Der wahre Charakter von gluecklich (Metzeln ohne Plot) ================================================================================ Ein Racheakt ------------ Sie standen zu dritt an der Ampel vor dem Gutenberg-Gymnasium. Er, sie und sein Hund. Sie konnte von niemandem wirklich gesehen werden, doch ihm wurden hin und wieder neugierige – oder argwöhnische – Blicke geschenkt. Man sah hier nicht oft einen Mann in Anzug, weißen Handschuhen und Zylinder und mit einem Schäferhund, der ihm sitzend fast bis zur Schulter reichte. Jemanden wie sie sah man auch nicht oft, aber das lag daran, dass man das nur tat, wenn sie es wollte. Sie war der Geist der verstorbenen Samantha Donahue und noch immer bereitwillig für den ein oder anderen Racheakt zu haben. »Da kommen sie«, sagte er. Sie nickte bloß und beobachtete stumm, wie Micha und Alex mit einiger Entfernung zu einander aus dem Schulgebäude trampelten. Kaum vor dem Tor angekommen, blieb Alex stehen um eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Tasche zu fischen, während Micha damit beschäftigt war, zu prüfen, ob seine Jeans noch da steckte, wo sie stecken sollte: in den Tennissocken. Samantha rümpfte die Nase. »Gott, ich hasse solche Leute«, murmelte sie. Er grinste. »Hass ist so ein schweres Wort… Wen willst du?« »Den Raucher. Ich hab Pläne für seine Lunge.« »Alles klar. Dann nehm ich den … Adonis da.« »Meine Güte, Tamias! Hör auf damit, das ist gruselig. Er ist hässlich.« »Ich werd mir Mühe geben, ihm das beizubringen.« »Schön… Und warum tun wir uns das noch mal an?« »Och, Sammy, sei nicht so griesgrämig. Sids Freundin hat Geburtstag und sie hat uns darum gebeten.« »Die zwei sind aber Idioten…« »Deshalb machen wir das doch. Also, komm schon. Hol ihn dir. Dann ist er die längste Zeit ein Idiot gewesen.« »Jaah. Schon gut. Bis nachher.« »Viel Spaß, Sammy.« Sie grinste und tätschelte seinem Hund den Kopf. »Danke, werd ich wohl haben. Dir auch.« Ihr halbtransparenter Körper löste sich in Luft auf; sie verschwand. Wenige Sekunden später stakste Micha geradewegs an Tamias vorbei. Der Hund murrte leise und sah ihm nach. »Geduld, Inferno«, schmunzelte Tamias. »Du darfst gleich.« Mit einem matten Stöhnen kam Alex wieder zu sich. In den ersten Momenten hielt er die Augen geschlossen, versuchte sich zu erinnern. Er war von der Schule nach Hause gefahren… Er hatte geraucht, war mit der Bahn gefahren, hatte weiter geraucht. Er war vor der Haustür angekommen und hatte nach seinem Schlüssel gekramt. Und dann? Dann war alles schwarz. Alex stieß einen leisen Fluch aus. Noch mal von vorn, sagte er sich. Wo bin ich? Er versuchte um sich zu tasten, musste allerdings feststellen, dass er seine Arme jeweils kaum mehr als fünf Zentimeter bewegen konnte – und sie waren offenbar zu seinen Seiten ausgestreckt. Seine Wahrnehmung kippte um neunzig Grad. Er hatte angenommen, am Boden zu liegen, jedoch schien er senkrecht an einer Wand zu hängen. Erneut versuchte er, sich zu bewegen. Kettenrasseln. Alex runzelte die Stirn. »Was zum…« »Würdest du die Augen öffnen, würde diese Frage vielleicht entfallen.« Er erschrak derartig, dass seiner Kehle ein ersticktes Fiepen entwich und er augenblicklich die Augen aufriss. »Na also. Kluger Junge. Und jetzt sieh dich um und stell dir die Frage noch mal.