Verloren im eigenen Spiel von Sitamun ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich könnte das Licht anschalten, wenn ich wollte. Aber ich will nicht. Der Raum bleibt in Dunkel gehüllt, nur schwach erhüllt durch das bisschen Licht, das unter dem Türspalt durchscheint. Es ist nicht mein Zimmer zu Hause. Aber ich kenne alles in und auswendig. Weiß, wo alles steht. Weiß, wie alles steht. Wo es beginnt und wo es aufhört. Ich könnte mich hier im Schlaf sicher zurechtfinden. Aber ich will nicht schlafen, brauche es nicht. Nicht müde. Eigentlich … eigentlich sollte ich nicht hier sein, in diesem Raum. Eigentlich sollte ich bei den anderen sein, im großen Saal. Dort, wo unsere kleine Weihnachtsfeier stattfindet. Fast die gesamte Schule befindet sich dort, um Weihnachten zu feiern. Mir ist schon seit Tagen nicht weihnachtlich zumute. Und das immer weniger, je mehr meine Freunde sich mit breitem Grinsen in die Vorbereitung stürzten. Es gefiel mir nicht. Wollte nicht schon wieder mit Schulkameraden – Fremden – feiern. Meinem Bruder zuliebe, der an all diesem Spektakel seinen Spaß zu haben schien, blieb ich. Ich glaube, ich bereue es. Wäre ich doch bereits vor Stunden gegangen, als ich nicht mehr von Nöten war. Die anderen können die Feier doch auch ganz gut ohne mich schmeißen. Ansonsten wäre einer von ihnen schon längst gekommen. Ein stilles Weihnachtsfest war das einzige, was ich mir dieses Jahr wünschte. Kann ja nicht jeder alles haben. Vielleicht sollte ich mich damit abfinden. Einfach in Erinnerung schwelgen an die Weihnachtsfeste, die ruhig und still waren. Müsste doch genügen, um mich wieder einigermaßen in Stimmung zu bekommen. Mein Bruder würde es mir nie verzeihen, wenn ich den ganzen Abend hier bleiben würde. Glaube ich zumindest. Lächelnd greife ich zu meinem Handy, blicke auf die Uhr. Viertel nach zehn. Der Abend ist noch jung. Und ich bin seit einer Stunde schon hier. Hab nicht gewusst, dass die Zeit so schnell vergehen kann, wenn man nur Löcher in die Luft starrt und untätig auf einer Fensterbank sitzt. Wunderbare Erkenntnis … Ich lasse das Handy wieder in meine Tasche gleiten, den Blick wieder aus dem Fenster gewandt. Dort ist kaum Weihnachtsschmuck, auf jeden Fall keiner, der hell leuchtend strahlt und die Vorstellung weckt, die Nacht würde nicht mehr existieren, so wie es bei anderen Bereichen des Schulgebäudes der Fall ist. Seufze. Erinnere mich. Damals, vor … ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre es genau sind … auf jeden Fall waren mein Bruder und ich noch ziemlich klein, nicht älter als sieben … damals waren unsere Eltern auf einer geschäftlichen Reise über Weihnachten. Ich kann gar nicht sagen, wie froh wir darüber waren, dass sie nicht da waren. Weihnachten mit ihnen war immer so kalt und förmlich. So, als ob sie nie aus Liebe geheiratet und uns nie aus Liebe gezeugt hätten. Vielleicht mag das sein und im Nachhinein wäre es nicht einmal mehr etwas ungewöhnliches. Die harte und traurige Realität der Geschäftswelt. Aber mittlerweile, Jahre später, scheinen sie sich damit abgefunden zu haben. Scheinen. Weiß nicht, wie es wirklich aussieht. Rede nie mit ihnen darüber. Wäre wohl zu viel des Guten. Vielleicht hat es mein Bruder schon gemacht. Er lächelt sie hin und wieder so wissend an, wenn sie nicht hinsehen. Ich frage nicht nach. Wüsste nicht, warum. Auf jeden Fall … damals, an Weihnachten, waren wir zwei alleine … Ein Foto von dieser Zeit – das einzige, das mir in den letzten Tagen einigermaßen weihnachtliche Stimmung verpasst – trage ich seit Anfang Dezember mit mir herum. Betrachte es immer dann, wenn ich alleine bin. So wie jetzt. Ich glaube, selbst mein Bruder weiß nicht, dass ich es bei mir habe. Habe ihn in dieser Zeit nie in meinem Portmonee einfach nur so rumwühlen oder im Fotoalbum nachschlagen sehen. Warum sollte er das auch tun … Ein plötzlicher Blitz lässt uns zwei zusammenzucken. Unser aktuelles Kindermädchen macht schon die ganze Zeit Fotos, aber dieses Mal hatten wir es nicht erwartet. Ansonsten hätten wir wie auch bei all den anderen Fotos irgendwelche Grimassen gezogen. So wie immer. Doch dieses Mal … „Ha! Endlich geschafft!