A.O.R.A von abgemeldet (closing my eyes to hear you breathe...) ================================================================================ Prolog: -------- Reinheit. Was bedeutet das? Vollkommene Keuschheit? Nie eine Straftat begangen zu haben? An Gott zu glauben? Vielleicht, anderen Menschen zu helfen? Egal, was man tut, richtig rein kann man nicht sein. Tut man nichts, hilft man nicht. Hilft man, tut man damit einem anderen weh. Und hilft man nicht, dann ist keinem geholfen. Was also bedeutet es, rein zu sein? Wir wissen es. "Willkommen." Das freundliche Lächeln der blonden Frau mit dem Bobschnitt durchbohrte ihn beinahe. Mechanisch hob sie die Hand. "Wir haben den 24. September 2008. Es ist 20:36 Uhr. Was kann ich für Sie tun?" Es war immer das selbe. "Öffne Zugang zur Brücke." "Zugang zur Brücke genehmigt. Entnehme genetischen Augenabdruck." Im nächsten Moment wurde der Mann von einem Laser geblendet. Er kniff die Augen leicht zusammen. Es brannte immer so, wenn sie das tat. Oder es. Das Schloss wurde entriegelt, man hörte ein Fiepen. Er sah wieder von der Tür zu der mechanischen Frau. "Danke, Ashley. Gibt es Neuigkeiten?" Selbst ihre Stimme klang grausam elektronisch. Er mochte keine Maschinen. "Die Pavore haben sich zusammengefunden. Sie meinten, das Orakel habe Befehl gegeben." "Das Orakel... so, so..." Nur der Pavor Nocturnus hatte bisher das Orakel gesehen. Ohnehin, der Mensch glaubte nicht an das Orakel. "Ich werde mich melden. Guten Tag." So schritt er durch das Tor. "A.O.R.A. wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Meister." Kapitel 1: Wochenende --------------------- Das schrille Schellen der Schulglocke zerbrach die Stille wie ein Glas. In der Berufsschule herrschte nun reges Treiben. Feierabend und auf in das Wochenende, lautete die Devise. Für jeden, ausser für mich. "Und damit Sie nun aus Ihrem Verhalten lernen bleiben Sie noch eine Stunde zum Nachsitzen. Schade, dass wir Sie behandeln müssen, wie ein einfaches Schulkind, wo Sie sich doch mitten in der Ausbildung befinden." Stur blieb ich auf meinem Platz sitzen, schrieb die Seite ab. "Sie sind so still. Dabei fanden Sie es vorhin noch lustig, in den Unterricht hineinzuschwätzen, hm?" Wieder erwiderte ich nichts, während die Lehrerin redete. "Nun kommen Sie schon, Sie können jetzt ruhig etwas sagen." "Ich möchte aber nichts sagen." "Sie haben bereits etwas gesagt.", erinnerte mich die Lehrerin mit einem belustigten Grinsen, packte ihre Sachen. "Ich werde jetzt gehen - Gleich kommt ein Kollege und wird auf Sie aufpassen." Sarkastisch erwiderte ich ein: "Und ich dachte, ich dürfte gehen." Mit gehobener Augenbraue verschränkte sie die Arme. "Schauen Sie erstmal, dass Sie Ihren Text abgeschrieben bekommen, Zuckerschnute." Was war das für eine Frau, die einen Siebzehnjährigen Zuckerschnute nannte? Ich runzelte die Stirn auf diese Überlegung, schüttelte dann aber nur noch den Kopf und senkte den Blick wieder. "Wenn Sie Glück haben schaue ich einen Moment nicht hin, wenn ich den Raum verlassen werde - Wenn Sie Glück haben, wie gesagt." Ein Grinsen schlich sich mir auf die Lippen. Meistens fiel mir so etwas in den Schoß. Das Leben war für mich wie Kekse auf dem Silbertablett. Und das wusste ich durchaus zu würdigen... und einen Keks lehnte man ja wohl nicht ab. "Ich denke, ich habe heute viel Glück, danke.", sagte ich und schenkte ihr ein Lächeln, ehe ich meine Sachen schon einpackte. "Bitte, bitte. Sie sind einer der besten Schüler... würden Sie nicht ständig Unfug treiben, dann würde man das auch auf Ihrem Zeugnis sehen..." "Ja, ich weiß, Miss." Ich verbiss mir ein Lachen, ging dann mit ihr