« Alex gehorchte. Zaghaft ließ er den Blick schweifen. Er verzog das Gesicht; mit jeder Sekunde wuchs seine Verwirrung paarte sich – wie immer – mit Aggression. Der Raum vor seinen Augen lag im Halbdunkel und schien völlig leer zu sein. Die Wände waren aus bröckelndem Beton und müffelten. Und seine Arme, das regte ihn am meisten auf, waren mit Eisenketten daran befestigt. Seine Fußsohlen berührten gerade so den Boden; der Großteil seines Gewichtes hing an seinen gefesselten Handgelenken. Angespornt von diesen Eindrücken folgte er auch dem zweiten Teil der Aufforderung: »Was zum Teufel?« »Herrgott!« Er fuhr zusammen, beim erneuten Klang der körperlosen Stimme, und stieß einen weiteren unsittlichen Fluch aus. In der nächsten Sekunde ertönte ein lauter Knall und direkt vor ihm entstand ein Wirbel aus Grautönen. Alex hatte noch Zeit, zu einem erneuten »Was zum?« anzusetzen, bevor sich aus den blassen Farben eine Gestalt bildete. Die dunklen Augen Samantha Donahues funkelten ihn an, ihre Arme waren verschränkt, ihr auf dem Stand einer Zwölfjährigen stehen gebliebener Körper schwebte mehrere Zentimeter über dem Boden, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Ihre Stimme war tief, klar und deutlich genervt: »Könntest du bitte damit aufhören?« Perplex starrte Alex ihr entgegen, Ich sollte weniger rauchen, schoss es ihm durch den Kopf; er bewegte kurz stumm die Lippen, bevor er stammelte: »Was… Wer… Was soll das?« Sam seufzte. »Hör auf, zu fluchen, und hör auf, so blöde Fragen zu stellen. Wenn du ein bisschen Geduld hast, erklär ich dir vielleicht alles.« Doch Alex hörte sie kaum. Immer stärker steigerte sich seine Irritation in Wut, er knurrte auf und zog an den Ketten (Rasseln); »Was – soll – das?«, bellte er. »Lass mich hier runter, verdammt! Für wen hältst du dich?« Mit einem leisen Aufstöhnen schüttelte Samantha den Kopf. »Pass auf, Alex. Versuchen wir doch mal ein wenig, klar zu denken. In Wirklichkeit willst du doch fragen, wer ich bin, und weshalb ich dich hier her gebracht habe, richtig?« Alex weigerte sich, darauf zu hören; er wand sich weiter (Kettenrasseln), stierte sein Gegenüber aufgebracht an. »Was sollen diese verfluchten Ketten?« Sie gluckste und schnipste dagegen (Rasseln). »Die sind hübsch, oder? Hab ich in Sids Keller gefunden.« »W-…« Ihre gleichgültige Stimme brachte Alex zunehmend aus dem Konzept. »Wer ist –?« »Sid? Ach, wahrscheinlich kennst du sie nicht mehr. Sie erinnert sich noch gut an dich. Sie hat eine Freundin, die dir geläufig sein dürfte. Und die hat mich gebeten, mich ein wenig um dich zu kümmern.« »Wa-Was? Um mich kümmern?« »Ja, genau. Du hast dich bei ihnen nicht gerade sonderlich beliebt gemacht, weißt du.« »Bei wem?« »Och, hör doch mal zu. Die zwei sind bei dir auf der Schule und du hast ihnen das Leben dort nicht gerade einfach gemacht.« »Ich – was? Ich hab gar nichts gemacht!« Samantha verdrehte die Augen und brummte leise. »Ich versteh schon… Das dachte ich mir fast; ich kenne Leute wie euch. In der Öffentlichkeit pöbelt ihr rum und gebt an mit dem, was ihr tut. Aber wenn man euch direkt darauf anspricht, wollt ihr plötzlich die Unschuld in Person sein.« »Verdammt, ich hab wirklich –« Alex’ erneuter Einwand wurde unterbrochen, als Sam ihre Hand auf seinen Mund drückte. »Schhht«, machte sie; erschrocken durch die eiskalte Berührung des Geistes verstummte Alex tatsächlich. Sie lächelte zufrieden. »Gut. Man muss wissen, wann es reicht.« Geduldig hob sie die Hand wieder und schob sie in eine Tasche ihrer schneeweißen Hose. »Rauchst du, Alex?