Portrait von Karma (David x Adam) ================================================================================ Ich traf David zum ersten Mal an meinem neunzehnten Geburtstag. Ich war gerade ein Jahr zuvor mit der Schule fertig geworden und gleich von zu Hause ausgezogen. Die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, hatte mir meinem Gefühl nach einfach nichts mehr zu bieten gehabt, also hatte ich gleich nach meinem Abschluss meine Sachen in mein altes Auto gepackt, meine kümmerlichen Ersparnisse zusammengekratzt und war einfach drauflos gefahren – so lange, bis ich endlich New York erreicht hatte; die Stadt, die für mich jugendlichen Tunichtgut so unglaublich bunt, schillernd und vielversprechend ausgesehen hatte. Und dort war ich praktisch gestrandet. Meine Eltern waren – verständlicherweise, das muss ich zugeben – nicht besonders begeistert davon gewesen, aber da ihnen mein Sturschädel nur zu gut bekannt gewesen war, hatten sie nicht lange protestiert. Natürlich hatte meine Mutter mich bei jedem meiner seltenen Anrufe gebeten, endlich nach Hause zu kommen, und auch mein Vater hatte von mir verlangt, "endlich erwachsen und vernünftig" zu werden, aber ich hatte mich standhaft geweigert und war – ob aus Trotz oder um ihnen zu beweisen, dass ich es auch ohne ihre Hilfe schaffen konnte, weiss ich nicht mehr – geblieben. Ein halbes Jahr lang schlug ich mich mit allen möglichen Jobs durch, weil ich einfach Angst hatte, etwas zu verpassen, wenn ich mich festlegte. Ich war Tellerwäscher, verkaufte Burger, lieferte Pizza und Pakete aus. Es war kein zu gutes und kein zu schlechtes Leben, aber es war mein Leben. Es war das Leben, das ich zu diesem Zeitpunkt führen wollte – jedenfalls dann, wenn ich nicht gerade vollkommen abgebrannt war. Irgendwann bekam ich einen Job als Aushilfe an einem kleinen College. Es war nichts Besonderes, nur ein Job wie jeder andere auch. Das dachte ich zumindest bis zum Abend meines neunzehnten Geburtstags. Aber von diesem Abend an – es war ein Donnerstag – veränderte sich mein ganzes Leben, denn ich sah ihn zum ersten Mal. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige Freunde und da die meisten von ihnen selbst auch noch arbeiteten, hatte ich ihnen vorgeschlagen, dass sie am Freitagabend zu mir kommen könnten, um mit Pizza und einem oder zwei Sixpacks – ich hatte noch nie sonderlich viel von Alkohol gehalten, wollte aber auch kein totaler Spielverderber sein – ein bisschen feiern zu können. In Gedanken schon bei meiner geplanten Party war ich gerade auf dem Weg zum Kunstraum, um Professor Hawkins noch einige Unterlagen zu bringen, als mich urplötzlich eine tiefe, dunkle Männerstimme von hinten ansprach. "Entschuldigen Sie, könnten Sie mir wohl sagen, wie ich zum Kunstseminar komme?", erkundigte die Stimme sich und ich erschrak so sehr, dass mir die Unterlagen, die ich in der Hand gehalten hatte, entglitten und sich über den Boden verteilten. "Ich ... ähm ...", stammelte ich und bückte mich, um die Papiere wieder aufzuheben. Als ich aufblickte, wurde ich geradezu überwältigt von den grünen Augen des Mannes, der mich angesprochen hatte. Ein leichtes Lächeln zierte seine Züge und ich nahm fahrig die restlichen Zettel entgegen, die er mir entgegenhielt. "Ich wollte Sie nicht erschrecken", entschuldigte er sich und ich war froh über meine etwas längeren Haare, denn diese verdeckten zu meinem Glück, dass meine Ohren zu glühen begonnen hatten. Ich war noch nie der Typ gewesen, der im Gesicht errötete, aber an meinen Ohren hatte man mir schon immer ansehen können, wann mir etwas peinlich war. "Schon okay", nuschelte ich und rappelte mich mit der Hilfe des Fremden, der mir seine Hand entgegenhielt, wieder auf. "Ich... muss auch zum Kunstraum. Ich kann Ihnen also zeigen, wo Sie hinmüssen", fügte ich hinzu und ohrfeigte mich im Stillen dafür. Normalerweise war ich nicht auf den Mund gefallen – was jeder, der mich kannte, hätte bestätigen können –, aber irgendetwas an diesem Mann, der kaum älter sein konnte als ich, machte mich unheimlich nervös. Ich wusste nicht, was es war, aber meine Hand kribbelte dort, wo er sie berührt hatte. Schneller, als es nötig gewesen wäre, führte ich ihn den Flur entlang, öffnete die Tür zum Kunstraum und liess ihn eintreten. "Da wären wir", erklärte ich ihm überflüssigerweise und er lächelte mir noch einmal zu, bevor er an mir vorbeiging. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihm einen Augenblick lang nachstarrte und seine geschmeidigen Bewegungen bewunderte. Schnell riss ich meine Augen von ihm los und trat zu Professor Hawkins ans Pult, um ihm die Unterlagen zu reichen. Als ich mich das nächste Mal umdrehte, glaubte ich, meine Sinne würden mir einen Streich spielen. Der Mann, den ich ein paar Minuten zuvor hergeführt hatte, war gerade damit beschäftigt, sich sämtlicher – und ich meine wirklich sämtlicher – Kleidung zu entledigen. "Danke, dass Sie David hergeführt haben, Adam. Ich wollte ihn eigentlich selbst abholen, aber ich hatte noch einige Dinge vorzubereiten." Professor Hawkins Stimme riss mich aus meiner unschicklichen Betrachtung des nackten jungen Mannes und ich nickte nur, während meine Ohren gleich noch mehr zu brennen begannen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob ein anderer Mann attraktiv sein könnte oder nicht, aber in dem Moment, in dem ich David so vollkommen unbekleidet gesehen hatte, wie ihm seine schulterlangen schwarzen Haare in weichen Wellen über den Rücken fielen, fand ich zum ersten Mal in meinem Leben irgendeinen Menschen nicht nur gutaussehend oder hübsch, sondern wirklich schön. "Warum ...?", setzte ich zu einer Frage an und Professor Hawkins, der