Herren der Winde von june-flower ================================================================================ Kapitel 4: Ein Problem kommt selten allein ------------------------------------------ Kap 4 - Ein Problem kommt selten allein „Das ist unglaublich!“ Mit einem Gesichtsausdruck, der einem Löwen den Appetit auf Fleisch verdorben hätte, schlug der Rah-Ten mit der Faust auf den Tisch. Die Vier Oberhäupter der Obersten Vier erschraken sehr, waren jedoch bemüht, dies nicht zu zeigen. Dem Schreiber auf einer Schilfmatte am hinteren Ende des Saals fiel der Stift aus der Hand. Das Porzellan klirrte. „Sie führen mich an der Nase herum! Mich, den Rah-Ten, Obersten Herrscher der einzigen Stadt in der Ewigen Wüste!“ Wahnsinn schien aus seinen Augen zu funkeln, als er die vier vor ihm versammelten Männer anstarrte. Es war der Rat der Obersten, den er gerade anschrie, die vier Männer, die ihn ins Amt gewählt hatten, aber dies kümmerte ihn schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Auch auf die Ratschläge der reichsten Männer der Stadt konnte er mittlerweile getrost verzichten. Sie waren schwach, genau wie alle anderen Menschen um ihn herum, lediglich darauf bedacht, ihren Ruhm und Reichtum aufrecht zu erhalten. Er konnte sehr gut ohne sie leben und noch besser: ohne sie regieren. Xjunta würde es viel besser gehen, wenn er allein die gesamte Macht über Leben und Tod der Bevölkerung erreicht hatte. Hier lief etwas unglaublich schief, dachte Anthrazit Vega-Ban unglücklich. Einst hatte der Rat der Obersten den Rah-Ten gewählt, weil er ein kluger Mann mit bedeutenden Talenten gewesen war, einfühlsam und bedächtig wie kein Zweiter. Gut, das hatte er wenigstens gedacht, das Motiv ein oder zwei seiner Amtskollegen war sicherlich die Tatsache gewesen, dass sie gehofft hatten, über den warmherzigen Mann selbst die Herrschaft Xjuntas übernehmen zu können. Aber nun sah man deutlich, dass weder seine Hoffnung noch deren Pläne aufgegangen waren. „Außer Kontrolle“, sagte er halblaut und erntete einen zustimmenden, zwei wütende und einen absolut tödlichen Blick von den Anwesenden. Sofort gab der Rah-Ten seine endlose Wanderung durch den Saal auf und umrundete den Tisch, um hinter Anthrazit stehenzubleiben. „Anthrazit Vega-Ban“, sagte er mit sehr leiser, bedrohlicher Stimme. Hätte dieser in seinem Leben nicht bereits so viel gesehen und so vielem getrotzt, er hätte sicherlich seinem ersten Gedanken, der ganz einfach und laut „Flieh!“ rief, nachgegeben. So aber blieb er scheinbar ruhig sitzen. „Willst du allen Ernstes behaupten, Wir hätten die Lage nicht mehr unter Kontrolle?“ Oh nein, wir haben sie lediglich nicht mehr unter Kontrolle... „Erhabener Rah-Ten, ich würde es niemals wagen, Eure Fähigkeiten in Frage zu stellen!“ Aber um euren Geisteszustand sorge ich mich schon länger. „Das wollen Wir nicht hoffen! Also was hast du gemeint, das höchstmöglich außer Kontrolle sein könnte?“ Jetzt zuckten doch alle vier Herren zurück, denn die letzten Worte hatte er geschrien. Anthrazit vergrub seine Hände in den Ärmeln seiner weiten Tunika und blieb sitzen, während der Schreiber seinen Stift, den er erneut hatte fallen lassen, zitternd suchte und fand. Sitzungen mit dermaßen schlecht gelaunten Rah-Tenno würden in Zukunft nicht länger auf seiner Favoritenliste stehen. „Majestät, ich wollte sagen: Die Lage ist keineswegs außer Kontrolle. Ich bin mir sicher, dass Ihr bereits einen Eurer hervorragenden Pläne in Kraft gesetzt habt.