« Er schaltete direkt wieder auf Angriff. »Ja – und? Was dagegen?« Sammy lachte. »Na, ganz und gar nicht. Dein steigender Zigarettenkonsum kommt mir sehr zugute, wie du dir vielleicht vorstellen kannst – immerhin schadet er dir.« Stirnrunzelnd holte Alex Luft, wollte etwas antworten, jedoch wurde er ein weiteres Mal jäh unterbrochen. Samanthas Hand bohrte sich in seinen Brustkorb. Ihr toter, halbtransparenter Arm drang in seine Lunge wie durch Butter. Augenblicklich hielt Alex die Luft an, entsetzt starrte er an sich herunter, zu dem Ellenbogen, der gerade noch aus seinem Körper herausragte. In einem heiseren Keuchen entwich letzter Atem aus seinem weit geöffneten Mund. Ihr Lachen ließ ihn erschaudern. »Wie fühlt sich der Tod an, Alexander?«, raunte sie. »Wie fühlt es sich an, seine letzte Luftreserve herauszupusten wie Zigarettenqualm? Wie fühlt es sich an, zu sterben?« Sie bewegte ihren Arm in ihm, öffnete und schloss die Faust, während Alex entsetzt zuschaute, den Mund weit geöffnet, und nach Luft japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Lähmende, feuchte Kälte teilte sich in seinen Lungenflügeln aus, paralysierte seine Muskeln, hinderte ihn daran, noch einen einzigen, vollen Atemzug zu tun. Nur langsam zog sie ihre Hand zurück, hinterließ ein krampfendes Schaudern in seinem Innern und einen feinen Schweißfilm auf seiner Haut. Alex holte röchelnd Luft, wie eingerostet begann sein Brustkorb, sich langsam wieder zu heben und zu senken. Sam schüttelte die Hand kurz aus und schob sie zurück in ihre Hosentasche. »Dein Umfeld ist genervt von deiner Raucherei«, sagte sie sachlich. »Ständig deine Ausdünstungen einatmen zu müssen, macht keinen Spaß, stell dir vor. Ich weiß, dass dich das nicht interessiert. Ich weiß, dass dich herzlich wenig interessiert – und genau deshalb sind wir heute hier. Hast du Leuten absichtlich geschadet, Alex? Sie verärgert? Sie gestört? Sie verletzt?« Er begann, den Kopf zu schütteln. Samantha schmunzelte kurz. »Und damit wären wir beim springenden Punkt. Du bist blind, mein Guter. Du übersiehst, was du tust; weil du es übersehen willst. Du hast ziemliche Scheiße gebaut. Oft. Aber du bist nicht daran Schuld, nicht wahr? Du kannst nichts dafür, dass man dich so sieht, du wirst ständig furchtbar fehlinterpretiert, du bist gar nicht der, für den dich alle halten, hm?« Perplex stierte Alex sie an, noch immer unfähig eine Silbe über die Lippen zu bringen, doch in seinen Augen blitzte die Hoffnung auf, doch noch von diesen Ketten erlöst zu werden. Sam beugte sich näher zu ihm und senkte die Stimme. »Soll ich dir sagen, wer du wirklich bist? Soll ich dir sagen, was du wirklich bist?« Sie hielt inne, gab ihm Zeit, ihr zuzustimmen; dann näherte sie sich weiter, bis ihr Mund direkt neben seinem Ohr war. »Du«, raunte sie langsam, »bist ein Arschloch.« Einen Augenschlag später stand sie meterweit von ihm entfernt an der gegenüberliegenden Wand. »Ich möchte noch ein letztes Mal auf das Rauchen zurückkommen«, sagte sie. Für Alex klang sie dumpf und weit weg. »Früher oder später wirst du von Teer verseucht werden; uns ist früher natürlich lieber… Dieser Raum wird sich deshalb gleich mit heißem Teer füllen…« Sie grinste. »Vielleicht federn wir dich danach ja auch noch. Das wirst du dann allerdings nicht mehr erleben… Jetzt wird erst mal geteert, dafür lass ich dich alleine. Noch irgendwelche letzten Worte?