aus dem Raum, nachdem ich meinen Stuhl hochgestellt hatte. Und genau so schnell, wie ich den Raum verlassen hatte, war ich auch schon bei meinem Bus und fuhr nach Hause, auf einem Behindertenplatz sitzend, während eine Oma neben mir stand auf Krücken. Das Beispiel, wie es nicht sein sollte. Zuerst bemerkte ich das gar nicht, stand dann allerdings auf und bot der Dame einen Platz an, den sie auch dankend annahm, während ich schließlich an der Seite lehnte mit dem Kopfhörer im Ohr. Ohne Musik lief eben gar nichts. Nur kurz ließ ich den Blick durch den Bus wandern, als jener auch schon hielt und ich an meiner Station, nur drei von der Schule entfernt, ausstieg. Praktisch, dass der Bus beinahe schon vor meiner Haustür hielt. So überquerte ich eben die Straße, schloss die Haustür auf und betrat dann auch schließlich, nachdem ich eine weitere Tür aufgeschlossen hatte, die Wohnung von mir und meinen Eltern. Ja, verdammt, die wohnten immernoch bei mir! "Bist du schon wieder zuhause, Jason?" "Nein, ich tu nur so.", antwortete ich meiner Mutter, ging in mein Zimmer um die Schultasche in die Ecke zu werfen. Nun gut, um es kurz zu machen sah mein Wochenende etwa so aus: Hell - Dunkel - Hell - Dunkel - Montag. Bleiben wir beim zweiten Hell. Sonntag Morgen, 18 Uhr, ich öffne die Augen. "Fang!" Im nächsten Moment hing mir ein Ball im Gesicht, den ich nicht schnell genug fangen konnte. Ich gab einen Schmerzenslaut von mir. "Man, pass doch mal auf!", beschwerte ich mich also bei meiner besten Freundin, setzte dann fort: "Ich hab voll wenig geschlafen!" "Kann ich doch nicht wissen! Als würde ich in deinen Kopf hineinschauen können..." Letzteres grummelte sie, nahm den Ball an sich und strich sich durch das kurze, hellblau oder... türkis? Keine Ahnung, jedenfalls strich sie sich halt so durch ihr Haar - Sah komisch aus, weil sie nicht der Typ dafür war, so genervt zu sein, wie sie es jetzt war. Tatsache, irgendwas musste passiert sein. "Hör mal, Misses.", meinte ich und packte sie an den Schultern. "Nur weil du Stress hast musst du das nicht an mir auslassen, okay!?" Sie zuckte zusammen, wandte dann aber den Blick ab. "Ich hab' keinen Stress. Außerdem heiß ich nich' Misses, sondern Fuu, ja? Check es." Sie drückte mir den Ball gegen den Brustkorb, welchen ich schließlich auch packte, worauf sie die Hände in den Taschen ihrer weiten Hose vergrub. Ich runzelte die Stirn. "Was ist denn passiert?" "Ich mag nicht drüber reden.", erwiderte sie nur. "Naja... aber wenn was ist, du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn du dein Herz ausschütten möchtest, okay?" "Okay." Wenn sie nicht darüber reden wollte, dann sollte ich sie wohl einfach lassen. Als ich sie das letzte Mal zwingen wollte, hatten wir auch den größten Streit unseres Lebens. Aber... sie war oft so. Eigentlich, wenn ich genau darüber nachdachte, wusste ich gar nichts von ihr... aber sie alles über mich. Und das, obwohl sie mich nie besucht hatte und ich sie auch nie. Das Einzige, das uns verband, war der Sportplatz und die Schule. Also die Liebe zum Basketball und die Schulpflicht. Sonst nichts. Doch trotzdem fühlte ich mich ihr so verbunden, als wäre sie meine Schwester. Klar war ich auch mal in sie verknallt gewesen, das war jeder Kerl mal - Also in seine beste Freundin. Oder sagen wir zumindest die meisten... Aber ich hatte erkannt, dass ich sie nur als Freundin haben wollte... Wer wusste, wie sie in einer Beziehung war. "Ich gehe jetzt wohl lieber." Ohne weitere Worte drehte sie sich also um, zum Tor schlendernd. "Wann sehen wir uns wieder?", fragte ich sie. Sie zuckte die Schultern. "In der Schule, denke ich, oder?" Sie