meinen Blick zu David ganz offenbar bemerkt hatte, deutete zur Tafel, die sich hinter ihm befand. "Dieser Kurs beginnt heute mit Aktzeichnen", erklärte er mir dennoch. Ich nickte schnell, nahm die von ihm unterschriebenen Unterlagen und wollte mich gerade zum Gehen wenden, als die Stimme des Professors mich aufhielt. "Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie auch gerne zeichnen, Adam? Wollen Sie nicht noch etwas bleiben und vielleicht teilnehmen?" Ich war hin und hergerissen. Einerseits schmeichelte es mir, dass der Professor sich tatsächlich noch daran erinnerte, dass ich einmal erwähnt hatte, dass ich gerne zeichnen würde, aber andererseits war mir gerade das Thema, um das es hier ganz offenbar ging, eben wegen meines auffälligen Starrens unglaublich peinlich. Andererseits hatte ich in ein paar Minuten Feierabend und an diesem Tag nichts weiter vor, also sagte ich schliesslich zu und versprach, wiederzukommen, sobald ich meine Arbeit beendet hätte. Eine knappe halbe Stunde später hatte ich mich tatsächlich dazu durchgerungen, wieder zum Kunstraum zu gehen. Eigentlich hatte ich schon vor beinahe zwanzig Minuten Feierabend gehabt, aber ich hatte lange mit mir gehadert. Konnte ich mich wirklich einfach so in einen Kurs von Kunststudenten schmuggeln? Ich gehörte nicht dazu, studierte nicht hier. Durfte ich wirklich einfach so teilnehmen? Nahm ich nicht vielleicht einem Anderen seinen Platz weg? Schlussendlich hatte ich mich allerdings doch selbst davon überzeugt, dass eine einzige Lektion ja wohl nicht schaden könnte. Dass diese Entscheidung hauptsächlich daran lag, dass ich David unbedingt noch einmal sehen wollte, verdrängte ich. Professor Hawkins nickte mir nur kurz zu, als ich die Tür öffnete. Der Kurs war offensichtlich schon in vollem Gange, also nahm ich auf dem letzten Stuhl Platz, der noch frei war. Vor mir stand eine Staffelei, wie ich sie zu Hause auch gehabt hatte. Ich hatte sie bei meinem Auszug nicht mitgenommen und falls meine Eltern sie nicht in der Zwischenzeit weggeworfen hatten, stand sie sicher noch in meinem alten Zimmer zu Hause. Ich hatte schon immer gerne und viel gezeichnet, aber noch nie zuvor hatte ich einen Menschen gezeichnet, der vollkommen nackt war. Sicher, ich hatte ein Bild für meine ältere Schwester gezeichnet, auf dem sie nur im Bikini zu sehen gewesen war – ich hatte es ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag vor zwei Jahren geschenkt –, aber das hier war etwas anderes. Sarah war meine Schwester, aber David war nicht mit mir verwandt. Und er war ein Mann. Noch nie zuvor hatte ich einen nackten Mann gezeichnet. Mehr als zehn Minuten lang traute ich mich nicht, meinen Blick zu heben, um David anzusehen. Ich hatte nicht vergessen, wie er ausgesehen hatte, als ich ihn zum ersten Mal an diesem Abend gesehen hatte. Ich hatte auch nicht vergessen, wie er ausgesehen hatte, nachdem er seine Kleidung abgelegt hatte. Er war ein Mann wie ich und eigentlich hätte mir das Sicherheit geben sollen, aber ich war trotzdem gehemmter, als ich hätte sein sollen. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis ich mich dazu durchringen konnte, die bereitliegende Zeichenkohle zu nehmen und meinen Blick über den Skizzenblock zu heben. Ich war unendlich froh und unendlich enttäuscht zugleich, dass Davids Augen nicht auf mich gerichtet waren. So war es zwar leichter für mich, ihn zu zeichnen, aber ich fühlte mich auch auf eine unbestimmte Art und Weise betrogen – ein Gefühl, das ich von mir nicht kannte. So etwas war mir noch nie passiert. Völlig vertieft in meine wirren Gedanken – warum glaubte ich, ein Anrecht auf Davids Blick zu haben, wo ich von ihm doch nicht mehr wusste als nur seinen Vornamen? – bemerkte ich nicht einmal, wie ich die Zeichenkreide immer wieder über das Papier führte. Ich skizzierte Davids Arme, seine Beine, seine Brust, seinen Bauch, seine Hände, sein Gesicht, sein Haar – einfach alles von ihm. Dennoch, als ich schliesslich zum Ende kam, war ich von mir enttäuscht. Ich hatte David zwar durchaus getroffen – was mir auch Professor Hawkins' Lob klarmachte, als er durch den Raum ging und sich die Arbeiten ansah –, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, als wäre etwas an diesem Bild vollkommen falsch. Dadurch, dass ich nicht zufrieden war, sondern immer weiter nachbesserte, war ich schliesslich der Letzte – mit Ausnahme von Professor Hawkins und David –, der noch im Kunstraum saß. Und erst, als der Professor mich antippte und mir sagte, es wäre genug, sah ich von meinem Bild auf und blickte zum zweiten Mal an diesem Abend in die intensiven grünen Augen Davids, die mich und meine Zeichnung abwechselnd musterten. "Mir scheint, der junge Mann hat Talent, Lester", wandte er sich an den Professor und dieser nickte. "Ich wünschte, einige meiner Stundenten wären wenigstens halb so begabt wie Adam", seufzte er und lächelte mir dann aufmunternd zu. "Möchten Sie nicht morgen Abend wiederkommen?", fragte er mich dann und ich schluckte schwer. Wollte ich? Konnte ich? "Morgen Abend kann ich leider nicht, Professor", murmelte ich, als mir meine Freunde und meine Geburtstagsfeier wieder einfielen. "Morgen feiere ich meinen Geburtstag", fügte ich erklärend hinzu, als ich das enttäuschte Gesicht des Professors sah. Täuschte ich mich oder hatte David auch etwas enttäuscht ausgesehen? "Sie haben morgen Geburtstag?", erkundigte der Professor sich und ich schüttelte den Kopf. "Nein. Eigentlich habe ich heute Geburtstag, aber meine Freunde haben erst morgen Zeit", erwiderte ich und im nächsten Moment gratulierten mir erst Professor Hawkins und dann auch David. Wieder spürte ich dieses Kribbeln und der Blick, den ich aus seinen grünen Augen auffing, liess mich schwindelig werden. Was geschah hier bloß mit mir? "Nun, das ist natürlich schade, Adam. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend und hoffe, Sie nehmen sich vielleicht nächste Woche die Zeit, meinen Kurs wieder einmal zu besuchen", murmelte der Professor und verabschiedete sich mit einem Winken, nachdem ich ihm versprochen hatte, mir auf jeden Fall den nächsten Donnerstagabend freizuhalten und wiederzukommen. Mir fiel erst auf, dass ich nun mit David alleine war, als er sich leise räusperte. "Ich denke, wir sollten jetzt auch langsam gehen", schlug er vor. Ich nickte und verliess gemeinsam mit ihm den Kunstraum. Draussen auf dem Parkplatz sah ich mich suchend um – es war inzwischen schon reichlich spät und dementsprechend dunkel –, aber ich konnte ausser meinem Auto keinen anderen Wagen erkennen. "Werden Sie abgeholt?", erkundigte ich mich leise, doch David schüttelte den Kopf. "Nein. Ich laufe nach Hause. Wie immer", erklärte er und ich starrte ihn aus großen Augen fassungslos an. Er wollte nach Hause laufen? Ganz alleine? In dieser Stadt? Mitten in der Nacht? "Entweder sind Sie wahnsinnig mutig oder total verrückt!", sprach ich meinen ersten Gedanken laut aus, aber anstatt wütend auf mich zu sein, lachte David nur. "Wahrscheinlich ein bisschen von beidem", antwortete er dann und ich schüttelte energisch den Kopf. "Das kann ich nicht zulassen. Ich fahre Sie nach Hause", beharrte ich und wieder wurden meine Ohren rot, während David nur lächelnd nickte. "Ich wäre ein Idiot, wenn ich dieses Angebot ausschlagen würde", sagte er leise, kletterte auf den Beifahrersitz meines Wagens und nannte mir seine Adresse, während ich mich anschnallte. Ich fuhr schweigend los, doch kaum war ich zum ersten Mal abgebogen, riss mich Davids Stimme aus meiner Konzentration auf den nächtlichen Verkehr. "Sie schienen mir nicht sehr zufrieden zu sein mit dem, was Sie heute gezeichnet haben." Es war eine Feststellung und keine Frage, aber ich nickte trotzdem. "Bin ich auch nicht. Ich kann es besser, das weiss ich. Irgendwas an dem Bild ist falsch, aber ich weiss nicht, was es ist." Diese Tatsache ärgerte mich über alle Maßen. Ich hasste es, wenn mich etwas störte und ich es nicht benennen konnte. Das hatte ich schon als Kind gehasst und es hatte sich nicht geändert. "Ich verstehe." David fragte nicht, was mich an dem Bild störte, und ich war froh darüber. Ich hätte es ihm nicht erklären können. Irgendetwas war daran einfach falsch, aber eine Begründung dafür hatte ich nicht. Es war nur ein Gefühl, mehr nicht. Der Rest der Fahrt verlief schweigend und ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich aus den Augenwinkeln zu David hinübersah. Er blickte aus dem Fenster und ich konnte nur sein Profil sehen. Das Licht der Straßenlaternen, Ampeln oder von entgegenkommenden Autos huschte über sein Gesicht und hinterliess sekundenlang verschlungene Muster auf seiner Haut, die ich nur zu gerne gezeichnet hätte – jedoch nicht mit Zeichenkohle auf Papier, sondern mit meinen Fingerspitzen auf seiner Haut. Erschrocken über meine Gedanken war ich froh, als ich schliesslich die Adresse erreichte, die David mir genannt hatte. Die Gegend wirkte weder besonders gut noch besonders schlecht und mir ging kurzzeitig durch den Kopf, dass er einfach nicht hierher gehörte. Er schien in dieser Gegend genauso deplaziert zu sein wie meine Zeichnung von ihm auf dem Papier. Irgendetwas an dem Bild, das ich hatte – sei es das selbst gezeichnete oder das von ihm gezeigte – erschien einfach unpassend. Obwohl ich den Wagen schon geparkt hatte, machte David keine Anstalten, auszusteigen und zu gehen. Stattdessen saß er noch immer auf dem Beifahrersitz, sein Blick war nach draussen gerichtet und er schien zu überlegen. Ich war so damit beschäftigt, ihn dabei zu beobachten, dass mich erst der überraschende Kontakt mit seinen grünen Augen wieder in die Wirklichkeit zurückholte. "Ich wusste zwar weder, dass wir uns begegnen würden, noch, dass heute Dein Geburtstag ist, aber ich denke, ich habe trotzdem ein Geschenk für Dich." Der Klang von Davids Stimme liess mich schwer schlucken. Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber ich ahnte, dass dieses Geschenk, das er mir geben wollte, mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde. Aber war ich nicht aus meinem alten Leben ausgebrochen, um ein neues zu beginnen? Was also hatte ich zu verlieren? David löste seinen und meinen Anschnallgurt und zog mich aus meinem Wagen. Ich folgte ihm in seine Wohnung, ohne auf irgendetwas anderes zu achten als nur auf ihn. Hier, in diesem Augenblick war für mich nichts anderes wichtig als nur er. In dieser Nacht bereitete David mir den Himmel auf Erden, zeigte mir bis zum Morgengrauen das Paradies. Ich verlor meine Unschuld, aber ich bedauerte es nicht. David schenkte mir eine nie gekannte Freiheit und die Flügel, die ich brauchte, um diese neugewonnene Freiheit auch voll und ganz auskosten zu können. Und am nächsten Morgen, als ich wach wurde, wusste ich mit plötzlicher Klarheit, was meinem Bild gefehlt hatte: Eine Seele. So leise wie möglich, um David nicht zu wecken, zog ich mich an, hinterliess ihm eine Nachricht mit meiner Adresse und meiner Telefonnummer und fuhr nach Hause in meine Wohnung. Ich war glücklich, denn ich wusste jetzt, wie ich meinem Bild von ihm das Leben einhauchen konnte, das ich am Vorabend so vermisst hatte. Kaum zu Hause angekommen, rief ich mein Freunde an, sagte ihnen für den Abend ab und stürzte mich dann förmlich auf meinen eigenen Skizzenblock. Ich suchte mir ein leeres Blatt, nahm meine Zeichenkohle zur Hand und begann zu arbeiten. Im