« Verständnislose, wässrige Augen starrten sie an, Alex öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Samantha zuckte mit den Schultern. »Vermutlich besser so«, sagte sie noch. Sie verschwand geradewegs durch die Wand. Micha wusste nicht, ob es der pochende Schmerz zwischen seinen Schläfen war, der ihn geweckt hatte, oder dieses penetrante Piepen. Er drehte den Kopf in den Nacken, stöhnte langgezogen, und versuchte, sich an die Stirn zu greifen. Raue Seile schnitten eng in seine Handgelenke. Micha blinzelte, rasch senkte er den Kopf wieder, blickte an sich herunter. Er saß auf einem hölzernen Stuhl, der Boden unter ihm war ebenfalls aus Holz; morsch, mit Moos bewachsen; seine Hände waren offenbar hinter der Rückenlehne gefesselt. Ein Schwall Übelkeit überkam ihn, er gab ein ersticktes Fiepen von sich, als er im Augenwinkel schemenhaft eine Person entdeckte. Sein Kopf hob sich so schnell, dass ihm sekundenlang schwindelig wurde. Mühsam schluckte er eine Welle seines Mageninhalts herunter, schwarze Punkte ploppten vor seinen Augen auf, bevor er endlich sein Gegenüber erkennen konnte. Ein kleiner Tisch stand an der Wand; Micha konnte nicht ausmachen, was auf ihm lag, da die Gegenstände vom Schatten des Mannes verdeckt wurden, der auf der Kante saß. Er war groß, trug einen Anzug mit Zylinder, aus der Gesäßtasche seiner Hose ragte ein Paar weißer Handschuhe; er hielt ein Handy zwischen seinen Fingern. Das ist meins, dachte Micha, wollte das aussprechen, doch seine Stimme versagte mit einem trockenen Krächzen. Der Mann legte den Kopf schief, drückte noch einige Male auf denselben Knopf, bevor er aufsah. »Also«, sagte er langgezogen, »es ist mir unbegreiflich, wie man ganze sechzig Fotos von sich selbst schießen kann. Hast du nichts Besseres mit wertvollem Speicherplatz zu tun?« Fassungslos starrte Micha ihn an, seine Gedanken überschlugen sich, mehrmals öffnete und schloss er den Mund, bevor er mühsam hervorbrachte: »Wer…?« Er grinste, schielte erneut zwischen Micha und seinem Handy hin und her. »In verängstigtem Zustand siehst du ganz anders aus. Na ja, ich schätze, du wolltest fragen, wer ich bin.« In einer flüssigen Bewegung legte er das Handy auf den Tisch und rutschte zu Boden. Er deutete eine kleine Verbeugung an, lüpfte dabei seinen Zylinder, und ließ Micha nicht aus den Augen. »Mein Name ist Tamias… Ich bin dein Richter.« Micha keuchte, er spürte, wie sein Unterkiefer zitterte. »Was passiert hier?« Er brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande, seine Stimme war heiser und kratzig. »Hier«, sagte Tamias langgezogen, »passiert etwas ganz Einfaches. Ich tue mehreren Leuten einen Gefallen. Einschließlich dir.« Einige Sekunden lang musterte er Michas fragenden Blick, dann lachte er und fischte ein Klappmesser aus der Hosentasche. »Mir wurden Beschwerden über dich eingereicht, also hab ich mir dich mal näher angesehen. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir dringend miteinander reden sollten.« Michas Blick haftete wie paralysiert am Messer; ein feiner Schweißfilm bedeckte seine Stirn, nach Sekunden fiel ihm auf, dass er die Luft anhielt. Flach und zitternd atmete er ein. Ihm war schwindelig, er versuchte, Tamias’ Worte nachzuvollziehen, doch in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. »Wer bist du?«, hauchte er. »Was heißt das?