Herren der Winde von june-flower ================================================================================ Kapitel 9: Auf der Spitze des Turms ----------------------------------- Kap 9 Auf der Spitze des Turms Leider konnte der Rah-Ten nicht die selbe Bewunderung für Kameens taktischen Schachzug aufbringen wie Anthrazit Vega-Ban. „Wie könnt ihr es wagen?“ Ob er mit seinem Aufschrei die Wächter meinte, die es wagten, ihn während der Ratsversammlung zu stören, oder die Rebellen mit hrem selbstsicheren Verhalten, war unklar. Klar war jedoch, dass sich die Wächter deutlich ehr angesprochen fühlten als die Herren der Winde... „Ihr! Schafft sie sofort wieder in den Kerker und sperrt sie ein, ich will sie nicht sehen! Ihr persönlich garantiert mir, dass so etwas nicht wieder vorkommt!“ Hätten Blicke morden können, die Wächter wären langsam und qualvoll zu Tode gefoltert worden. Langsam und sehr schmerzhaft. Aber so zuckten sie nur unter den Worten ihres Herrn zusammen und gaben den Männern in Fesseln einen Stoß. „Bewegt euch!“ Keiner machte Anstalten, dieser Aufforderung nachzukommen, sondern starrten stumm und grimmig in die Runde. „Es gibt von jeher das Gesetz in unserer Stadt“, liess Spinell leise vernehmen, „Dass der Rah-Ten und die Ratsversammlung jeden anhören müssen, der höflich und mit gutem Grund darum bittet.“ Verdutzte Stille, unterbrochen vom Kaiser. „Ich dulde es nicht, dass jemand wie ihr so mit mir sprechen! Schafft sie weg, und zwar sofort! Bevor ich euch alle hängen lasse, euch samt eurer Unfähigkeit!“ Noch immer vom Schweigen der Versammelten untermalt, wurden Kameen und seine Freunde von den Wächtern zur Tür gezogen. Alle Abgeordneten hatten ihre Blicke gesenkt und starrten auf einen von ihnen erwählten Punkt im Raum, als gäbe es nichts interessanteres in der Welt. Enttäuscht wandte Kameen die Augen ab und biss sich auf die Lippen. Was hatte er erwartet? Dies war der Rat. Von ihnen würde er mit keiner Hilfe rechnen können. „Wartet!“, ertönte eine Stimme plötzlich und durchschnitt die Stille wie splitterndes Glas. „Wir sollten wenigstens anhören, was sie zu sagen haben.“ Anthrazit Vega-Bans Augen bohrten sich in die seines Sohnes. „Wir müssen verstehen, was sie so handeln lässt. Vielleicht sind wir dann in der Lage, einen Kompromiss zu schliessen.“ Gemurmel erhob sich, teils zweifelnd, teils zustimmend, und Turmalin D’un Jatcha warf ihm einen dankbaren Blick zu, ehe er seine Stimme erhob. „Ich bin der selben Meinung. Man sollte diese Männer anhören, immerhin haben sie das selbe Recht wie jeder Bewohner Xjuntas.“ Die Wächter an der Tür waren stehengeblieben und starrten unsicher von den Abgeordneten zum Rah-Ten. Gehen? Bleiben? Gehen? Warten? Das Oberhaupt von Sirius-Ban erhob sich. „Ich stimme nicht mit dem Abgeordneten von Vega-Ban überein“, erklärte er arrogant. „Ein Kompromiss ist nicht nötig. Jedoch bin ich dafür, die Rebellen zu befragen – hier und jetzt, im Kreis sämtlicher Abgeordneten. Sie ohne Befragung zu hängen wäre eine Dummheit, ich bin sicher, dass sie eine Menge Informationen besitzen, die für uns von Wert sein könnten.“ „Da muss ich leider enttäuschen“, rief Pyroxen spöttisch. „Er hat es schon mit nett fragen versucht und kein Ergebnis erreicht.“ „Genug!