Herren der Winde von june-flower ================================================================================ Kapitel 2: Die Rebellen ----------------------- Leise zog Spinell aus dem Hohen Haus Vega-Ban, der mächtigsten der Obersten Vier Familien von Xjunta, die Hintertür hinter sich zu und atmete tief ein. So roch also die Luft außerhalb der Mauern des Palastes. Die schwarzen Haare des etwa 20-Jährigen glänzten in der Sonne, seine violetten Augen schauten abwesend die leere Straße hinunter. So lange lebte er nun schon in dieser Stadt und so wenig hatte er erst von ihr gesehen. Aber uneheliche Söhne hatten in Xjunta keine hohe Stellung. Sie wurden versteckt, so wie er. Man kümmerte sich gut um sie, hatte die Familie das Geld dazu, es fehlte ihnen an Nichts. Auch Spinell konnte sich nicht daran erinnern, jemals schlecht behandelt worden zu sein, aber die Wände des Hauses Vega-Ban schienen, je älter er wurde, immer höher und enger um ihn herum zu wachsen. Und eines Tages hatte er es einfach nicht mehr ausgehalten. Spinell konnte nicht behaupten, dass er genauestens über die Situation in Xjunta Bescheid wusste. Deshalb konnte man es ihm auch nicht vorhalten, dass er in solch gefährlichen Zeiten das Haus verliess... Alles, was er wusste, war, dass sein „Vater“ seit Wochen mehr Zeit im Palast verbrachte als zu Hause – wobei er nie oft zu Hause gewesen war. Und selbst wenn er es war, auf Spinell achtete er kaum. Und jetzt? Jetzt stand er, Spinell, auf der Straße, eine farblose Tunika, die er einem Diener abgekauft hatte, an, damit man ihn nicht an den Ärmeln erkennen konnte (niemand konnte sagen, dass er keinerlei Voraussicht besaß), einen Schlauch mit Wasser, eines der wunderbaren Brote seiner Ziehmutter und ein bisschen Gold in der Tasche, und wusste nicht, wohin. Zurückgehen? Kam nicht in Frage. Niemand würde seine kurze Abwesenheit bemerkt haben und auch wenn niemand von seinem Weglaufversuch wusste, Spinell wollte vor sich selbst nicht versagen. Jetzt war er schon draußen, jetzt würde er auch gehen. Sturheit hatte ihn schon immer ausgezeichnet, sie musste ein Erbe seiner Mutter sein, denn sein Vater war zwar durchsetzungsfähig, aber wenn er wusste, dass etwas sich für ihn nicht lohnte, gab er nach. Außerdem interessierte es ihn wirklich. Wie Xjunta wohl außerhalb der Mauern der Villa des Hohen Hauses Vega-Ban aussah? Spinell traf seine Entscheidung. Ohne einen Blick zurückzuwerfen trat er aus dem Schatten der Tür in die weiche Morgensonne hinaus, wandte sich der Straße zu und begann zu laufen. *** „Die Stadt ist im Aufruhr“, sagte Kameens Vater während er langsam an seiner Tasse Tee nippte. Seine Frau rührte in einem Topf auf dem Herd und nickte. „Du hast Recht. Die Menschen protestieren jetzt schon mehr als eine Woche lang – das gemeine Volk zumindest. Die Oberen Vier und die Mittleren Familien scheinen es doch tatsächlich immernoch zu schaffen, die Augen gänzlich vor ihrem Elend zu verschließen. Die Straßen sind nicht mehr sicher.“ „Warum nicht?“, rief Saphira, Kameens kleinste Schwester. „Weil die Rebellen überall auf Wächter lauern und auf Angehörige der Mittelschicht, die alleine unterwegs sind“, erklärte der ihr. „Stimmts?“ „Hm-Hm.“ Sein Vater liess die Rolle Pergament sinken, die er bis gerade noch gelesen hatte. „Ihr solltet nicht mehr auf die Straße gehen, du und deine Mutter. Es könnte wirklich gefährlich werden.“ „Aber was wollen die Libellen denn, Papa?“ „Nicht Libellen, Rebellen, Saphira. Sie fühlen, dass sie ungerecht behandelt werden. Sie dürfen kein Wasser mehr aus den Brunnen holen und sie haben kein Geld, um welches bei den Händlern zu kaufen.