Herren der Winde von june-flower ================================================================================ Kapitel 7: Aus der Kohlepfanne... --------------------------------- Wisst ihr, was schlimm an der Sache ist? Dass ich nicht weiß, für wen ich das hier tue. Aber ich bringe die Dinge zu Ende, die ich einmal begonnen habe, und folglich lade ich auch die ganze Geschichte der Herren der Winde hier hoch. Dann werde ich mich vermutlich löschen. Am Ende dieses Jahres wahrscheinlich. Mal sehen. Bis dahin wünsche ich allen, die das hier lesen, viel Spaß dabei. Aber da es keiner zu lesen scheint, interessiert es wahrscheinlich auch niemanden. Also dann. Noch 4 Kapitel, so weit ich weiß. ~***~ Die Kerkerzelle war stinkig und feucht, dunkel und im Ganzen einfach ungemütlich. Kein Ort, an dem man sich unter gewöhnlichen Umständen freiwillig mehr als 10 Minuten lang aufhielt. Kameen, Zirkon, Pyroxen und Spinell waren nun schon seit dem Mittag des vorangegangenen Tages hier unten. Gezwungenermaßen, verstand sich von selbst. Ihr Aufenthalt war begleitet vom Rasseln der Ketten um ihre Fußgelenke, vom Stampfen der harten Stiefelabsätze der Soldaten, wenn die Wächter wechselten und vom Schaben der Ratten im modrigen Stroh. Und ein paar Mal waren sie von Hauptmännern des Rah-Ten „befragt“ worden. „Au“, stöhnte jemand verhalten, und Ketten rasselten in Kameens Nachbarzelle. „Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt und versuchte, die hämmernden Kopfschmerzen, die ihn bereits seit zwei Tagen begleiteten, in den Hintergrund zu drängen. Seine rechte Wange war geschwollen, und etwas lief ihm über die Stirn, warm und klebrig – er nahm an, dass es sich dabei um Blut handelte, welches aus einer Wunde an seiner Stirn stammte. Sein Kopf hatte vor nicht all zu langer Zeit gewaltsam Bekanntschaft mit dem harten Steinboden des Palastes gemacht. „Ja“, sagte Zirkon schwach. „Mein Rücken tut weh...“ Das war kein Wunder. Kameen hatte nur einen kurzen Blick im dämmrigen Licht der wenigen Fackeln darauf werfen können, er war überzogen mit Striemen. Kreuz und quer zogen sie sich, der Hauptmann war nicht zimperlich mit der Rute gewesen. Pyroxen, den es wahrscheinlich am Stärksten erwischt hatte, weil er sich mit seinem frechen Mundwerk zur Wehr gesetzt hatte, knallte die Faust gegen das Gitter, welches seine Zelle vom Flur trennte, ungeachtet seiner ausgekugelten Schulter. „Wenn ich diesen Mistkerl in die Finger bekomme, der uns verraten hat!“ Spinell schnaufte höhnisch von der anderen Seite des Flurs. „Ein Kerl, ja?“ „Was willst du damit sagen?“, fragte Kameens Stimme aus dem Dunkel, welches sie alle umgab, sie einhüllte und sich wie Watte über ihre Ohren legte, so dass ihre Stimmen plötzlich so laut erschienen wie nie zuvor. Niemand antwortete, weil alle den selben Gedanken hatten. Die Dunkelheit wirkte bedrohlich. Flashback: „Hier sehen wir uns also wieder!“ Der Hauptmann sah Kameen feixend an. „Und diesmal ist sicher, dass du schuldig bist. Dein Vater kann dich jetzt nicht mehr aus der Affäre ziehen ---- du bist auf frischer Tat ertappt worden!“ Trotziges Schweigen folgte seinen Worten, als der Anführer der Herren der Winde den bulligen Hauptmann hasserfüllt anstarrte. Dem wurde ein wenig mulmig. „Was habt ihr als nächstes geplant?“ Stille. „Wer war euer Informant im Palast?“ Nichts. Er hätte genausogut mit einem Stein reden können. „Antworte mir!