Ein ganz besonderer Weihnachtsengel von Laegwen ================================================================================ Kapitel 5: Silvester -------------------- Ich kassiere gerade das erwartete Donnerwetter von meinem Vater, hab ich ja auch nicht anders erwartet. Er schreit mich an, dass ich mich benehmen muss, und nicht einfach weglaufen kann, wenn mir danach ist. Der hat ja keine Ahnung, was ich alles kann. Ich kann zum Beispiel einen Mann lieben, das kann ich, das würde er nie fertig bringen. Deswegen brauch ich ihm das auch gar nicht erklären, würde er eh nicht verstehen. Könnt ihr das verstehen? Sagt doch einfach mal ja, ich bin so verflucht daneben, ich kann jetzt nichts ertragen, was mich irgendwie anstrengt. Also halte ich einfach still und lass es über mich ergehen. Bleibt mir ja auch gar nichts anderes übrig. Dann soll der mich halt anschreien, ich hab eh keine Ahnung, wer das eigentlich ist. Der sieht nur aus wie mein Vater, aber ich glaub, er ist in Wirklichkeit auch sowas wie ein Geist. Mein Vater, der ist damals gestorben, als er von dieser Leiter gefallen ist und seitdem ist eben dieser Mann hier und tut nur so als ob. Könnt ihr euch vorstellen, dass mich das plötzlich ganz entsetzlich wütend macht? Mann, ich bin so geladen, ich hör mir das nicht länger an. Mein Alter war kein Weichling, nicht so ein blöder Penner, der alles hasst. Wirklich nicht. Ich will den wieder haben, so, wie er früher war. Also bin ich jetzt dran mit schreien. Holt euch mal lieber Ohrenstöpsel, die werdet ihr brauchen. Ich werd hier nämlich gleich die ganze Bude zusammenschreien, verlasst euch drauf. So, ich bin soweit, ihr auch? Dann ist ja alles klar. „Halt deine blöde Schnauze, du beschissener Krüppel!!“, brülle ich. Mach ich wirklich, kein Scheiß. Seht ihr, wie der guckt? So hat er noch nie ausgesehen, der weiß gar nicht, was er machen soll. Ist mir recht, ich brüll jetzt nämlich weiter. Dass er aufhören soll, allem und jedem die Schuld dafür zu geben, dass er nicht mehr laufen kann, weil da einfach keiner was für kann. Ist doch so. Der Kran war ordnungsgemäß gewartet, die schwache Sprosse hat einfach niemand entdeckt. Er war nicht unvorsichtig. Manchmal passieren solche Sachen halt. Überall auf der Welt. Und in diesem Fall hat es eben uns erwischt. Deswegen sag ich ihm, dass er immer noch so viel machen könnte, wenn er nur wollte. Dass sein Leben vorbei ist und er so unnütz, dass muss doch nicht so sein. Da ist er ganz alleine dran Schuld. Er könnte, wenn er wollte, jeder Zeit. Er hat schließlich zwei gesunde Hände und einen Kopf, mit dem zumindest theoretisch alles in Ordnung ist. Und weil ich gerade dabei bin, schreie ich auch meine Mutter an, dass sie nicht so ein Trauerkloß sein soll und sich verdammt noch mal nicht alles gefallen lassen soll. Will sie etwa für den Rest ihres Lebens einen selbstgerechten Mistkerl bedienen? Wenn mein Vater ein Bier will, dann kann er sich das meiner Meinung auch selber holen. Muss ja keine Treppen mit seinem Rollstuhl fahren dazu, die Küche ist direkt neben dem Wohnzimmer, also ehrlich! Wenn die ihm das immer so leicht macht, dann hat er ja gar keinen Grund, an seinem beschissenen Verhalten was zu ändern, versteht ihr? Ey, ich schreie so viel, die gucken mich einfach nur an, als wenn ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Haben sie wahrscheinlich recht mit, aber das ist mir gerade sowas von egal, könnt ihr euch nicht vorstellen. Oder doch, vielleicht könnt ihr. Es fühlt sich nämlich verdammt gut an. Ich schrei mir einfach alles von der Seele, was ich so mit mir rumschleppe. Na gut, nicht alles. Ich sag nicht, dass ich vom anderen Ufer bin. Dafür brauch ich einfach noch ein Weilchen, OK? Also hört auf, deswegen die Nase zu rümpfen, würd mich mal interessieren, ob ihr das könntet. Einfach so euren Alten sagen, dass ihr keine Enkelkinder produzieren werdet und keine nette Schwiegertochter anschleppen, weil ihr eben nicht so seid. Aber ich mach das, wahrscheinlich eher früher als später. Und das liegt daran, dass Richy mich gerettet hat. Hat er nämlich echt. Ohne Scheiß. Ich bin nicht mehr der tolle Pat, die geilste Sau von der Schule. Werd ich auch nie wieder sein. Der Typ war kacke, versteht ihr? So richtig beschissen und ätzend, dem werde ich keine Träne nachheulen. Ich bin eben einfach ich. Und jetzt muss ich mich um meine Schwester kümmern, die ist nämlich eben heulend aus dem Zimmer gelaufen, bei dem ganzen Gebrüll. Ich mag die Kleine, verdammt viel sogar. Die soll nicht Angst haben, dass jetzt alles kaputt geht. Also renn ich hinterher. Sie sitzt auf ihrem Bett und trotz der ganzen Schminke im Gesicht und dem Oberteil, bei dem sie ihren Bauchnabel als Brosche trägt, sieht sie aus wie ein kleines Mädchen. Was sie ja mit zwölf auch noch ist. Sie sieht aus wie jemand, den man in den Arm nehmen muss, was ich jetzt auch mache. Ich sage ihr, dass alles gut wird und versuche mich damit genauso sehr selbst zu überzeugen wie sie. Keine Ahnung, warum ich danach nicht aufhöre, aber ich rede einfach weiter. Das brauch ich ganz dringend, versteht ihr? Klar, ihr habt mir bis jetzt zugehört, das war echt in Ordnung von euch, aber, so besonders gesprächig seid ihr halt nicht. Deswegen sage ich Lisa, so heißt meine Schwester, dass ich ganz verwirrt bin, weil ich jemanden kennengelernt hab, den ich aber nicht haben kann, egal wie sehr ich es will. Ich sag wirklich ‚ihn‘. Nicht ‚sie‘ und mach auch keine anderen Ausflüchte oder benutz beschissene Umschreibungen. Und was soll ich euch sagen? Sie versteht mich. Irgendwie. Sie fragt mich echt, wie er heißt und all den Kram und ich sage es ihr. Kann man sich kaum vorstellen, dass ich hier mit meiner Babyschwester sitze und darüber rede, was mit Richy passiert ist. Ich hör nicht mitten drin auf. Könnte ich gar nicht, selbst wenn ich wollte. Aber ich will auch nicht. Irgendjemandem muss ich das erzählen und sie ist dazu besser geeignet als irgendjemand sonst. Ich sag ihr auch, dass ich es kaum aushalte, weil, als er verschwunden ist, da hat er einfach einen Teil von mir mitgenommen. Hab ich doch gesagt, dass er mich als Geschenk kriegt, erinnert ihr euch? Naja, deswegen fehlt jetzt ein Teil von mir. Sie ist erst zwölf, deswegen glaubt sie mir. Auch wenn sie alles versucht, schon wie eine richtige Frau auszusehen, sie ist es nicht. Sie ist noch ein kleines Mädchen. Kinder haben nicht so ein Problem mit Geistern und dem ganzen Kram. Die können einfach dran glauben. So wie sie. Ich sage ihr auch, dass sie nicht versuchen soll, so schnell erwachsen zu werden. Das ist sie noch ein ganzes Leben lang und dass sie sich nicht so aufdonnern soll. „Aber das machen doch alle so!