen schon eine ganze Weile kennen. Vielleicht wegen der Briefe. Ach ja, die Briefe… „Wie hast du überhaupt die Briefe in meinen Spind geschmuggelt? Nie hat dich jemand gesehen und ich muss sagen, du bist ja nun doch auffälliger gekleidet.“. Ein lautes Lachen des Mannes vor ihm liess ihn merken, was für einen Schwachsinn er gerade von sich gegeben hatte. Natürlich lief der andere nicht den ganzen Tag in dem Santa Clause- Kostüm herum. Sein Gegenüber nahm den Rauschebart, Mütze und Mantel ab und zum Vorschein kam ein junger, schlanker Mann mit einer braunen Wuschelmähne und schokoladenbraunen Augen. Er schien im selben Alter wie der blonde Musiker zu sein. Und irgendwie kam er Yamato bekannt vor… „Ich studiere ebenfalls an der Tokioter Uni. Fakultät Sport.“, er schmunzelte leicht, als der andere ihn verdutzt ansah. Ein Sportler? Das konnte glatt sein… war das doch eine Verarsche? „Die Briefe habe ich meistens ganz früh in deinen Spind geschoben. Ich habe mir angewöhnt morgens joggen zu gehen und dann in der Uni zu duschen. Damit bin ich immer eher da, als die meisten anderen. Somit hat mich nie jemand gesehen.“ „Und warum hast du mir überhaupt diese ganzen Nachrichten geschrieben?“, nun wurde der als Student enttarnte Weihnachtsmann aus blauen Augen taxiert. In dem Azur vermischten sich Verwirrung, Ratlosigkeit, aber gleichzeitig ein Glimmen Hoffung, das der andere wohl erkennen konnte. Er nahm einen Schluck seines Cappucchinos und sah ihn dann offen an. „Wie gesagt, ich hatte das Gefühl, dass du nicht der normale Komerz-Weihnachtshasser bist. Und ich wollte dich unbedingt mal richtig lächeln sehen, ich hab es mir wunderschön vorgestellt.“, meinte der andere offen und ohne Scham. Letztere in Form einer sanften Röte auf beiden Wangen befiel jedoch den Blonden. Der Brünette hatte ihn lächeln sehen wollen? Er hatte es sich wunderschön vorgestellt? Das klang ja beinahe wie Flirten! Doch sein Gegenüber redete schon weiter. „Dann habe ich gesehen, wie du jeden Tag deinen Spind geleert hast. Ich hab leider nicht immer genau den Moment abgepasst, aber ab und an sah ich dein vorfreudiges Lächeln. Ein sanftes Lächeln, schön, wie ich es mir vorgestellt hatte.“ Nun reichte es dem Blonden, das war zuviel! „Sag mal, bist du ein Stalker? Das ist doch krank, was willst du von mir?“, doch entgegen aller Erwartungen blieb der Sportler ganz ruhig, stützte die Ellebogen auf, legte das Kinn auf die Hände und sah ihm so direkt in die Augen, dass Yamato sich wie durchleuchtet vorkam. Ein seltsames Gefühl, wie als würden tausend Ameisen seinen Körper überrennen. Er konnte diesem intensiven Blick nicht stand halten. „Haben sie dir gefallen? Die Briefe? Hast du dich gefreut, jeden Tag einen zu bekommen?“, die warme, tiefe Stimme hatte in etwa denselben Effekt wie die Augen des anderen, nur das es ihn diesmal von unten nach oben durchrieselte. Gott, was war das nur? Das war doch nicht mehr normal. Ach ja, bestimmt brütete er gerade eine Erkältung aus. Ja, das war`s! Grippe! Mit Fieber und Schüttelfrost! Das erklärte das Frösteln und vielleicht konnte er sich so rausreden und hier verschwinden. Weg von dem stalkenden, wo möglich perversen Sportstudenten. Doch irgendwie konnte er sich nicht bewegen. Vielleicht fesselte ihn der andere durch seinen Blick… oder Yamato wurde langsam wahnsinnig. Da fiel ihm ein, dass ja noch eine Antwort seinerseits ausstand. „Ja… naja… schon, aber… das ist nur, weil man sich doch generell über Briefe freut und… warum hast du überhaupt mittendrin aufgehört?