“ „Ah.“ Zufrieden lockerte der Rah-Ten seinen Griff um die Lehne des Stuhls, auf dem Anthrazit saß. „Na also. Meine Herren, habt ein wenig Geduld. Wir arbeiten gerade an unserem kleinen... Problem... und werden es sicherlich bald zur allgemeinen Zufriedenheit beseitigt haben.“ Nicht nur der Schreiber atmete heimlich auf, nachdem er vom Zorn des Rah-Ten unberührt geblieben war und dem Sitzungssaal mit heiler Haut entkommen war. In seinem nunmehr leeren Thronsaal liess sich der Herrscher der Wüstenstadt in seinen eleganten Sessel fallen und biss wütend die Zähne aufeinander. Nun musste er sich dank der absoluten Unfähigkeit seiner sogenannten „Berater“, mit dem Problem der Rebellen aufzuräumen, die es wagten, ihm, dem Herrscher der Ewigen Wüste, die Stirn zu bieten, selbst darüber Gedanken machen, wie sie aus dem Weg zu räumen waren. Denn etwas musste geschehen, so viel war sicher! Zornig sprang er auf uns fegte eine überaus teure Vase von ihrem Sockel. „Bringt sofort Tigerauge zu mir!“ Es kam keine Reaktion, aber er wusste, dass jenseits der großen Flügeltür jemand bereits unterwegs war, um seinen Befehl auszutragen. Halbwegs befriedigt wanderte er zum Fenster und schaute durch die großen, bunten Scheiben hinaus. Der Anblick des kühlen Sees vor seinem Palast war wundervoll: Blaues, kristallklares Wasser! Er, der Rah-Ten, hatte dafür gesorgt, dass es floß. Was konnte es Besseres geben als dies, um zu zeigen, dass er allmächtig war? Es gehörte ihm! Er lachte wie wahnsinnig auf, als es plötzlich an der großen Flügeltür klopfte. „Vater?“ Medusa erkannte ihren Vater nicht wieder. Es war heute nicht das erste Mal gewesen, dass sie hinter einer Säule gestanden hatte und gelauscht hatte, während er eine Sitzung abhielt. Allein dass er sie nicht bemerkt hatte, bewies ihr schon, dass dieser Mann dort drüben nicht ihr Vater war. Es war zumindest nicht der selbe Mann, der sie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, immer mühelos gefunden hatte wenn sie versucht hatte, ihre Nase in seine Angelegenheiten zu stecken. Die sie ja auch nichts angingen. Aber die Ra-Cria wusste, dass hier etwas nicht stimmte, und das schon seit geraumer Zeit nicht mehr. „Vater? Entschuldige bitte, aber ich hatte gehofft, dass du vielleicht heute Abend mit mir zusammen zu Abend essen könntest?“ Die Gestalt am Fenster drehte sich um, musterte sie kurz und wandte sich wieder ab. Nur wenige Sekunden hatte der kalte Blick auf ihr gelegen, und trotzdem fröstelte sie und verbarg ihre zusammengekrampften Hände auf ihrem Rücken. „Du bist sonst immer so beschäftigt und ich dachte...“ „Dann hast du falsch gedacht“, sagte der Rah-Ten eisgekühlt. „Ich bin beschäftigt, ich habe weder die Zeit noch die Lust, mich um Kinder oder Frauen zu kümmern, zähl dich bei irgendeiner Gruppe dazu. Wo ist deine Amme?“ „In meinen Gemächern, Vater. Warum...“ „Sie wird bestraft werden, da sie zulässt, dass du mich in solchen Momenten störst. Und nun geh.“ „Aber Vater!“, fuhr Medusa erschrocken auf. „Sie hat doch keine Schuld – dies ist doch mein Zuhause! Ich darf mich im Schloss frei bewegen wie ich will!“ Der große Mann ging zum Tisch in der Mitte des Raumes und goss sich aus einer Karaffe bernsteinfarbene Flüssigkeit in einen Kelch. „Du solltest aufpassen, was du sagst, sonst wirst du diesen Ort nicht länger dein Zuhause nennen können. Mit lästigen Personen will ich mich nicht herumschlagen müssen – ich habe besseres zu tun. Wichtigeres.