blieb vollkommen ernst, auch, wenn ich sonst gut mit ihr herumalbern konnte. "Ja... gut... also dann... bis morgen oder so.", sagte ich schließlich und hob die Hand, die sie eh nicht sehen konnte. "Bye." Da war sie auch schon verschwunden. Nur einen kurzen Moment blieb mir jeder Gedanke weg. "Verdammt!", murrte ich dann. Was hatte ich nun wieder falsch gemacht, dass sie sauer auf mich war!? Hatte ich vielleicht übersehen, dass sie beim Frisör gewesen war oder so...!? Frauen tickten eben so, hatte mir auch schon mein Vater erzählt und wie konnte ich das auch nur übersehen? Jetzt würde ich sicher jahrelang ihren Hass auf mir spüren. Schließlich entschloss ich mich doch frustriert dazu, wieder nach Hause zu gehen. So kamen wir dann auch schon gegen 24 Uhr zum zweiten Dunkel.... Und dann zu Montag. Kapitel 2: Verschwunden ----------------------- Mein Handy klingelte. Gut, eigentlich war es eher der Wecker, aber mein Handy war mein Wecker, was mich wieder dazu brachte, das mein Handy klingelte. Anstatt auf "Snooze" oder "Abbruch" zu drücken, nahm ich einen Phantomanruf an. "Ja?", nuschelte ich also verschlafen in den Hörer. Klar, dass es mich verwunderte, dass dann... naja, eben keiner in der Leitung war und ebenso klar war es, dass ich dann die Brauen zusammenzog und auflegte, nur um im nächsten Moment wieder die schrille Melodie meines Weckers zu hören. Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Ein Blick auf die Uhr verriet mir... Nichts. Ich hatte auf die Uhr gesehen, nur um zu realisieren, dass ich mir nicht gemerkt hatte, wie viel Uhr es war, so dass ich gleich wieder auf die Uhr sah. Fünf Uhr morgens. Genervt seufzte ich. Das Handy war doch für Sechs gestellt! Ich ließ mich aus dem Sitz wieder auf das Bett zurückfallen, zog die Decke über mich. Geil, dann konnte ich ja noch gut eine Stunde schlafen. So drehte ich mich also schließlich wieder auf die Seite, um die Augen zu schließen. Das ging so auch ganz gut. Ich fiel wieder in meinen Tiefschlaf, bis sechs Uhr, wo ich dann auch wie geplant aufwachte und mich auf den Weg zum Frühstückstisch machte, nachdem ich mich umgezogen hatte und duschen war. Also saß ich, so gegen halb Sieben, am Esstisch, aß zusammen mit meinem jüngeren Bruder Brote. "Hattest du schon die Zeitung?" "Mh.", machte ich, schüttelte den Kopf, als ich jene schon überreicht bekam. Ich breitete sie knitternd vor mir aus, überflog die Titelanzeigen, dann die Stellenangebote und schließlich kurz die Geburtstagsmeldungen und Todesanzeigen. Nach ein wenig eindringlicherem Schauen fand ich zwischen Stellenangeboten und Tierverkäufen auch eine weitere, kleine Anzeige. "Junge Frau (18) verschwunden." Schon wieder so ein Weib, dass nicht auf sich selber aufpassen konnte. Trotzdem, mal sehen, ob ich sie finden würde. Vielleicht bekam ich ja Lösegeld, wenn ich einen erpresserischen Wiedersehensbrief schrieb. Bei dem Gedanken entlockte es mir doch glatt ein Grinsen. Schließlich las ich sogar noch, dass sie ganz in der Nähe wohnte. Darunter ein kleiner Steckbrief. "Anna Fuuya Yamaguchi 18 Jahre alt" Schon alleine der Name ließ mich die Stirn runzeln. Fuuya? Fuu!? "Türkises Haar, etwa 172 Zentimeter groß. Schlanke bis dürre Statur. Graue Augen. Besucht die Schule..." Als ich dann auch noch den Namen unserer Schule las wurde mir eiskalt. "Was zur Hölle...", murmelte ich, fuhr mir nervös durch das rote Haar. "Was ist denn?", fragte mein kleiner Bruder. "Nicht jetzt, David!" Ich griff das Telefon, wählte die angegebene Nummer. "... Hallo? Ja, Jason hier." "Jason?", fragte die Frau an dem Telefon. "Ja, ein Freund Ihrer Tochter." "... Tut mir Leid, aber Fuu hat