Gegensatz zum letzten Abend ging mir dieses Mal jeder einzelne Strich leicht von der Hand. Als ich Davids Brust, seinen Bauch und seine Arme zeichnete, erinnerte ich mich daran, dass ich dies in der letzten Nacht schon mit meinen Händen getan hatte. Als ich seine Lippen auf das Papier bannen wollte, fielen mir seine Küsse wieder ein und als ich seinen Augen Gestalt verlieh, war es, als würde er mich von dem Block aus geradewegs ansehen. Dieses Mal, das wusste ich, hatte ich es richtig gemacht. Dieses Bild von David lebte. Ich brannte geradezu darauf, ihm das Bild zu zeigen, also packte ich es vorsichtig ein, als ich es beendet hatte, schnappte mir meinen Autoschlüssel und fuhr zum College. Ich war sicher, David und Professor Hawkins dort vorzufinden, doch als ich völlig ausser Atem den Kunstraum erreichte, sah ich nur den Professor. Von David keine Spur. "Professor, ich habe das Bild von gestern noch einmal überarbeitet. Ich wollte es Ihnen unbedingt zeigen. Ihnen und David", rasselte ich die Erklärung für meine Anwesenheit herunter, als der Professor mich fragend ansah. "Ich konnte einfach nicht bis nächste Woche warten", schob ich noch hinterher und er lächelte mich an – ganz so, als hätte ihn mein Auftauchen nicht wirklich überrascht. Noch während Professor Hawkins sich das Bild ansah, betrat auch David den Raum. Er lächelte mir zu und ich erwiderte sein Lächeln mit gleicher Münze. Er fragte nicht, warum ich gegangen war, sondern trat neben mich und betrachtete gemeinsam mit dem Professor die Zeichnung. "Adam, das ist erstaunlich!", meldete dieser sich zu Wort und ich spürte, wie ich förmlich zu strahlen begann. "Ich wusste ja gar nicht, wie talentiert Sie sind! Sie müssen auf alle Fälle in meinem Kurs bleiben!", verlangte Professor Hawkins und meine Ohren begannen wieder einmal zu glühen. "So ein Talent wie Ihres darf nicht verschwendet werden. Ich werde gleich mit dem Dekan sprechen. Darf ich mir das Bild kurz ausleihen?" Ich nickte nur und im nächsten Moment war der Professor auch schon aus dem Raum gestürmt, so dass David und ich alleine zurückblieben. "Bist Du jetzt zufrieden mit dem, was Du gezeichnet hast?", fragte er mich und ich nickte erneut und ziemlich hektisch. "Ja, bin ich. Jetzt ist es so, wie es sein soll", antwortete ich und spürte im nächsten Moment Davids Lippen auf meinen – eine Geste, die mir so natürlich und so richtig erschien, dass ich sie nicht einen eine Sekunde lang infrage stellte. In den nächsten drei Monaten wurde David immer mehr zu meiner Muse. Er inspirierte mich immer wieder. Ich bekam auf Professor Hawkins Drängen und dadurch, dass meine Noten immer recht gut gewesen waren, zumindest ein Teilstipendium und konnte tatsächlich ein Kunststudium beginnen. Ich lernte eine Menge Neues dazu, zeichnete nicht mehr nur mit Kohle, sondern malte auch Aquarelle oder Ölgemälde. Auch war David nicht mehr mein einziges, aber dennoch noch immer mein liebstes Motiv. Ich konnte mich einfach nicht an ihm satt sehen. Immer fand ich neue Posen, in denen ich ihn malte oder wenigstens Skizzen anfertigte. Meine Wohnung quoll förmlich über, aber ich konnte einfach keins der Bilder von ihm wegwerfen. Dennoch, egal, wie glücklich ich war und egal, wie viel ich gemalt habe, meine Zeit mit David war begrenzt. Ich lernte auf die harte, unangenehme Tour, dass nichts ewig währt, denn als ich eines Tages zu seiner Wohnung kam, waren seine Sachen weg und er war einfach nicht mehr da. Er hatte mir keine Nachricht hinterlassen, wohin er gegangen war oder warum. Ich verstehe das bis heute nicht, denn wir hatten keinen Streit. Es gab nichts, was eine Trennung gerechtfertigt hätte. Er ist einfach verschwunden. Und das ist bis heute so geblieben. Meine Zeit mit David liegt inzwischen schon mehr als eineinhalb Jahre zurück. Mittlerweile habe ich mich einigermaßen damit abgefunden, dass ich wahrscheinlich nie erfahren werde, warum er mich verlassen hat. Ich werde ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen, aber auch damit habe ich zu leben gelernt. Ich male noch immer und auch heute noch ist er eines meiner liebsten Motive. Ich male ihn so, wie er in meiner Erinnerung ist. Und auch, wenn ich nicht weiss, wo er jetzt ist, was er tut oder wen er im Augenblick lieben mag, bin ich ihm trotz allem dankbar. Er hat mir geholfen, meinen Bildern Leben einzuhauchen und ihnen eine Seele zu geben. So seltsam es auch sein und so naiv es vielleicht auch klingen mag, ich bin mir absolut sicher, dass er mich geliebt hat, solange er mit mir zusammen war. David mag fortgegangen sein, aber sein Vermächtnis – meine Bilder – sind immer noch bei mir. Und solange ich meine Erinnerung an ihn noch habe, werde ich auch weiterhin malen. "Sind Sie soweit, Adam?" Ich streiche noch ein letztes Mal mein Hemd glatt und nicke Lester Hawkins, meinem ehemaligen Kunstprofessor, lächelnd zu. "Gut", sagt er und gibt Mary, seiner Frau, ein Zeichen, die Türen der Galerie, die sein Lebenstraum war und die er mit dieser Ausstellung meiner Bilder heute Abend offiziell eröffnet, für die Besucher zu öffnen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, etwas nervös, aber Lesters beruhigende Hand auf meinem Arm vertreibt diese Nervosität. "Diese Ausstellung wird ein voller Erfolg werden, Adam. Ich weiss es", versucht er, mich aufzumuntern, und die Überzeugung in seiner Stimme lässt mich meine Schultern straffen. "Wenn Sie es sagen", erwidere ich und folge ihm nach vorne in den Ausstellungsraum. Dort bin ich kurzzeitig überwältigt davon, wie viele Leute heute Abend hier sind. Ich hatte nicht erwartet, dass der Besucherandrang so groß sein würde. "Sehen Sie, es ist, wie Lester gesagt hat: Ihr Ruf ist weit