“ Das Kindermädchen lächelt uns siegesgewiss an und drückt die Kamera an sich, so als wäre es ihr liebster Schatz. So als wäre sie das Kind und nicht wir. „Wenigstens ein Foto von euch, auf dem ihr keine Grimasse zieht … ich werde eure Eltern fragen, ob ich davon einen Abzug haben kann. Ihr seid so süß.“ Mit diesem Grinsen im Gesicht verlässt sie das Zimmer und lässt uns alleine. Das Foto scheint ihr wohl jeglichen Schaden, der noch entstehen könnte, wert zu sein. Ich blicke zu meinem Bruder. „Was haben wir gerade gemacht?“ „Nichts.“ „Aber warum freut sie sich dann so?“ Wir stellen uns gemeinsam diese Frage, wie wir auch ständig irgendetwas gemeinsam sagen und uns fragen. Nichts ungewöhnliches. Aber unser Kindermädchen freut sich immer unglaublich darüber. Wir folgen ihr nicht. Versuchen nicht, es herauszufinden. „Hikaru?“ „Ja, Kaoru?“ „Warum sitzt du alleine hier?“ Ich blicke ihn nicht an. Er steht einfach vor mir, kann das Foto nicht sehen. Greife in meine Tasche zu meinem Handy. Halb elf. Eine SMS im Eingang. Öffne sie, lese sie. Blicke wieder zu ihm. Wo bist du, Hikaru? >O< Komm bitte zurück in die Halle >///<’’’ Kurz. Aber es reicht. „Weiß nicht …“ Ich weiß es sehr wohl. Sehe aus dem Fenster. Er hat das Licht nicht angemacht und auch die Tür nicht aufgelassen. Es bleibt dunkel. Nur der kleine Spalt unter Tür lässt ein wenig Licht durch. Immer noch. „Das glaube ich dir nicht.“ Zu Recht. Stimmt ja auch nicht, was ich sagte. Das Foto … Auf diesem Foto sieht man ihn und mich. Im Hintergrund ein kleiner Weihnachtsbaum. Schön und lieblich geschmückt, darunter wenige Geschenke. Ein Kaminfeuer irgendwo im Zimmer, das nicht auf dem Bild ist, verleiht allem im Bild einen weihnachtlich rötlichen Schimmer. Zauberhaft. Doch das, was ich am schönsten an diesem Bild finde, ist, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wo ich gesessen habe. Ob ich derjenige war, der den Blick gesenkt hielt, oder der, der dem anderen mit strahlendem Lächeln das gerade ausgepackte Spielzeug entgegenhielt. Ich kann nicht erkennen, wer ich bin. Und das ist das Zauberhafteste von allen. „Warum bloß?“ Die Frage ist ironisch, unterlegt von einem spöttischen Grinsen meinerseits. Er schüttelt den Kopf, sieht so aus, als würde er aufgeben und wieder gehen wollen. „Kaoru.“ „Ja?“ „Erinnerst du dich noch, wer du auf diesem Foto bist?“ Ich halte es hoch, doch es ist zu dunkel, als das er etwas erkennen würde. Also kommt er näher, nimmt es mir vorsichtig aus der Hand und mustert es. Sehr viel länger als einen Augenblick. Und nach ein paar Minuten gibt er auf, schüttelt den Kopf. „Nein. Weiß ich nicht.“ Er lächelt. „Kannst du es?“ „Ich erinnere mich noch an den Abend, klar, aber wer wer ist … keine Ahnung …“ Ich erwidere sein Lächeln. „Kommst du wieder mit zurück? Ohne dich ist es keine richtige Weihnachtsfeier.“ Ein letzter Blick zum Foto, bevor es mit meinem Handy wieder in der Tasche verschwindet. Wir waren alleine, wir beide. Und ein kleines Geschenk bekam ich auch von ihm. Mein Wunsch ist erfüllt … ein ruhiges, stilles Weihnachten … „Klar.“ Lege meinen Arm um seine Schultern, drücke ihn an mich. Mein Brüderchen … Frohe Weihnachten, Kaoru. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)