“ „Das ist ungerecht!“ „Das ist es wohl.“ Für einen Moment war es still, als die Familie ihren Gedanken nachhing. Dann sah das Familienoberhaupt auf. „Kameen, könntest du einen Kräutertee für die Ra-Cria in den Palast bringen? Ich habe die neue Mischung zusammengestellt, nach der sie gefragt hat." „Hältst du das für klug?“, mischte seine Frau sich ein. „Du hast gerade selbst gesagt, wir sollten nicht nach draußen gehen.“ „Keine Sorge, Mutter“, sagte Kameen beruhigend. „Ich komme klar. Ich kenne einige Schleichwege zum Palast. Und ich weiß mich zu verteidigen. Nur im Falle eines Falles.“ Aber seine Mutter war noch nicht überzeugt. Ihr Mann beendete die Diskussion schliesslich: „Kameen, zieh dir etwas Unauffälliges an, eine Tunika ohne Symbole, wenn ich bitten darf. Sei vorsichtig, wenn du draußen bist. Die Prinzessin bekommt ihren Tee, ob wir wollen oder nicht. Und jetzt geh, solange der Tag noch jung ist.“ Kameen ging. *** Die junge Frau, die sich in den Schatten hinter der Säule drückte, war nicht älter als 18. Sie trug ein feingeschnittenes, ausgeschmücktes Kleid, welches ihren zierlichen Körper betonte, einen goldenen Armreif um ihr rechtes Handgelenk und einen Schleier in ihrem Haar. Als Tochter des Rah-Ten war Medusa es gewöhnt, solche Kleider tragen zu müssen. Sie hatte sogar gelernt, sie zu mögen und sich trotz Spitze und Glöckchen so lautlos zu bewegen wie eine Wüstenkatze. Viele Söhne der Obersten Vier starrten sie mit offenem Mund an, wenn sie lautlos und starr an ihnen vorbeischwebte. Aber im Moment dachte Medusa nicht an Kleider. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf den Mann vor ihr gerichtet, der mit dem Rücken zu ihr und mit dem Gesicht zur Delegation von Ministern vor ihm stand. Dieses Mal waren es die Abgesandten der Obersten Vier. „Ihr habt gesagt, Ihr hättet die Situation in der Stadt trotz der Zeit, die Wir Euch gegeben haben und trotz der Hilfe Unserer Wächter noch immer nicht unter Kontrolle?“ Die Stimme des Rah-Ten war tödlich still. Ein Mann in goldener Rüstung und einem edelsteinbesetzten Schwert trat vor, ein Schwert, das wahrscheinlich noch nie im Kampf benutzt worden war. „Höchster, wir haben unser Bestes gegeben, um die Rebellen zu beseitigen und das Volk zu beruhigen, aber sie werden immer wieder neu aufgestachelt. Sie fallen über die Brunnenhöfe her und schlagen alle Wächter, die ihnen in die Quere kommen, nieder. Es ist unmöglich, einzelne Wächter zur Verstärkung zu schicken, ihnen wird aufgelauert und sie bleiben gefesselt zurück! Es ist ein Wunder, dass diese Aufständischen noch keinen von ihnen getötet haben.“ Der Rah-Ten funkelte ihn bedrohlich an. „Es ist ein Wunder, dass Ihr bei Eurer Unfähigkeit noch nicht von den Rebellen überwältigt worden seid! Setzt euch endlich durch! Statuiert ein Exempel!“ „Aber Höchster!“ Ein anderer Minister trat zögerlich vor. „Es wäre taktisch sehr unklug, sich das gemeine Volk zum Feind zu machen. Wäre es nicht einfacher, in den Bestimmungen betreffend der Wasserversorgung ein wenig nachzugeben und ihnen zu erlauben, die Brunnen wieder nutzen zu dürfen? Auf diese Weise...“ „Wir wollen so etwas nicht hören!“ Der Rah-Ten hieb mit der Faust auf den Tisch, und seine Berater und Medusa fuhren zusammen. „Wir schließen keine Kompromisse! Wir dulden nicht, dass Unsere Autorität dermaßen in Frage gestellt wird! Wenn das gemeine Volk sich Uns widersetzt, werden Wir es strafen!