nie ein Wort über einen Jason verloren. Ich halte das für einen sehr makaberen Streich, junger Herr! Legen Sie auf oder ich werde die Polizei rufen!" "Aber-" Aufgelegt. Nie ein Wort über mich verloren? Das stürzte mich sofort in einen weiteren Abgrund: Erstens konnte ich ihr nicht helfen und zweitens... bedeutete ich ihr anscheinend überhaupt nichts. Ich legte meine kühle Hand an die Stirn, schüttelte nur den Kopf. "Jason? Was ist los?" "Fuu ist weg.", antwortete ich, biss mir auf die Unterlippe. "Oh mein Gott... Hast du bei ihren Eltern angerufen?" "Ja, aber die kennen mich gar nicht." Mein Bruder runzelte darauf nur die Stirn, meinte dann: "Was steht denn in der Anzeige, wann sie entführt worden ist?" "Das muss gestern Abend gewesen sein.", antwortete ich ihm. "Ich war ja noch mit ihr Basketball spielen..." Klar war ich nervös. So nervös, dass ich aufgestanden war, wie eine Wildkatze hinauf und hinab ging, um mich zu beruhigen. "Vielleicht ist sie von zuhause weggerannt?" Als mein kleiner Bruder das sagte, bekam ich natürlich gleich die schlimmsten Vorstellungen. "Ich will sie suchen!", meinte ich sofort, atmete unregelmäßig und war auch sonst aufgewühlt. "Aber Jason, du musst zur Schule..." "Ich muss gar nichts!" "Wenn du noch drei Fehlstunden hast, fliegst du." Das und meine Mutter, die mich rausjagte, waren der Grund dafür, dass ich mich auch schon zur Schule zwang. So saß ich dort meine acht Stunden ab, nur, um nach Hause zu stürzen und sofort bei der Polizei anzurufen und sie als vermisst zu melden, was ich ja schließlich konnte, denn bisher war sie, soweit ich wusste nicht gefunden. Sie war ja auch nicht in der Schule aufgetaucht. "Städtische Polizei, Mill am Apparat, was kann ich für Sie tun?" "Guten Tag. Ich möchte gerne jemanden vermisst melden. Aber ich würde gerne anonym bleiben, ist das möglich?" "Natürlich." Ich hörte ein Tippen. "Name, Geburtsdatum, Alter, besondere Merkmale bitte." Und so diktierte ich schließlich, was auf dem Zettel stand: "Anna Fuuya Yamaguchi, geboren am 17. Juli 1990. Sie ist jetzt also 18. Sie hat türkis gefärbtes Haar, ist etwa 1,70 Meter groß ist ziemlich schlank und hat graue Augen." So nannte ich schließlich noch, auf welche Schule sie ging, die Namen ihrer Eltern und alles, was mir sonst noch über sie einfiel. "Gut, gut. Haben Sie eine Vermutung, wo Anna sich aufhalten könnte?" "Sie bevorzugt es, mit Fuu angesprochen zu werden.", sagte ich gleich, setzte dann fort: "Aber 'ne Idee, wo sie ist, hab ich leider keine. So gut kenne ich sie nun jetzt auch nicht." Nur traurig, dass ich sie dann als meine beste Freundin bezeichnete. Aber sie bedeutete mir eben eine Menge. So verabschiedete ich mich noch von der jungen Dame am anderen Ende der Leitung, rief noch einmal bei ihren Eltern an. "Yamaguchi?" "Ich bin es noch einmal." "Sie schon wieder! Sie sind das, dieser Jason, oder?" "Ja.", erwiderte ich knapp. "Ich wollte nur wissen, ob Sie einen Anhaltspunkt haben, wo sich Ihre Tochter befinden könnte. Ich bin wirklich besorgt um sie. Bitte helfen Sie mir doch, sie zu suchen!" Schließlich ließ sich die Mutter sogar breitschlagen. "Gut. Also, ich habe eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Wenn Sie Fuuya wiedersehen rufen Sie mich bitte, bitte sofort an!" "Nun, okay.", erwiderte die Frau, seufzte. "Einen schönen Tag noch.", wünschte sie mir sogar, was ich ebenso erwiderte und hing schließlich den Hörer auf. Einige Tage war ich noch in der Schule, vier oder fünf, dann blieb ich zuhause, schwächelte vor mich hin und saß neben dem Telefon, rief jeden Tag zweimal an, um mich zu erkundigen, doch nichts änderte sich. Wo war sie