“ Scherben, Wein und Wasser landeten auf dem Boden, als der Rah-Ten mit einem Streich das Geschirr vor ihm auf den Steinboden fegte. „Ich schließe keine Kompromisse mit Terroristen und niederem Volk! Ich befrage keine Verräter öffentlich! Ich höre keine Rebellen an! Und ich bin der Herr dieser Stadt! Schafft sie mir endlich aus den Augen!“ „Nein!“ Die Abgeordneten von Spica-Ban, Sirius-Ban und Vega-Ban standen, der Abgeordnete von Orion-Ban ähnelte in seiner Gesichtsfarbe dem Rah-Ten. „Hört sie an, Erhabener! Wir verlangen es!“ „Ihr wagt es, etwas von mir zu verlangen?!“ Unversehens fand sich der Kaiser den undurchdringlichen Mienen der Mehrheit seiner Ratsmitglieder gegenüber. „Wollt ihr euch gegen mich auflehnen?“ Seine Stimme war trügerisch ruhig, aber in seinen Augen funkelte der Wahnsinn. Anthrazit war der Einzige, der dem Blick voller Wahn standhielt. „Nein, Majestät. Wir denken lediglich an Euer Wohl und das Wohl der gesamten Stadt.“ Stumm vor Wut sank der Kaiser in seinen Stuhl zurück. Anthrazit winkte den Wächtern. „Bringt sie wieder her!“ Dem herrischen Tonfall wagte niemand zu widersprechen. „Du redest“, zischte Pyroxen Kameen zu. Und der hatte keine Zeit, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Ihr seid also die Rebellengruppe, die sich die „Herren der Winde“ nennen?“, begann Jedyt Sirius-Ban. Kameen nickte stumm. Und begann zu reden. *** Was er sagte, liess seine Freunde vor Staunen erstarren. Allein die Tatsache, dass Kameen, der Stille und Schweigsame, sprach, vor einer solchen Menge, war erstaunlich. Aber dass er so viele Sätze so gekonnt und so fesselnd aneinanderreihte, grenzte an ein Wunder. Was er sagte, ließ die Politiker am großen Tisch verstummen und nachdenklich mit dem Stift auf die Tischplatte klopfen. Es ließ sie sich fragen, ob das, was er sagte, nicht vielleicht sogar die Wahrheit war und warum ihnen das selbst noch nie aufgefallen war. Es liess den Rah-Ten vor Wut amarenakirschrot anlaufen und seinen Vater stolz werden. Was Kameen sagte, hatte Hand und Fuß, klang vernünftig, überlegt und weise. Kurz umriss der Heiler das Problem – Wasser-, Nahrungs-, Arbeits- und Geldmangel, Krankheiten – er beschrieb das einfache, aber doch so schwere Leben in den Vierteln des Untersten Volkes und ihren Wunsch, dies zu ändern. Er erklärte, welche Pläne sie gemacht hatten, wie man neue Arbeit und weniger Leid schaffen konnte, Krankheiten eindämmen und die Unterschiede zwischen Arm und Reich ein wenig verkleinern konnte. Und seine Ideen waren so ausgereift, sein Plan war so gut und seine Stimme so fesselnd, dass ihm alle Mitglieder der Obersten Vier und der Mittleren Familien gespannt zuhörten, ihm förmlich an den Lippen hingen und sich erstaunt fragten, warum sie nicht von selbst auf diese Idee gekommen waren. Als Kameen fertig war und tief Luft holte, befreit von der Last der Verantwortung, herrschte zunächst Stille. Beifällig nickte Spinell, Zirkon und Pyroxen hingegen grinsten über das ganze Gesicht und hätten im Kreis gegrinst, hätten sie keine Ohren gehabt. Ihr Trumpf. Der Grund, warum Kameen ihr Anführer war, war endlich enthüllt worden. Es musste einfach gelingen. „Ihr hattet also vor, die übergeordnete Position des Rah-Ten abzuschaffen und einen allgemeinen Rat stattdessen zu etablieren?