“ Mit einem Herzen, so schwer wie Granit, zog Medusa sich lautlos zurück. *** Mit vorsichtigen Blicken nach links und rechts lief Kameen die Straße hinunter, immer in Richtung des sechseckigen Palastes, der, umgeben von einem Gewirr an Kanälen, in der Mitte Xjuntas lag. Eigentlich war es nicht überaus gefährlich, zum Palast zu müssen, denn Sirius-Bazaar war genauso aufgebaut wie alle anderen Stadtviertel der Wüstenstadt: Außen die Armenviertel, im zweiten Ring die Teile der Mittleren Familien, dann die Wohnviertel der Obersten Vier und im Innersten Kreis der Palast des Rah-Ten. Insgesamt gab es vier Viertel, benannt nach den von Alters her Obersten Vier: Vega-Bazaar, Sirius-Bazaar, Spica-Bazaar und Orion-Bazaar. Kameen entstammte der Familie D´un Jatcha von Sirius-Bazaar, es war also unschwer auszumachen, wo er lebte. Auf seinem Weg zum Palast durchquerte er lediglich die Teile der Mittel- und der Oberschicht des Viertels und nicht die der Unterschicht und diese Letztgenannten waren es schliesslich, in denen es am Gefährlichsten war, sich frei zu bewegen. Zielstrebig lief er auf die große Treppe des Palastes zu und wurde dort von Wächtern abgefangen. „Halt! Wer da?“ Stumm reichte Kameen ihnen seinen Passierschein und wartete geduldig ab, bis die Männer sich von seiner Echtheit überzeugt hatten. „Zur Vorsicht“, erklärte der Eine mit einem leicht verlegen wirkenden Lächeln, als sie mißtrauisch nach dem Symbol auf seinem Ärmel Ausschau hielten. Welches nicht da war, da er eine simple Tunika trug. „Vorsicht ist besser als Nachsicht“, sagte der Andere Wächter schliesslich mit zustimmendem Nicken und liess ihn herein. Der Palast war leer. Kameen lief durch die langen, hallenden Flure und Säle, die er meist schon kannte, und bis er an eine Tür kam, die eindeutig das Zeichen der Ra-Cria aufwies, eine silberne Mondsichel, umrahmt von dem Umriß der Stadt. „Merkwürdig“, sinnierte er im Laufen, während er die Tür hinter sich liess und einem weiteren, dunklen, hohen Flur ins Innere des Palastes folgte, schon so oft war er im Palast des Rah-Ten gewesen, aber noch nie in den Räumen der Prinzessin. Ebenso hatte er sie noch nie wirklich gesehen... Sie wurde im allgemeinen für ein scheues Mädchen gehalten, sie zeigte sich kaum in der Öffentlichkeit und so nahmen die üblen Schwätzer an, dass sie eine Entstellung oder Ähnliches hatte, was sie daran hinderte, sich dem Volk zu zeigen. Der Heiler hielt im Laufen Ausschau nach menschlichem Leben, Menschen, Dienern, Zofen, aber niemand zeigte sich. Die Ra-Cria lebte anscheinend nicht nur zurückgezogen, sondern ziemlich allein. Also hob Kameen am Ende des Flurs zögernd die Hand und klopfte an die große, verzierte Sandholztür. Als hätte jemand dahinter nur auf ihn gewartet, öffnete sich die Tür sofort um etwa eine Handbreit und ein Paar mißtrauischer Augen blitzten ihn an. „Ja?“ Bemüht, sich nicht zu erschrocken zu zeigen, schluckte Kameen, bevor er zu Sprechen ansetzte. „Ich soll eine Teemischung abgeben, welche die Ra-Cria bei meinem Vater bestellt hat. Sie ist heute fertig geworden.“ „Und wer ist dein Vater, wenn ich fragen darf? Der beste Giftmischer der Stadt?“ Kameen war sprachlos. Was... Waren alle Mädchen so vorlaut und unhöflich? Oder war sie eine vielgepriesene Ausnahme? Er hatte in seinem Leben noch nicht oft mit Frauen in seinem Alter zu tun gehabt, und er wollte es auch nicht anders haben. Sie waren eben doch nur anstrengend. „Mein Vater ist das Oberhaupt der Familie D´un Jatcha und der beste Heiler der ewigen Wüste. Er würde niemals versuchen, die Ra-Cria zu vergiften“, brachte er schliesslich steif heraus. Das Mädchen kicherte. „Schon gut. Ich habe dich schon oft hier gesehen, ich weiß, wer du bist.