“ Klatsch. Kameen unterdrückte einen Schmerzenslaut, als der Mann ihm brutal ins Gesicht schlug. „Wirst du mir wohl antworten, du Ratte?“ Die nächste Ohrfeige warf Kameen aus dem Stuhl, auf dem er saß, er landete auf dem Boden. Ohne seine Hände zum Aufstützen, die ihm auf dem Rücken zusammengebunden waren, konnte er sich nicht abfangen und sein Kopf schlug hart auf den Steinfliesen auf. Sekunden verblassten zu Minuten, Minuten zu Stunden. Es spielte keine Rolle. Kameen biss die Zähne zusammen – er hatte versagt. Auf der ganzen Linie. Es war ihm weder gelungen zu helfen, noch seine Freunde zu beschützen. Er hatte sie alle enttäuscht. „Du da!“ Ein Wächter trat mit klirrenden Schlüsseln an die Zellen, in der die Rebellen langsam die Köpfe hoben. „Du bist doch Spinell Vega-Ban? Mitkommen!“ „Und wenn nicht?“, sagte der Angesprochene trotzig. „Dann...“ Die Drohung blieb in der Luft hängen als der Wächter eintrat und ihn brutal an den Armen in die Höhe zog. „Komm!“ Spinell war stark. Vielleicht hätte er auch im Normalfall gegen einen Einzelnen Wächter gewinnen können, aber er war geschwächt, hungrig und verletzt. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu folgen. *** „Reichtum hat also auch solche Vorteile.“ Der Raum, in den Spinell geführt wurde, war karg und leer, und in seiner Mitte stand ein einzelner Mann. „So begrüßt mich also mein Sohn, der seit Wochen verschollen ist und von Rebellen als Geisel genommen wurde?“ „Dein Sohn? Eher dein Bastard.“ Der reichste und zweitmächtigste Mann Xjuntas, Anthrazit Vega-Ban, Oberhaupt des Hauses Vega-Ban, sah sich im Wachraum um. „Dass du die Gesellschaft dieser Leute unter diesen Umständen dem Haus Vega-Ban vorziehst, ist mir unbegreiflich. Du hättest den Wächtern erklären können, dass du eine Geisel warst, statt gegen sie zu kämpfen, wie man es mir berichtet hat. Dann wärst du längst wieder zu Hause.“ Beinahe hätte Spinell verbittert aufgelacht. „Zu Hause?“ „Warst du freiwillig bei diesen .... Rebellen?“ Spinell schwieg und rieb sich die Handgelenke, wo die Fesseln sich in die Haut eingeschnitten hatten. Er sah den Mann vor ihm nicht an. Der schloss die Augen und atmete tief durch, als müsste er sich davor bewahren, etwas zu sagen, das er später bereuen würde. „Ich bin hier, um dich wieder mitzunehmen.“ Der Angesprochene stockte. „Mitzunehmen?“ „Nach Hause, wohin sonst.“ „Und was ist mit Kameen, Zirkon und Pyroxen?“ „Heißen so diese...“ „Meine Freunde?“ Es war das erste Mal, dass Spinell sie so nannte, aber als er es aussprach, merkte er: Es war die Wahrheit. „Ja, das sind sie.“ „Nun, für sie kann ich nichts tun. Du kennst die Regeln.“ Spinell kannte sie nur zu gut. Familie stand an erster Stelle. Alles Andere war unwichtig, egal ob Menschen oder Dinge. „Dann bliebe ich auch hier.“ „Wie bitte?“ Anthrazit Vega-Ban zeigte zum ersten Mal eine Regung, als er seinen Sohn fassungslos anstarrte. „Du hast mich schon verstanden. Ich bliebe hier, so lange sie auch hier sind.“ „Was interessiert doch so an ihnen?“ Wütend starrten sie sich an, aber es war Spinell, der den Blick abwandte. „Ihre Sache“, sagte er leise. „Sie kämpfen für die richtige Sache. Ich werde ihnen helfen, wenn ihr es schon nicht tut, ihr, die ach-so-mächtigen Obersten Vier. Ich habe gesehen, wie sie leben. Das kann so nicht weiter gehen – es muss sich ändern.