Hazard von Nievaris ================================================================================ Kapitel 2: Blut --------------- „Ist dir schwindelig? Oder schlecht?“, mit einem schnalzenden Geräusch zog sich Jack die Gummihandschuhe aus, stülpte sie ineinander und warf sie zu guter Letzt mit einem gekonnten Wurf in den Mistkübel. Anschließend glitt sein Blick zu der jungen Frau, die noch auf der Liege lag und sich erst nach und nach aufrichtete. Der junge Piercer wusste schon, warum er das fragte. Manchen wurde von der Aufregung her schlecht, andere vertrugen den Schmerz nicht. Wiederrum andere verneinten seine Frage erst, bevor ihnen dann doch etwas mulmig wurde. Die dritte Gruppe von Kunden verneinte die Frage und es blieb auch dabei. „Nein, geht schon...“, murmelte die junge Blonde, die sich als Felizitas vorgestellt hatte und ihren dünnen Pullover nun vollends über den Bauch zog. Und wieder ein Bauchnabelpiercing. Es war das Dritte an diesem Tag. Und dabei hatten sie erst seit wenigen Stunden geöffnet. Mit einer automatischen Bewegung griff Jack hinter sich und holte aus einer Box einen A4 großen Zettel, auf dem gedruckt stand, welche Art von Piercing man wie pflegte. „Wenn doch etwas sein sollte, was nicht so gehört, dann kommst du einfach wieder her oder rufst an, okay?“, er reichte ihr den Zettel. Mit einem stummen Nicken nahm sie ihn zur Kenntnis, faltete ihn einmal in der Mitte zusammen und stand anschließend auf. Es dauerte keine drei Sekunden, bis sie sich wieder auf die Liege setzte und dann doch etwas beschämend grinsend zu Jack blickte. „Willst du etwas Traubenzucker? Das hilft...“, leicht lächelnd stand er auf und holte aus einem nahegelegenen Behälter ein feinsäuberlich verpacktes Traubenzuckerstückchen. Das passierte eben manchmal und es brauchte auch niemandem peinlich sein, aber Jack fand es immer wieder amüsant, wie sehr sich die Menschen in dieser Hinsicht selbst belogen oder aber zu wenig auf ihren Körper hörten. Doch das konnte ihm ja eigentlich egal sein. Solange hier niemand zusammenbrach... Während Felizitas den Zucker auspackte und ihn in zwei Hälften brach, verließ Jack den kleineren Piercingraum und deutete der zweiten Frau an, dass sie den Raum betreten konnte, wenn sie wollte, um ihre Freundin zu stützten. Wenn es denn notwendig war. „Keine Sorge...es geht ihr gut. Nur ein wenig schwindelig...“, beruhigte er die brünette Dame, bevor er sich den Warteraum ansah. Inzwischen waren noch ein paar junge Leute dazugekommen, darunter ein Mann, den er bereits mehrmals gepierct hatte. Interessant, wie oft sich manche Menschen beim selben Piercer schmücken ließen. Mit einem Nicken begrüßte er Tom und machte sich dann daran, ein kurzes Formular auszufüllen. Eigentlich war er ja hauptberuflich Tättowierer, doch im Moment musste er auch den anderen Job erledigen, da die junge Frau, die ansonsten dieser Tätigkeit nachging, auf einem Seminar war und erst in wenigen Tagen wieder hier sein würde. Nicht, dass Jack etwas dagegen hatte, immerhin musste man sich bei ihm einen Termin für ein Tattoo schon Wochen vorher ausmachen – nur um sicher zu sein, dass man sich sicher war. Solche Kunst ging immerhin im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut und sollte wohl überlegt sein. Kurz nach neunzehn Uhr konnte er dann seine Wohnungstüre ins Schloss fallen lassen und