“, antwortet sie entrüstet. „Na und?“, frage ich sie. „Ist nicht zwangsläufig das Richtige, nur weil alle es so machen. Du hast deinen eigenen Kopf.“ Hat sie, und ich auch. Deswegen will ich auch nicht, dass sie sich aufdonnert. Sie soll mal einen netten Freund finden, nicht so jemanden, wie ich das war. Aber nette Jungs, die stehen meistens nicht auf so viel Farbe im Gesicht und so knappe Klamotten. Damit zieht man eben nur die an, die Mädchen nur benutzen. Außerdem ist sie so hübsch, das hat sie gar nicht nötig. Mann, als ich das sage, da lacht sie. So richtig keck und meint, ich wär wohl kaum der Richtige, um das zu beurteilen. Ist das zu fassen? Ich kann hier sitzen und mit meiner Schwester drüber lachen, dass ich eben Männer mag und keine Frauen. Fühlt sich megamäßig an. Die ist vielleicht erst zwölf, aber die ist clever, da gibt es nichts. Vielleicht muss ich mir doch keine so großen Sorgen um sie machen, wie ich gedacht hab. Wahrscheinlich kann sie auf sich selbst aufpassen. Was jetzt nicht bedeutet, dass ich das gar nicht mehr mache, klar? Werd ich nämlich trotzdem, kann ja nichts schaden. Als ich jetzt wieder ins Wohnzimmer zurück gehe, kann ich ja zugeben, da ist mir verdammt mulmig. Ich hab keinen Schimmer, was meine Eltern machen, weil ich gerade so ausgetickt bin. Vielleicht schmeißen die mich ja raus? Drauf gesch… nein, gar nicht drauf geschissen. Das wär mir nämlich nicht egal. Ich liebe meine bescheuerten Eltern, kann ich gar nichts dran ändern. Deswegen ist das auch sowas besonderes, als ich vorsichtig ins Wohnzimmer gehe. Ich geh nicht wirklich rein, ich will da nicht stören. Meine Mutter kniet vor dem Rollstuhl und hat das Gesicht von meinem Vater in den Händen und der weint. Ich bin zwar ein paar Meter weg und er ist auch echt leise, aber ich kann es trotzdem hören. Ich glaub, die beiden müssen jetzt alleine sein. Die sind ja immerhin nicht nur Eltern, die sind auch ein Liebespaar. Oder waren das wenigstens früher mal. Hab ich schon gesagt, dass ich erledigt bin? Nicht nur müde, wie wenn ich mit den Jungs um die Häuser gezogen bin und gesoffen hab. Nein, ich bin so ausgelaugt, ich schiel schon fast. Ich hab ja in der Nacht wirklich kein Auge zugetan. Würd ich jeder Zeit wieder machen, aber mein Gehirn braucht `ne Pause. In der es einfach mal abschalten kann. Wenn ich wieder aufwache, dann kann ich vielleicht ein paar Sachen besser verstehen. Was mir passiert ist zum Beispiel. Hab noch niemanden getroffen, der auch nur eine ähnliche Geschichte zu erzählen hatte. Ihr etwa? Dann stellt mir die Person doch mal vor. Soll ich euch verraten, was ich gleich am nächsten Morgen getan hab? Soll ich? Klar, das wollt ihr wissen. Ich hab Oma Biene angerufen. War sonderbar. Die konnte sie nämlich an den Vorfall vom ersten Weihnachtstag gar nicht mehr erinnern. Hatte sie alles vergessen. Ich hab sie gefragt, ob sie mal jemanden in der Klasse hatte, der Richard Becker hieß. Sie hat erst nein gesagt und klang total überrascht, aber dann meinte sie, Moment mal, doch, da war so einer. Ist doch cool, oder? Gibt keinen Zweifel, was das bedeutet. Die hat sich nur deswegen so deutlich an ihn erinnert, weil er eben so einen spektakulären Abgang gemacht hat. Ich mein, jemand der sich