“ Stumm erwiderte er den Blick des älteren Mannes, dem zum ersten Mal in seinem Leben die Worte fehlten. „Gut“, brachte er schliesslich heraus. „Wenn es das ist, was du willst, dann bleib hier und werde zusammen mit deinen „Freunden“ gehenkt. Sie interessiert es doch nicht, ob du stirbst oder nicht – sie sind nur gewöhnliche Bürger. Sie würden dich ohne mit der Wimper zu zucken verraten und zusehen, wie du stirbst.“ „Und wenn?“, fauchte Spinell und verlor die Beherrschung. „Es interessiert dich doch auch nicht, ob ich sterbe! Lass mich in Ruhe!“ Ohne ein weiteres Wort verliess sein Vater den Raum. *** Zirkon keuchte leise auf, als der Stoff seines zerfetzen Hemdes die Wunden auf seinem Rücken berührten. Es tat weh... Aber eine andere Sache schmerzte ihn noch mehr. Die Ra-Cria. Medusa würde sie nicht verraten haben, oder? Sie war ihm so freundlich und vertrauenerweckend erschienen. Was war passiert? Wer hatte dem Rah-Ten gesagt, wo er die Herren der Winde finden konnte? Medusa stand ihm von allen ihren Mitgliedern am Nächsten. Aber wenn sie es nicht getan hatte, wer dann? Wen hatte der Rah-Ten bestochen? Der blonde Mann biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, um den Verdacht loszuwerden. Er war sich sicher, dass die Prinzessin sie nicht verraten hatte. Flashback: Hitze lag über den Straßen und über dem Marktplatz wie eine Leichendecke. Ohne von seiner Arbeit aufzusehen, wischte sich Zirkon unwillig mit dem Arm über die Stirn, um die Schweißtropfen zu vertreiben, die ihm stetig über das Gesicht liefen. Er musste sich etwas mitbringen, um seinen Kopf zu bedecken, wenn er morgen nicht mit einem Sonnenstich im Bett landen wollte... Seine Arbeit konnte er nicht im Stich lassen. Sie war lebensnotwendig für seine Eltern und seine Geschwister. Als Gehilfe eines Töpfers wurde er schlecht bezahlt, denn eigentlich konnte der Mann sich selbst keinen Assistenten leisten. Aber es war halbwegs bezahlte Arbeit, und der Töpfer war froh, eine so kompetente Person gewonnen zu haben wie Zirkon. Die Feder, mit der er den Verkaufserlös des Tages in ein fleckiges Heft eintrug, kratzte laut und unangenehm. Die Stimmen der Menge um ihn herum flossen zusammen wie zäher Zuckersirup und bildeten einen undurchdringlichen Teppich über seinen Ohren... Und ein Schatten fiel auf ihn. „So trifft man sich“, sagte die Ra-Cria und sah mit funkelnden Augen auf den knienden Mann hinab. Sie war gekleidet wie ein Mädchen aus einfachem Hause, etwa einer Mittleren Familie, und eine Dienerin trippelte nervös hinter ihr auf und ab. „Ich wusste gar nicht, dass du Lesen und Schreiben kannst.“ Im ersten Moment war er sprachlos, sie hier zu sehen, und obendrein noch zu erleben, wie sie ihn ansprach. Aber in ihren Augen lachte der Humor, und sie wirkte wie ein unbeschwertes Mädchen, welches sich für – zugegebenermaßen doch recht schöne – Töpferware interessierte. „Ich hab es mir selbst beigebracht“, sagte er schliesslich und sah sie nicht an, um die leichte Röte in seinen Wangen zu verbergen. „Ich liebe es zu lesen.“ „Warum arbeitest du dann nicht in einer Bibliothek oder für einen reichen Händler? Viele Leute suchen einen persönlichen Assistenten. Sie wären froh, jemanden wie dich zu haben.“ Sie beäugte das Papier. „Alle Rechnungen sind richtig, deine Rechtschreibung ist tadellos und deine Schrift überaus schön.“ „Ich darf nicht“, sagte Zirkon bitter und tauchte die Feder in ein kleines Fass Tinte neben ihm. „Mitglieder des Untersten Volkes dürfen solche Arbeiten nicht mehr erledigen.