“, unterbrach Jedyt Sirius-Ban sie nachdenklich. Na, das muss dir doch gefallen, dachte Kameen als er nickte. Manche Menschen taten einfach alles, um an der ihnen gegebenen Macht zu bleiben, und als solche Person hätte er den Abgeordneten von Sirius-Ban auch eingeschätzt. Schön zu wissen, dass seine Menschenkenntnis noch intakt war. „Er sollte aus Mitgliedern aller Schichten bestehen, Oberste, Mittlere und Unterschicht. Die Beiden Erstgenannten dürfen zusammen jedoch nur so viele Stimmen haben wie das Volk, so dass dieses nicht überstimmt werden kann. Niemand darf irgendwelche Sonderrechte besitzen. Und dieser Rat soll Xjunta regieren – mehr oder weniger.“ „Was ist, wenn jemand sich Sonderrechte herausnimmt?“ „Gibt’s nicht.“ „Und wenn die Unterschicht zu viel fordert?“ „Die Mitglieder werden so ausgewählt, dass sie vernünftig und verantwortungsbewußt handeln und entscheiden können.“ „Und auch höhere Berufe sollen wieder für die Unterschicht frei werden?“ „Ja.“ Fragen über Fragen prasselten nun auf die Herren der Winde ein. Schon merkwürdig, dachte Kameen. Sie waren nicht einmal halb so alt und erfahren wie manche Ratsmitglieder – und doch gingen diese bereitwillig auf ihre Vorschläge ein. Vermutlich hatte ihnen die Regentschaft des Rah-Ten nicht besonders viel Freude gemacht - und vielleicht lag ihnen das Volk Xjuntas doch mehr am Herzen, als sie zugeben wollten. Nur einige Wenige waren deutlich mehr an Macht und Geld interessiert als an Demokratie, aber das würden sie irgendwie schon schaffen, so wie sie bisher alles... „Das reicht!“ Der Rah-Ten sorgte immer dafür, dass man ihn nicht vergaß. Stumm wandten sich alle Anwesenden ihm zu. „Wisst ihr, was ihr vergesst? Ihr vergesst, dass ich noch immer der Rah-Ten bin! Ich sage euch, was getan wird, ich bin der Herr über diese Stadt! Wie könnt ihr es wagen, so von solchen Dingen zu sprechen? Das ist eine Beleidigung!“ Spinell und Kameen hielten den Atem an. Ab jetzt kam es nicht mehr auf das an, was sie sagten, sondern auf das, was die Menschen im Raum entschlossen. Nun waren die Abgeordneten am Zug. „Wächter! Bringt diese... diesen Abschaum hinaus!“ Die Wächter wagten nicht, Widerstand zu leisten. Zu lange waren sie vom Rah-Ten missbraucht und herumkommandiert worden, zu lange waren ihre Freunde spurlos verschwunden, zu lange hatten sie mit der Angst leben müssen, nach Hause zu kommen und ihre Familie abgeschlachtet und ihr Heim zerstört vorzufinden. Vom wutverzerrten Gesicht des Rah-Ten verfolgt, griffen sie Kameen und seine drei Freunde an den Schultern und schubsten sie unsanft zur Tür. Zirkon wollte auffahren, aber Kameen sah ihn durchdringend an und hieß ihn Schweigen. Angespannt wartete er ab, ob etwas geschah. Ob jemand etwas sagen würde. Er wurde nicht enttäuscht. „Vater“, sagte Medusa und trat aus dem Schatten der Säule hervor, hinter der sie sich verborgen hatte. Sie hatte Kameen zugehört, und ihr Herz war angeschwollen vor Stolz: das war der Mann, dem sie von Anfang an vertraut hatte. Er hatte endlich ausgesprochen, was sie alle schon so lange mit sich herumtrugen und was ihnen allen schon so lange auf der Seele gelegen hatte. Wenn man Probleme hatte, musste man doch versuchen, sie zu lösen, oder? „Ja?“, schnappte der Rah-Ten und wandte den Kopf in ihre Richtung. Als er sie sah, verzerrten sich seine Züge. „Du? Ach, ich hätte mir doch denken können, dass du mit ihnen unter einer Decke steckst! Welche Schande! Mein eigenes Blut!“ Seine Weigerung, sie „Tochter“ zu nennen, trieb ihr die Tränen in die Augen. „Aber sie haben doch recht, Vater. Und du könntest ein Mitglied des Rates werden!