Weihnachten in seinem Zimmer erhängt, wenn man so einen in der Klasse hatte, das vergisst man wirklich sein ganzes Leben nicht mehr. Aber wenn sie sich nicht dran erinnert, dann kann das doch eigentlich nur bedeuten, dass er es nicht getan hat, oder wie seht ihr das? An die Loser erinnert sich eben keiner. Ich find das klasse. Ich find auch klasse, dass meine Eltern sich gar nicht mehr dran erinnern können, dass ich einfach vom Weihnachtsbesuch bei Opa und Oma Biene abgehauen bin. Aber die können sich schon noch dran erinnern, dass ich sie angebrüllt hab und sagen mir, dass sie sowas nicht gut finden. Ich sag aber nur, hat euch gut getan, ich sollte viel öfter mal rumbrüllen. Wäre für alle das beste. Meine Mutter lacht dazu und mein Vater, nun, ich will jetzt nicht übertreiben, aber das könnte vielleicht ein Lächeln werden, wenn er etwas dran arbeitet, in ein paar Wochen oder so. Wir machen Familienrat. Haben wir früher oft gemacht und lauter Sachen besprochen, die in nächster Zeit anstehen, aber sei dem Unfall von meinem Vater eben nicht mehr. Seht ihr? Ich bin trotz allem… nicht der Größte, aber ganz in Ordnung, würd ich sagen. Jeder kann Dinge verändern, wenn er wirklich will. Mein Vater will jetzt offensichtlich auch, er sagt uns, er macht eine Therapie. Keine Ahnung, ob das was bringt, ich halt ja nicht so viel von diesem ganzen Psychoquark, aber ich verkneif mir, das zu sagen. Wenn er überhaupt was macht, dann finde ich das schon gut. Vielleicht ist der Mann, den ich als Kind so wahnsinnig geliebt hab, ja doch noch irgendwo da drin. Bei dem, was ich alles erlebt hab, also ehrlich, da halt ich einfach gar nichts mehr für unmöglich. „Wann kommt Boris denn vorbei? Den hab ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“, fragt meine Mutter mich irgendwann. „Keine Ahnung, wohl nicht mehr so oft.“, murmle ich nur. „Habt ihr euch gestritten?“, bohrt sie weiter nach. Nein, haben wir nicht, nicht wirklich, aber ich glaub eben auch nicht mehr, dass er mein Kumpel ist. Wenn ich es überhaupt je wirklich geglaubt hab. „Nein.“, sage ich nur. „Aber ich komm mit manchen Sachen nicht so klar, die er ständig macht.“ „Das finde ich gut, Liebling.“, sagt meine Mutter, so nennt die mich nämlich. „Du findest bestimmt bessere Freunde als diese Krawallbrüder.“ Hat sie recht mit, findet ihr nicht auch? Jemand wie ich, der findet ohne Probleme neue Freunde, da mach ich mir gar keinen Kopf drum. Nicht solche, die dich nur anerkennen, wenn du härter zuschlägst als alle anderen und ein richtiger Kotzbrocken bist. Vielleicht finde ich ja solche, bei denen ich einfach nur so sein kann, wie ich will und die da kein großes Ding draus machen. Werd ich auch sofort mit anfangen, spätestens nach den Weihnachtsferien. Sein wir doch mal ehrlich. Da steht ihr doch drauf, oder? Wenn ich hier nicht so blöde Sprüche reiße sondern einfach sage, was ich denke. Das mit der Nummer 1 sein, also, das war doch eh nur auf der Schule. Das interessiert doch im wirklichen Leben niemanden mehr und ich bin im letzten Schuljahr. Spätestens nach dem Abi wäre der Traum sowieso ausgeträumt gewesen, ist er jetzt eben ein halbes Jahr früher, macht auch keinen großen Unterschied. Und wenn ich dann studiere, da kennt mich niemand, da brauch ich gar nicht erst mit dieser ganzen Scheiße