“ Von der Art, wie sie ihre Brauen hochzog, sah er, dass sie nichts davon gewusst hatte. „Wirklich“, versicherte er. „Ich habe es versucht, aber seit vor sechs Tagen der Aushang überall hängt, haben ziemlich viele Menschen ihre Arbeit verloren. So wie ich.“ Die Ra-Cria fuhr fort, in anzustarren. „Das kann nicht sein“, sagte sie und ballte die Fäuste fest. „So grausam kann der Rah-Ten doch nicht sein.“ Zirkon schwieg, und sein Schweigen war Antwort genug für Medusa. „Das kann er nicht machen!“, zischte sie. „Das ist...“ Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand in der Menge, ihre Zofe im Schlepptau. *** Kameen seufzte tief auf. „Ist euch niemand in der letzten Zeit verdächtig vorgekommen?“, fragte er zum Hundertsten Mal seine Freunde. „Wir haben offensichtlich einen Spion bei uns gehabt. Wie kann er uns durch die Maschen geschlüpft sein?“ Zirkon und Spinell schwiegen, aber Pyroxen erhob seine Stimme. „Es muss doch jemand gewesen sein, der ziemlich neu war, oder?“ „Ja, aber er könnte auch schon länger bei uns geblieben sein und erst letztens entschieden haben, dass die rechte Zeit gekommen war“, gab Zirkon zu bedenken, und Spinell nickte abwesend. „Klingt logisch. Trotzdem, lasst uns nachdenken: Wer ist in letzter Zeit neu dazugekommen?“ Stille. „Niemand, an den ich mich speziell erinnern kann“, sagte Pyroxen schliesslich. „Sicher?“ „Ja, eigentlich schon... Oder?“ Plötzlich sah Pyroxen einen recht kleinen Mann vor sich, in dessen Gesicht die Schadenfreude nur so glänzte. „Scheisse“, stiess er heraus. „Was?“, fragte Kameen besorgt. „Dieser Mistkerl!“ Pyroxen fluchte mit Ausdrücken, die Spinell das Gesicht verziehen liessen, aber niemand kümmerte sich darum. „Ich glaube, ich weiß, wer es war.“ Flashback: Stumm stand der Mann vor Pyroxen. Eine farblose Tunika, bequeme Sandalen, abgenutzt und geflickt, ein Allerweltsgesicht von der Sorte, die man nach einmaligem Sehen sofort wieder vergaß. Der angebliche Wächter, der ihnen helfen wollte, weil seine Familie vom Rah-Ten gefoltert und getötet worden war... Wenn diese Geschichte stimmte, wollte Pyroxen einen Besen fressen! Aber so sehr er auch überlegte, der Name diesen Mannes wollte ihm einfach nicht einfallen. Calcit hatte ihn dazu gehholt, Calcit, dessen Brüder und dessen kleine Schwester noch immer über seinem Verlust trauerten... Calcit, der vertrauensselige, naive Calcit... Diese Dummheit hatte ihn und seine drei Freunde also das Leben gekostet. Pyroxen ballte die Fäuste und schlug immer und immer wieder gegen die harte, rauhe Steinwand, bis seine Finger glitschig waren vor Blut. Das war er also gewesen, dieser Verräter. Das würde er büßen. *** „Gut gemacht, Tigerauge!“, lachte der Rah-Ten kehlig. „Du hast deine Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit erfüllt. Du wirst wie versprochen reich belohnt werden.“ Tigerauge grinste und verbeugte sich tief. Er war der Diener seines Herren. Was immer der auch von ihm befahl, er würde da sein, um den Befehl auszuführen. Der Spion lebte noch einen Tag. Medusa hatte genug von Kameen gelernt, um zu wissen, dass Mondblumenextrakt, der gepresste Blütenstaub der Mondblüte, auch in geringsten Portionen tödlich war. Ein Kelch Wein vor dem Schlafengehen, mehr gönnte sich der durchtriebene Spion nicht. Mehr war auch nicht nötig. *** Wie eine eingesperrte Tigerin lief Medusa in ihren Räumen auf und ab. Von der Tür zum Fenster, quer über den Teppich und am Sofa vorbei waren es 51 Schritte, von der Frisierkommode bis zum Bett auf der gegenüberliegenden Seite 48. „Verdammt!