“ Das Gesicht des Rah-Ten war leichenblass vor Wut, seine Fäuste waren geballt, als er seiner Tochter ins Gesicht schrie. „Mitglied des Rates? Des Rates? Wenn ich doch der Kaiser sein kann? Diese Stadt gehört mir!“ Er lachte plötzlich auf und hob die Hände, und Kameen sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Ich habe die Macht über Leben und Tod der Menschen hier! Alle hängen sie von meiner Gnade ab! Aber sie bedeuten mir nichts. Ich bin der Herrscher, und sie sind meine Diener!“ Erschüttertes Schweigen folgte, als den Menschen klar wurde, dass der Rah-Ten wahnsinnig geworden war. Serpentin Orion-Ban öffnete steif den Mund und sagte: „Erhabener, bei allem Respekt, ich denke nicht, dass...“ „Schweig!“, herrschte der Herrscher ihn an und warf den silbernen Pokal, den er gerade in den Händen gehalten hatte, nach ihm. Der Kelch verfehlte den Kopf des Mannes um Haaresbreite. „Du bist nur hier dank meiner Güte! Ich kann mit einem Fingerschnippen wieder alles von dir nehmen, was du besitzt! Also sei vorsichtig mit dem, was du sagst – sei vorsichtig mit dem, was du denkst!“ Serpentin erbleichte, und der Kaiser grinste höhnisch. „Seht ihr? Diese Macht besitze ich. Gibt es hier noch jemanden, der sich gegen mich auflehnen möchte und die Zukunft seines Hauses aufs Spiel setzen möchte?“ Vielsagende Stille. Der Kaiser wollte schon zufrieden wieder den Mund öffnen, da erhob sich Anthrazit Vega-Ban. „Ich lege hiermit mein Amt als Ratsvorsitzender nieder.“ Blitzschnell fuhr der Rah-Ten zu ihm herum. „So, Anthrazit!“, sagte er lauernd, während die restlichen Mitglieder ihn alle entwedern bewundernd oder entsetzt ansahen. „Begehrst du doch auf? Ich wusste immer, dass es eines Tages so weit sein würde – oh ja, das wusste ich! Ich entlasse dich in Schande. Deine Familie wird sowohl ihren Einfluss als auch ihr Vermögen verlieren.“ Atemlos sah er sich in der Halle um. „Und jetzt habe ich genug von diesem Theater. Geht jetzt – die Sitzung ist beendet, verschwindet schon!“ Niemand rührte sich. „Was?“ „Ich trete ebenfalls aus“, sagte Malachit Spica-Ban. Die Augen des Rah-Tens wurden groß vor Überraschung. „Ich auch.“ Kameens Vater stand auf. „Ich auch.“ „Und ich.“ „So wie ich.“ Und dann geschah das Unglaubliche. Bei jedem Mitglied, das diese Worte aussprach, wurde das Gesicht des Rah-Ten fröhlicher. Schliesslich waren nur noch Serpentin Orion-Ban und Jedyt Sirius-Ban übrig. „Meine Herren?“ Kameen trat vor uns musterte sie, löste sich so von den erstarrten Wächtern, die nicht wussten, was sie nun tun sollten. „Es wäre von Vorteil, wenn Sie sich ihren Kollegen anschliessen würden, nicht wahr?“ Jedyt zögerte. In Schande entlassen zu werden – war es nicht das, was er noch mehr fürchtete als den Verlust seines Reichtums? Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, nämlich vom Kaiser, der wieder wie ein Wahnsinniger zu lachen begann. „Haha! Ihr geht – und ich löse hiermit den Rat auf! Jetzt bin ich der alleinige Herrscher der Stadt – wer braucht schon einen Beraterstab? Kommt und sehr euch an, wie meine Stadt mir zu Füßen liegt!“ Wie von einer Tarantel gestochen sprang er auf und rannte zum Fenster, wo er sich gegen das Glas warf. Die dünne Scheibe zitterte drohend. „Vater!“, rief Medusa besorgt und lief auf ihn zu, aber er stiess sie beiseite. „Meine Stadt! Kein Rat – ich bin der Kaiser! Ich herrsche ganz allein!