anfangen. Wer weiß, vielleicht geh ich ja sogar in so `ne Schwulengruppe. Gibt es ja in jeder größeren Stadt und an Unis sowieso, oder? Ich stand sogar schon mal vor der Tür von so einem Treff. Im Sommer. Na gut, nicht wirklich davor, mehr so auf der anderen Straßenseite, im Schatten, damit mich niemand sieht, aber ich konnte sehen, wer rein und raus ist. Getraut hab ich mich letzten Endes doch nicht, aber das muss ja nichts heißen. Beim nächsten Mal schaff ich’s dann vielleicht. Kann mir sowieso niemand erzählen, dass er jemanden kennt, der sich das gleich beim ersten Mal getraut hat. Hättet ihr auch nicht, das weiß ich. Mein Vater hat irgendwie schon recht, du hast ein Leben, mach was draus. Und das werd ich, ganz bestimmt. Etwas, das mir gefällt, nicht irgendjemand anderem. Heute ist der 27.12. Ich hab keine Ahnung, wo mich meine Zukunft hinführt, aber ich weiß immerhin genau, wo ich am 31.12 sein werde und auch, wer da sonst noch ist. Ihr doch auch, oder? Bis dahin passiert eh nicht mehr viel, also können wir die paar Tage auch einfach überspringen. Gut, da bin ich wieder. Ist der 31.12, hab ich doch gesagt. Ratet mal, wo ich hier bin? Schöpferstrasse Nr. 27. Wo denn sonst. Mann, der Abrisstrupp war echt fleißig wenn man bedenkt, dass ja fast nur Feiertage zwischendurch waren. Die haben die ganzen Wände aufgerissen und die elektrischen Leitungen rausgezogen, auch in der Küche ist jetzt alles weg. Überall liegen Schuttteile rum. Klar, das Haus steht verdammt lange her und mit einem Parkplatz kann man einfach viel mehr anfangen. Die werden wahrscheinlich gleich am 2. Januar damit loslegen die Wände einzureißen und dann ist nichts mehr übrig. Scheiße, das sollte mich nicht traurig machen, ist ja schließlich das reinste Rattenloch hier. Aber, trotzdem, klar? Ist eben so. Ich geh die Treppe hoch in unser Zimmer. Das Fenster ist immer noch heil und ich werd bestimmt nicht derjenige sein, der es kaputt macht. Richy ist nicht hier. Wir haben keine Zeit ausgemacht, deswegen bin ich auch schon so früh hier. Nicht dass wir uns am Ende noch verpassen. Ich hab eine Decke mit und eine Isomatte und Berliner und Sekt. Ist immerhin Silvester, richtig? Eben. Was mach ich nur, wenn er nicht kommt? Wenn er sich vielleicht auch an gar nichts mehr erinnern kann, sowie Oma Biene und meine Eltern? Ist schon klar, dass wir kein Paar werden. Das hab ich in dem Moment gewusst, als ich begriffen hab, dass er eben nicht einfach nur ein süßer Typ ist, der mir Herzklopfen macht, sondern noch ein bisschen was anderes. Aber sehen will ich ihn trotzdem. Ich will sehen, dass es ihm gut geht, versteht ihr? Er hat mich immerhin gerettet, da will ich sicher sein, dass ich das auch geschafft hab. Kann ich euch ja erzählen, ihr versteht das schon. Ich hab im Internet rumgesucht, ob ich irgendwas über ihn finde. Ist nur so, dass Richard Becker eben nicht gerade ein Name ist wie, zum Beispiel, Leberecht Krassnitzki, oder so. Der war bei mir in der Grundschule, der hieß wirklich so. Aber Richard Becker? So heißen eben total viele. Also hab ich nichts gefunden. Gar nichts. Auch nicht in dem Zeitungsarchiv unserer Stadt, wo ich gestern gewesen bin. Ich hab mir die Zeitung der Weihnachtswoche 1965 rausgesucht und der Bibliothekarin erzählt, ich müsste was für ein Referat recherchieren. Stand nichts drin. Keine Story über einen neunzehnjährigen Schüler, der sich erhängt hat. Ich weiß also, dass es geklappt hat. Er hat sich damals nicht umgebracht. Aber ich weiß eben nicht, ob er das nicht später vielleicht doch getan hat, als er älter war. Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat, glücklich zu sein. Und das will ich wissen. Muss ich einfach. Sonst kann ich nämlich auch nicht weiter machen. Ich kann Schritte auf der Treppe hören, ihr auch? Das kann einfach nur eine Person sein. Keiner vom Bautrupp der mir sagt, ich soll die Fliege machen weil ich hier nichts verloren habe und es gefährlich ist. Die Schritte kommen immer näher, total zielstrebig, direkt auf diese Tür zu. Seht ihr? Hab ich doch gesagt, ich bekomm eben immer, was ich will. Deswegen ist Richy jetzt auch hier und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alt ist er, und ich find das wunderschön. Er hat weiße Haare, zumindest ein paar, keinen komischen Seitenscheitel mehr und sonderbare Klamotten. Ganz normal sieht er aus. Dieser süße Junge, in den ich mich so verliebt hab, der ist er nicht mehr, keine Frage, aber sein Lächeln, das ist noch das gleiche. „Ich war mir gar nicht sicher, ob du wirklich hier sein würdest.“, sagt er und auch seine Stimme, die ist genauso, wie ich sie vor ein paar Tagen zuletzt gehört habe. „Ich muss doch sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.“, antworte ich darauf; hab ich ja schon mal gesagt, stimmt ja auch. „Ja, mit mir ist alles in Ordnung.“, lacht er und, Mann, mir fällt ein Stein vom Herzen, der ist so riesig, der müsste eigentlich ein Loch in den Boden hier schlagen. Er setzt sich neben mich auf die Isomatte. Ist schon besser, dass ich die mitgebracht habe. Er friert jetzt ja auch, genau wie ich. Das tun Menschen nun mal, wenn es kalt ist. Wir essen Berliner und ich frage ihn ein Loch in den Bauch. Was er alles so gemacht hat halt. Er erzählt, dass er sich all die Jahre nicht sicher war, ob es mich wirklich gegeben hat, oder ob er das alles nur geträumt hat. Hat er nicht, ich sitz ja hier und das weiß er jetzt auch. Er ist wirklich von zu Hause abgehauen, am 26.12.1965. Ist allemal besser, als sein Leben damit zu beenden, dass man sich so einen beschissenen Strick um den Hals legt und dann tot ist. „Was hast du dann gemacht?“, will ich wissen. Außerdem will ich ihn anfassen. Kann ich gar nichts gegen machen. Auch wenn er über 60 ist, ich kann nicht anders. Ich streiche ihm also mit der Hand über das Gesicht und wir lachen beide. Er ist irgendwie immer noch süß. Er erzählt mir von seinem Freund, mit dem er jetzt schon über 30 Jahre zusammen ist. Könnt ihr euch das vorstellen? So lange mit ein und der selben Person zusammen zu sein? Also, ich schon, ehrlich. Das kann ich. Ich kann vielleicht echt nicht alles, weiß ich ja selbst, aber das eben schon. „Wenn die Dinge anders wären, als sie sind.“, fange ich an. „Aus uns hätte echt was werden können, oder?“ Meine Stimme ist ganz wackelig dabei, denn, machen wir uns nichts vor, ich hab hier gerade den derbsten Liebeskummer, den man sich nur vorstellen kann und würde am liebsten heulen. Ohne je wieder aufzuhören. Ich wünschte, wir hätten wenigstens ein bisschen mehr Zeit gehabt. Hätten wir auch, wenn ich nicht so beleidigt gewesen und früher zu ihm gegangen wäre, aber das kann ich eben nicht mehr ändern. Das nicht. „Ja, ganz sicher.