besser, als Sie selbst dachten", lächelt Mary mich an und ich kann nur nicken. Ihre offensichtliche Begeisterung freut mich einerseits, aber andererseits bin ich auch immer noch unsicher, obwohl ich jetzt schon seit so vielen Jahren male. Dennoch ist es einfach seltsam zu wissen, dass so viele Menschen nur hier sind, um meine Bilder zu sehen. Das Gefühl ist schön und berauschend, aber nichtsdestotrotz seltsam. Lester und Mary, die die meisten der Anwesenden kennen, führen mich herum und ich verbringe die ersten zwei Stunden der Ausstellung damit, oberflächliche Gespräche der Art zu führen, die ich eigentlich schon immer gehasst habe. Dennoch zwinge ich mich zum Lächeln, denn ich möchte den Hawkins, die in den letzten zwanzig Jahren so viel für mich getan haben, den Abend auf keinen Fall verderben – auch wenn ich jetzt am liebsten in meinem Atelier wäre, um noch etwas zu malen. Gegen elf Uhr schliesslich gelingt es mir endlich, mich für eine Weile zu entschuldigen und nach draussen zu gehen. Ich werfe einen Blick in den Nachthimmel und atme zum ersten Mal an diesem Abend befreit durch. Falls ich jemals wieder einer Ausstellung meiner Bilder zustimmen sollte, werde ich an dem Termin definitiv verhindert sein. So sehr ich Lester und Mary auch mag, aber noch einen solchen Abend überlebe ich ganz sicher nicht. "Entschuldigung, sind Sie Adam Monroe?", werde ich von einer männlichen Stimme aus meinem Sinnieren gerissen. Etwas zerstreut nicke ich und werfe einen Blick auf denjenigen, der mich angesprochen hat. Vor mir steht ein junger Mann von höchstens Anfang Zwanzig mit kurzen, kunstvoll zerwuschelten blonden Haaren. Seiner Kleidung sieht man trotz ihres nicht unbedingt einwandfreien Zustandes die gehobene Preisklasse deutlich an und seine grünen Augen sind fragend auf mich gerichtet. "Gut", lächelt er als Antwort auf mein Nicken. "Ich hätte da nämlich eine Frage an Sie. Und zwar geht es um eins Ihrer Bilder. Ich würde es gerne kaufen", erklärt er mir und ich werfe einen Blick über meine Schulter auf die Tür der Galerie. "Diesbezüglich sollten Sie sich an Lester oder Mary Hawkins wenden", erwidere ich. "Sie kümmern sich um den Verkauf der Bilder." Ich habe, wenn ich ehrlich sein soll, nicht einmal die festgesetzten Preise im Kopf. Solche Dinge kann ich mir einfach nur sehr schlecht merken. Wenn Mary mir nicht regelmäßig mit meinen Finanzen helfen würde, wäre ich sicher inzwischen schon längst pleite. Ich konnte schon früher nicht mit Geld umgehen, und das hat sich auch in den letzten Jahren nicht wirklich geändert. "Mit denen habe ich schon gesprochen. Sie sagten mir, das Bild, für das ich mich interessiere, sei unverkäuflich", erzählt der junge Mann mir und ich halte unwillkürlich den Atem an. Unter all den Bildern, die heute ausgestellt werden, ist nur ein einziges unverkäuflich – ein Bild, das ich kürzlich von David gemalt habe. "Dann tut es mir leid", fertige ich den jungen Mann schroff ab und drehe mich um. Warum musste er ausgerechnet nach diesem Bild fragen? Und warum habe ich überhaupt zugelassen, dass es ausgestellt wird? Ich hätte doch damit rechnen müssen, dass sich irgendwann jemand danach erkundigen würde. "Sind Sie ganz sicher? Ich weiss, ich sehe nicht unbedingt so aus, aber ich kann es bezahlen. Wirklich", versucht der blonde junge Mann es erneut, doch ich schüttele den Kopf. "Dieses Bild befindet sich in meinem Privatbesitz. Es ist und bleibt unverkäuflich", mache ich unmissverständlich klar und von hinter mir kommt ein abgrundtiefes Seufzen. "Das ist wirklich verdammt schade. Aber wenn Sie es sich vielleicht doch noch mal überlegen ..." "Das werde ich ganz sicher nicht!", widerspreche ich heftig und drehe mich doch wieder zu ihm um. "Ich werde dieses Bild auf keinen Fall verkaufen – weder heute noch in Zukunft –, also vergessen Sie es!", fauche ich ihn förmlich an und er zuckt zusammen, was mir augenblicklich ein schlechtes Gewissen macht. "Schon gut. Es war nur eine Frage", murmelt er und ich weiss, ich sollte mich dafür entschuldigen, dass ich ihn so angefahren habe, aber das kann ich nicht. Stattdessen sehe ich ihm einfach nur nach, als er nach einem leisen "Auf Wiedersehen" in der Nacht verschwindet. Noch immer etwas angeschlagen – warum habe ich das Bild von David nicht bei mir zu Hause gelassen, wo es hingehört? – gehe ich wieder zurück in die Galerie, wo ich gleich von einer überaus gut gelaunten Mary in Empfang genommen werde. "Wo waren Sie denn, Adam? Sie verpassen noch alles! Wir haben schon Käufer für fast zwei Drittel Ihrer Bilder!", freut sie sich und ich ringe mir ein müdes Lächeln ab. "Das ist schön", murmele ich, doch meine fehlende Begeisterung scheint ihr völlig zu entgehen. "Warten Sie nur ab, bis zum Ende der nächsten Woche sind alle Bilder verkauft!", fährt sie stattdessen enthusiastisch fort, hängt sich an meinen Arm und zieht mich mit sich, um mich noch ein paar weiteren Interessenten vorzustellen. Erst weit nach zwei Uhr morgens und einer eindeutigen Überdosis an sinnlosem Geplänkel, die mir für den Rest meines Lebens reicht, betrete ich vollkommen erschöpft meine Wohnung wieder und hänge das Bild von David, das ich gleich wieder mitgenommen habe – ich wollte nicht riskieren, dass es versehentlich doch noch verkauft wird –, an seinen angestammten Platz in meinem Wohnzimmer, bevor ich mich aus meinem Anzug schäle und in mein Bett krieche. Schlaf zu finden ist mir in dieser Nacht jedoch nicht vergönnt. Als es gegen sechs Uhr zu dämmern beginnt, bin ich immer noch hellwach. Mein Bett sieht aus wie ein Schlachtfeld, weil ich mich die ganze Nacht lang – oder zumindest die paar Stunden, die ich hier bin – nur herumgewälzt habe. Das Interesse