“ Medusa prallte hart gegen eine Säule, und Zirkon lief auf sie zu. „Medusa! Alles in Ordnung?“ Aventurin D’un Jatcha indessen lief auf seinen eigenen Sohn zu und löste ihm die Fesseln, als würde der Rah-Ten, der, ängstlich beobachtet von den ehemaligen Ratsmitgliedern, noch immer lachte und sich an das Fenster drückte, nicht existieren. Eine kräftige Kopfnuss und eine liebevolle Umarmung später packte Aventurin Kameen an beiden Schultern und starrte ihn ernst an. „Ich bin mir sicher, dir ist etwas aufgefallen...“ Kameen nickte. „Er ist krank. Psychisch labil. Ihm muss geholfen werden.“ „Das überlasse ich dir.“ Irres Lachen hallte durch den Saal, wurde verstärkt von der Größe der Halle und kam als vielfach gebrochenes kleines Echo wieder zurück. Die ehemaligen Mitglieder zuckten unbehaglich, als sich der Kaiser mit einem irren Blick zu ihnen umdrehte. Den Kopf in den Nacken gelegt, atmete er ein und schien Medusa, die ihn an den Schultern gefasst hatte und kräftig schüttelte, nicht einmal zu sehen. Vorsichtig näherte Kameen sich ihm. „Majestät,Ihr müsst Euch ausruhen. Ihr seid nicht wohl.“ „Ich bin krank? Lächerlich! Mir geht es blendend.“ „Das mögt Ihr denken, aber in Wirklichkeit...“ „Komm nicht näher, Abschaum!“ Von einer Sekunde auf die nächste ähnelte der große, dürre Mann eher einem Kind als einem Kaiser. „Geh weg!“, wimmerte er. Medusa trat auf ihn zu. „Vater?“, sagte sie unendlich behutsam, und das kleine, verängstige Kind in der Gestalt des großen Mannes schlug die Hände vor die Augen, als wolle es sich verstecken. „Papa! Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen!“ Die Stimme war hoch und dünn und zitterte vor Angst. „Wo bist du? Lass mich nicht allein!“ „Vater!“ Medusa wollte ihn umarmen, aber er stiess sie weg. „Wo ist sie nur hingegangen?“ Er richtete sich auf und murmelte düster vor sich hin. Es war erschreckend, aus dem Kind war ein Erwachsener geworden, Sorgenfalten auf der Stirn. „Teara ist immernoch nicht da...“, murmelte er wieder. Medusa schluckte. „Vater“, sagte sie leise. „Mutter ist tot...“ „Wer bist du?“, fragte er sie, die Stirn vor Anstrengung gefurcht. Medusa richtete sich auf, Tränen in den Augen, und streckte ihm eine Hand hin. „Bitte“... flüsterte sie kraftlos. Auf dem Gesicht des Mannes, der nicht mehr wusste, wer er war, erschien ein überglücklicher Ausdruck. „Teara!“, rief er erfreut. „Da bist du ja! Ich dachte schon, du kommst nie mehr nach Hause!“ Glücklich kam er ihr entgegen und sah die Träne, die über ihre Wange lief. „Teara, warum weinst du?“, fragte er, und die Geste, mit der er die Träne auffing, war pure Zärtlichkeit. „Ist etwas passiert? Du weißt, ich liebe dich, oder?“ Mittlerweile schien es, als ob nur noch Kameen, Zirkon, Pyroxen, Spinell, Medusa und der Rah-Ten anwesend wären. Der Rest schien weit, weit weg, die Entfernung wuchs mit jeder verstreichenden Sekunde. Medusa nahm seine Hand, als er ihre an seine Lippen hob und sacht küsste. „Vater“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich bin es, Medusa. Deine Tochter. Mutter ist schon lange tot.“ Der Ausadruck veränderte sich zum letzten Mal. „Tot!“ Wie irre lachte der Rah-Ten auf. „Tot! Tot, dahingegangen wie alles in dieser Welt! Aber ich, ich werde unsterblich sein, der Herrscher dieser Stadt für alle Ewigkeiten!