sich entspannen. Eigentlich war es nicht wirklich ‚seine’ Wohnung, sondern eine Art Wohngemeinschaft. Entweder man benannte es so, oder aber man sagte, dass er sich mit einer Freundin auf einen Haufen geschmissen hatte. Sie wohnten zwar erst seit einigen Monaten zusammen, aber es war bisher noch nie zu einem sonderlich großen Streit gekommen. Natürlich gab es hin und wieder so was wie kleine Meinungsverschiedenheiten, da sie beide verschiedene ‚Lebensarten’ hatten. Sie waren beide Vampire. Denn mit einem Menschen zusammen zu leben würde eigentlich ein Problem sein. Dennoch hatten sie beide andere Vorstellungen, was zum Beispiel Sauberkeit anging. Während Jack seine Kleidung oder andere Sachen oft einfach liegen ließ, war Nyx darauf bedacht, gleich alles wegzuräumen und Ordnung zu halten. Es war nicht so, als ob sein Job sonderlich stressig war und doch gab es Tage im Monat, an denen er nicht wusste, wohin mit den Menschen, da der Warteraum scheinbar zu klein wurde – vor allem jetzt, da er alleine war. Normalerweise war es ganz anders. Denn normalerweise war die junge, schwarzhaarige Frau bei ihm, die ihrerseits die Menschen durchlöcherte und er, der sich ganz nach seinen Terminplan richtete und manchmal einen ganzen Nachmittag damit verbrachte, den Rücken eines Menschen zu verschönern. Etwas in Gedanken versunken legte er die Werbeprospekte auf einen kleinen Tisch neben der Eingangstüre. Die Wohnung war nicht unbedingt groß, aber sie war groß genug, um zwei erwachsenen Vampiren genug Platz zu bieten, ihnen den nötigen Privatraum bieten zu können. Eine Küche, ein Wohnzimmer – sogar samt Balkon mit Blick auf einen nahegelegenen Park, einem Bad und zwei Schlafräumen, die ungefähr gleich groß waren. Das Studio, dass sich Nyx und Jack gemeinsam gemietet hatte, um ihre beruflichen Träume verwirklichen zu können, wurde gegen Mittag aufgesperrt. Wer würde sich in der Früh denn schon piercen lassen? Außerdem konnten sie beide so die Nächte auch ein wenig länger werden lassen, ohne früh aus dem Bett zu müssen... Nicht, dass Vampire wirklich im Sonnenlicht verbrachten, dennoch war ihr Körper mehr darauf ausgelegt, in der Nacht aktiv zu sein und nicht so sehr in den Sonnenstunden. Ihre Augen wurden vom strahlenden Sonnenlicht allerdings leichter geblendet, als Menschenaugen, sowie sie auch schneller Sonnenbrand bekamen. Vielleicht konnte man auch davon ausgehen, dass Vampire chronische Sonnenallergiker waren? Jack hatte sich darüber bisher noch nie sonderlich genaue Gedanken gemacht. Es war eine Tatsache, der er sich hingeben musste. Genauso, wie dass er nicht in der Lage war, aus ‚normalen’ Nahrungsmitteln irgendeinen Nährwert für seinen Körper zu ziehen. Das war einfach nicht das, wofür er lebte. Auch wenn er sich ab und an geradezu dazu verführt fühlte, in der nahegelegenen Sushi-Bar Mittag zu essen. Zwar war er danach satt, aber nicht so, wie nach einem Liter Blut. Natürlich kein Menschenblut. Es war ihnen schon vor einer halben Ewigkeit verboten worden, sich an dem Blut von ihren Mitbewohnern zu vergehen, somit hatten sie angefangen, Viehzucht zu betreiben. Kühe. Schweine. Hühner. Es erfüllte seinen Zweck und dennoch überkam den jungen Vampir manchmal so etwas wie Eifersucht auf diese lykanische Brut, die es ihrerseits mit dem Nahrungshaushalt nicht so genau nehmen musste. Sie waren eben nichts