« Tamias seufzte, doch direkt darauf musste er glucksen. »Leute wie dich hab ich wirklich gern hier sitzen«, murmelte er. Gemächlich zog er einen zweiten Stuhl heran und hockte sich darauf, um mit Micha auf Augenhöhe zu sein. »Vorhin hab ich dich noch aus der Schule kommen sehen, da hast du geschubst und rumgepöbelt und gelacht über Leute, die du gesehen hast. Und jetzt sitzt du hier, zitternd und flennend, nicht mehr Herr über dich selbst, sondern nur noch Opfer der eigenen Angst.« Mit einem schiefen Grinsen schüttelte er den Kopf, ließ das Messer aufschnappen. Das Geräusch zerfetzte die kurzweilige Stille wie die Klinge selbst; Micha fuhr deutlich zusammen. Das kalte Metall näherte sich langsam seinem Gesicht, bis seine breite Seite sich gegen sein Kinn presste wie Eis. »Sag mir, wovor du dich fürchtest, Micha«, raunte Tamias. Michas Sicht verschwamm. Das Messer knapp unter seinen Lippen schien ihn bereits jetzt zu verletzen, sein Körper war so verkrampft, dass jede Faser seiner Muskeln schmerzte. Sekundenlang starrte er bloß in Tamias’ bleiches Gesicht, vergaß zu blinzeln, vergaß zu antworten. Sag ihm, wovor du dich fürchtest, wiederholte sein Verstand. Wer weiß, was er sonst tut. Er holte Luft, setzte an, etwas zu sagen, verstummte aber. Wovor fürchtete er sich? »Ich… Ich«, brachte er mühsam hervor, »will nicht sterben.« Tamias grinste, so boshaft, dass sich Micha mehrmals schütteln musste. »Das möchte niemand, der hier sitzt… Jedenfalls nicht am Anfang. Nein, du hegst noch eine Angst. Eine Angst, die so tief in dir sitzt, die sich so sehr in deinem Alltag verankert hat, die dich so sehr beherrscht, dass sie deinem Bewusstsein bereits gar nicht mehr auffällt. Doch was auch immer du tust, du hast Angst – denk nach, Micha: wovor?« Panik kroch in sein Gehirn, er hyperventilierte, suchte vergeblich nach einer passenden Antwort, schüttelte verzweifelt den Kopf. Tamias schmunzelte und hob die Schultern. »Dann werde ich es dir eben zeigen«, sagte er leise. Langsam schob er die Messerklinge zwischen Michas Lippen, woraufhin Micha mit einem Mal völlig still hielt. »Egal, wo du bist, egal, womit du dich beschäftigst, eines lässt dich nicht los. Du wirst gesteuert von der Angst…« Die Klinge durchtrennte die empfindliche Haut seines linken Mundwinkels; Tamias wendete das Messer; Micha rührte sich nicht. »…dein Gesicht zu verlieren. Dein ganzes Leben folgt der Angst…« Die Klinge durchtrennte die fleischige Haut seines rechten Mundwinkels; Tamias entfernte sie und wischte das Blut geduldig an Michas Kehle ab; Micha rührte sich nicht. »…entstellt zu werden.« Das zugeklappte Messer verschwand in seiner Hosentasche, während er sich aufrichtete und den Stuhl lautlos zurück ins Dunkel schob. Er wandte sich kurz ab, um einen Vorschlaghammer vom kleinen Tisch an der Wand zu nehmen, blickte dann mit einem fast kindlichen Lächeln zwischen ihm und seinem Opfer hin und her. »Weißt du, was das ist, Micha?« Als er keine Antwort bekam, verdrehte Tamias die Augen. »Oh, komm schon«, sagte er gedehnt und hielt ihm das Werkzeug direkt vor die Augen. »Ich weiß, dass du Angst vor mir hast, aber so schwer war die Frage nun wirklich nicht. Du kennst das Teil hier doch, na los.