“ Und damit stieß er Kameen zu Boden, der ihn hatte festhalten wollen, entwischte Medusas zupackenden Händen und stürmte davon. Die kleine Wendeltreppe, die er nahm, führte auf die Spitze des Turms. „Nein!“, rief Kameen schmerzerfüllt. „Haltet ihn auf! Er ist wahnsinnig!“ Aber nicht einmal Anthrazit Vega-Ban rührte sich, sondern folgte dem irren Monarchen nur mit den Augen. Medusa hockte wie ein Bündel Elend am Boden und wimmerte, Zirkon kniete aufrichtig besorgt neben ihr. Pyroxen und Spinell kamen zu Kameen. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja!“ Fast schon grob stiess er sie zur Seite, ignorierte den Schmerz im Rücken und auch sonst überall in seinem Körper und stürmte ebenfalls auf die Wendeltreppe zu. Die beiden Anderen blieben ihm dicht auf den Fersen. Der Aufstieg war aus Felsen gehauen, gewunden und eng und steinig. Kameen riss sich die Ellenbogen auf, als er die erste Kurve zu eng nahm, aber er spürte es kaum. Mit jeder Faser seines Wesens konzentrierte er sich darauf, die Treppe zu erklimmen, diesen dunklen Schacht in diesem dunklen Turm, durch den die Echos hallten wie unglückliche Seelen, die seit Jahrhunderten gefangengehalten wurden. Das Keuchen seiner eigenen Atemzüge hallte ihm in den Ohren wieder. Immer höher und höher kletterte er, nur das eine Ziel vor Augen: den Mann vor ihm so schnell wie möglich zu erreichen. Der Wahnsinn in ihm hatte schon so lange geschwelt, es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er ausbrach. Und nun war er völlig unzurechnungsfähig, anders konnte er es nicht sagen, er musste ihn erreichen, bevor er etwas Unüberlegtes tat... Und plötzlich war ein Licht zu sehen, welches ihn blendete und ihn zwang, die Augen zuzukneifen... Und dann war er oben. Der Turm über dem Ratssaal war der höchste Turm der Stadt. Von hier oben erblickte man ganz Xjunta und die weite, goldene Ewige Wüste... Die Treppe endete auf einer Plattform, die ringsum von einem steinernen Geländer gesäumt war, und dort stand der Rah-Ten und hatte die Arme weit ausgestreckt. Lachend sah er auf Xjunta hinunter, bis er Kameens Schritte hinter sich hörte. Und als er ihn erblickte, wurde die Freude auf seiner Miene durch eine Grimasse des Hasses ersetzt. „Was willst du hier?“, schnauzte er. „Das ist mein Turm! Mein Palast! Mach, dass du weg kommst!“ Kameen versuchte, sich dem alten und wahnsinnigen Mann so vorsichtig wie möglich zu nähern. „Majestät“, sagte er behutsam, „Wie fühlt ihr euch?“ „Wie soll ich mich denn fühlen? Es geht mir Bestens! Und nun verschwinde, und nimm diese Beiden da mit!“ Nach Kameen waren auch Pyroxen und Spinell auf die Spitze des Turms gelangt. Kameen gab wirklich nicht auf, dachte Spinell mit einem Hauch von Bewunderung. Er selbst hätte den Mann schon KO.-geschlagen und nach unten geschleppt... Aber das war vermutlich der Grund dafür, dass Kameen der Chef war und nicht er. „Wer bist du überhaupt? Niemand erteilt mir befehle – ich tue, was ich will!“ „Aber ich will doch nur...“ „Nein!“ Und zum allgemeinen Entsetzen der drei jungen Männer zog der ehemalige Kaiser einen Dolch. Für Kameen blieb die Zeit stehen, als der kalte Stahl im grellen Licht der Mittagssonne aufblitzte. Es war ein Langdolch, schlicht, mit einer einfachen Ziselierung, ansonsten keine Muster oder Edelsteine. „Verschwindet endlich!