anderes wie Tiere. Konnten sich ernähren, von was sie wollten, solange es nicht unbedingt vegetarisch war. Schnaubend und doch mit einem leichten Grinsen auf den Lippen ging Jack ins Wohnzimmer, drückte auf den ‚Power’-Knopf der Stereoanlage und bog anschließend in die Küche ein, holte sich aus dem Kühlschrank einen Beutel medizinisches Blut und legte ihn in die Mikrowelle. Die Stadt, in der er sich dieses Mal niedergelassen hatte, beherbergte eine immense Anzahl an Menschen. Es war nicht unbedingt eine solche Metropole wie New York, aber immerhin genug, um mehr oder weniger als Großstadt anerkannt zu werden. Das erhöhte die Chancen auf einen Job und einem Leben, in dem man nicht an jeder Kreuzung erkannt wurde. Seltsamerweise hatte er dennoch eine alte Bekannte wieder gefunden und sich mit ihr zusammen getan. Anders als Lykaner führten Vampire kein Rudelleben und legten auch nicht sonderlich viel Wert darauf, ständig aufeinander zu hocken. Hin und wieder war es allerdings wesentlich angenehmer, unter Gleichgesinnten zu sein und sich nicht ständig mit Menschen abgeben zu müssen. Indessen drang Jack Johnson’s Stimme an sein Ohr und veranlasste Jack, ein wenig mitzusingen. Auch wenn er weiterhin fand, dass die Menschen eine seltsame Rasse waren und es noch seltsamer war, dass sie so lange überlebt hatten – wo sie doch eine Schwäche dafür zeigten, sich durchaus effektiv gegenseitig umzubringen – so gab es hin und wieder einige Individuen unter ihnen, die gewisse Begabungen hatten. Oder einfach nur nett anzuhören waren... „...you better hope you’re not alone...“, leise vor sich hinmurmelnd nahm Jack den angewärmten Blutbeutel in die Hand und schlurfte zurück ins Wohnzimmer, um sich dort etwas gemütliches Licht zu machen und sich mit seiner neuesten Errungenschaft in die Hängematte zu setzen, die in einer Ecke angebracht worden war. Wer weiterhin vermutete, dass Vampire irgendwelche unbequeme und hölzerne Särge diverser Annehmlichkeiten vorzogen, hatte vermutlich noch nie selbst in einem Sarg gelegen – und bekam unter diesen Umständen keine leichten Anfälle von Klaustrophobie. Alleine... Mit Shakespeares ‚Der Widerspenstigen Zähmung’ auf dem Schoß und sich mit einem Fuß am nahegelegenem Couchtisch etwas abstoßend erinnerte er sich an die Begegnung, die er heute Mittag mit einem Werwolf gehabt hatte – wobei Begegnung wohl noch etwas übertrieben war. Jack wusste um den lykanischen Bevölkerungsteil dieser Stadt. Mit diesem Wissen war er auch hergezogen, allerdings hätte er auch nichts dagegen gehabt, wenn es innerhalb dieser Mauern keinen Wolfsmenschen gegeben hätte. Was auch immer dazugeführt hatte, dass sich zwei Wesen in einer solchen Stadt zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufhielten, war wohl das, was Menschen gemeinhin als höhere Macht beschrieben. Dennoch war dieses ‚kulturelle’ Aufeinandertreffen nichts gewesen, was den Vampir in irgendeiner Hinsicht verunsichert oder beunruhigt hätte. Ganz im Gegenteil – es war schon beinahe belustigend gewesen, den Lykaner dort sitzen zu sehen und zu wissen, dass dieser ihn bemerkt hatte. Natürlich hatte er Jack bemerkt. Es wäre wohl eine Schande für alle Werwölfe dieser Welt gewesen, wenn er es nicht getan hätte. Doch anders als der Vampir hatte der Werwolf mit der für sie typischen Abwehrhaltung reagiert. Das war so typisch für diese