“ Die Worte, die seit geraumer Zeit ihren Mund verließen, hätten selbst Pyroxen erröten lassen. „Ra-Cria!“ Ihre alte Amme sah sie strafend an, während ihre Zofe sich verängstigt in den angrenzenden Raum drückte und nur den Kopf durch die Tür geschoben hatte, um zu sehen, was ihre Herrin da so tat. „Schon gut!“, winkte Medusa ab. Ihre Amme trat durch die Tür, die das Schlafzimmer vom Ankleideraum trennte, nahm sie an der Hand und führte sie zum Sofa. „Was quält dich, meine Kleine?“ Hilflos liess sich die junge Frau in den Arm nehmen. „Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie erstickt, und die alte Frau strich ihr über ihre rostroten Locken. „Du wirst das Richtige tun“, sagte sie leise und tröstend. „So wie deine Mutter. Sie hat auch immer das Richtige getan. Ach... Du ähnelst ihr so sehr!“ Medusa schwieg. Das Richtige? Wer konnte schon sagen, was das Richtige war? Niemand befand sich in ihrer Situation. Niemand konnte nur im Ansatz verstehen, was sie quälte... Dann straffte sie die Schultern. Genau, niemand konnte ihr sagen, was sie tun sollte. Sie musste einfach Irgendetwas tun statt hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Erstaunt sah die junge Zofe zu, wie ihre Prinzessin an ihr vorbei in die Garderobe stürtze wie ein Wirbelwind und in Windeseile Ketten, Armreifen und Schleier ablegte. Ihr leichtes, aber nichtsdestotrotz elegantes Kleid folgte. Sie griff sich den einfachsten Rock, den sie fand, und eine abgewetzte Tunika. Erschrocken wohnte die Zofe der Verwandlung einer Prinzessin in ein gewöhnliches Mädchen bei. Dann stürmte Medusa wieder ins Schlafzimmer und umarmte ihre Amme stürmisch. „Ich bin bald wieder da, Nana, mach dir keine Sorgen!“ Die alte Frau stöhnte nur, erwiderte die Umarmung jedoch liebevoll. „Ja, ja. Pass auf dich auf, Kind.“ Und schon war die Ra-Cria aus dem Schlafzimmer in den Vorraum gestürzt. „Aber!“ Nun endlich fand die Zofe den Atem, um empört aufzukeuchen. „Aber sie kann doch nicht einfach...“ „Tst, Tst!“ Die alte Amme schnalzte mit der Zunge. „Sie kann nicht? Unterschätze die Ra-Cria nicht, Mädchen!“ *** Der Wächter vor den Gemächern der Ra-Cria langweilte sich in Grund und Boden. Aber einen Vorteil hatte diese Wache doch – hier drinnen gab es keine Sonne... Obwohl – ob das ein Vorteil war? Rito fror fast in der kühlen Dunkelheit vor der großen Sandholztür. Früher hätte niemand vor dieser Tür zu stehen brauchen – aber seit die Ra-Cria sich mehrmals unerlaubt vom Palast entfernt und sich in Gefahr begeben hatte, in dem sie ohne Leibwache auf den Markt gegangen war, liess der Rah-Ten seine Tochter bewachen. Der junge Wächter hatte so seine eigenen Ideen, was die Ra-Cria auf dem Markt wohl so unternahm, wenn sie der strengen Bewachung des Palastes entfloh... Er lachte in sich hinein. Alle Mädchen sehnten sich doch nach einem Freund! Ein leises Räuspern unterbrach seine Gedanken, und er fuhr auf. „Was...“ Vor ihm stand eine junge Dienerin. Ihr rotgoldenes Haar war offen und fiel in schönen Wellen über ihre Schultern, sie trug einen einfachen Rock und ein Schultertuch. „Was kann ich für dich tun?“, fragte Rito, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte, charmant. Das Mädchen schlug scheu ihre Augen nieder. „Meine Herrin hat gesagt, es ist Eure Aufgabe, niemanden aus dem Gemächern der Ra-Cria zu lassen, ist das richtig?" „Ja“, sagte Rito stolz. „Wir Wächter sollen die Prinzessin Tag und Nacht bewachen.