« Micha starrte fassungslos am schwarzen Metall vorbei und hoch zu Tamias, zu dem Mann, der ihn hier gefangen hielt, offenbar völlig gestört war, und sich augenscheinlich schrecklich an seiner gedanklichen Lähmung erfreute. Beleidigungen lagen ihm seit Minuten auf der Zunge, Schimpfworte und Hilferufe warteten gleichermaßen darauf, endlich ausgesprochen werden zu dürfen, doch Michas sich duckende Vernunft siegte: Tu einfach, was er sagt. Er musste sich räuspern, um den Ansatz einer klaren Stimme wiederzuerlangen. »Das ist ein Hammer«, sagte er trocken. Tamias gluckste, hob die Hände, und damit auch den Vorschlaghammer, in gespieltem Triumph in die Höhe. »Richtig! Und weißt du auch, was man damit macht? Oh – warte. Bevor wir an deinen Überlegungen weitere Stunden kostbarer Zeit – meinerseits – vergeuden, will ich das schnell beantworten: Man zerschlägt Dinge. Willst du ein Beispiel?« Die Frage überraschte Micha, er blinzelte perplex, wollte den Kopf schütteln, doch Tamias, von Enthusiasmus gepackt, kam ihm zuvor: »Ich nenn dir eins. Knochen.« Die Welt verlangsamte sich und blieb schließlich stehen. Micha hatte den Eindruck, seinen Körper zu verlassen, stand neben sich selbst und sah in Zeitlupe, nicht ohne Faszination, dabei zu, wie der Hammer ihm immer näher kam. Zaghaft berührte er seine Nasenspitze, drückte sie geduldig immer weiter ein, bis Kinn und Stirn sich um ihn wölbten. Knirschend und knackend barsten seine Wangenknochen, Teile seines Schädels, jeder Zentimeter in seiner Nase zerfiel zu unbrauchbarem Pulver; während der Hammer sich wieder zurückzog, rieselten Zähne aus seinem Mund, gefolgt von immer dicker werdenden Blutstropfen. Außerhalb seines Körpers wollte Micha einen Arm ausstrecken, wollte dieses groteske Ballett der Körperinhalte festhalten, wollte diese unglaubliche Eleganz verstehen, die von ihm ausging. Dann setzte der Schmerz ein – und Micha wurde unsanft in sein eigenes Bewusstsein zurückgezerrt. Je weiter er die Lippen voneinander trennte, desto tiefer rissen die Wunden in seinen Mundwinkeln ein. Er nahm das Brennen darin kaum wahr, es vermischte sich lodernd mit der restlichen Pein, die er verzweifelt versuchte, herauszuschreien. Als seine Stimme sich überschlug, war die untere Hälfte seines Gesichtes komplett mit Blut bedeckt. Er wand sich, strampelte, warf den Kopf hin und her, bescherte sich selbst damit noch mehr Schmerzen, bis seine Stimmbänder aufgaben. Keuchend sank er in sich zusammen, ließ sich von den Fesseln auffangen; sein Kinn sank auf die Brust, verschwommen beobachtete er, wie Blut auf die Sitzfläche zwischen seinen Beinen und von dort aus auf den Boden tropfte. Tamias hatte den Hammer längst zurück auf den Tisch gelegt und hielt nun erneut Michas Handy in der Hand. Er musterte Micha kurz flüchtig, dann ließ er es fallen. Unbeeindruckt und still sah er zu, wie es am Boden zerschellte. Er stemmte die Hände in die Seiten und schüttelte tadelnd den Kopf. »Schlechte Qualität«, konstatierte er. »Da muss man nur ein klein wenig nachhelfen und schon zerlegt es sich in seine Einzelteile. Jetzt sind die ganzen hübschen Fotos verschwunden.« Er sah auf zu Micha, der nicht antwortete, aber immerhin den Kop fein wenig gehoben hatte, um ihn aus geweiteten Augen zu beobachten. Schmunzelnd schlenderte Tamias auf ihn zu und verschwand hinter seinem Stuhl, um die Fesseln zu lösen. Micha gab einen überraschten Laut von sich und hob seine Arme ruckartig nach vorne. Er rieb sich zitternd über die Handgelenke, führte langsam die Fingerspitze zu seinen Wangen. Bereits nach der ersten, flüchtigen Bewegung zuckte er derart zusammen, dass er vorwärts vom Stuhl rutschte und mit einem dumpfen Fiepen auf dem Hinterteil landete. Er keuchte, ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper, als Tamias wieder neben ihm erschien, blickte er hilflos zu ihm auf. Tamias grinste bloß schief: »Schön, jetzt bist du genau da, wo du hin solltest. Sieh mal, da vorn liegen die Reste deines Handys; ich hätte gern, dass du versuchst, es wieder zusammenzusetzen.