“, dass er sich mit diesem vorwurfsvollen Satz mehr Blösse gegeben hatte, als er wollte, war ihm nicht bewusst. Der Sportler lächelte abermals und wieder hatte Matt das Gefühl, dass der andere alles wusste und er selbst nur ein kleines, dummes Naivchen war. „Ich wollte dir damit zeigen, dass dir die Briefe was bedeuten und du die Vorfreude und die schöne Überraschung, dass jemand bedingungslos an dich denkt und dir eine Freude machen will, vermisst. Genau das, was Weihnachten ausmacht.“. Nun wurde Yamato tiefrot und er verfluchte sich dafür. Wie konnte das nur sein? Woher wusste dieser braungebrannte Rumhüpf-Heini mit dem braunen Krähennest, was er sich wahrscheinlich erdreistete „Haare“ zu nennen, so genau wie er sich gefühlt hatte? Das war weder logisch noch unlogisch noch mit Grippe und Schüttelfrost zu erklären. Vielleicht war einer seiner Bandkollegen zum Verräter geworden und hatte seinem Gegenüber von ihm erzählt? Oder hatte der andere so eine gute Menschenkenntnis? Nah, immerhin war er Sportler. Da war Denken eher ausschliessbar. Auf diese Aussage konnte er einfach keine Antwort geben, wahrscheinlich hatte der Brünette eh schon gemerkt, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte. Der falsche Weihnachtsmann leerte seine Tasse und sah ihn dann wieder an, nein, eher taxierte er ihn mit seinem Blick, schien ihn genau zu scannen. „Was… aber… warum tust du das? Ich mein… das macht man doch nicht einfach so aus Spaß oder Langeweile, oder?“. Und wieder war es da. Dieses kleine Flimmern von Angst, aber auch Hoffnung. Hatte sich der Hampelmann einen Spaß mit ihm erlaubt oder aber, und das glaubte er kaum, war er wirklich ehrlich an ihn und seinen Gefühlen interessiert? An ihm, Yamato Ishida, dem echten, nicht dem Musiker, nicht dem attraktiven Mann, sondern der sensiblen Seele, die sich eigentlich nichts mehr wünschte, als endlich nicht mehr alleine zu sein. Ein Fakt, den er immer hinter der coolen, einzelgängerischen Wolfsmaske zu verstecken versuchte. Allein… wie er es gewesen war seit der Scheidung seiner Eltern und der damit zusammenhängenden Trennung von seinem Bruder Takeru. Allein… wie er es gewesen ist, seit dem er in die Studentenwohnung gezogen war. Allein… wie er es immer sein wird, weil er es einfach nicht schaffte sich Leuten zu öffnen, anderen zu vertrauen. Denn das hieße ja, verletzbar zu sein. Und er wollte nicht mehr verletzt werden. Nie mehr… Verletzt werden. Allein sein. Was war besser? Würde er immer allein bleiben? Über diese sich verwirbelnden, seine Seele packenden Gedankenströme bemerkte er nicht, dass langsam Tränen wie perlende Hilferufe seiner Seele von seinen Wangen fielen. „Yamato… bitte… lass mich bei dir sein. Du willst nicht alleine sein, nicht wahr? Du bist einsam.“. Erschrocken zuckte der Kopf des Angesprochenen in die Höhe. Die karibikblauen Augen waren durch das Weinen rein gewaschen und leuchteten. Ängstlich sah er auf, als sein Kinn angehoben wurde und er nun direkt in die warmen Augen sah, von einem satten Braun wie geschmolzene Schokolade. Und plötzlich kamen sie immer näher, bis weiche Lippen eine Träne auf seiner linken Wange wegküssten, dann auf der rechten. Zwar zuckte er kurz zusammen, stutzte über diese Begebenheit, doch als sie sich auf seinen Mund legten, schloss er genüsslich die Augen, genoss das warme, kribbelnde Gefühl der gleichzeitigen Geborgenheit und Anspannung. Als sich der sanfte Kuss löste traf Schokoladenbraun auf Karibikblau. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)