des blonden jungen Mannes an Davids Bild lässt mir einfach keine Ruhe. Ich verstehe nicht, warum er es unbedingt kaufen wollte, und ärgere mich darüber, dass ich ihn nicht danach gefragt habe. So, wie ich ihn abgefertigt habe, wird er sicher nicht wiederkommen und mir das erklären. Penetrantes Läuten meiner Türklingel schreckt mich am Nachmittag gegen fünf Uhr aus wirren Träumen von David. Unausgeschlafen und deshalb nicht unbedingt in bester Stimmung versuche ich, das Klingeln zu ignorieren, doch wer auch immer da vor meiner Tür steht, scheint ziemlich hartnäckig zu sein. Es läutet immer und immer wieder – so lange, bis ich mich schliesslich aufraffe, mich aus dem Bett erhebe und zur Tür schlurfe. Ich drücke den Türöffner und tappe dann barfuß ins Bad, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass es Mary ist, die mir noch einmal genau vorrechnen will, was die gestrige Ausstellung gebracht hat. Ein Teil von mir wundert sich zwar, dass sie nicht den Zweitschlüssel benutzt hat, den Lester und sie für den Notfall besitzen, doch diesen Gedanken tue ich mit einem Schulterzucken ab. Ich bin einfach noch zu müde, um jetzt darüber nachzugrübeln. Eine kurze, erfrischende Dusche später habe ich meine Lebensgeister zumindest so weit wieder in Schwung gebracht, dass ich wach genug für Besuch bin. Ich drehe das Wasser zu, trockne mich ab und gehe zurück ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Sowohl Mary als auch Lester kennen meine Gewohnheiten, also sehe ich keinen Grund zur Eile. Nachdem ich mich angezogen habe, gehe ich hinüber in mein Wohnzimmer, aber die fröhliche Begrüßung, die mir auf den Lippen lag, bleibt mir im Hals stecken, als ich meinen Besucher erkenne. Mitten in meinem Wohnzimmer steht der blonde junge Mann von gestern Abend. Er trägt heute eine einfache ausgebleichte Jeans und ein dunkles Shirt und betrachtet eingehend das Bild von David, wegen dem er mich gestern schon angesprochen hat. "Wenn Sie hergekommen sind, um mich wegen des Bildes umzustimmen, dann haben Sie den Weg umsonst gemacht", erkläre ich ihm gleich, ohne mir die Mühe zu machen, den feindseligen Unterton in meiner Stimme zu verbergen. Was in aller Welt will er hier? Und woher hat er meine Adresse? Ich stehe nicht im Telefonbuch, also hat er mich heute Morgen etwa nach Hause verfolgt oder was? Der junge Mann wendet seine Aufmerksamkeit von dem Bild ab und dreht sich zu mir um. Dabei grinst er mich entschuldigend an und schiebt seine Hände in die Taschen seiner Jeans. "Deswegen bin ich eigentlich nicht hier. Oder nicht direkt jedenfalls", antwortet er und ich sehe ihn irritiert an. "Und weswegen dann?", will ich ungehalten wissen. Was will er von mir? "Ich wollte mich entschuldigen, weil ich Sie gestern so überfallen habe wegen des Bildes. Aber na ja, es gefiel mir eben und ich dachte, es wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk für meinen Dad", erklärt er und seufzt. "Aber ich hab schon begriffen, dass es unverkäuflich ist. Das ist zwar schade, aber ich glaube, mir ist heute sogar ein noch viel besseres Geschenk eingefallen", fährt er dann fort und das Grinsen kehrt auf seine Lippen zurück, was mich noch mehr verwirrt. "Aber egal. Reden wir nicht mehr von meinem Dad. Ich bin eigentlich hier, um Sie zum Kaffee einzuladen. Als Entschädigung für meine Aufdringlichkeit gestern Abend, wenn Sie so wollen", rückt er schliesslich mit dem Grund seines Besuches heraus und ich überlege einen Moment, gebe mich dann aber seufzend geschlagen, als ich einen bittenden Blick aus grünen Augen auffange. "Gut, von mir aus. Aber kein Wort mehr über das Bild", verlange ich und er nickt hektisch. "Ist gebongt. Ich bin übrigens Adam. Adam Harris", stellt er sich vor und grinst mich wieder an. "Wir sind also Namensvettern", spricht er das Offensichtliche aus und ich muss unwillkürlich auch grinsen. Vielleicht ist dieser Junge ja doch nicht so schlimm, wie ich gestern Abend dachte. "Wollen wir dann? Ich kenne hier in der Nähe ein nettes kleines Café." Mit fragend schiefgelegtem Kopf sieht er mich an und sobald ich genickt habe, werde ich auch schon überschwänglich aus meiner Wohnung zu ebendiesem Café gezogen. Mein junger Namensvetter okkupiert für uns gleich einen Ecktisch mit drei Stühlen und bugsiert mich mit dem Rücken zum Eingang, während er selbst mir gegenüber Platz nimmt. Eine junge Kellnerin kommt mit gezücktem Block auf uns zu, notiert sich unsere Bestellungen und verschwindet errötend in Richtung Küche, nachdem mein Gegenüber ihr kurz zugezwinkert hat. Nachdem sie weg ist, richten sich seine grünen Augen wieder auf mich, aber bevor wir dazu kommen, ein Gespräch zu beginnen – ich würde immer noch zu gerne wissen, warum er sich so für das Bild von David interessiert hat und scheinbar immer noch interessiert –, klingelt es und Adam fischt ein Handy aus seiner Jeanstasche. "Hi. Was? Ja. Nein, bin ich nicht. Nein, ich bin noch nicht zu Hause. Ja, genau. Bei Darcy's. Genau. Kannst mich ja da abholen. Okay, dann bis gleich." Nach dieser für mich unverständlichen Konversation legt er auf und lächelt mich entschuldigend an. "Tut mir leid. Das war mein Dad. Er kommt gleich her. Ich hoffe, das stört Sie nicht", sagt er mit einem derart reuigen Blick, dass ich ihm das nicht einmal dann übel nehmen könnte, wenn ich es wollte. "Nein, das ist schon in Ordnung", erwidere ich und er wirkt regelrecht erleichtert. "Aber ich habe eine Frage an Sie: Wieso wollten Sie gestern ausgerechnet dieses Bild kaufen?", erkundige ich mich und er beginnt wieder zu grinsen. "Das zu erklären würde jetzt zu lange dauern. Also die ganze Geschichte jedenfalls. Aber die Kurzfassung lautet: Ich hab's gesehen, fand's