« Entgeistert öffnete Micha den Mund zu einer stummen Frage, drehte den Kopf schwerfällig zu den Einzelteilen am Boden. Als Tamias nichts mehr hinzufügte, zog er sich steif näher zu ihnen. Einige Momente lang starrte er sie bloß an, unschlüssig. Was soll ich tun?, dachte er fieberhaft. Dumpf spürte er, wie Panik erneut seine Glieder schwächte. Was erwartet er von mir, meint er das ernst? Was bringt ihm das…? Hinter ihm erklang ein Räuspern. Micha fuhr zusammen und griff hastig die ersten zwei Splitter, die ihm in die Finger kamen. Nach einigem Blinzeln glaubte er, feststellen zu können, dass er das Display und die Hülle in den Händen hielt. Rasch drückte er beides ineinander, blickte sich kurz suchend um, bis er auch die Tastatur hinzufügen konnte. Er betrachtete voller Triumph den Beginn seines aufgetragenen Werkes, bis er aufsah und die restlichen Bausteine realisierte. Das ehemalige Innenleben seines Handys lag über den hölzernen Boden verteilt, darunter zum größten Teil technische Kleinteile, die er absolut nicht zuordnen konnte. Er ergriff irgendetwas, was passend wirkte, und drückte es zaghaft in die Hülle. Alles, was er hörte, war das stetige Röcheln seines Atems und das gelegentliche Geräusch tropfenden Blutes. Die Stille der Situation schien ihn zu erdrücken. Seine Finger zitterten wie Espenlaub, ratlos blickte er zwischen den Scherben seines Handys hin und her; er wusste nicht, wie er es wieder zusammensetzen sollte, er konnte das nicht, er hatte sich nie damit beschäftigt – er hatte sich nie damit beschäftigen müssen, warum auch? Warum in aller Welt sollte er ein Handy zusammenbauen, wenn er sowieso sterben würde? Ein trockenes Keuchen entwich seiner Kehle, er musste husten. Sterben. Er würde sterben. Langsam und lautlos ließ sich Tamias neben ihm nieder, setzte sich mit angewinkelten Beinen auf den Boden und sah ihm zu. »Funktioniert nicht, hm?«, sagte er leise. Kommentarlos, fast sanft, zog er ihm die wenigen Teile seines Telefons aus den Händen, warf sie achtlos von sich und schob auch die restlichen Bestandteile aus Michas Sichtweise. Stattdessen zog er einen Spiegel unter dem Tisch hervor und ließ ihn direkt vor seinen bebenden Händen liegen. »Sieh dich an.« Micha schluckte hörbar. Nur langsam, zögernd, beugte er sich immer weiter vor, bis er die Büste seiner selbst im Glas sah. Sein Haar klebte vor Schweiß. Wenige Strähnen hafteten an seiner weißen Stirn. Seine Augen waren schreckensgeweitet. Rote Äderchen zogen sich sie, ließen ihn verheult und verquollen wirken. Seine Nase war platt und zusammengefallen, wie auf seinen Wangen waren zwischen den Flecken getrockneten Blutes dunkelblaue Hämatome zu erkennen. Seine rechte Gesichtshälfte war verschoben, sie schien millimeterweit nach unten zu hängen, im Gegensatz zur linken. Seine Lippen waren aufgeplatzt und unförmig. Dahinter hätte er Zähne erkennen müssen, doch sie fehlten. Seine gesamte Kehle war bis zu seinem Hemdkragen dunkelrot verfärbt. Sein Spiegelbild