“ „Oh“, kam es leise vom Mädchen, und ihre Mundwinkel sackten nach unten. „Warum fragst du?“, wollte der junge Wächter wissen. „Wolltest du hinaus?“ „Genau“, flüsterte sie erstickt und zu seinem großen Entsetzen füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Ich wollte... Ich meine, er wartet schon Tage lang...Ich konnte ihm nicht einmal einen Brief schreiben. Ich...“ „Aber, aber...“, versuchte Rito sie zu beruhigen. „Alles wird wieder gut, du wirst sehen.“ Die Dienerin schluchzte auf, und ihre Haare fielen über ihr schönes Gesicht. „Meinst du deinen Freund?“ „Er ist mein Verlobter.“ Sie schniefte und wischte mit dem Handrücken die Tränen fort. „Ich vermisse ihn so!“ Unbehaglich wand sich Rito. Einerseits hielt er sich fest an seine Befehle. Andererseits – was barg es schon für ein Risiko, eine einzige Dienerin für ein paar Stunden hinauszulassen? Sie würde schon keine Rebellion anzetteln. Und nun, da die sogenannten Herren der Winde in den Kerkern des Rah-Ten schmorten, waren die verstreuten Aufständischen kein Problem mehr. „Also gut“, sagte er leise. „Geh schnell, ehe dich jemand sieht. Und sei bis Sonnenuntergang wieder da, dann endet meine Wache.“ Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an. „Was meint Ihr damit?“ „Los doch, geh schon und besuch deinen Verlobten!“ Ich kann einfach keine Mädchen weinen sehen, dachte Rito unbehaglich. Er drehte sie an ihren Schultern um und gab ihr einen leichten Stoß. „Und schnell!“ Von dem Lächeln, welches sie ihm zuwarf, bevor sie im dunklen Gang verschwand, schmolz sein Herz. Zufrieden raffte Medusa ihren Rock und stürmte davon. Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine so überragende Schauspielerin war. *** Das Lokal war dunkel, verraucht und stank nach Pfeifentabak, Alkohol, und – in geringen Massen – Erbrochenem. Es war eine der Arbeiterkneipen, in denen sich die Männer aus den Bazaar-Vierteln nach einem langen und schweren Arbeitstag trafen, um bei einem oder zwei Krügen alkoholhaltiger Getränke zu „entspannen“, wie man sagte. Hier wurde das hart erarbeitete Geld des Tages des Nachts zum Teil auch bereits wieder versoffen. Medusa schüttelte es, als sie eintrat, sie bekam kaum Luft. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das dämmrige Licht. Als zweites bemerkte sie, dass es still geworden war. Sämtliche Augen richteten sich auf sie. Zuerst befürchtete sie, dass man sie erkannt hatte, aber dann kam die Erleuchtung: Mann starrte sie an, weil Frau in einer Kneipe erstens selten und zweitens ungern gesehen war. „Hey!“, rief plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. „Hast du dich verlaufen, Kleine?“ Damit war der Bann gebrochen. Dröhnendes Gelächter kam auf, von allen Seiten rief man ihr Sprüche, Einladungen und Anmachen entgegen. Verbissen kämpfte Medusa sich durch die Masse, ignorierte sämtlich die Menschen, die sie ansprachen, trat einem Mann, der sie am Allerwertesten begrabschen wollte, zwischen die Beine und setzte ihre Ellenbogen gegen einige allzu aufdringliche Bewerber ein. Im Stillen dankte sie Spinell und Kameen für einen Trainingskampf, dem sie beigewohnt hatte und nachdem ihr Beide eine Kurzeinführung in die Selbstverteidigung gegeben hatten. Und schliesslich stand sie vor dem Barmann. Der Gastwirt musterte sie misstrauisch. „Fräulein?“ Die höfische Anrede „Mylady“ wurde in den Bazaar-Vierteln nicht benutzt. Medusa rief sich ins Gedächtnis zurück, was Zirkon und Pyroxen sie gelehrt hatten, und bestellte. „Einen Becher Trisana-Limonade, bitte.