bloß? Wo war Fuu? Wo war meine beste Freundin!? Frustriert, depressiv und eigentlich wirklich am Ende saß ich nun am elften Tag vor dem Telefon. Es war ein Freitag. Ich saß unter einer dicken, flauschigen Decke, nahm Fiebersaft zu mir, weil ich schon ziemlich Fieber bekommen hatte und balancierte ein Brettchen mit Broten auf den Knien. Das Telefon klingelte. Sofort griff ich danach, bevor es jemand anders konnte. "Ja?" "Hier ist Linda, ist deine Mutter da?" Mit einem Seufzen leitete ich weiter. Wieder einer von tausenden Trugschlüssen. Es dauerte gut zehn Minuten, bis das Telefon wieder auf der Ladestation stand und ich mich beruhigt hatte. Jetzt war die Leitung nicht mehr blockiert und wir konnten wieder angerufen werden. Ich würde hören, wenn Fuu wieder da war. Irgendwann, abends, hing ich mit einem sehnsüchtigen Blick am Telefon. Plötzlich ertönte die Anruf-Melodie. So laut, dass ich schwer zusammenzuckte und erst tief einatmete, um dann meinen Arm nach dem Telefon auszustrecken und den Anruf anzunehmen. "Ja?" "Jason!?" "Am Apparat." Es war Fuuyas Mutter. "Fuuya ist wieder da!" Kapitel 3: Apathie ------------------ Abends, immernoch. Gegen halb neun hatte ich mich auf den Weg gemacht, stand schließlich in der Haustür und klingelte. Die Tür öffnete sich. Oder sie wurde eher geöffnet, nämlich von Annas Vater. "Hallo.", begrüßte ich mich knapp. Er ließ mich sofort vorbei. Beinahe aus Instinkt ging ich die Treppe hinauf, stieß eine leichte Holztür auf - Fuuya lag im Bett. Mit einer leichten Decke wurde sie gewärmt. Die Mutter saß neben ihr, fuhr sich durch das gelockte Haar. Fuu hatte keine Locken. "Du musst Jason sein." "Ja. Das bin ich... Was ist mit ihr?" Die Augen der jungen Asiatin waren geöffnet doch trotzdem reagierte sie nicht. Die Mutter stand auf, nahm mich sanft am Arm und zog mich mit hinaus, die Tür hinter mir schließend. "Sie wurde vor einer Stunde hergebracht von Sanitätern. Man hat sie in der Nähe vom Basketballplatz gefunden.", fing sie schließlich nach kurzem Zögern an. "Es ist ein Wunder, dass sie elf Tage lang überlebt hat. Sie war vollkommen unterkühlt." Ich runzelte die Stirn. "Warum hat sie nicht reagiert?" "Sie befindet sich momentan in einem Schockzustand. Fuu ist völlig apathisch. Sie redet nicht, hat einen verminderten Puls und Lidschlag und ist totenblass. Ich meine, du hast sie gesehen. Das Einzige, was sie tut, ist Nicken oder den Kopf schütteln. Außerdem lehnt sie manchmal den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen." Ich hörte der alten Dame zu, nickte schließlich. "Wäre es genehm, wenn ich diese Nacht bleiben würde?" "Eigentlich wollte ich das sowieso fragen. Dir scheint was an ihr zu liegen und... als sie reingetragen wurde hatte sie die Hand nach dem Telefon ausgestreckt. Das musste etwas mit dir zu tun haben, Jason. Das ist Schicksal." Die Mutter warf mir noch einen kurzen Blick zu. "Ich möchte dich jetzt mit ihr alleine lassen." "Aber... wie soll ich mit ihr umgehen? Sie bekommt das doch alles mit?" "Sowas weißt du, wenn du sie siehst. Viel Glück." Man wuschelte mir durch das Haar - Der Vater. Ich nickte und öffnete die Tür, ging in das Zimmer. "Fuu?", fragte ich zu allererst, mich in ihrem Zimmer umsehend. Sie hatte es hier gemütlich. Es gefiel mir. "Fuu? Bist du wach?" Kurzerhand setzte ich mich zu ihr auf das Bett. Sie reagierte überhaupt nicht. Das machte mich traurig. Oder panisch? Vielleicht beides. Ich legte meine Hände an ihre Schulter. Sie war eiskalt! "...Frierst du?" Nur kurz schloss sie die Augen, beinahe wie ein Blinzeln, ehe sie stark verlangsamt nickte. Dabei war es hier schon warm! Richtig warm! Die Heizung