“ Er stürzte den Arila hinunter, als sei es Wasser und nicht die seltenste Substanz der Ewigen Wüste. „Und jetzt verschwinde, junges Fräulein, ich muss etwas mit – Ah, da bist du ja.“ Er sah durch Medusa hindurch, als existiere sie gar nicht, zur Tür, in der ein kleiner, verschlagen aussehender Mann stand. „Komm herein, Tigerauge... Ich habe einen Auftrag für dich.“ In Medusas Augen brannten Tränen, als sie auf dem Absatz kehrt machte und in Richtung des Gartens davonstürmte. Sie brauchte etwas Zeit und Stille... Besonders die Stille. Wer war dieser Mann gerade gewesen? Aber egal, wer... Ihr Vater war dieser eiskalte Mann gerade nicht gewesen. Der hätte nämlich niemals seinem Volk das angetan, was der Rah-Ten den Menschen Xjuntas schon seit mehreren Jahren auferlegte. Medusa war weder dumm noch blind. Ihre regelmäßigen Auflüge auf den Markt waren zwar geheim und gefährlich, brachten ihr aber auch nahe, wie sehr das Volk litt. Nicht nur aufgrund der Armut und des Hungers, sondern auch wegen des Wassermangels und der Ungerechtigkeit des Rah-Ten. Sie hätte diesen Menschen so gerne geholfen, aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Sie wusste nicht, was sie tun konnte, und um darüber nachzudenken, brauchte sie die Abgeschiedenheit des Gartens. Obwohl... Kurz zögerte sie. Dann drehte sie sich um und huschte den Weg zurück, den sie gerade gekommen war. Derweil lief der Rah-Ten, Herrscher der Stadt Xjunta, wieder einmal aufgebracht durch den reich geschmückten Saal, der seine Macht in aller Protzigkeit zur Schau stellte. „Schon seit mehr als acht Mondumläufen (zwei Monaten) haben diese Aufständischen es darauf angelegt, Uns zu trotzen! Sie führen Uns an der Nase herum und tanzen Uns darauf herum wie lästige Fliegen! Sie greifen Unsere Wächter scheinbar wahllos an, plündern die Händler aus, deren Waren für den Palast bestimmt sind und reißen die Mauern um die Brunnenhöfe ein! Und dies nur, um Uns zu schaden. Dabei tun wir doch nur das Beste für sie! Diese Undankbaren, Undankbaren...“ Vor Wut musste er nach Luft schnappen und suchte nach Worten. „Das mag ärgerlich sein, Herr“, sagte Tigerauge demütig, ein unscheinbarer Mann mit einem Gesicht, dass so gewöhnlich war, dass man ihn unter hunderten nicht wiedererkannt hätte. „Aber ich bin sicher, Ihr wisst damit umzugehen. Das ist für Euch kein Hindernis.“ Scharf musterte der Hochkaiser den Mann vor ihm, als wolle er prüfen, ob er das, was er gerade gesagt hatte, ehrlich meinte. Was er sah, schien ihn zu befriedigen, denn er fuhr merklich ruhiger fort: Natürlich. Aber seit einigen Wochen scheinen die Rebellen sich viel koordinierter zu bewegen, wenn das denn noch ging. Aber ihre Übergriffe werden ausgefeilter und geschickter – es ist, als ob sie von einer Person aus dem Hintergrund gelenkt werden, die wirklich weiß, was sie tut.“ Bei dem Gedanken daran, wie schwer ihm die Sache im Magen lag, ballte der Rah-Ten unwillkürlich die Fäuste. „Sie untergraben Unsere Autorität! Ihnen muss Einhalt geboten werden.“ „Habt Ihr einen Vorschlag, wie das zu bewerkstelligen ist, eure Majestät?“, sagte sein Gegenüber mit einer samtweichen Stimme. Unwillig sah ihn der Kaiser an. „Natürlich! Zuerst einmal aber... Sieh dir das hier an.