“ Plötzlich wandte ihr der Wirt seine vollste Aufmerksamkeit zu – und sein vollstes Misstrauen. „Mit oder ohne Tris-Blüten?“ „Mit, aber bitte ohne Fruchtfleisch.“ Der stämmige Mann musterte sie von oben bis unten, dann öffnete er eine Tür so dass sie hinter den Tresen treten konnte. „Kommt mit, Lady.“ Medusa betrat den Raum hinter der Gaststube. In dem mit Laternen erhellten Raum saß eine nicht zu schätzende Anzahl Männer und unterhielt sich zwanglos. Becher mit kaltem Siruuk-Bier gingen um, und die alkoholische Flüssigkeit füllte die Luft mit einem betäubenden Geruch. Als Medusa und der Wirt eintraten, verstummten augenblicklich alle Gespräche, und alle Gesichter wandten sich der jungen Frau zu. Es war wie im Schankraum. „Sie wollte zu euch“, sagte der Wirt kommentarlos und verließ wieder den Raum, und Medusa lieb allein zurück, den mißtrauischen Blicken der Männer ausgesetzt. Aber sie wäre nicht Medusa gewesen, wenn sie sich hätte einschüchtern lassen. Vorsichtig zog sie eine Kette aus ihrem Ausschnitt hervor, zog sie über den Kopf und hielt sie hoch. Das vergoldete Abzeichen der Herren der Winde leuchtete auf. „Die Vier sind in Schwierigkeiten“, sagte sie mit klarer Stimme, als das Raunen verstummte. „Der Rah-Ten hat sie gefangen genommen.“ „Du bist ein kluges Mädchen“, sagte ein älterer Mann spöttisch und prostete ihr zu. „Das haben wir auch schon festgestellt.“ Medusa richtete ihren Blick ohne zu zwinkern auf ihn. Es war der selbe Blick, den ihr Vater benutzte, um Menschen einzuschüchtern, und sie wollte ihn nicht verwenden. Aber hier kam sie ohne ihn nicht weiter. „Dann helft ihnen. Und zwar schnell.“ „Und wie soll das gehen?“ Nun lachten die Männer verbittert und sahen sich gegenseitig an. „Sollen wir streiken? Oder brauchen wir nur mit dem Rah-Ten zu sprechen und ihn lieb fragen? Oder uns selbst an ihrer Statt ausliefern?“ „Das hätten sie nicht gewollt“, stellte Medusa klar. „Na dann... Sie ist traurig, diese Situation, aber wir müssen auch an uns denken. An unsere Familien. Wenn wir gefangen genommen werden und sterben, geht es ihnen noch schlechter als zuvor.“ Noch immer verzog die Prinzessin keine Miene, aber ihre Stimme und ihre Augen waren kalt wie Eis. „Ihr erwartet, dass sich etwas ändert, aber ihr tut nichts, um Veränderungen herbeizuführen. Ihr erwartet, dass jemand euch hilft, aber ihr helft nicht. Ihr erwartet, dass euch jemand schützt, aber ihr selbst schützt nicht. Ihr wünscht euch Gerechtigkeit, aber ihr tut nichts, um für sie zu kämpfen. Sobald es um euer Leben geht, kneift ihr. Wie lächerlich.“ Mit einem Ruck entzog sie dem offenkundigen Anführer ihre Kette, der es in der Hand gedreht und gewendet hatte und es nun nicht wagte, sie anzusehen. Die Wut kochte glühend heiß in Medusa, aber ihre Haltung strahlte bittere Kälte und Verachtung aus. Die Männer hatten nicht viel zu ihrer Verteidigung gesagt, aber sie wusste, was kommen würde und sie wollte es nicht hören. Es war also doch immer das Selbe. „Nun?“, fragte sie auffordernd. „Was sagt ihr?“ Ungemütlich blickten die Männer an ihr vorbei. „Wir können nicht“, murmelten sie. „Zu gefährlich.“ „Gut!“, fauchte Medusa. Unter ihren erbarmungslosen Blick sanken die Männer in sich zusammen. „Dann gehe ich und sehe nach, ob alle Männer dieser Stadt so erbärmliche Feiglinge sind wie ihr!“ Die Tür flog krachend hinter ihr zu, als sie hinausstürmte. *** „Und jetzt?