toll und wollte meinen Dad damit zu seinem Geburtstag überraschen. Er hätte sich sicher riesig darüber gefreut. Aber ich denke, über das, was ich mir jetzt für ihn ausgedacht habe, wird er sich noch viel mehr freuen", lautet Adams etwas geheimnisvolle Antwort. Ich verstehe nicht wirklich, was er damit sagen will, aber bevor ich weiter nachfragen kann – Neugier war schon immer eine meiner Eigenschaften und auch mit fast vierzig bin ich sie noch nicht losgeworden –, erscheint die Kellnerin wieder auf der Bildfläche und bringt uns unsere Bestellungen. Adam bedankt sich freundlicher, als es nötig wäre, und die junge Frau errötet wieder. Ich beobachte diesen Flirt mit einem leichten Schmunzeln, das mir jedoch vergeht, als ich mich daran erinnere, wie ich war, als ich in Adams Alter war. Damals war ich gerade nach New York gekommen und war der Meinung, das Leben in vollen Zügen geniessen zu müssen – jedenfalls das, was ich damals als Leben betrachtet habe. Doch dann lernte ich David kennen und alles, was mir vorher wichtig war, verlor seine Bedeutung. Wichtig war nur noch er, sonst nichts mehr. Mit einem energischen inneren Kopfschütteln scheuche ich diese Gedanken beiseite. Nichts währt ewig, das habe ich in den vergangenen zwanzig Jahren gelernt. Aber auch wenn ich David heute hin und wieder immer noch vermisse – manches Mal sogar ziemlich heftig, wenn ich ehrlich bin –, ich weiss inzwischen, dass auch der Schmerz über eine Trennung und den Verlust einer Liebe nicht ewig währt. "Sie sehen traurig aus", werde ich aus meinen Gedanken gerissen und sehe Adam über den Rand meiner Kaffeetasse hinweg an. "Habe ich Ihnen die Laune verdorben?", erkundigt er sich besorgt und ich schenke ihm ein kleines Lächeln, während ich den Kopf schüttele. "Nein, das haben Sie nicht. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert, das sehr lange zurückliegt. Fast zwanzig Jahre inzwischen", erzähle ich und zu meinem Erstaunen nickt er kurz, bevor er mich mit schiefgelegtem Kopf ansieht. "Eine verlorene Liebe, oder?", fragt er nach und nickt erneut, als ich ihn einfach nur überrascht ansehe. "Ich kenne diesen Blick. Den hat mein Dad auch oft drauf. Tut weh, ihn so zu sehen", sagt er leise, lächelt aber sofort wieder. "Aber das wird ja jetzt hoffentlich bald ein Ende haben", fügt er hinzu und aus seinem Lächeln wird ein Grinsen, dessen Auslöser scheinbar mein Gesichtsausdruck ist. Bevor ich dazu komme, eine Frage zu stellen, erhebt Adam sich halb von seinem Stuhl und winkt jemandem, der scheinbar gerade hereingekommen ist, hektisch zu. "Hier drüben, Dad!", ruft er durch den halben Laden und ich schmunzele in meine Kaffeetasse, ohne mich umzudrehen. Scheinbar ist Adam immer so überschwänglich, wie ich ihn vorhin kennen gelernt habe. Und scheinbar ist sein Vater ihm wirklich sehr wichtig. "Hallo, Adam", kommt es von hinter mir und ich lasse vor Schreck beinahe die Tasse fallen. Diese Stimme! Das kann doch nicht wahr sein, oder? Vollkommen geschockt drehe ich mich um und starre mit großen Augen zu dem Mann hoch, der inzwischen neben unserem Tisch steht. Wenn ich nicht bereits sitzen würde, dann würden spätestens jetzt meine Knie nachgeben, denn ich blicke tatsächlich in ein grünes Augenpaar, das mich erst vorhin in meinem Wohnzimmer zum letzten Mal angeblickt hat – von dem Bild, das dort hängt. "David?", krächze ich ungläubig und die grünen Augen, die mich zwanzig Jahre lang nicht losgelassen haben, weiten sich in plötzlichem Erkennen. "Adam? Bist ... bist Du es wirklich?", fragt er und ich nicke nur stumm, denn ich traue meiner Stimme im Augenblick nicht. Ich kann es einfach nicht fassen. Zwanzig Jahre. Zwanzig lange Jahre, in denen ich ihn einfach nicht vergessen konnte. Und jetzt steht er hier vor mir und sieht genauso aus wie auf dem letzten Bild, das ich von ihm gemalt habe. Seine Schläfen sind ein wenig silbrig, aber sein Blick ist noch derselbe wie damals und auch das Lächeln, das sich langsam auf seine Lippen legt, sieht noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. "Was tust Du hier?", fragt er leise, nachdem er sich den freien Stuhl zurückgezogen und sich zu uns an den Tisch gesetzt hat. Ich würde ihm gerne antworten, aber ich bringe kein Wort heraus. "Ich hab ihn eingeladen, Dad", mischt Adam sich ein und sowohl David als auch ich richten unsere Aufmerksamkeit auf ihn, was er mit einem Grinsen quittiert. "Ich war doch gestern in dieser Ausstellung. Da hab ich ein Bild von Dir gesehen. Ich hab Dich gleich erkannt und wollt's Dir eigentlich zum Geburtstag schenken, aber es war leider unverkäuflich. Und so heftig, wie Adam widersprochen hat, als ich nach einem Preis gefragt habe, dachte ich mir, es muss ihm verdammt wichtig sein", erzählt er weiter und ich kann spüren, wie meine Ohren zu glühen beginnen. Es ist mir ziemlich peinlich, aber Adam hat Recht. Ich habe alle Bilder und Skizzen, die ich jemals von David angefertigt habe, immer noch. Von keinem dieser Werke konnte ich mich trennen, denn dafür bedeuten sie mir einfach zu viel. "Deshalb all die Fragen gestern Abend", murmelt David wie zu sich selbst und Adam nickt kurz, bevor er sich mir zuwendet. "Ich hab Dad gestern ausgefragt. Über alles. Auch über Sie", erklärt er mir, grinst und steht auf, nachdem er seine Tasse geleert hat. "Aber das soll Dad Ihnen lieber selbst erzählen. Ich will mich da nicht einmischen", fährt er fort und klopft David kurz auf die Schulter, bevor er nach einem "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Dad" das Café verlässt. David und ich bleiben alleine zurück. Er sieht mich unverwandt an und beginnt schliesslich leicht zu lächeln. "Das erste Mal getroffen haben wir uns damals an