auf der höchsten Stufe, das Fenster geschlossen und im Flur war es auch angenehm warm. Es gab keinen Grund zu frieren. "Möchtest du noch eine Decke?" Sie schüttelte ebenfalls langsam den Kopf, wandte den Blick dann ab, Richtung Fenster, um hinaus zu sehen mit getrübtem Blick. Was war bloß los? Ich folgte ihrem Blick, sah auch aus dem Fenster. Der Mond schien helle, die Blätter des Baumes wiegten sanft hin und her. Langsam fiel eines herunter. "Was ist da so interessant?" Natürlich bekam ich darauf auch keine Antwort. Sie war kaum da, schien nun gar nicht mehr zu reagieren, bis ich eine Hand an ihre Wange legte und ihren Kopf nach oben neigte, dass ich ihr in die Augen sehen konnte. "Antworte mir!" Sie jedoch schwieg weiter, öffnete den Mund allerdings leicht, um dadurch weiter zu atmen. Ich seufzte, ließ von ihr ab. "Tut mir Leid... Ich muss mich besser beherrschen." Das hielt sie mir schon lange vor. "Möchtest du lieber schlafen?" Sie schüttelte wieder den Kopf. "Möchtest du einen warmen Kakao oder so?" Noch einmal die selbe Reaktion. "Was möchtest du dann?" Wieder gab es keine Antwort für mich. Sie schloss die Augen und schlief kurz darauf wieder ein. Und ebenso kurz darauf rief ich zuhause an und ließ mich für die nächsten drei Tage krankschreiben. Sie war jetzt gerade einfach wichtiger, als die Schule. Zumindest für mich. Sie war meine beste Freundin und ich musste einfach alles daran setzen, dass es ihr besser ging und den Grund dafür finden, warum das Ganze passiert war. Es konnte doch nicht sein, dass sie einfach so abgehauen war! Oder das sie sich verlaufen hatte! Der Platz war gerade mal vier Minuten zu Fuß - Hatte ich im Übrigen abgemessen - von ihrem zuhause entfernt. Kurz über lang schlussfolgerte ich: Irgendjemand oder irgendetwas hatte sie entweder niedergeschlagen oder verschleppt. Aber es musste etwas passiert sein. Warum sonst war sie... so? Sie hatte schon viel schlimmere Krankheiten gehabt aber nie hatte sie nicht auf das reagiert, was ich sagte... Schließlich waren weitere drei Tage vergangen, die sich langgezogen hatten, wie Kaugummi. Ein Seufzen ging mir über die Lippen, als ich wieder an ihrem Bett saß, abends. "Wie geht es dir?" Diesmal rang sie sich sogar ein Lächeln ab, als ich das fragte. Die anderen Male war sie einfach nur so dagelegen. Das war nicht unbedingt gut, aber dafür was das hier umso besser. Meine Füße wurden von dem warmen Wollteppich gewärmt. "Möchtest du mir heute sagen, was passiert ist?" Sie schien mir aufmerksam zuzuhören, wandte dann wieder den Blick ab, leise seufzend. War das jetzt ein Ja oder ein Nein? Ein weiteres Mal folgte ich ihrem Blick aus dem Fenster. Warum sah sie nur immer wieder hinaus? Warum starrte sie den Mond so an? Wahrscheinlich träumte sie nur, damit sie vor der Realität und den Ereignissen fliehen konnte. Wie schon bereits erwähnt - Es musste etwas passiert sein. Hatte sie jemand angefasst? Wurde sie zu... soetwas gezwungen? Oder hatte man ihr körperlichen Schaden zugefügt? Verwirrt vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen, wandte dann den Blick von ihr und dem Fenster ab. Schließlich bekam ich jedoch meine Antwort... "Ja." Ihre Stimme war heiser, zittrig. Ich zuckte sogar zusammen, weil sie wieder sprach, sah sie dann besorgt an. "... Ich würde es dir gerne erzählen..." Ängstlich blickte sie kurz wieder aus dem Fenster, richtete sich hektisch auf, ehe ihr anscheinend kurz schwarz vor Augen wurde, dass sie sich an meinem Arm festhielt. "Ganz ruhig...", murmelte ich darauf und seufzte. "Ich brauche deine Hilfe, Jason." Meine Hilfe? "Wofür?", fragte ich sie also schließlich. Irgendwelche Schlägertypen oder so machten ihr bestimmt Probleme. Das würde ich nicht weiter zulassen! "... Für etwas ganz bestimmtes. Ich habe Angst..." Kapitel 4: Koma --------------- "Es waren viele von ihnen...", begann sie. "Sie... sahen seltsam aus. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so etwas gesehen. Es war... als wäre es eine glitschige Flüssigkeit, die mich umgab und hinabzuziehen schien. Ein riesiger Schatten. Wie ein riesiger dunkler Schatten. Sie waren überall... um mich herum. Es wurde kalt und sie haben versucht...." Sie hielt inne, zitterte. "Sie haben versucht mich zu töten. Sie haben mir das Leben aus dem Körper gesogen... Und sie waren jede Nacht da..." Ihre kühle Hand berührte meine. "Bitte hilf mir..." Ihre Stimme wurde immer leise, und schließlich nur noch so leise, dass sie begann, wieder einzuschlafen. Ich rüttelte sie. "Wer war da?" "Die Schatten...", murmelte sie nur noch, sah mich aus nur einen winzigen Spalt geöffneten Augen an. "... Pass auf dich auf." Ich verlor den Faden. Fuu war wieder eingeschlafen. Verwirrt lehnte ich mich zurück, ging zum Fenster um hinaus zu sehen. Schatten? Klar, Schatten. Es waren noch Menschen unterwegs, die warfen Schatten durch das Licht von Straßenlaternen, aber sonst? Schatten... vielleicht hatte sie auch nur geträumt. Nervös, nun ebenfalls zittrig, fuhr ich mir mit kalter Hand durch das Haar, wieder zurück zu ihr sehend. Es ging ihr wieder besser, sie hatte geredet... Vielleicht sollte ich nach Hause gehen? So ging ich in den Hausflur, nahm meine Jacke um sie mir anzuziehen und mich dann wortlos, ohne Verabschiedung aus dem Staub zu machen. Was auch immer Anna gemeint hatte, es schien ihr Angst zu machen... Es schien ihr wehgetan zu haben. Nur, hatte dieses Es diese Rechnung ohne mich gemacht. Egal, was dafür nötig war, ich würde alles tun, damit es ihr wieder besser ging. Auch, wenn ich dafür mein Leben riskieren musste. Sie bedeutete mir einfach zu viel. So ging ich also nach Hause, zurück, durch die dunkle Nacht, um schließlich meine Wohnung zu betreten, David durch das Haar zu wuscheln und mich in mein Zimmer zu verziehen, um endlich zu schlafen. Dann würde ich weiter darüber nachdenken. Ob ich morgen wieder mit ihr sprechen könnte? Schon alleine das Nachdenken machte mich so unendlich müde... Langsam fielen meine Augen zu, ich drehte mich zur Seite und rollte mich in meine Decke ein, worauf ich auch schon weg war... bis zum nächsten Morgen. Samstag. Wieder ein Tag Schule. Wir, das hieß ich und mein kleiner Bruder David standen wieder auf, gemeinsam, belegten gemeinsam das Bad und aßen, wieder gemeinsam, Frühstück. "Wie war es eigentlich bei Fuu?" "Etwas... verstörend. Sie ist apathisch und redet kaum.", antwortete ich, als er dann meinte: "Mh.. sowas gab es in letzter Zeit öfter." "Was!?", fragte ich. "Siehst du nie fern? Man nennt es Abscence-Syndrom." Ich zog die Brauen zusammen. "Einfach so?" "Ja, die vier Opfer wurden einfach so morgens gefunden. Unterkühlt, schwach und keiner von ihnen hat geredet.", erklärte David mir mit seinen zarten 14 Jahren. Ich nickte nur stumm. "Wo waren die Fälle denn?" Er trank kurz von seiner Milch, meinte dann: "Hier in der Stadt bisher nur." "Das glaube ich nicht." "Wieso?" Ich runzelte die Stirn, meinte dann: "Bisher nur so wenige Fälle, nur in dieser Stadt? Und dann hat es direkt einen eigenen Namen? Hör mal, das könnten auch Unfälle gewesen sein. Man will uns verschaukeln." "Wenn du meinst...", meinte David kleinlaut, stand schließlich auf. "Ich muss jetzt. Du hast heute die ersten beiden Stunden frei, oder?" "Ja.", antwortete ich. Perfekt. Genügend Zeit, um weitere