“, fragte Kameen erschöpft in die Dunkelheit hinein. Wie lange er schon dort unten saß, in einem dunklen Kerker, konnte er nicht sagen. Gewöhnt an die Hitze des Tages und die Grelle der Wüstensonne, fühlte er sich hier unten verloren, völlig desorientiert und verlasen. Tage wurden zu Stunden, zu Minuten, zu Sekunden... „Mein Vater“, sage Spinell, wohl wissend, dass es sich sowieso nicht mehr lohnte, um den heißen Brei herumzureden, und alle horchten auf. „Er war hier.“ „Ah“, sagte Kameen in die Richtung hinein, in der er seinen Freund vermutete. „Dein Vater?“ Spinell antwortete nicht. „Aber du bist immernoch hier“, fasste der Andere zusammen. Er konnte sich Spinells charakteristisches Schulterzucken lebhaft vorstellen. „Aua“, stöhnte Zirkon und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. „Wie geht es dir?“, wollte Pyroxen besorgt fragen, aber es wurde ein Flüstern darauf. Seine wunde Kehle verweigerte den Dienst, nach dem sie Wassermangel und quälenden Husten hatte erleiden müssen. Kameen ballte die Fäuste. Es hätte so wenig gefehlt, um seinen Freunden zu helfen, und doch... Doch konnte er es nicht. „Gut“, sagte Zirkon leise. „Mein Fuß ist geschwollen. Nichts Schlimmes.“ Nichts Schlimmes. Nichts Schlimmes. Am liebsten hätte er auf etwa eingeschlagen, hätte den Rah-Ten und alle seine Wächter höchstpersönlich erwürgt für das, was sie ihnen antaten... Das Klirren der Kellerschlüssel liess ihn auffahren. Unangenehm rieben die Fußfesseln, als er zum Gitter kroch. Die Schritte, die nahten, waren anders als die der Wächter, bedächtig und leicht und vorsichtig. Was es wieder für eine Falle war, eine neue, ausgeklüngelt grausame Methode, um sie zum Sprechen zu bewegen? Ein Lichtschein kroch den Gang hinunter, und er schirmte seine Augen ab, bis er sich blinzelnd an die Helligkeit gewöhnt hatte. Die Silhouette der Person kam immer näher, bis sie schliesslich vor seiner Zelle stehen blieb... Und Kameen keuchte vor Überraschung laut auf. Dies war die Person, die er am Wenigsten hier erwartet hätte... „Ra-Cria!“ Spinell, Pyroxen und Zirkon fuhren auf. „Was macht Ihr hier?“ „Pst!“, beschwor die Prinzessin und legte einen Finger auf die Lippen. „Ich will euch befreien“, flüsterte sie. „Schnell, wir müssen weg sein, bevor die Wachen...“ Sie machte sich am Kerkerschloss zu schaffen. Entsetzt sah Kameen zu. „Ra-Cria, das ist zu gefährlich! Ihr könntet...“ BAMM, wurde die große, sperrige Tür zum Kerker oben an der Treppe aufgeworfen, und wütende Stimmen wurden laut. „Ra-Cria!“ Zirkon schrie beinahe vor Sorge. „Schnell, haut ab! Sie dürfen Euch nicht finden!“ Aber Medusa hantierte noch immer am riesigen, unhandlichen Schlüssel herum der im Loch des Schlosses zu Kameens Zelle steckte. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Aufgabe, ihre Freunde zu befreien, und brachte sich selbst dabei in tödliche Gefahr... Die schweren Stiefel polterten die Treppe hinunter, ein Lichtschein kam immer näher und näher und laute Stimmen riefen nach Verstärkung. Panisch sah Kameen an Medusa vorbei in den Gang. Sie durfte nicht hier gefunden werden, nicht hier, nicht jetzt, nicht so... Zu spät. Ein Lichtschein fiel um die Ecke, erst schwankend, dann immer ruhiger, während die widerhallenden Schritte schon so nahe waren, dass man das Quietschen des Leders auf dem Steinfußboden hören konnte. Noch immer klemmte der Schlüssel im Schloss, noch immer sah die Ra-Cria nicht auf. Zu spät. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)