“ Aus den Händen des Herrschers empfing der Mann eine Schriftrolle. Neugierig rollte er sie auf und versuchte, sich ein Bild von der Darstellung zu machen. „Das ist eine Karte Xjuntas... Die vier Bazaare, die Viertel der Mittleren Familien und die der Obersten Vier... Und hier, in der Mitte, der Königspalast, wie es sich gehört.“ „Das sehe ich selbst“, fauchte der Kaiser, aber Tigerauge blieb ruhig. „Und was hat das für eine Bedeutung?“ „Das ist das Siegel Xjuntas, hast du Idiot es noch nie gesehen? Das Siegel des Herrschers – Unser Siegel! Und diese Rebellen“ - er spuckte das Wort praktisch aus – „Benützen mein Siegel im Kampf gegen Uns! Sie verhöhnen Uns!“ „Ich habe es noch nie unter ebenjenem Verwendungszweck gesehen, großer Rah-Ten.“ „Natürlich nicht! Dachtest du, Wir würden etwas, dass Uns so beleidigt, publik werden lassen? Es ist kein Geheimnis, dass sie es immer hinterlassen, aber Wir müssen das Geheimnis nicht aufdecken.“ „Sie benutzen das Herrschersiegel Xjuntas gegen euch, Euer Majestät?“ „Würdest du aufhören, jedes Unserer Worte zu wiederholen? Es langweilt uns.“, erwiderte der Kaiser gereizt, obwohl Tigerauge nichts wiederholt, sondern eher zusammengefasst hatte. „Sie haben sich zu einer festen Allianz zusammengeschlossen und sich organisiert. Sie benutzen ein Siegel, um Uns zu verhöhnen. Aber sie werden niemals gegen Uns gewinnen! Wir werden ihnen zeigen, wer der wahre Herrscher der Wüste ist!“ Der Spion namens Tigerauge nickte und zuckte nicht mit der Wimper. „Da habe ich auch schon eine Idee.“ Stumm registrierte er, wie eine kleine, dunkle Gestalt hinter einer Säule verschwand. *** Kameen seufzte leise, während er seinem Vater durch die Gänge des Palastes zu seinem kleinen Garten folgte, mehrere Rollen Pergament, eine Masse kleiner Beutelchen, getrocknete Kräuter und Mörsel und Stampfer in seinen voll beladenen Armen. Der Garten war seine Idee gewesen, deshalb „sein“ Garten, eine Art Haus aus Glas, in dem verschiedene Heilkräuter gezogen wurden, und normalerweise freute er sich jedes Mal, wenn er auf dem Weg dorthin war. Aber so sehr, wie Kameen D´un Jatcha vom Sirius-Bazaar seine Arbeit liebte, so sehr waren heute seine Gedanken auf der Wanderung. Genauer gesagt: seit er seit er mehr oder weniger freiwillig (eher weniger) ein Mitglied der Rebellengruppe „Herren der Winde“ geworden war, war sein Kopf voll von Zweifeln, Ideen und Widersprüchen. Und jetzt musste er auch noch eine Aufgabe bewältigen, um zu beweisen, dass er vertrauenswürdig war? Entschuldige bitte, warum hatten sie ihn aufgenommen, wenn sie sich nicht sicher waren, ob sie ihm trauen konnten? Kameen seufzte leise. Es waren doch nur Menschen. Menschen, die ebenfalls ein Anrecht auf ein friedliches und glückliches Leben hatten, genau wie er. Warum sollte ausgerechnet er das Risiko auf sich nehmen und versuchen, Informationen aus dem Palast zu beschaffen? „Wenn du gute Nachrichten hast und wir uns sicher sein können, dass du die Wahrheit sagst, dann werden wir dich als vollwertiges Mitglied betrachten“, hörte er Pyroxens Stimme noch nachhallen. Schön, wenn sie ihn noch nicht als „vollwertiges Mitglied“ betrachteten, warum hatten sie ihm diese Kette angedreht? Ihr Gewicht lastete schwerer aus seinem Schlüsselbein, als er gedacht hatte dass sie wiegen würde. Er trug sie unter seiner Tunika verborgen, einen Anhänger, der die Umrisse seiner Heimatstadt zeigte. Er hatte gar nicht erst nachgefragt, woher Zirkon und Pyroxen diese Ketten – ihrer vier – besorgt hatten, er wollte es gar nicht erst wissen. Es reichte schon, dass es ihm nun an einem Lederband um den Hals hing und ihm vor Verantwortung und der Angst, jemand könne es sehen, ganz schlecht wurde. „Anstrengend“, murmelte er, und bezog damit Alles um ihn herum mit ein. Aber er musste die Kette ja tragen. Stumm folgte er seinem Vater, der durch eine Tür verschwand, welche hinter ihm wieder zufiel. „Wa...