“, brüllte der Rah-Ten. Speicheltröpfchen flogen durch die Gegend und er fuchtelte mit dem Dolch herum. Dazu kam: offensichtlich konnte er mit diesem Dolch herumfuchteln. Er konnte mit einer Waffe gut umgehen... Und Kameen hatte nicht einmal selbst eine. Fieberhaft überlegte er, wie er den alten Mann entwaffnen konnte, ohne ihn zu sehr zu verletzen. Das war Medusas Vater, er wollte ihm jederlei Schmerzen ersparen. Er war Heiler. Er wusste, was Schmerz bedeutete. Hinter ihm knarzte die Treppe, und ein roter Haarschopf tauchte aus der Luke auf. Medusa, registrierte Kameen aus den Augenwinkeln, und beim Anblick des Dolches schrie sie leise auf. „Vater! Was tust du da?“ Der Angriff kam ohne Vorwarnung und selbst für die Herren der Winde zu schnell und es waren nur Kameens gute Reflexe, denen er zu verdanken hatte, dass er unverletzt blieb. Blitzartig stach der Dolch zu, stiess ins Leere, als das Opfer abtauchte, und dann waren Spinell und Pyroxen da. Spinell drehte rasch die Hand des Rah-Tens einmal und kräftig um, so dass der den Dolch fallen liess, und Pyroxen trat ihm die Beine weg. Schwerfällig landete der Rah-Ten auf dem heißen Stein. „NEIN!“ Medusas gellender Schrei durchbrach die keuchend atmende Stille. Mit einem Knurren war der Kaiser wieder auf den Beinen, bewegte sich in seinem Wahn schneller als Spinell es konnte, und warf sich voll auf Kameen, der diesmal weder Zeit noch Platz zum Ausweichen hatte. Sekunden später lag er mit dem Rücken auf der Brüstung, ein Paar Hände schraubstockartig um seinen Hals geklammert, und er bekam keine Luft, konnte nicht mehr atmen.... Vergeblich zerrte er an den Armen des Herrschers. „Kameen!“ Spinell und Pyroxen stürzten sich beide auf den Gegner, um ihrem Freund zu helfen, und trotz der im Wahn übermenschlichen Kräfte des Kaisers schafften sie es, ihn irgendwie von Kameen wegzuziehen. Kameen keuchte auf, als sie die Hände um seinen Hals gewaltsam lösten, doch so oft sie den Rah-Ten von Kameen wegzogen, desto wilder kämpfte er darum, freigelassen zu werden. Dann erschlaffte der Herrscher plötzlich. Erschrocken liessen Spinell und Pyroxen los, und der Kaiser machte keine Anstalten, zu fliehen. Er lag einfach da, wie ein kleines Kind zusammengerollt, welches einen Alptraum hat, und atmete schwer. Seine Augen schauten verträumt ins Leere. „Die Sterne sind heute schön, Terea“, sagte er leise. „Ich wünschte, du könntest sie noch einmal sehen.“ Kameen trat vorsichtig an ihn heran. Der Kaiser stand auf. Medusa trat vor. Wie ein Schlafwandler bewegte er sich zur Brüstung hin, die Augen auf die heiße Wüste gerichtet, die sich vor seinen Augen erstreckte. „Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages wiederkommst. Aber du hast mich verlassen.“ „Das stimmt nicht!“ Mittlerweile stand der Mann direkt am Geländer und achtete nicht auf das, was Medusa sagte. „Doch. Du bist weg.“ Kameen sah ihn lächeln und setzte sich in Bewegung, aber es schien noch immer, als wäre die Zeit angehalten worden. Er kam nicht vorwärts, bewegte sich wie durch eine dickte, schleimige Suppe, die nicht wollte, dass er vorwärts ging... „Leben ohne dich ist kein Leben...“ Er fiel über die Brüstung, als würde er von unten gezogen. Kein Zeichen dafür, dass er hatte fallen wollen, keines dafür, dass man gewollt hatte, dass er fiel – es geschah einfach. Die Zeit sprang für Kameen D’un Jatcha wieder in die richtigen Bahnen zurück. Seine Hand griff ins Leere. Und Obsidian D’u Tral stürzte in den Tod. [ Hosted by Animexx e.V. 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