Nachforschungen anzustellen und nach Fuus Zustand zu fragen. "Gleich kommen die Nachrichten. Sie berichten bestimmt über das AS." "AS?" "Abscence-Syndom.", wiederholte David, seufzte dann und hing sich seine Tasche um. "Schau einfach. Bis nachher." "Bis nachher.", verabschiedete ich ihn und sah ihm nach, ehe ich den Fernsehr einschaltete, um dann die Nachrichten zu sehen, während ich weiterhin gemütlich meine Cornflakes aß. Die Nachrichtensprecherin redete und redete... und redete. So schlief ich beinahe schon ein, als: "Zwei der Abscence-Syndrom-Fälle fielen in ein Koma. Die Dunkelziffer der weiteren Fälle ist geringfügig höher. In Lebensgefahr schweben die 47-jährige und der 18-jährige junge Mann jedoch nicht. Wenn Sie Fälle des Abscence-Syndroms kennen wenden Sie sich sofort an Ihren Hausarzt, jener wird dem Opfer einen Tropf mit vitaminhaltiger Flüssigkeit anlegen. Jenes ist besonders wichtig. Wie lange das Koma anhält ist bisher unbekannt. Und nun zu dem Wetter. Aus dem Süden weht ein leichter..." Sofort stand ich auf und ging zum Telefon. Schnell wählte ich die Nummer durch. "Yamaguchi?" "Hier ist Jason! Wie geht es Anna!?" "Gut, wieso?", fragte der Vater mit brummender Stimme. "Sie müssen sie unbedingt zum Arzt bringen! Sie wird in ein Koma fallen! Das ist die Folge vom Abscence-Syndrom. Bitte glauben Sie mir." "Verstanden." Der Vater legte auf und schon zehn Minuten später klingelte es an der Haustür, worauf ich öffnen ging. "Komm." Fuuyas Mutter stand vor der Tür, deutete auf das Auto. "Aber ich muss zur Schule!", entgegnete ich. "Ist schon gut!", meinte die Mutter, zog mich gleich mit. Fuu lehnte halb liegend gegen meine Schulter. Ich sah zu ihr hinab. "Geht es dir gut." "Ich bin müde...", nuschelte sie kaum verständlich. "Du darfst noch nicht einschlafen.", ermahnte ich sie. "Rede mit mir!" "Was denn reden...?" "Sag mir, wieso du mir nie von dir erzählt hast!" Geistesabwesend sah sie mich an, wieder schloss sie ihre Augen. Ich rüttelte sie. "Sag es mir! Bleib wach!" "Ich..." "Ja?" "... brauche deine Hilfe..." Ihr fielen die Augen zu. Ich kniff sie und sie öffnete die Augen, konnte sie sogar offen halten, bis wir beim Arzt waren und sie in eine Isolationskammer geschoben wurde, mit Tropf. Fuus Mutter weinte bitterlich, der Vater und der Arzt trösteten sie und ich stierte einfach nur noch auf die geschlossene Tür. "Überlebt sie?", fragte ich den Arzt. Doch eine Antwort bekam ich nicht. Warum nur fühlte ich mich hier so komplett fehl am Platze? Eine Schwester überprüfte die Vitalzeichen, meinte dann schließlich: "Sie ist in's Koma gefallen." Das konnte nicht sein... Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen, schloss die Augen und verkniff mir die Tränen. Ich musste jetzt stark sein - für Anna. Die Mutter hingegen weinte immernoch, schloss mich schließlich in ihre Arme. Ich strich ihr über den Rücken. "Das wird schon.", meinte ich kränklich, auch, wenn ich genau wusste, dass das so schnell nichts mehr wurde. Vielleicht würde sie sogar sterben. Meine Anna würde vielleicht sterben. Meine beste Freundin. Ich atmete tief ein und aus, verließ schließlich den Arzt und wurde zur Schule gefahren. Als könnte ich mich jetzt noch konzentrieren. Geistesabwesend saß ich in der Schule, stierte müde die Tafel an, versuchte nicht einmal ansatzweise etwas zu behalten. Wie konnte das nur passieren? Ich war doch immer bei ihr! Ich hatte doch auf sie aufgepasst! Niedergeschlagen seufzte ich und verließ endlich die Schule, als der Unterricht vorbei war. Ich konnte einfach nicht mehr... Ich war - ohne Spaß - fertig mit der Welt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)