schüttelte plump den Kopf. »Nein«, wisperte er. »Sieh dich an«, wiederholte Tamias. »Doch. Das bist du. Das ist dein Gesicht. Es ist dein Schweiß, dein Blut und es sind deine zertrümmerten Knochen. Das bist du, Micha. Du bist entstellt. Hässlich. Würde ich dich jetzt gehen lassen, könnte man in der Chirurgie mit Sicherheit noch etwas retten. Aber was würde zurückbleiben? Narben. Ein Trauma. Und noch mehr Angst. Du wärst noch immer entstellt. Noch immer hässlich. Wer würde dich dann noch ansehen wollen? Wer von deinen Freunden wäre dann noch bei dir? Hast du dir jemals Gedanken gemacht um das, was die Welt dir tatsächlich bieten könnte?« Micha wollte den Kopf heben, zu Tamias blicken, um ihn fragen zu können, was er damit meinte, doch er war zu fasziniert von seinem eigenen Bild. Er war zu fasziniert von diesen riesigen, dunkel umrandeten Augen, die ihn anstarrten, von diesen getrockneten Spuren aus Tränen, Schweiß und Blut, die von ihnen bis zu seinem Kinn führten, zu fasziniert von dieser unglaublichen Zerstörungskraft, die aus dem Teil seines Körpers strotzte, den er immer am meisten an sich selbst bewundert hatte. »Nein, das hast du nicht.« Tamias antwortete sich selbst, während er ihn schief lächelnd beobachtete. »Du hast dein Leben darauf beschränkt, so gut wie möglich auszusehen – und jeden, der das nicht getan hat, hast du verachtet. Immerhin ist das das Wichtigste in dieser Welt, nicht? Gutes Aussehen und klare, harte Werte. Und du hast es von allen am besten gemacht. Jeder, der nicht ist wie du, sollte am besten verbannt werden. Dicke Leute. Faule Leute. Uninteressante Leute. Homosexuelle Leute. Andere Leute. Hast du schon einmal von der Theorie des stänkernden Faschisten gehört, Micha?« »Nein«, nuschelte er leise, noch immer ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden. »Ich werde sie dir erklären.« Tamias grinste und räusperte sich. »Männer, die sich so massiv über Schwule beschweren, versuchen damit oft, ihre eigene Homosexualität zu vertuschen.« Micha schielte zu ihm. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sein Verstand brauchte einige Sekunden, um das Gesagte überhaupt zu verstehen. Tamias schmunzelte. Er griff den Spiegel und stand auf, um ihn zurück auf den Tisch zu legen. »Gut«, flötete er, »mit dir ist eindeutig nichts mehr anzufangen. Was hältst du davon, wenn wir dich jetzt erlösen?« Er bekam weiterhin keine Antwort, doch das störte ihn nicht besonders. »Ich halte viel davon. Es macht keinen Spaß, sich mit einem hässlichen, entstellten Jungen rumzuschlagen, der so traumatisiert von mir ist, dass er überhaupt nicht mehr reden kann oder will. Dafür hab ich den Job wirklich nicht gelernt. Aber dafür kannst du in den letzten Momenten deines Lebens noch mal richtig nützlich sein: Mein Hund hat Hunger. Inferno! Komm her, Inferno, na komm! Abendessen!« Das unverkennbare Geräusch schabender Krallen ertönte, als der übergroße Schäferhund hechelnd und schwanzwedelnd auf Micha zusprang. Ein letztes Mal verzerrte der Ausdruck unermesslichen Erschreckens seine Züge, bis sich große, messerscharfe Zähne in seine Kehle bohrten. Er öffnete den Mund zu einem letzten Schrei, doch mehr als ein gurgelnder Bach aus Blut konnte seinen Hals nicht mehr verlassen. Micha verendete angstzerfressen, zerfetzt und erbärmlich auf dem Boden einer Holzhütte im Wald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)