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die er dümmlich anstarrte. „Was ist?“, fragte sie und zog die Brauen hoch. „Gibst du mir den Tee oder nicht?“ Hastig reichte der junge Mann ihr die kleine Tüte. „Die besten Grüße an die Ra-Cria“, sagte er höflich und verbeugte sich mit zusammengefalteten Händen. „Werde ich ihr ausrichten“, sagte das Mädchen – und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Kopfschüttelnd machte Kameen sich auf den Rückweg durch das Labyrinth des Palastes. Wer das nur gewesen war?, wunderte er sich. Waren alle Frauen so anstrengend? Aber dann wandte er seine Aufmerksamkeit einem Ort zu, der sie viel nötiger brauchte als eine Zofe im Dienste der Ra-Cria: der Straße. Nicht, dass etwas geschah, das seiner Aufmerksamkeit bedurft hätte. Nun, bis zu seiner Haustür ging alles gut. Aber dann sollte das Chaos über ihn hereinbrechen. Genauer gesagt, Kameen D´un Jatcha befand sich in einer Seitenstraße des Sirius-Bazaars, keine 10 Meter von der Haustür seiner Eltern entfernt, als er das Geräusch hinter sich hörte. Blitzschnell drehte er sich herum, um herauszufinden, wer – oder was – sich hinter ihm befand – und sah sich plötzlich einer geschlossenen Mauer aus Jungen gegenüber, oder jungen Männern, der Kleidung nach zu schließen überwiegend aus den ärmeren Vierteln der Stadt. Der junge Heiler spannte seine Muskeln an – aber die Männer griffen ihn weder an, noch sagten sie etwas. Kurz musterte Kameen sie, kam zu dem Schluss, dass eine Konfrontation für ihn eher unliebsam enden würde, und drehte sich wieder der Richtung zu, in die er bis vor Kurzem gegangen war. Doch auch vor ihm standen plötzlich, wie aus dem Sand gewachsen, dunkle Gestalten. Kein Entkommen möglich. *** Nicht nur Kameen sah sich gerade einer ziemlich ausweglosen Situation – im wahrsten Sinne des Wortes ausweglos – gegenüber, denn auch Spinell hatte gerade mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Zwei Probleme, mit denen er sich gerade auseinandersetzte: Er wusste nicht mehr genau, wo er war. Er hatte sich hoffnungslos verlaufen. Als er am Morgen das Haus verlassen hatte, war es so früh gewesen, dass niemand auf den Straßen gewesen war, dann war der Mittag über ihn hereingebrochen und die Menschen hatten sich wieder zurückgezogen. Er war der Einzige, der zu dieser Zeit unterwegs war. Zuerst war er einer vagen Karte in seinem Kopf gefolgt, die aus der Zeit stammte, in der er die Umgebung des Hauses der Familie Vega-Ban hatte auswendig lernen müssen, dann hatte er sich im Strom der Menschen treiben lassen. Die Straßen waren viel verwinkelter, als die oberflächlichen Karten der Bibliothek der Vega-Ban hatten vermuten lassen. Natürlich hätte er sich erkundigen können, wo er sich befand – aber andererseits: wer traute einem jungen Mann, der sich erkundigte, in welchem Viertel der Stadt er sich befand – erst Recht, wenn es in der Stadt nur vier Viertel gab? Man würde ihn für verrückt erklären. Also machte Spinell sich wieder auf seine Wanderung, ziellos. Richtungslos. Aber der zweite Grund war wohl noch viel problematischer. Sechs junge Männer, dem Aussehen nach nicht aus dem besten Teil des Viertels (welches Viertel es auch immer war), hatten ihn umstellt. „Na, Kleiner?“, höhnte einer und spielte damit auf Spinells nicht gerade herausragende Körpergröße an. Zumindest nicht herausragend im Vergleich zu den Männern, die ihm umringten. Spinell biss die Zähne zusammen. „So, wie du aussiehst, gehörst du sicherlich nicht hierher. Hast du dich verlaufen? Siehst aus wie diese hochnäsigen Diener aus dem Palast, die sich samt und sonders für was Besseres halten... Sollen wir dir helfen?