Wesen, die doch mehr Tier waren und infolgedessen auch einfach nur auf ihre Instinkte reagierten. Und Jack war ein Vampir. Vampire waren dafür berühmt berüchtigt, die Erzfeinde der Werwölfe zu sein. – zumindest wenn man nach Hollywood ging. Überraschen, dass die Menschen damit Geld machten und gar nicht wussten, wie nahe sie an der Wahrheit waren. Vielleicht war es auch besser so. Er war ein Vampir, der einen Grund hatte, diese Wolfsmenschen zu hassen. Sie wirklich abgrundtief nicht zu wollen, mit jeder Faser seines untoten Körpers. Anders als so manche seiner eigenen ‚Landsleute’ hatte er einen triftigen Grund. Er war niemals jemand gewesen, der eine Massenbewegung gedankenlos folgte. Stumm strich er sich über seinen kurzen Kinnbart – eine Bewegung, die er sich angewöhnt hatte, wenn er über etwas nachdachte. Er machte es nicht wirklich beabsichtigt, sondern vielleicht aus dem selben Grund, wie auch Raucher etwas zwischen den Fingern brauchten, um sich zu beschäftigen. Seine dunkelbraunen Haare wirkten ein wenig verstrubbelt, auch wenn er sie sich am Morgen gekämmt hatte. Sie waren zu kurz, um sie zusammen zu binden, in manchen Momenten allerdings so lange, dass sie ihm unangenehm ins Gesicht hingen und er sie sich mit den Fingern zurückstreichen musste. „If I had eyes in the back of my head would have told you that you look good as I walked away…” Jack Johnson dudelte weiter munter vor sich hin, wohingegen der zweite Jack mit dunklen Augen den Blutbeutel musterte und noch eine Weile darüber nachdachte, was den Welpen heute Mittag dazu gebracht hatte, ihn einfach nur anzusehen. Es kam durchaus vor, dass sich Vertreter der beiden Rassen in die Haare bekamen. Natürlich fernab von irgendwelchen neugierigen Augen – von denen der Menschen, sowie auch vor denen ihrer selbsternannten Anführer. Vampire lebten in einer Art Kastensystem. Werwölfe hingegen so, wie man es von ihren wildlebenden Verwandten hatte. Ein Beweis mehr für Jack, dass Lykaner nicht mit Vampiren auf eine Stufe zu stellen waren. Er war sich sogar sicher, dass diese Wesen alleine aufgrund ihrer Aggressivität und ihrer einfachen Denkweise mehr zu den Tieren zählten, als zu den Menschen. Lykaner agierten so, wie es ihre Instinkte es ihnen vorschrieben. Sie jagten in Rudeln, wie Wölfe. Waren ebenso in Rudel aufgeteilt und es wurde um jeden noch so kleinen Knochen innerartlich gekämpft – oder auch, um im Rangsystem vielleicht ein wenig aufzusteigen. Um so vielleicht dem Alphawolf näher zu sein und sich so aufzuspielen. Was Jack noch zu Ohren gekommen war, war das animalische Verhalten, dass sie sonst noch an den Tag legten, vor allem dann, wenn sie ihre bestialische Form angenommen hatten und sich allein von ihren Trieben lenken ließen... In gewisser Hinsicht war ein Werwolf nicht besser, als ein Mensch. Menschen brachten sich untereinander um – Werwölfe sahen wie Menschen aus und benahmen sich wie Tiere. Was war wohl schlimmer? Und inmitten dessen konnte man sich als Vampir lediglich ins Fäustchen lachen – auch wenn es eine traurige Situation war. Was Jack nicht wusste war, dass einige Kilometer entfernt ein junger Werwolf in seiner Wohnung saß, das Gesicht vom Schein seines Notebooks beschienen und sich die selben Gedanken machend – allerdings in die gegenteilige Richtung gehend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)