Deinem Geburtstag", erinnert er mich und ich nicke langsam. "Das ist lange her", murmelt er, lehnt sich zurück und seufzt leise. "Du musst mich hassen – dafür, dass ich einfach gegangen bin und mich nie bei Dir gemeldet habe", fügt er hinzu und ich nehme meinen Blick von meiner Kaffeetasse, um ihm endlich wieder in die Augen zu sehen. "Ich hasse Dich nicht", gebe ich ehrlich zu. "Ich habe Dich nie gehasst. Oder zumindest nicht lange. Ich war nur ... Ich habe mich immer nur gefragt, ob ich etwas falsch gemacht habe." Und diese Frage hat mich nie losgelassen. Egal, was in den letzten zwanzig Jahren auch in meinem Leben passiert ist, ich habe mich immer gefragt, ob es an mir lag, dass David mich verlassen hat. "Es war nicht Deine Schuld", widerspricht er und streicht sich seufzend durch sein noch immer langes Haar. "Aber damals ... Ich musste gehen. Ich hatte es versprochen", sagt er leise und sieht mich geradeheraus an. "Mein Vater hatte mir drei Jahre zugesagt – drei Jahre, in denen ich tun und lassen konnte, was ich wollte –, wenn ich danach nach Hause zurückkehren, heiraten und das Familiengeschäft übernehmen würde", beginnt er seine Erklärung und legt etwas zögerlich seine Hand auf meine. Ich bleibe einfach ruhig sitzen und sehe ihn abwartend an. "An dem Tag, als ich gegangen bin, waren die drei Jahre um. Ich ... ich konnte Dir einfach nichts davon erzählen. Ich dachte, es wäre besser, wenn Du mich hassen und mich vergessen würdest, denn schliesslich wusste ich, dass ich Dich niemals würde wiedersehen dürfen. Wenn ich Dir auch nur noch ein einziges Mal begegnet wäre, hätte ich alle meine Bedenken über den Haufen geworfen und mein Versprechen gebrochen", erzählt er weiter. Dabei drückt er ganz leicht meine Hand und als ich den Druck ebenso leicht erwidere, spüre ich, dass seine Finger eiskalt sind und zittern. Dennoch lächelt er mich an und dieses Lächeln lässt mein Herz wie früher schneller schlagen. "Du bist also verheiratet?", stelle ich die erste Frage, die mir in den Sinn kommt. David schüttelt den Kopf und sein Lächeln verschwindet. "Nein, nicht mehr. Ich bin geschieden. Schon seit fast achtzehn Jahren. Carol hat die Scheidung eingereicht, als Adam gerade acht Monate alt war", antwortet er und bestätigt mir damit, was ich eigentlich schon wusste: Dass Adam sein leiblicher Sohn ist. "Unsere Ehe war von Anfang an eine Zweckgemeinschaft, nicht mehr – zumindest von meiner Seite aus. Carol sah das allerdings anders, aber das habe ich erst erfahren, als sie mir die Scheidungspapiere hat überbringen lassen. Sie wollte die Scheidung, weil sie es nicht ertragen konnte, immer nur die Nummer Drei für mich zu sein, nach "meinen beiden Adams", wie sie es nannte", fährt David fort und sein Lächeln kehrt langsam zurück. "Ich denke, sie hat es mir übel genommen, dass ich darauf bestanden habe, dass unser Sohn den Namen Adam bekommt. Ich dachte mir damals ... Nun ja, da ich Dich schon nicht wiedersehen konnte und durfte, wollte ich wenigstens eine kleine Erinnerung an Dich haben" "Und Adam weiss davon?", frage ich leise und David nickt. "Ja. Ich habe ihm schon sehr früh erzählt, dass ich ihn nach jemandem benannt habe, der mir sehr wichtig war. Und gestern Abend, als er von der Ausstellung zurückkam, zu der er wollte, hat er mich ausgefragt. Ich dachte, mit neunzehn wäre er alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, also habe ich ihm alles erzählt." "Die Wahrheit ...", murmele ich leise und seufze abgrundtief. "Die Wahrheit über ... uns?", erkundige ich mich dann nach kurzem Zögern und David nickt erneut, bevor er leicht zu schmunzeln beginnt. "Ja. Und ich glaube, jetzt weiss ich auch, was er gestern meinte, als er mir sagte, er hätte das perfekte Geburtstagsgeschenk für mich", erwidert er und mein Herz klopft mir bis zum Hals. Meint er mich damit? "Ich habe immer gehofft, dass wir uns noch einmal treffen und ich Dir alles erklären kann, Adam", beantwortet David meine unausgesprochene Frage und sieht mich so intensiv an, dass ich mich fühle, als wären die letzten zwanzig Jahre nicht länger als maximal zwanzig Minuten gewesen. "Und ich habe gehofft, dass Du mir vielleicht verzeihen kannst, wenn Du die Hintergründe kennst", fügt er leise hinzu und ich lächele ihn nun meinerseits an. "Das habe ich schon längst getan", gebe ich zu und ernte dafür einen überraschten Blick Davids. "Wie könnte ich auch nicht?", fahre ich fort und mein Lächeln vertieft sich, als auch er zu lächeln beginnt. "Du warst damals meine Inspiration und das bist Du bis heute geblieben. Was glaubst Du denn, warum ich Dich immer noch male? Ich habe nie aufgehört, an Dich zu denken", gebe ich zu, schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. David sieht mich irritiert an und dieser Blick lässt mich grinsen. "Ich wusste zwar nicht, dass wir uns ausgerechnet an Deinem Geburtstag wiedertreffen würden, aber ich denke, ich habe bei mir zu Hause trotzdem ein Geschenk für Dich. Ich hoffe, es gefällt Dir", wandele ich seine Worte von vor zwanzig Jahren etwas ab und er steht ebenfalls auf. Anstatt mir allerdings zu folgen, hält er mich am Arm fest, zieht mich in seine Arme und küsst mich, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste des Cafés zu nehmen. "Ich brauche kein weiteres Geschenk mehr, Adam. Das beste Geschenk, das Du mir heute machen kannst, bist Du", flüstert er danach gegen meine Lippen und ich beschliesse, dass Davids Sohn dafür etwas guthat bei mir. Immerhin hat nicht nur David heute ein Geschenk bekommen, sondern auch ich. Und dieses Geschenk verdanke ich schliesslich einzig und allein der Hartnäckigkeit meines Namensvetters. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)