“ Kameens Stimme erstarb, und er zuckte die Achseln. Seine Schuld, er war zurückgefallen. Stumm seufzte er auf und schob die Tür mit der Schulter auf. Vier junge Männer und die Unterschicht einer Stadt gegen deren Oberhaupt. In was war er da nur hineingeraten? Im Garten auf einer kleinen Bank, die auch mal dazu diente, Kräuter abzulegen und zu sortieren, saß eine junge Frau. Ihre Haare fielen ihr offen über die Schulter, rote Locken, die nicht in den traditionellen Hochsteckfrisuren der Adligen gefangen waren. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände im Schoß gefaltet, ihr langes, aber einfaches Kleid breitete sich in Wellen um sie aus. Kameen stoppte abrupt, während sein Vater einen Blick über die Schulter warf, ihn kommen sah und sich wieder abwandte, um sich eine Schere zu holen. Sein Sohn aber betrachtete die Gestalt, bis ihm einfiel, wo er sie bereits gesehen hatte: es war das Mädchen aus den Gemächern der Ra-Cria. Die Dienerin. Die roten Haare funkelten wie Gold in den Strahlen der Mittagssonne, die durch die hohen Fenster und die gläserne Decke der Halle hineinfielen. Sie hatte Kameen gehört, aber sie öffnete die Augen nicht. „Seid gegrüßt“, sagte sie mit erstaunlich melodischer Stimme, die heute keinen Spott beeinhaltete. „Der Wüstenwind sei mit Euch“, murmelte Kameen höflich zurück und wandte sich ab. Solange sie ihm nicht auf die Nerven ging, konnte sie seiner Meinung nach den ganzen Tag dort wie eine Statue sitzen und in der schwülen Luft kochen. Sorgfältig begann er, die vertrockneten Blätter einer Lilas-Pflanze zu entfernen. Gerade als der Heiler die Juanano-Frucht beschnitten und gegossen hatte, dem kleinen Baum liebevoll über den Stamm gestrichen hatte und sich daran machte, die reifen Kapseln der Orinpflanze zu ernsten, tauchte sie lautlos neben ihm auf. Erschrocken sah Kameen auf, als sich das rothaarige Mädchen ohne jeden Federlesens und ebenso geräuschlos ihr Kleid schürzte und sich neben ihn auf den Boden hockte, aber sie achtete nicht darauf. „Wogegen helfen diese?“, fragte sie und deutete auf die dünnen, länglichen Kapselhüllen. Perplex betete Kameen herunter, was er schon seit seiner Kindheit auswendig beherrschte: „Gegen Schwangerschaftsbeschwerden, periodisch auftretende Übelkeit und manchmal auch gegen einfache Bauchschmerzen.“ Ihr helles Lachen hallte durch den Garten. „Schwangerschaftsbeschwerden? Für wen ist es also bestimmt?“ Verärgert über ihre vermeintliche Naivität sah er sie an. „Es sind nicht nur die Menschen im Palast, denen wir helfen, Mylady. Auch in den niederen Bezirken werden Kinder geboren – wenngleich auch nicht unter solch angenehmen Umständen wie hier.“ Ihre klaren Augen musterten ihn amüsiert. „Ihr setzt Euch sehr für die unteren Bevölkerungsschichten ein, Kameen D´un Jatcha.“ „Also?“, antwortete er heftiger als beabsichtigt und schnitt wütend eine Bohne ab. Ein Schauer lief ihm kalt den Rücken hinunter. Was meinte sie? „Nun ja...