“ Oh danke, nein, alles, nur das nicht. Auf die Hilfe solcher Hohlköpfe konnte er verzichten... Spinell überlegte fieberhaft. Das Wichtigste war, herauszufinden, wo er war. Dabei waren diese Sechs ein Hindernis – jedoch nicht so, wie alle denken würden. Er musste nur einen klaren Kopf bewahren. Als ob das so schwer wäre. Als ob er das nicht Tag für Tag hatte lernen müssen. Beinahe hätte der illegitime Sohn des Hauses Vega-Ban gegrinst. *** Die Wand aus Körpern trennte sich vor Kameen, als zwei junge Männer hindurchschritten. Bei ihrem Anblick atmete Kameen scharf ein. „Ihr!“ Der Kleinere von Beiden, derjenige, der Kameen auf dem Brunnenplatz umgerannt hatte, lächelte freundlich. „Hallo. Freut mich, dich wiederzusehen.“ Der Zweite nickte nur. Es war der junge Mann, den Kameen auf dem Brunnenplatz das letzte Mal gesehen hatte, wo sie beinahe gegeneinander gekämpft hatten und der junge Heiler entkommen war. Er seufzte. „Sagt ihr mir wenigstens, wer ihr seid?“, erkundigte er sich. Der Große, Braunhaarige trat vor. „Ich bin Pyroxen vom Orion-Bazaar. Und das...“ Er deutete auf den Kleineren, „Ist Zirkon. Vom Spica-Bazaar.“ „Kameen“, sagte Kameen und verweigerte aus Sicherheitsgründen seinen Familiennamen, der seine soziale Stellung zusammen mit seiner Familie preisgegeben hätte. Wie es sich herausstellte, war das gar nicht nötig. „Kameen D´un Jatcha vom Sirius-Bazaar, fast 20 Jahre alt.“ „Ihr wisst eine Menge über mich.“ „Klar!“ Zirkon strahlte ihn an und er kam nicht umhin zu denken, dass sie ihm vielleicht doch nichts Böses wollten. „Wir haben so unsere Quellen.“ „Zirkon!“ „Schon gut. Ich bin still. Absolut still.“ Pyroxen, der offensichtlich das Sagen hatte, wandte sich wieder Kameen zu. „Du warst letztens zu einer sehr ungünstigen Zeit an einem sehr ungünstigen Ort.“ „So kann man es auch sagen“, antwortete der Heiler ironisch. „Es war der Brunnen, der am nächsten zu uns lag, und mein Vater brauchte das Wasser dringend. Es war schlecht, dass ich in euren Streit hereingeraten bin. Eine schwangere Frau wäre beinahe gestorben.“ „Das ist traurig zuhören.“ Pyroxen sah wirklich so aus, als ob es ihm Leid täte. „Hat sie es überlebt?“ „Ja“, sagte Kameen trocken. „Aber nicht dank euch.“ Der Anführer der Rebellen sah in die Ferne. „Im Krieg gibt es immer unschuldige Opfer.“ „Wir befinden uns nicht im Krieg“, sagte Kameen scharf. Wie konnte dieser Grünschnabel – er war nicht einmal älter als er selbst – so erfahren von Krieg sprechen, von Opfern, die erbracht werden mussten? „Und wir haben nichts mit eurem Streit mit dem Rah-Ten zu tun. Wir wollen nichts mit ihm zu tun haben. Ihr lebt euer Leben, wir haben unseres, ja? Zieht uns nicht in eure Angelegenheiten.“ Die Ruhe und Freundlichkeit waren plötzlich von Zirkons Gesicht verschwunden wie die Sonne in der Nacht vom Himmel, und wütend funkelte er Kameen an. „Es geht euch nichts an, ja? Natürlich nicht! Ihr gehört ja auch zu den Mittleren Familien, euch geht es ja auch gut! Ihr habt Geld und Macht und Ansehen, ihr habt Wasser! Ihr braucht nicht zuzusehen, wie eure Geschwister allen Lebensmut verlieren, weil sie am Verdursten sind, wie eure Eltern verzweifeln, weil sie weder Geld für Wasser noch für Medikamente haben, wenn eines ihrer Kinder einmal krank ist! Das Leid der Armen geht euch nichts an, ihr wollt nicht in ihre Probleme mit hineingezogen werden! Ihr verschließt die Augen und tut so, als wärt ihr Märtyrer!“ „Hey, Zirkon.