“, sagt Richy. Aber in diesem Leben wird das nicht so sein. Vielleicht im nächsten, wenn wir Glück haben. Wir hatten drei fantastische Nächte, die müssen reichen. Ansonsten können wir Freunde sein. Sowas, wie wir miteinander erlebt haben, das geht eben nicht spurlos vorbei. Da bleibt was von zurück. Er lebt in Spanien. Er hat Bilder mit von seinem Haus da. Von dem Haus, das er zusammen mit seinem Freund hat und von dem auch. Ich finde, der sieht mir ähnlich. Richy findet das auch. Ich werde die beiden da ganz sicher mal besuchen, im Sommer wahrscheinlich, und wer weiß, vielleicht bring ich dann auch jemanden mit. Ich hab da schon so eine Idee, wen ich gerne hätte. Fängt mit D an und hört mit ennis auf, wenn ihr wisst, wen ich meine. Ich sag euch jetzt nämlich nochmal was. Ich find den schon `ne ganze Weile ziemlich klasse, nicht so wie Richy, das gibt es eben nur einmal im Leben, aber trotzdem. Und erst recht, weil er einer von denen war, die bei diesem Treff rein und erst nach zwei Stunden wieder rausgegangen ist. Ich weiß, ich hab da `ne Menge wieder gut zu machen und das werd ich auch versuchen. Wenn ich er wäre, ich würd mich mit dem Arsch nicht mehr ansehen, aber ist ja allgemein bekannt, dass ich immer kriege, was ich will, oder? Sag ich doch. Und damit fang ich nicht erst nach den Weihnachtsferien an, sondern gleich morgen. Ich geh einfach zu ihm hin und rede mit ihm, wird sich schon was finden lassen, über das wir sprechen können. Und wenn ich ihn erstmal dazu bekommen habe, dass ich ihn küssen darf, dann will der sowieso nichts anderes mehr. Könnt ich drauf wetten. Aber jetzt sitz ich hier mit Richy und wir lachen und reden und reden und reden. Seinen Freund hat er im Hotel gelassen, den werd ich aber in den nächsten Tagen auch noch kennen lernen. Diese Nacht hier, die gehört uns und niemandem sonst. Wir stoßen um zwölf an und es ist mir einfach egal, dass wir nicht zusammen sind und es auch nie sein werden. Ich küss ihn trotzdem. Könnt ihr euch das vorstellen? Fühlt sich genauso an wie ich mich dran erinner, aber es ist das letzte Mal, dass wir sowas machen. Ein Abschiedskuss. Mehr nicht. In diesen Kuss legen wir beide alles, was hätte sein können aber nicht ist. Das ist auch OK so, versteht ihr? Ich kann jetzt nämlich anfangen, mein Leben zu leben. Ich hab mir keinen Strick in echt um den Hals gelegt, aber symbolisch betrachtet schon. Den hab ich jetzt nicht mehr, deswegen geht es mir besser. Und dafür hat Richy gesorgt. Ich glaub, das weiß er auch. Dass er mich gerettet hat, mein ich. Der hat sowieso immer verstanden, was ich sagen wollte. Vielleicht kann Dennis das auch oder eben irgendein anderer niedlicher Kerl. Ich werd schon einen finden, da hat Richy auch keine Zweifel dran. Vielen Dank, dass ihr zugehört habt, das mein ich ehrlich. Ihr seid schon in Ordnung, keine Loser, auch wenn ich das ständig gesagt hab. Hab ich ja gar kein Recht zu, oder? Mach ich auch nicht mehr, versprochen. Und jetzt zischt ab, ich will noch ein paar Minuten mit dem Typen hier allein sein, verstanden? Das brauch ich einfach. Ciao, ihr Luschen, wir sehen uns! Ein beschissen geiles neues Jahr wünsch ich euch, klar? Klar! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)