“, sagte das Mädchen gedehnt. „Weißt du nicht, dass es unhöflich ist, andere Menschen bei ihrem Namen zu nennen und sich selbst nicht vorzustellen?“, schnitt er ihr das Wort ab und stand auf. Orinpflanzen wuchsen im Gebirge, als dichte, robuste Sträucher mit harten Ästen und erstaunlich fester Rinde. Als er sich aufrichtete, blieb er mit dem Kragen an einem Ast hängen. Ungeduldig riss er sich los und ging weiter, darauf bedacht, das Mädchen loszuwerden, aber sie folgte ihm weiterhin wie eine Katze. „Du bist interessant, Kameen D´un Jatcha... gehört das hier dir?“ Etwas Leuchtendes, Glänzendes war aus seiner Tunika gefallen und sie bückte sich, um das klirrende Etwas aufzuheben. Entgeistert sah der junge Heiler auf den Boden, dann fasste er sich an den Hals. Das Lederband, welches das mittlerweile recht vertraute Gewicht des Anhängers trug, war weg. Erstaunt starrte das Mädchen auf die winzige, detailgetreue Abbildung Xjuntas im Metall – eine verkleinerte Abbildung des Herrschersiegels des Rah-Ten. Und sie wusste, was sie sah: sie runzelte die Stirn, als sie es erkannte, und sie wusste, dass Kameen nicht das Recht hatte, es zu tragen... Er gehörte sicherlich nicht zur Familie des Herrschers. Er war nur der Sohn eines Heilers. Der Himmel wusste, was sie noch alles über ihn wusste, er hatte nicht vor, länger zu bleiben und das herauszufinden. Bei Kameen D´un Jatcha, Sohn des Besten Arztneimittelkundigen der Ewigen Wüste und selbst recht passabler Heiler, setzten sich die Fluchtinstinkte durch. Mit hochgezogenen Brauen starrte das junge Mädchen auf das Siegel des Rah-Ten, welches sie in diesem Schloss schon fast zu oft gesehen hatte. „Interessant“, murmelte sie. Dieser Junge gehörte also zu den Rebellen – und noch besser, zu der Gruppe auserwählter Leute, die sich die „Herren der Winde“ nannten. Bemerkenswert jung, ging es ihr durch den Kopf, sie hätte sich Rebellen als mittelalte durchschnittliche Männer mit durchschnittlichem Aussehen und durchschnittlicher Intelligenz vorgestellt. Kameen D´un Jatcha entsprach so gar nicht dem Idealbild eines Terroristen, wie der Rah-Ten die Rebellen mittlerweile nannte. Andererseits, warum auch nicht. Warum er wohl beschlossen hatte, den Rebellen zu helfen? Er war selbst aus einer recht angesehenen Familie, ihm ging es doch gut... Sicherlich, das Volk litt, sie war sich dessen nur zu bewusst, aber was sollte sie schon tun können... Ein wenig Sympathie konnte sie schon für ihn aufbringen. Aber es war es nicht ihre Pflicht, ihn zu melden? Oder konnte sie...Ein zufriedenes Lächeln bereitete sich über ihren Lippen aus, und ruckartig löste sie ihren Blick vom Amulett. „Wache!“ Kameen hörte die Schritte der Verfolger schon lange, bevor er die Hand schwer auf seiner Schulter spürte, und hätte er alle farbenfrohe Ausdrücke, die ihm gerade durch den Kopf schwirrten, losgelassen, wäre ein Gossenjunge wohl vor Neid erblasst. Dieses Mädchen hatte die Wache verständigt. Jetzt würden die Wächter nur noch eins und eins zusammenzählen, würden auf zwei kommen, und dann würde nicht nur er in Schwierigkeiten stecken... Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Kameen verfluchte sich für seine eigene Dummheit. Zufall, dass das Band gerissen war? Eindeutig schlechtes Karma. „Kameen D´un Jatcha. Die Ra-Cria will dich sehen.“ Kameen gab alle Hoffnung auf. Schlimmer geht’s nimmer, huh? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)