“ Pyroxen legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er drehte sich mit bebenden Schultern weg. Kameen schwieg betroffen. Dieser Ausbruch – er kam aus der Tiefe des Herzens des jungen Mannes, aber er hätte nicht sagen können, ob die Verzweiflung nun auf eine bestimmte Person bezogen war oder auf das Leid in seiner Welt im Allgemeinen. „Siehst du?“ Pyroxen wandte sich wieder ihm zu. „Den Menschen geht es schlecht. Sie leiden, während ihr, die Oberschicht, die Ach so tolle, und der Rah-Ten alles haben, was sie sich nur wünschen können. Das Leben in Xjunta ist nicht einmal halb so einfach wie ihr denkt, wenn man keinen Titel und kein Geld hat. Und das Schlimmste ist: Der Rah-Ten, der die Verantwortung für all die Menschen in seiner Stadt übernommen hat, den kümmert es nicht das Geringste, wenn alle Menschen in den Armenvierteln sterben! Das ist aber seine Pflicht, deshalb wurde er gewählt, und deshalb müssen wir etwas unternehmen.“ Er presste die Lippen zusammen und sah über die Schulter. Hinter ihm standen, mit ernsten, verhärmten Gesichtern, junge Männer, und jedem Einzelnen war das Leid anzusehen, das sich in ihre Züge eingegraben hatte, das Leid, welches sie verspürten, seit der Rah-Ten begonnen hatte, sich weniger und weniger um die Armen seines Volkes zu kümmern. Kameen konnte sich nicht helfen: er verspürte den Drang, ihnen helfen zu wollen. Er hatte keine Lust, in diese Rebellion hineingezogen zu werden, überhaupt keine, er wollte auch nicht in die Angelegenheiten des Unteren Volkes hineingezogen zu werden. Aber es musste doch etwas geben, das er tun konnte, ohne allzutief in ihren Angelegenheiten zu versinken. Er seufzte wieder tief auf. „Zirkon?“ Beim Klang seines Namens drehte der Angesprochene sich um und versuchte, das Lächeln wieder auf seine Züge zu bringen. Es misslang kläglich. „Ist jemand in deiner Familie krank?“ Der junge Mann nickte. „Meine Schwester.“, sagte er leise, ohne Kameen anzusehen. Der holte tief Luft. „Bringt mich zu ihr. Vielleicht kann ich ihr helfen?“ Er liess es wie eine Frage klingen, aber Zirkon klammerte sich sofort daran wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. „Wirklich?“ In seiner Stimme klang so viel Hoffnung, dass Kameen nickte, ohne überhaupt zu wissen, was das Mädchen denn hatte. „ich müsste aber erst ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen“, schränkte er ein. „Ha!“ Pyroxen sprang vor und packte ihn am Kragen seiner Tunika. Kameen spielte mit dem Gedanken, ihm eine zu scheuern dafür, dass er ihn berührt hatte, aber er machte dieses Mal eine Ausnahme. „Um deinen Eltern und den Wächtern Bescheid zu sagen, ja? Für wie doof hältst du uns?“ Kameen sah ihn ruhig an. „Ich habe auch eine Schwester“, sagte er knapp. „Ich werde euch nicht verraten, mein Ehrenwort drauf. Ich gehe rein und hole eben meine Sachen, meine Eltern werden keinen Verdacht schöpfen. Ich gehe oft Kranke in anderen Vierteln besuchen. Bringt mich zu seiner Schwester, ich werde sehen, was ich für sie tun kann, und dann sind wir quitt.“ Schon eine ziemlich lange Rede für den sonst so wortkargen Heiler. „Gut“, sagte Pyroxen zögernd und liess ihn wieder los. Kameen überlegte, ob er sein Angebot wieder zurücknehmen wollte. Er hatte das Gefühl, dass da noch etwas war, etwas Tieferes, Gefährlicheres, und wenn er sich jetzt auf die Rebellen einließ, würde er genau dort enden, wo er nicht hinwollte. Aber das schob er beiseite. Jetzt galt es erst mal, sich um dieses kranke Mädchen zu kümmern. „Ihr habt bei mir nichts gut.“ Und dann lief er hinein, um seinen Beutel zu holen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)